The Other Emily - Die Doppelgängerin - Dean Koontz - E-Book

The Other Emily - Die Doppelgängerin E-Book

Dean Koontz

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Beschreibung

Vor zehn Jahren verschwand Emily spurlos. Man hielt sie für ein weiteres Opfer des Serienmörders Ronny Lee Jessup – doch ihre Leiche wurde nie gefunden. Der Schriftsteller David Thorne hat den Verlust seiner großen Liebe nie verkraftet. Als er Maddison begegnet, traut er seinen Augen kaum: Sie sieht auf unheimliche Weise aus wie Emily! Und sie weiß so viel über sie. Lebt Emily doch noch? Und kann es vielleicht sein, dass ...? Langsam kommt David der Wahrheit über die mysteriöse Doppelgängerin näher. Bestsellerautor Dean Koontz verknüpft Lovestory und Thriller zu einem spannungsgeladenen Mix. Nichts ist, wie es scheint. Bookreporter: »Ein gnadenloser Pageturner der Extraklasse!« Authorlink: »Koontz beweist einmal mehr, dass er ein meisterhafter Geschichtenerzähler ist.« Kirkus Reviews: »Spannend, unheimlich und voller Wendungen.« Booklist: »Beängstigend. Einer der besten Romane von Koontz.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 479

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Aus dem Amerikanischen

von Olaf Bentkämper

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Other Emily

erschien 2021 im Verlag Thomas & Mercer.

Copyright © 2021 by The Koontz Living Trust

Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-013-7

www.Festa-Verlag.de

Wenn sie irr werden, solln sie die Wahrheit sehn,

Wenn sie sinken ins Meer, solln sie auferstehn.

Wenn die Liebenden fallen – die Liebe fällt nicht;

Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben.

– Dylan Thomas

TEIL 1

ALLEIN UNTER DEN MILLIONEN

1

Sie ist verloren und er muss sie finden, aber sie hinterlässt keine Spur, keine Fußabdrücke oder Fährte jeglicher Art. Der Weg ist dunkel, denn sie ist in den Wald der Nacht gegangen, wo die Bäume schwarz und blattlos sind, wo der Mond und die Sterne nicht existieren, wo die Sonne nie aufgehen wird, wo der Pfad immer abwärts führt. Und dennoch steigt er hinab auf einer verzweifelten Suche, denn sie gehört nicht hierher zu den Toten, nicht wenn sie in seinem Geist und Herzen so lebendig ist. Sie gehört nicht hierher, sie gehört nicht hierher, und obwohl sie zu finden seine einzige Hoffnung auf Freude, sein einziger Grund zu leben ist, gibt es Momente, in denen er sie in der blendenden Dunkelheit zum Greifen nahe spürt – und der Schrecken weckt ihn.

2

Kristallkonfetti regnete auf die Stadt, eine letzte Feier eines Winters, der an diesem 24. März über sein offizielles Verfallsdatum hinaus verweilte.

In Schal und Stiefeln, den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, ging David Thorne durch die Straßen Manhattans, scheinbar auf der Suche nach Inspiration. Doch seine Fantasie wurde nicht angeregt.

Dem spätwinterlichen Sturm fehlte es an Kraft. Der Schnee fiel durch die windstillen Straßenschluchten, grau wie Asche, bis er von den bedeckten Straßenlaternen aufgehellt wurde.

Wenn Inspiration nicht sein Ziel war, wenn er stattdessen Gesellschaft brauchte, fand er auch diese nicht. Der Verkehr auf den Straßen hätte genauso gut selbstfahrend und ohne Passagiere sein können, Automaten, die in eigener Sache unterwegs waren. Fußabdrücke verzierten den zentimeterdicken Schnee auf den Gehwegen. Die bittere Kälte hielt andere Fußgänger nicht davon ab, unterwegs zu sein, aber für David waren sie so körperlos wie Geister.

Als er in seine Wohnung zurückkehrte, wusste er, dass er bald nach Kalifornien aufbrechen würde.

In dieser Nacht besichtigte er einen Keller, den er nur in seinen Träumen gesehen hatte, ein Labyrinth von halb beleuchteten Kammern, in denen sich Abscheulichkeiten befanden, aus denen er voller Angst erwachte, sein Fleisch und seine Knochen kälter als die Nacht jenseits der Fenster.

Am Morgen rief er seinen Agenten Charlie Placket an, um ihm mitzuteilen, dass er für einen oder zwei Monate nach Kalifornien reisen werde, bis eine Idee für seinen nächsten Roman ausgereift sei.

»In meinem Kalender habe ich den 15. April notiert«, sagte Charlie.

»Hast du was notiert?«

»Du und Kalifornien. So früh war es noch nie.«

»Ich bin nicht so berechenbar, Charlie.«

»David, du bist 37, ich vertrete dich seit acht Jahren, und alle zehn Monate fährst du nach Newport Beach, um dich für zwei Monate zurückzuziehen. Niemals irgendwo anders. Zum Glück sind deine Romane nicht so vorhersehbar wie deine Reisepläne.«

»Der Ort inspiriert mich, das ist alles. Die Sonne, das Meer. Ich komme immer mit einer Idee für einen Roman zurück, den ich unbedingt schreiben muss.«

»Warum gehst du dann überhaupt von dort weg, wenn er dich so sehr inspiriert?«

Manche Dinge behält man besser für sich, auch einem guten Freund wie Charlie Placket gegenüber. »Ich habe gehört, wenn ich es in New York schaffe, kann ich es überall schaffen.«

»Ich stelle dir jedes Mal die gleiche Frage und du hast immer eine andere Bullshit-Antwort parat.«

»Ich bin Schriftsteller. Bullshit ist mein Geschäft.«

3

Newport Beach sonnte sich in frühlingshafter Wärme, als David Thorne am späten Nachmittag des 26. März eintraf. An einem ansonsten klaren Himmel zierte ein langes, feines Netz aus weißen Wolken den Westen, der bald von der untergehenden Sonne vergoldet werden würde.

Ein Taxi brachte ihn vom Flughafen John Wayne zu seinem Haus in dem als Corona del Mar bekannten Stadtteil von Newport. Sein einstöckiges Haus im Cottage-Stil lag drei Blocks vom Strand entfernt und hatte keinen Blick auf den Ozean, aber das Grundstück war von großem Wert. Er hätte das Haus nicht für das Zehnfache dessen verkauft.

Er hatte es mit den Einnahmen aus seinem ersten Bestseller gekauft, als er ein 25 Jahre altes Wunderkind gewesen war. Er mochte den Landhauscharme noch immer: blassgelber Stuck, Fenster mit weißen Läden und gebogenen Lamellen, eine Veranda mit kanariengelber Schaukel. Das Haus lag im Schatten von Palmen und war von Hibiskus gesäumt, der bald große gelbe Blüten tragen würde.

Eine Hausverwaltung hielt das Haus in tadellosem Zustand und kümmerte sich auch um seinen SUV, einen weißen Porsche Cayenne. Sie hätte das Haus vermietet, wenn David in New York war, aber er gestattete nicht, dass es von anderen bewohnt wurde. Trotz seiner schlichten Bauform und seiner Größe war es so etwas wie ein Schrein.

Der Drang zurückzukehren hatte ihn im Januar überkommen. Aber das wären nur sieben Monate seit seinem letzten Besuch gewesen, was sich falsch anfühlte. Selbstbeherrschung war gefragt. Immer wenn er nach New York zurückflog, wünschte er sich bei der Landung auf dem Flughafen, sofort nach Newport zurückzukehren. Er war noch nie zweimal in einem Jahr dort gewesen, aber er hielt das Haus frei für den Fall, dass er eines Tages der Anziehungskraft, die dieses Anwesen auf ihn ausübte, nicht mehr widerstehen konnte.

Manchmal dachte er, er hätte nie weggehen sollen. Vielleicht wäre er am glücklichsten, wenn er ständig hier leben würde.

Aber seine Intuition sagte ihm, dass es zu seinem einzigen Zuhause zu machen nicht nur das aufs Spiel setzen würde, was er in den letzten zehn Jahren an relativer Zufriedenheit gefunden hatte, sondern auch seine geistige Gesundheit.

Ihm war klar, dass sein kreatives Talent mit einem Hang zur Besessenheit verbunden war. Er musste mit diesem Ort, diesem wichtigen Bestandteil seiner Vergangenheit, in Verbindung bleiben. Wenn er seiner Anziehungskraft nicht widerstand, würde er von ihr verschlungen werden.

Seine Zeit verbrachte er mit Verleugnung und Hoffnung. Mit jeder Woche wich die Verleugnung den Schuldgefühlen, und die Hoffnung verwandelte sich in Trauer.

Nachdem er ausgepackt hatte, stand er eine Weile da und starrte auf das große Bett. Dann nahm er den Überwurf herunter, faltete ihn zusammen und legte ihn auf einer Bank ab. Seine Hände zitterten, als er die Laken zurückschlug.

Später, in einem Restaurant am Hafen, dessen Einrichtung in Schwarz und Silber mit blauen Akzenten gehalten war, durch und durch Art déco, nahm er einen Drink an der Bar zu sich und danach ein Abendessen an einem Tisch am Fenster.

Segeljachten und Motorboote fuhren auf dem Wasser, kehrten von einem Nachmittag auf See zurück.

Meistens aß er hier zu Abend. So hielt er es immer. Das Essen war ausgezeichnet. Wenn er zu viel trank, gab es starken Kaffee oder ein Taxi.

Er erkannte keinen der Angestellten von früheren Besuchen wieder. Falls sich jemand an ihn erinnerte, sagten sie es nicht. Das war ihm ganz recht. Er zog die Anonymität vor und hatte keine Lust, sich auf ein Gespräch einzulassen.

An der Bar und erneut, als er sich an einen Tisch setzte, überkam ihn eine Erwartung – wovon, ob gut oder schlecht, konnte er nicht sagen. Aufmerksam saß er allein an einem Fenstertisch für zwei Personen und beobachtete die anderen Gäste, die jedoch ebenso wohlhabend wie unauffällig waren.

Die Schäfchenwolken färbten sich vor dem azurblauen Himmel zu Gold und wurden dann vor einem saphirblauen Hintergrund blutrot. Aber es war nicht der Sonnenuntergang, der ihn mit Erwartung erfüllte.

Als die Sterne zum Vorschein kamen, verblasste seine Vorahnung allmählich. Auf dem dunklen Wasser des Hafens spiegelten sich die Lichter des Ufers wie bunte Stränge aus geriffeltem Kandiszucker.

Er und Emily waren damals häufig hierhergekommen, als die Einrichtung noch nicht ganz so prächtig gewesen war. Aber sie suchte diesen Ort nicht heim, nur sein Herz.

Während der zehnminütigen Fahrt nach Hause hatte er das Gefühl, dass der Abend so unvollständig war wie der Halbmond.

Er träumte von dem Keller mit den vielen Kammern, diesem bösartigen und grausamen Labyrinth. Obwohl es sich um einen realen Ort handelte, hatte er es vermieden, sich Berichte in den Nachrichten darüber anzusehen; aber seine Fantasie führte ihn in seinem unruhigen Schlaf erneut dorthin. Die Albtraumbilder waren so lebendig, dass er, als er um Viertel nach drei aufwachte, ins Bad ging und sich übergab.

4

Am nächsten Abend, an einem Donnerstag, war die hufeisenförmige Bar schon früh gut besucht. Gut gekleidete Singles in ihren Zwanzigern und Dreißigern tranken sich in Stimmung und waren auf der Jagd nach jemandem, mit dem sie anbandeln konnten – aber nicht zu offensichtlich. Eifer konnte leicht als Verzweiflung fehlinterpretiert werden. Es war ein wohlhabendes Publikum, das Verzweiflung eher mit wirtschaftlicher als mit emotionaler Not verband. Männer wie Frauen scheuten vor jedem zurück, dessen gesamtes Nettovermögen in der Kleidung und dem Schmuck stecken könnte, die er trug, und der womöglich auf einen Fang aus war.

An der Bar war es David zu voll. Er gab der Kellnerin ein Trinkgeld für den Fenstertisch, an dem er am Abend zuvor gegessen hatte. Sie brachte ihn an seinen Platz und sorgte dafür, dass der Kellner ein Glas Caymus Cabernet brachte, als er die Serviette entfaltete und auf seinen Schoß legte.

Die Erwartung, die am Vorabend seine Nerven angespannt hatte, stieg wieder in ihm auf. Er ging nicht davon aus, dass sich daraus etwas ergeben würde. Das tat es nie.

In der Nähe im Hafen ruderten zwei Frauen um die 20 in Bikinis auf Paddleboards an den Docks vorbei und kamen so mühelos voran, dass sie sich gleichzeitig angeregt unterhielten und vergnügt lachten.

Sie waren schön und attraktiv, mit gebräunten und seidigen Gliedmaßen, aber obwohl sie in David ein gewisses Bedürfnis weckten, erfüllten sie ihn nicht mit echtem Verlangen.

Die aufgeblähte Sonne war noch fünf Minuten davon entfernt, im Meer zu versinken, als er in Richtung der lärmenden Bar blickte und sie sah. Er erstarrte mit dem Weinglas auf halbem Weg zum Mund und vergaß für einen Moment, dass es noch in seiner Hand war.

Sie spielte in der Liga jener Schönheiten, die dumme Männer zu Torheiten verleiten und klügere Männer an ihren Unzulänglichkeiten verzweifeln lassen.

Er dachte, er müsse sich täuschen. Dann schaute sie in seine Richtung und blickte ihn einen Moment lang von ferne an, und er stellte aus Angst, den Cabernet zu verschütten, sein Glas ab.

Ihr Blick verweilte weder auf David noch auf sonst jemandem. Sie wandte ihren eleganten Kopf dem Barkeeper zu, als er ihr einen Martini servierte.

Am Horizont stehend, warf die aufgeblähte Sonne apokalyptisches Licht durch die riesigen getönten Fenster.

Das Restaurant und die Bar nahmen einen enormen Raum ein, der so gestaltet war, dass die Gäste sehen und von einem möglichst großen Publikum gesehen werden konnten. Doch als sich der Raum mit dem fantastischen Licht des sterbenden Tages füllte, hatte David das Gefühl, dass alle außer ihm und dieser Frau sich in Luft aufgelöst hatten.

Die Sonne ging unter, die Nacht brach herein wie eine Flut, und das Restaurant verblasste zu einem romantischen Schimmer.

Obwohl er es in Erwägung zog, die Frau an der Bar anzusprechen, wagte er es nicht.

Sie konnte gewiss nicht echt sein.

Er bestellte ein zweites Glas Cabernet und das Filet mignon und beobachtete sie während der nächsten Stunde heimlich. Sie sah ihn nicht mehr an.

Die anderen Frauen an der hufeisenförmigen Bar erkannten in ihr unerreichbare Konkurrenz und verachteten diese schwarzhaarige, blauäugige Schönheit.

Ein paar Männer brachten den Mut auf, sie anzusprechen, aber sie wies sie sanft mit einer kurzen Unterhaltung und einem reizenden Lächeln ab. Ohne Ausnahme schienen sie zu glauben, dass eine höfliche Zurückweisung durch sie eine Art Triumph sei.

Nach und nach fanden sich Paare und gingen zum Abendessen über oder brachen gemeinsam auf, und diejenigen, die keinen Erfolg hatten, steigerten entweder ihren Alkoholkonsum oder zogen weiter zur nächsten Bar.

Sie bestellte einen zweiten Martini und nahm dann ihr Abendessen an der Bar mit einem Glas Rotwein ein. Sie aß mit einem Appetit und einer Konzentration, die David vertraut waren.

Die Erwartung, die zwei Abende hintereinander von ihm Besitz ergriffen und die sich mit der Ankunft dieser Frau erfüllt hatte, war gewiss mehr als bloße Hoffnung oder Intuition. Ein seltsames Schicksal schien sich abzuspulen.

Er bezahlte seine Rechnung und begab sich mit seinem halb vollen Glas Wein an die Bar, wo er sich auf dem Hocker neben ihrem niederließ.

Sie sah ihn nicht einmal an, sondern konzentrierte sich auf den letzten Bissen ihres Steaks.

David wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte. Seine Kehle fühlte sich geschwollen an und er hatte Schwierigkeiten zu schlucken. Ihm war leicht zumute vor Hoffnung und schwer wegen der Angst vor einer Enttäuschung.

Als sie fertig war, die Gabel ablegte und einen Schluck Wein trank, sagte er schließlich: »Wo bist du all die Jahre gewesen?«

Sie leckte sich die Lippen, wobei ihre Zunge sich mit besonderer Sorgfalt um den rechten Mundwinkel kümmerte, so wie er es vorausgeahnt hatte.

Als sie ihm ihre Augen zuwandte, waren sie in zwei Blautönen gestreift und strahlten wie Juwelen.

»Von einem Schriftsteller hätte ich eine bessere Anmache erwartet.«

Sein Herz hatte sich beengt angefühlt, wie vom Narbengewebe einer alten Wunde gefesselt. Jetzt löste es sich aus diesen Knoten und schlug wie das unversehrte und gesunde Herz eines Jungen.

»Ich hatte Angst … Angst, du würdest sagen, dass du mich nicht kennst.«

»Viele lesen wahrscheinlich nicht, ich aber schon. Ich habe immer gedacht, dass Sie so ganz anders aussehen als das, was Sie schreiben.«

Das Hochgefühl, das in ihm aufgestiegen war, schwand nun dahin. »Daher kennen Sie mich – von den Fotos auf den Buchumschlägen?«

Sie legte den Kopf schief und sah ihn mit einem halben Lächeln fragend an.

»Nun, ich habe Sie nicht im Fernsehen gesehen. Ich sehe nie fern.«

Ihr Blick war ihm schmerzlich vertraut, nicht nur seine Farbe, sondern auch seine Direktheit.

»Sie spielen nicht irgendein Spiel?«

»Spiel? Nein. Sie etwa?«

Er erkaufte sich einen Moment des Schweigens, indem er einen Schluck Wein trank. »Ich glaube nicht an erstaunliche Zufälle.«

»Welcher Zufall hat Sie denn gerade in Erstaunen versetzt?«

»Emily.«

»Wie bitte?«

»Ihr Name ist Emily.«

»Mein Name ist Maddison.«

»Dann müssen Sie eine Schwester namens Emily haben.«

»Ich bin ein Einzelkind.«

»Ich wusste nie von einer Schwester.«

»Weil es keine gibt.«

»Das ist merkwürdig.«

»Was denn?«

Sie war zu jung. Das sah er jetzt. Ein Jahrzehnt zu jung, aber ansonsten war sie ein genaues Ebenbild.

»Sie sind zu jung.« Er wollte den Gedanken nicht laut aussprechen.

Sie nippte an ihrem Wein, stützte einen Ellbogen auf die Bar und legte ihr Kinn in die Hand, genau wie Emily es getan hatte, und betrachtete ihn einen langen Moment. »Das hat sich zu einer viel besseren Anmache entwickelt. Am Anfang war es echt lahm. ›Wo bist du mein Leben lang gewesen?‹«

»Es war ›Wo bist du all die Jahre gewesen?‹«

»Wie auch immer. Aber Sie haben es in den anschließenden Fassungen erheblich aufpoliert, um eine schöne geheimnisvolle Note ergänzt.«

Er fühlte sich verwirrt. Als wäre er in ein Paralleluniversum abgedriftet. »Zehn Jahre. Sie war 25, als ich sie zuletzt gesehen habe.«

»Ich bin 25.«

»Aber Sie sind nicht Emily.«

»Ich bin froh, dass wir uns da endlich einig sind.«

Er erinnerte sich nicht daran, seinen Wein ausgetrunken zu haben, aber sein Glas war leer. »Keine zwei Menschen, die nicht miteinander verwandt sind, könnten sich so ähnlich sehen. Sie müssen eine ältere Schwester haben, von der Sie nichts wissen.« Er holte sein Smartphone aus einer Jackentasche. »Darf ich ein Foto von Ihnen machen?«

»Das ist alles, was Sie von mir wollen – ein Foto?«

Die Frage ließ ihn verblüfft zurück.

»Was ist mit Ihrem jüngeren Bruder?«, fragte sie.

»Ich habe keinen Bruder, weder jünger noch sonst wie.«

»Schade. Er hätte mich jetzt vielleicht schon nach Hause gebracht.«

»Sie spielen mit mir. Genau wie sie es getan hat.«

»Sie ist die sagenumwobene Emily, nehme ich an.«

»Sie würden nicht mit mir nach Hause gehen, wenn ich Sie fragte. Emily war nicht so leicht zu haben und Sie sind es auch nicht.«

Maddison zuckte mit den Schultern. »Als ob Sie mich kennen würden. Wenn Sie nur ein Foto wollen, machen Sie ruhig eins.«

Er machte drei. »Wie ist Ihr Nachname?«

»Sutton. Maddison Sutton.« Als er das Telefon weglegte, fragte sie: »Was nun?«

Er tat sich nicht leicht mit solchen Dingen, nicht dieser Tage, nicht seit Emily. »Es gibt einen Altersunterschied.«

»Meine Güte, Sie sind doch erst 30.«

»37.«

»Ich nenne Sie Opa, Sie können mich Lolita nennen.«

»Okay, es ist kein Jahrtausend. Würden Sie mit mir zu Abend essen?«

»Ich habe gerade zu Ende gegessen. Sie auch.«

»Morgen Abend.«

»Ich habe Zeit.«

»Ist dieses Lokal in Ordnung?«

»Es ist wunderbar teuer.«

»Ich hole Sie um 17:30 Uhr ab.«

»Lassen wir es langsam angehen. Ich treffe Sie hier.«

»Eben wollten Sie noch mit mir nach Hause gehen.«

»Nicht mit Ihnen. Mit Ihrem Bruder.«

Obwohl er durch ihre Ähnlichkeit mit Emily verunsichert war, lachte er. »Zu meinem Glück bin ich ein Einzelkind.«

»Behaupten Sie. Wahrscheinlich ist Ihr Bruder niedlicher.«

»Sie reden sogar wie sie.«

»Inwiefern?«

»Mir immer einen halben Schritt voraus.«

»Mögen Sie das?«

»Muss ich wohl.«

Er wollte keinen Wein mehr. Sie nippte an ihrem, als wollte sie vermeiden, mit ihm zu gehen und für eine weitere Betttrophäe gehalten zu werden. »Nun, okay, dann sehen wir uns morgen«, sagte er und ging.

Die Nacht war angenehm kühl, die Luft eher mild als frisch und angenehm duftend nach dem schwachen, moschusartigen Geruch des eindringenden Meeres, das sich innerhalb der Hafenmauern unaufhörlich hob und senkte.

Nachdem er seinen SUV vom Parkservice abgeholt hatte, fuhr David quer über den Pacific Coast Highway und hielt auf dem leeren Parkplatz einer Bank. Von dort aus hatte er einen guten Blick auf das Restaurant.

Es vergingen zehn Minuten, bis sie auftauchte. Als er sie erblickte, beeilte sich der Angestellte des Restaurants, einen elfenbeinfarbenen zweisitzigen Mercedes 450 SL zu holen, der mindestens 40 Jahre alt, aber tadellos gepflegt war.

Während sie im goldenen Schein des Portikus auf den Wagen wartete, schien sie nicht Gegenstand des Lichts zu sein, sondern dessen strahlende Quelle.

Ihr Anblick weckte in David jenes gewisse Bedürfnis, aber dieses Mal auch ein Verlangen.

Obwohl sie nicht wusste, welches Auto er fuhr, wagte er ihr nur mit Abstand zu folgen. Es herrschte weiter wenig Verkehr und er lief nie Gefahr, sie zu verlieren.

Er erwartete, zu einem Haus geführt zu werden, vielleicht zu einem in einer bewachten Wohnanlage. Stattdessen fuhr sie zum Island Hotel.

Aus der Ferne sah er zu, wie sie den Mercedes einem weiteren Angestellten übergab, der an der offenen Fahrertür stand und ihr nachschaute, bis sie in der Lobby verschwunden war.

David fuhr nach Hause und schlief fünf Stunden lang wie betäubt. Er träumte davon, im Island Hotel nach Emily zu suchen.

Die Pagen trugen Schwarz und automatische Karabiner und weigerten sich, ihm mit seinem Gepäck zu helfen, was nichts ausmachte, denn er hatte keins; er wollte nicht einchecken; er suchte nur nach Emily. Der Mann an der Rezeption betonte, dass sich derzeit niemand im Hotel aufhalte, was sich als wahr herausstellte, als David Zimmer für Zimmer, Stockwerk für Stockwerk durchsuchte, mit zunehmender Dringlichkeit, auf der Suche nach jemandem, der Emily gesehen haben könnte. Er vermutete, dass sie an die Bar gegangen sein musste, um etwas zu trinken. Aber die Bar war in eine Krankenstation umgewandelt worden, in der Verwundete auf Feldbetten ausgestreckt lagen. Obwohl er sich nicht daran erinnerte, verwundet worden zu sein, fand er sich auf einer Liege wieder, die von einer Krankenschwester in schwarzer Uniform betreut wurde. Mit einem Gummischlauch als Aderpresse stach sie mit einer Nadel in eine seiner Venen und saugte Blut in ein Sammelröhrchen. Da ihre Uniform nicht weiß, sondern schwarz war, befürchtete er, dass sie keine echte Krankenschwester war, aber sie versicherte ihm, dass sie Krankenschwester und ausgebildete Phlebotomistin sei. »Ich habe viel Erfahrung mit Blut«, sagte sie. Erst da erkannte er, dass sie Emily war, und mit großer Erleichterung sagte er: »Endlich habe ich dich gefunden«, und sie sagte: »Du wirst dich nicht hieran erinnern. Schlaf und vergiss es. Du wirst dich nicht erinnern.«

5

In der Nacht wachte er auf und duschte. Er erinnerte sich vage an den Traum, obwohl die Krankenschwester ihn ermahnt hatte zu vergessen. In der linken Armbeuge befand sich eine kleine rote Schwellung. Ein Spinnenbiss. Da er im Schlaf gebissen worden war, hatte er den Biss gespürt und einen Teil des Traums um ihn herum gestaltet. Der schlafende Verstand war ein erfinderischer, wenn auch seltsamer Dramatiker.

Der Morgen war noch nicht angebrochen, als er die drei Smartphone-Schnappschüsse von Maddison Sutton auf den Computer im Arbeitszimmer kopierte und auf glänzendes Fotopapier druckte.

Er legte die Fotos auf den Küchentisch mit der Absicht, sie beim Frühstück zu studieren. Er trank Kaffee und aß nichts.

Die frühe Sonne hatte langsam eine Fensterform über den Tisch bis zu den Fotos geschoben, als würde das Licht von ihrem unvergleichlichen Gesicht angezogen.

Im Schlafzimmer öffnete er die unterste Schublade der Kommode und entnahm eine weiße Schachtel im A4-Format. Er ging zurück in die Küche, öffnete die Schachtel und nahm eine Reihe von Bildern von Emily Carlino heraus.

Er hatte sie oben in die Kommode gelegt, nachdem … sie fort war. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr angesehen, weil ihr Anblick ihm so viel Schmerz und Sehnsucht bereitete – und Angst.

Obwohl er eine halbe Stunde damit verbrachte, das Material zu untersuchen, konnte er nicht den geringsten Unterschied zwischen Maddison und Emily erkennen. Sie waren sich so ähnlich wie eineiige Zwillinge, die aus einer befruchteten Eizelle entstanden waren und sich eine Fruchtblase und eine Plazenta geteilt hatten, bis sie auf die Welt gekommen waren.

Nachdem er ein Vergrößerungsglas aus dem Arbeitszimmer geholt hatte, ergab die weitere Untersuchung der Fotos nichts Neues. Ihre Augen waren unter der Lupe eulenhaft und sie begegnete seinem Blick mit ihrem eigenen.

6

Isaac Eisenstein war nicht nur irgendein Privatdetektiv, ein Schnüffler mit einem Büro im dritten Stock in einer schäbigen Seitenstraße. Ihm gehörte eine der größten Sicherheitsfirmen in New York City, die Alarmsysteme, gepanzerte Fahrzeuge und bewaffnete Leibwächter anbot. Mit seinem Stab lizenzierter Privatdetektive war er in der Lage, Ermittlungen jeglicher Komplexität durchzuführen. Neben einer geschätzten Recherchequelle für Davids Romane war Isaac außerdem so etwas wie ein Freund. Er war um neun Uhr Ostküstenzeit in seinem Büro, als David den Anruf tätigte.

Er stand an der Küchenspüle und beobachtete durch das Fenster, wie ein Rubinkehlkolibri sich sein Frühstück von den Blüten eines rotrindigen Erdbeerbaums holte, und sagte: »Isaac, ich brauche Hilfe.«

»Das habe ich Pazia schon tausendmal gesagt.«

Pazia, seine Frau, war Psychiaterin mit einer florierenden Praxis.

»Vielleicht möchte ich tatsächlich mit ihr reden, bevor es vorbei ist. Aber jetzt schicke ich dir erst einmal sechs Fotos.«

»Du machst also unanständige Selfies wie dieses Arschloch von einem Kongressabgeordneten?«

»Nein. Ich möchte nicht, dass du dich unzulänglich fühlst.«

»Träumer.«

»Es sind jeweils drei Bilder von zwei Mädchen. Sie sehen aus wie dasselbe Mädchen, aber vielleicht auch nicht. Kannst du Gesichtserkennungssoftware laufen lassen und mir sagen, ob sie dieselbe Person sind?«

»Kinderleicht.«

»Ich schicke dir außerdem ein kalifornisches Kennzeichen von einem alten Mercedes 450 SL. Die DMV-Registrierung wäre hilfreich. Und ich wäre dankbar für ein Foto eines Führerscheins, der auf Maddison Sutton, 25 Jahre alt, ausgestellt ist.« Er buchstabierte den Namen.

»Keine Chance, Jungchen. Dieser Betrieb ist so sauber, dass meine Großmutter vom Boden essen würde, obwohl sie Keimphobikerin ist.«

Wenn Isaac nicht selbst in jedes Computersystem der Zulassungsstelle eindringen konnte, kannte er jemanden, der es konnte. Trotz seiner Weigerung würde er die Informationen beschaffen.

»Nun, ich musste fragen.«

»Und ich musste es sagen.«

»Schon klar. Ein paar der Fotos sind direkt von meinem iPhone, aber die anderen drei sind Scans von alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen.«

»Gut genug. Hör mal, Kleiner, steckst du da draußen in Schwierigkeiten?«

»Keine Schwierigkeiten. Nur in so einer merkwürdigen Situation.«

»Willst du mir davon erzählen?«

»Wenn ich wieder in New York bin.«

»Das heißt nie.«

»Doch, werde ich«, versprach David.

Isaac seufzte. »Du hältst dich immer so bedeckt, es ist, als wäre dein ganzes Leben eine einzige lange Pokerpartie.«

7

Da er wusste, dass er Kalifornien besuchen würde, hatte David Thorne am Dienstag zuvor einen Pendlerflug vom John Wayne Airport in Orange County nach Sacramento gebucht. Um 9:40 Uhr landete das Flugzeug auf dem Sacramento International.

Der Mietwagen hatte GPS, aber das brauchte er nicht. Er war schon so oft zum Folsom State Prison gefahren, dass er die Strecke auswendig kannte.

In Folsom gab es zwei Hochsicherheitstrakte, in denen Gewohnheitsverbrecher und gewalttätige Individuen untergebracht waren, die eine extreme Gefahr für die Sicherheit anderer darstellten. Die Mauern, die das Gelände umgaben, waren hoch und erst kürzlich mit NATO-Draht versehen worden.

Der tief hängende Himmel drohte Regen an. In den Wolken waren keine anderen Formen zu erkennen als geballte und bedrohliche Gesichter von grimmiger und unmenschlicher Gestalt.

Im Empfangsbereich der eindrucksvollen Hochsicherheitseinheit beobachteten an der Decke montierte Kameras, wie David seinen Lichtbildausweis vorlegte, einen Metalldetektor passierte und sich durchleuchten ließ.

Die Gefängnisbehörden, der Häftling Ronald Lee Jessup und Jessups Anwalt hatten David regelmäßige Besuche genehmigt. Sie glaubten, dass er für ein Buch über Jessup recherchierte, was er nicht tat, aber er überwies jeden Monat 500 Dollar auf Jessups Konto, mit denen der Gefangene Snacks und Taschenbücher und andere Dinge kaufen konnte, um das Leben hinter Gittern angenehmer zu gestalten. Da Jessup ansonsten mittellos war, stellten diese Zuwendungen allein sicher, dass David empfangen wurde, doch die Zahlungen nagten an seinem Gewissen.

Sie trafen sich in einem Raum, der für Besprechungen zwischen Anwälten und Mandanten vorgesehen war. Ein zweieinhalb Meter langer Metalltisch und zwei Bänke waren mit dem Boden verschraubt.

Vor Davids Ankunft war Jessup dorthin gebracht, mit den Füßen an eine Bank gekettet und mit Handschellen an einen Stahlring in der Zarge des Tisches gefesselt worden. Er konnte weder aufstehen noch mit mehr als einer Hand nach seinem Besucher greifen.

Ein bewaffneter Wachmann sah hinter einer Fenstertür zu, die ihm im unwahrscheinlichen Fall einer Notlage sofortigen Zugang verschaffen würde. Der Wachmann wirkte reglos, beinahe künstlich. Ein Roboter, der nur aktiviert werden konnte, wenn jemand das Glas zerbrach, hinter dem er stand.

David setzte sich Jessup gegenüber und legte einen A4-Umschlag auf den Tisch. Ein Wachmann hatte zuvor den Inhalt inspiziert.

Ronald Lee Jessup war ein großer, aber sanftmütig aussehender Mann, dessen weiche Züge eine solche Andeutung von einfältiger Freundlichkeit trugen, dass er Lennie in Steinbecks Von Mäusen und Menschen hätte spielen können. In den Medien hieß es manchmal, seine Augen seien gelb, aber das stimmte nicht. Es waren warme, honigbraune Augen, wie sie auf das Plüschgesicht eines Stoffbären hätten genäht sein können. Sie waren außerdem wie die Augen eines solchen Bären, weil sie wenig Tiefe hatten.

»Guten Morgen, Mr. Thorne.« Jessups weiche, melodische Stimme war jedes Mal eine Überraschung. »Es ist so nett von Ihnen, den alten Ronny zu besuchen.«

»Wie geht es Ihnen heute, Ronny?«

»Mir geht’s gut. Und Ihnen?«

»Ja, mir geht es gut.«

»Freut mich zu hören. Und danke für die Überweisung auf mein Konto und so.«

»Nun, das ist nur das, was wir vereinbart haben.«

»Ich habe noch mehr von diesen Louis-L’Amour-Büchern gekauft. Mögen Sie Western, Mr. Thorne?«

»Ich habe nicht so viele gelesen wie Sie.«

Jessups Lächeln war aufrichtig, bescheiden, ohne Ironie. »Nun, ich schätze, ich habe mehr Zeit dafür als Sie. Ich mag Western und so, weil die Guten immer gewinnen, so wie es sein sollte, aber meistens nicht ist.«

Ronny Jessup drückte oft Dankbarkeit darüber aus, gefasst und inhaftiert worden zu sein. Er schien es aufrichtig zu meinen.

»Schreiben Sie immer noch ein Buch über mich?«, fragte Jessup.

»Das mache ich allerdings, Ronny.«

»Dauert ganz schön lange.«

»Bei allem, was sich lohnt, ist das generell so.«

»Ich schätze, das stimmt. Kenne ich jemanden, den Sie in letzter Zeit interviewt haben? Familienangehörige oder so?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Ronny. Die Leute werden nervös, wenn sie glauben, dass Sie wissen, dass über Sie geredet wird.«

»Ja, das habe ich vergessen.« Er schüttelte seinen massigen Kopf. »Das ist traurig. Es gibt nichts, was ich ihnen antun würde, selbst wenn ich es könnte. Das liegt alles hinter mir, als hätte es das nie gegeben.«

Das Haus, das Jessup von seiner Mutter geerbt hatte, stand auf einem sechs Hektar großen Grundstück, eine halbe Meile vom nächsten Nachbarn entfernt. Der ursprüngliche Keller hatte vier Zimmer. Als fähiger Zimmermann und hervorragender Maurer hatte er den Keller vom Haus aus nach außen erweitert, bis er elf unterirdische Kammern hatte.

Als er gefasst wurde, waren vier der Zimmer von Frauen belegt, die er entführt hatte. Eine Gefangene hatte durch körperliche Misshandlung einen Hirnschaden erlitten, eine andere war wahnsinnig geworden. Bei zwei von ihnen ging man davon aus, dass sie mit ausreichend Zeit und Therapie noch zu retten waren.

Fünf der elf Kammern waren Zellen. Fünf weitere waren, wie er es nannte, »Spielzimmer«, die jeweils einen grausamen und abschreckenden Zweck erfüllten. Im elften Raum lagerten die Leichen von neun Frauen, die er mit seiner speziellen Mixtur aus Konservierungsmitteln behandelt und zur Mumifizierung eng in Baumwollbinden gewickelt hatte.

David hatte diesen Ort nie gesehen, auch keine Fotos davon. Er hatte in seinen Träumen eine eigene Version davon gebaut, geprägt von seiner Angst und seinen Schuldgefühlen.

Nach seiner Festnahme und Verhaftung gestand Ronny Jessup aus freien Stücken insgesamt 27 Entführungen, 14 mehr als die vier lebenden Frauen und neun Leichen, mit denen er erwischt worden war. Er äußerte Reue für seine Taten und schien die Zahl nicht aufzublähen, um sich wichtiger zu machen. Die Polizei ging davon aus, dass es tatsächlich 27 waren, obwohl Jessup weder die Namen der 14 Leichen nennen wollte, die nicht gefunden worden waren, noch sagen wollte, wann und wohin er sie verschleppt hatte. Er sagte, sie seien seine »zukünftigen Königinnen« und nur er habe das Recht auf ihre Namen.

Jetzt fragte David: »Wo sind die anderen 14 Leichen, Ronny? Die Unbekannten, die Sie gestanden haben. Sind Sie bereit, es mir zu sagen?«

Der große Mann zuckte mit den Schultern und seufzte. »Sie wissen, dass ich das nicht tun kann, Mr. Thorne. Ich habe mich für sie schuldig bekannt und mehr kann ich nicht tun. Es tut mir leid und so, aber mehr kann ich nicht tun.«

»Sie wissen, dass Sie niemals aus dem Gefängnis kommen werden. Sie werden hinter Gittern sterben.«

»So wird es wahrscheinlich sein.« Sorgenfalten zogen sich über seine weichen Züge, aber nicht weil die Aussicht auf ein Leben im Gefängnis ihn verzweifeln ließ. »Aber was ist, wenn ich durch einen verrückten Zufall doch rauskomme? Gott bewahre, dass das passiert, aber was, wenn doch?«

Sie hatten das schon einmal besprochen. David schwieg.

»Vielleicht bricht ein Erdbeben diese Mauern auf oder es gibt einen Krieg und Bomben fallen oder ein Wächter macht einen Fehler. Wenn ich irgendwie draußen lande, will ich keine Mädchen mehr von der Straße stehlen.«

»Dann tun Sie es nicht.«

»Aber ich kenne mich. Ich weiß, wie schwach ich sein kann, und ich weiß, dass ich es sein werde. Es sei denn, ich habe meine 14 Versteckten. Sie werden reichen. Ich muss meine 14 Versteckten haben, Mr. Thorne, damit ich keine neuen Mädchen stehlen muss.«

Jessup glaubte aufrichtig an seine Fähigkeit, Tote vor dem Verfall zu bewahren, und daran, dass er irgendwann einen Weg finden würde, sie wiederzubeleben.

»Das kann man mit Elektrizität machen«, erklärte er. »Ich habe es herausgefunden. Und wenn ich sie auferstehen lasse, muss ich der Einzige sein, der ihre Namen kennt. Genau so muss es sein.«

»Das funktioniert nicht«, widersprach David. »Auf keinen Fall, niemals. Die Toten bleiben tot.«

»Ich will keine Mädchen mehr stehlen. Mit den 14 habe ich alles, was ich brauche.«

David schwieg eine Weile, um seine Frustration zu zügeln.

Der Gefangene beobachtete ihn mit hellen, flachen Knopfaugen.

Die Polizei hatte Ronnys sechs Hektar Land mit Leichenspürhunden abgesucht und an ein paar Stellen gegraben, ohne Erfolg.

»Sie haben mir schon einmal gesagt, dass Sie all ihre Namen kennen, auch wenn Sie sie nicht verraten wollen.«

»Klar kenne ich sie. Sie haben mir viel bedeutet, jedes einzelne dieser hübschen Mädchen. Aber sie gehören mir und warten darauf, zurückgebracht zu werden, und niemand außer mir braucht ihre Namen zu kennen. Wie auch immer, ich habe kein besseres Gedächtnis als andere, also habe ich wahrscheinlich ein paar Namen vergessen.«

»Sagen Sie mir, ob eine von ihnen Emily Carlino war.«

Sie war zehn Jahre zuvor verschwunden, auf einem der Highways entlang des Küstenabschnitts, wo Ronny Lee Jessup viele der anderen Frauen entführt hatte.

»Sie haben mich schon einmal nach diesem Namen gefragt.«

»Ich habe Sie nach vielen Namen gefragt.«

»Nach diesem mehr als nach jedem anderen. Warum gerade diesen?«

»Ich glaube nicht, dass ich mehr nach ihr gefragt habe als nach den anderen.«

»Wenn Sie mir das weismachen wollen, frage ich mich, warum.«

»Ich will Ihnen nichts weismachen, Ronny. Ich möchte nur, dass Sie mir helfen, Sie in diesem Buch genau richtig darzustellen.«

Jessup nickte. Seine weichen Gesichtszüge nahmen einen traurigen Ausdruck an und er ließ den Kopf hängen. Er saß eine Weile schweigend da.

»Sie muss etwas Besonderes für Sie gewesen sein. Wenn ich mehr über sie wüsste als nur einen Namen, den ich vielleicht vergessen habe, wenn ich wüsste, warum sie so besonders ist, dann könnte ich mich vielleicht erinnern.«

David wagte nicht, sich seine Wut anmerken zu lassen.

Wenn die Leute offen wütend auf Ronny Lee Jessup waren, waren seine Gefühle verletzt und er zog sich in Selbstmitleid zurück und schwieg tage- oder sogar wochenlang.

Ohne einen Anflug von Vorwurf sagte David: »Ronny, es tut mir leid, dass ich das sagen muss, aber das Problem ist nicht, dass Sie sich nicht erinnern können. Das Problem ist, dass Sie es nicht wollen.«

Der große Mann hob den Kopf und unvergossene Tränen schimmerten in seinen flachen Augen. »Sie sind so ein wirklich netter Mann, Mr. Thorne. Sie sind der Beste, den ich je kannte. Ich möchte nicht, dass Sie in einer Welt voller Schmerz leben.«

David flüsterte: »Emily Carlino.«

»Wenn ich nur wüsste, warum sie so besonders ist, abgesehen davon, dass sie so hübsch ist, würde ich mich vielleicht erinnern.«

Bevor David das erste Mal nach Folsom kam, hatte Dr. Ross Dillon, ein Spezialist für Kriminalpsychologie, der Jessup persönlich kannte, ihn gewarnt, dass dieser Killer kein normaler Soziopath war, der menschliche Gefühle vortäuschte. Er war ein gemeingefährlicher, psychopathischer Gefühlsmensch, dessen Gefühlsleben ebenso lebhaft wie konfus war, der Star seiner eigenen Seifenoper und so etwas wie ein psychischer Vampir. Seine Emotionen – und die Emotionen der anderen, von denen er sich ernährte – waren wie ein milder, aber beständiger Orgasmus. Wenn man ihm erlaubte, sich von Davids Erinnerungen an Emily und seinen Gefühlen für sie zu ernähren, wäre Jessup bald gesättigt und er hätte keine Motivation mehr, Fragen über sie zu beantworten. Der beste Weg, ihn aus der Reserve zu locken, war, ihn mit der Aussicht auf emotionalen Austausch zu ködern – aber wie man das anstellen sollte, blieb ein Rätsel.

»Ich möchte wirklich helfen, Mr. Thorne. Es tut mir weh zu wissen, dass Sie wegen diesem Mädchen so sehr leiden.« Die Tränen in seinem rechten Auge blieben unterdrückt, aber eine löste sich aus seinem linken und glitt über seine glatte rosa Wange.

8

Die Begegnung mit Maddison Sutton hatte David Thorne so erschüttert, dass er bereit war, einen Schritt zu tun, von dem Dr. Ross Dillon abgeraten hatte. Er öffnete den Briefumschlag, den er auf den Tisch gelegt hatte … zögerte aber, den Inhalt zu entnehmen.

Obwohl er sich nicht erklären konnte, warum, spürte er angesichts des plötzlichen Auftauchens von Emily Carlinos Doppelgängerin, dass es dringender war, Antworten von Jessup zu bekommen, als 24 Stunden zuvor.

Maddisons Anwesenheit in diesem Restaurant war etwas weitaus Seltsameres und Dunkleres als ein bloßer Zufall, und David spürte, dass die Ereignisse eine Eigendynamik entwickelten, die ihn in einen tödlichen Abgrund stürzen konnte.

Die einzelne Träne kullerte über das Gesicht des Gefangenen in einen Winkel seiner ständig aufgeworfenen Lippen. Die Zungenspitze leckte den Tropfen in seinen Mund, und er schien ihn zu genießen.

Als ob irgendein sechster Sinn ihn die Intensität von Davids Emotion spüren ließ, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Umschlag. Hätte er geglaubt, damit durchkommen zu können, hätte er vielleicht seine freie Hand gehoben und ihn seinem Besucher entrissen.

David holte ein Foto heraus, ein Porträt von Emily.

Jessups Züge nahmen einen verträumten Ausdruck an. Seine Augenlider sanken herab. Seine vollen Lippen öffneten sich, und er atmete durch den Mund.

»Das war sie, Ronny.«

Ein beschleunigter Puls pochte in Jessups rechter Schläfe, aber er schwieg.

David wollte diesem Mann nicht gestatten, Emily zu begehren. Er hatte das Gefühl, sie zu verraten, und er benutzte ihr Bild, um diesen brutalen Vergewaltiger, diese mordende Bestie, dazu zu bringen, endlich die Wahrheit zu sagen, die er vielleicht über sie wusste.

»Sagen Sie es mir, Ronny. Tun Sie das Richtige. Es wird Sie nichts kosten, es mir zu sagen. Ist diese Frau eine der 14 Leichen, die Sie versteckt haben?«

Obwohl er nicht wissen konnte, was in dem Umschlag war, ahnte der Mörder entweder, was ihn erwartete, oder er konnte Davids Verzweiflung mit unheimlicher Klarheit lesen. »Zeigen Sie mir das andere.«

Nach kurzem Zögern, während er seine Wut unterdrückte, entnahm David dem Umschlag ein zweites Bild, diesmal von Emily am Strand im Bikini. Ihre körperliche Gestalt war so perfekt wie ihr Gesicht.

Er hatte das erotischste Foto ausgewählt, das er von ihr besaß, in der Hoffnung, dass die Wirkung Jessups Zurückhaltung brechen und ihn dazu bringen würde zu verraten, was mit ihr geschehen war und wo ihre Leiche gefunden werden könnte.

»Hübsches Mädchen.«

»Was ist mit ihr passiert, Ronny?«

»Ein sehr hübsches Mädchen.«

»Wo ist ihre Leiche?«

Jessup schüttelte den Kopf. »Sie kann nicht tot sein.«

»Wie meinen Sie das?«

»Dass ein so hübsches Mädchen tot sein soll, ist zu traurig.«

David wartete.

Mit seinem Blick liebkoste Jessup das Mädchen auf dem Foto.

Schließlich sagte David: »Ihr Auto ist irgendwann nach Mitternacht auf dem Highway 101, etwa 22 Meilen nördlich von Santa Barbara, liegen geblieben.«

»Sie sollte so spät nicht allein unterwegs sein. Warum wohl fuhr ein hübsches Mädchen wie sie so spät noch allein herum?«

David beantwortete die Frage nicht. Er wollte nicht den Kummer offenbaren, nach dem sich der Mörder sehnte. »Es regnete stark in dieser Nacht. Ein harter, kalter Regen.«

Jessup blieb auf das Bild konzentriert. »Was fährt sie? Was für ein Auto? Vielleicht würde ich mich an das Auto erinnern.«

»Verarschen Sie mich nicht, Ronny. Das ist Ihrer nicht würdig. Sie war eine Schönheit. Sie würden sich eher an sie erinnern als an das Auto.«

»Es gab eine Menge Mädchen, Mr. Thorne, und ich habe sie mehr als 20 Jahre lang gestohlen.«

»27 sind nicht so viele, dass Sie dieses vergessen würden.«

In Jessups linkem Auge erschien eine zweite Träne, im rechten eine erste. »Ich habe 27 gestanden. Das ist noch nicht alles. Sagen Sie mir … War sie ein gutes Mädchen?«

David antwortete, bevor er daran dachte, welche Freude seine Antwort Jessup bereiten würde. »Sie war der beste Mensch, den ich je gekannt habe.«

Endlich hob Jessup seinen Blick von der Fotografie, hellhörig geworden von der tiefen Trauer in der Äußerung seines Besuchers. »Dieses Buch von Ihnen – wenn es denn ein Buch gibt – wird mehr von ihr handeln als von mir.«

David war entschlossen, seine Fassung zu bewahren und dem Mörder nichts mehr zu geben. »Dieser Abschnitt des Highways kann einsam sein. Damals war der Handyempfang in dieser Gegend nicht so gut, die Chance, dass sie um Hilfe rufen konnte, war gering.«

»Wenn sie eines meiner Mädchen wäre, wäre sie die Erste, die ich wieder lebendig machen würde.«

David verschlug es den Atem. Er sah, dass Jessup das Schweigen vernahm, und er atmete wieder, zu spät.

»Ist sie eine der Leichen, die Sie versteckt haben?«

»Frage für Frage, Antwort für Antwort. Das ist nur fair.«

»Ich habe Ihre Fragen beantwortet, Ronny. Es sei denn, Sie meinen das Auto. Es war eine schwarze Buick-Limousine.«

»Das Auto ist nicht wichtig. Was Sie nicht beantwortet haben, ist die Frage: War sie ein gutes Mädchen?«

»Aber das habe ich beantwortet. Das wissen Sie doch.«

»Sie haben die Frage so beantwortet, wie Sie sie gehört haben, nicht wie ich es gemeint habe.«

»Das verstehe ich nicht.«

Der große Mann befeuchtete mit der Zunge seine vollen Lippen. Der Stahlring in der Tischzarge, an den seine rechte Hand gekettet war, klapperte nicht, als würde er einen frustrierten Versuch machen, sich zu befreien, sondern leise, als würde er vor Not oder Erregung zittern. »War sie ein gutes Mädchen, Mr. Thorne? War sie so gut, wie sie aussieht? Wenn Sie es ihr besorgten, wenn Sie in ihr waren, war sie da zärtlich?«

Bei all seinen Begegnungen mit diesem Mann hatte David nie der Wut nachgegeben, denn er wollte den nächsten Besuch nicht damit verschwenden, Jessups verletzte Gefühle und sein Selbstmitleid zu besänftigen und ihre Beziehung zu reparieren. Und es würde ein nächstes Treffen geben, noch eins und noch eins, solange Jessup es zuließ, bis er aufhörte Spielchen zu spielen und die überprüfbare Wahrheit sagte, was auch immer sie sein mochte. Das war David Thornes Gang durchs Fegefeuer, seine Buße, seine Pflicht gegenüber Emily und der Hauptgrund, warum er immer für je zwei Monate nach Kalifornien kam.

Jetzt steckte er die Fotos wieder in den Umschlag, verschloss ihn, faltete die Hände auf dem Tisch und blickte Jessup schweigend an.

Der Mörder begegnete seinem Blick und brachte keine Tränen mehr hervor. »Wenn sie eines meiner Mädchen gewesen wäre, wobei ich nicht sage, dass sie es jemals war, aber wenn sie es wäre und ich sie lebendig zurückbringen könnte, Mr. Thorne, würde ich sie nicht für mich zurückbringen. Ich würde sie für Sie zurückbringen. Das würde ich wirklich tun.«

Jede Minute, die David mit Ronny Lee Jessup verbrachte, war eine Prüfung seiner eigenen Vernunft.

Er nahm den Umschlag und stand auf. »Ich sehe Sie in einer Woche. Vielleicht auch früher.«

»Ich freue mich immer über Ihre Besuche, Mr. Thorne. Sie sind ein ganz besonderer Teil meines Lebens.«

9

Am Freitagnachmittag saß David auf einem Fensterplatz und flog unter hohen, eisengrauen Wolken von Sacramento in Richtung Süden über das San Joaquin Valley. Einst das ertragreichste Ackerland der Welt, heute durch die Misswirtschaft des Staates bei der Wasserversorgung stellenweise verwüstet. Jahrzehntealte Obstplantagen waren braun verdorrt, riesige Felder von den jüngsten Waldbränden geschwärzt. Im Westen erhoben sich kahl und dunkel die Berge der Diablo Range. Dahinter lagen die Küstenebenen ohne Sonne und die Wolken zeichneten ihre düsteren Formen und Schatten auf das dunkle Wasser.

Als Emily verschwunden war, hatte sich die Welt über Nacht verändert, nicht nur sein Leben, nicht nur seine Welt, sondern der Kosmos selbst. Als würde sich das bekannte Universum mit einem anderen, unbekannten kreuzen, und bei dieser stillen Kollision traten unendlich viele subtile Veränderungen auf. Er konnte nicht definieren, was anders war, er konnte die vielen Veränderungen nicht aufzählen, aber er erkannte sie an der seltsamen Art und Weise, wie sich die Welt um ihn herum abzeichnete, an den Ereignissen, die für den bisherigen Kosmos zu bizarr waren, die sich aber in dieser neuen Realität entfalteten, ohne jemanden außer ihm zu verblüffen oder zu beunruhigen.

Vielleicht zwei Tage lang hatte er es verleugnet, in der Gewissheit, dass sie gefunden werden oder mit einer heiteren Geschichte über ein lustiges Abenteuer durch die Tür kommen würde. Am dritten Tag begriff er, dass er sie nie wieder lebend sehen würde. Dass er sie geliebt hatte, war keine verspätete Erkenntnis, und auch nicht, dass er sie mehr geliebt hatte als sich selbst. Sie waren jedoch noch so jung, dass er nie über ihren Verlust nachgedacht – oder ihn sich auch nur vorgestellt – hatte. Er fühlte sich ausgehöhlt und konnte wochenlang nicht warm werden. In seinen Träumen wanderte sie durch Felder und Wälder; er sah sie auf fernen Hügeln oder zwischen Bäumen, und obwohl sie seinen Namen rief, schien sie ihn nie zu sehen und entfernte sich immer weiter.

Sie waren fünf Jahre zusammen gewesen, seit er 22 und sie 20 gewesen war. Er hatte seinen Erfolg mit ihr an seiner Seite erreicht, weil sie an seiner Seite gewesen war, weil sie ihm Halt gegeben hatte. Nach ihrem Verschwinden konnte er nicht verstehen, warum sie nie geheiratet hatten. Sie gehörten einer Generation an, die das Heiraten oft aufschob oder es für nicht notwendig hielt, um ein gemeinsames Leben zu gestalten. Aber als er keine Hoffnung mehr hatte, sie zu heiraten, wollte er, dass sie seine Frau gewesen wäre, um sagen zu können, dass sie durch die Ehe eins geworden waren. Er hatte das Gefühl, dass er sie im Stich gelassen hatte, weil er sich ihr nicht auf diese Weise verpflichtet hatte. Schlimmer noch, er lag wach und fragte sich, ob eine Heirat etwas an ihren Handlungen geändert hätte, sodass sie in jener Nacht nicht allein gewesen wäre und daher nicht verschwunden und in den sicheren Tod gegangen wäre.

Als Ronny Lee Jessup drei Jahre später verhaftet wurde und sein abscheulicher labyrinthischer Keller die Schlagzeilen bestimmte, wartete David voller Angst auf den Bericht des Gerichtsmediziners, dass eine der neun Leichen, die der Mörder ungeschickt mumifiziert hatte, die ihre war. Aber sie blieb verschwunden.

Vielleicht hätte er Hoffnung daraus schöpfen sollen, dass sie nicht unter den lebenden und toten Frauen in diesen unterirdischen Räumen war, aber nach drei Jahren war er zum Hoffen nicht mehr fähig. Sie war nicht da draußen am Leben und wartete darauf, gefunden zu werden, nicht in dieser seltsam veränderten und immer dunkler werdenden Welt. Wie ein groteskes Insekt in menschlicher Verkleidung verstaute Jessup ihren armen Körper in einer geheimen Kammer wie eine Insektenpuppe, aus der sie eines Tages wiedergeboren werden würde, um sich erneut seiner Brutalität zu unterwerfen.

Freunde rieten David, einen Schlussstrich zu ziehen, und er versuchte es, aber er konnte es nicht. Er wurde von dem verfolgt, was gewesen war, was hätte sein können und was niemals sein würde. Wenn er schrieb, vor allem seit dem Verlust von Emily, war er oft besessen von seiner Arbeit. Er glaubte, wenn die Atmosphäre der Erde plötzlich verdampfte, würde er von der Luft der fiktiven Welt, die er geschaffen hatte, am Leben erhalten. Er war außerdem von einem Weg besessen, durch den er seinen Seelenfrieden finden könnte: die Wahrheit über ihr Schicksal herauszufinden, ihre sterblichen Überreste ausfindig zu machen und sie auf dem Friedhof zu begraben, der dem Haus in Corona del Mar am nächsten lag, wo sie so glücklich gewesen waren und wo er sich immer um sie würde kümmern können, was ihm im Leben nicht gelungen war. Aus diesem Grund hatte er seit sechs Jahren Ronny Lee Jessup in Folsom besucht.

Um 14:10 Uhr begann der Turboprop-Pendelflug seinen Landeanflug auf Orange County. Die Wolken des Nordens hatten sich südlich von Santa Barbara aufgelöst. Die Sonne funkelte auf dem Meer. Fahrzeuge glitzerten wie Miniaturrennwagen auf Freeways, die verschlungen waren wie Slotcar-Bahnen, und Bürotürme erhoben sich und spiegelten sich als verzerrte Versionen voneinander in Wänden aus dunklem Glas. In weniger als vier Stunden würde David mit der Frau zu Abend essen, die unmöglich Emily Carlino, aber auch niemand anders sein konnte.

10

In seinem Haus in Corona del Mar schaltete David seinen Computer ein und stellte fest, dass er bereits eine Antwort von Isaac Eisenstein aus New York erhalten hatte. Die Nachricht war einfach: Ruf mich auf meinem Privathandy an.

Im Anhang befand sich der kalifornische Führerschein von Maddison Sutton. Sie war, wie sie behauptet hatte, 25 Jahre alt, was zufällig dem Alter entsprach, in dem Emily verschwand. Ihre Adresse war ein Postfach in Goleta, in Santa Barbara County, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem Emilys liegen gebliebener Buick in jener verregneten Nacht verlassen aufgefunden worden war.

Die ebenfalls beigefügte DMV-Zulassung für den elfenbeinfarbenen Mercedes 450 SL wies den Besitzer als Patrick Michael Lynam Corley aus, unter demselben Postfach in Goleta.

Der dritte und letzte Anhang war eine Sterbeurkunde für denselben Patrick Michael Lynam Corley, der am 22. Juni, sieben Jahre zuvor, im Alter von 59 Jahren verstorben war.

David rief Isaacs Privathandy an, wurde auf die Mailbox weitergeleitet und hinterließ eine Nachricht.

Die beiden Fenster des Arbeitszimmers waren mit Innenjalousien versehen. Die halb geöffneten Lamellen verschränkten Schatten mit Bändern aus Sonnenlicht, die an einer Wand hinaufkletterten.

Isaac rief sechs Minuten später zurück. »Pazia und ich gehen zum Dinner ins Le Coucou. Sie freut sich schon seit einem Monat darauf und wenn wir nicht in zwölf Minuten raus sind, muss ich mit einem Eisbeutel auf den Eiern zu Abend essen.«

»Dann lass uns zur Sache kommen. Wie kann ein Auto auf einen Mann zugelassen sein, der seit sieben Jahren tot ist?«

»Jemand hat die Zulassung jedes Mal, wenn sie fällig wurde, auf seinen Namen erneuert. Ich weiß noch nicht, wer, aber morgen habe ich mehr für dich.«

»Was weißt du über diesen Corley?«

»Er war Bauunternehmer und Projektentwickler. Er baute Häuser in und um Goleta. Seine Frau starb fünf Jahre vor ihm. Keine Kinder. Morgen mehr. Aber die Fotos, die du von Maddison Sutton geschickt hast … mein Gott, was für ein Hingucker. Atemberaubend. Hast du dich in sie verknallt?«

Isaac wusste nichts über Emily Carlino. David sprach in seinem jetzigen Leben mit niemandem über sie. Kummer, das Rätsel um ihr Schicksal und Scham ließen ihn schweigen.

»Es geht nicht um Romantik, Isaac. Und nur drei der Bilder waren von ihr. Die anderen drei sind von einer anderen Frau.«

»Das hast du gesagt, aber da liegst du falsch. 44 Detailvergleiche von Gesichtserkennungsscans sagen, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt und jedes Foto aus der gleichen Zeit stammt.«

»Nein. Diese Aufnahmen wurden im Abstand von zehn Jahren gemacht.«

»Da nimmt dich jemand auf den Arm, Kumpel. Gesichter bleiben nicht ein Jahrzehnt lang gleich. Die zuverlässigsten Erkennungsprogramme verlangen, dass die Basisbilder der gespeicherten Personen alle sieben oder acht Jahre aktualisiert werden. Laut Führerschein ist sie 25 und die Funktion unseres Scans, die das Alter schätzt, setzt sie auf allen Fotos auf Mitte 20.«

»Aber …«

»Ich habe nichts über Maddison Sutton herausfinden können, wo sie arbeitet, Familie, Ausbildung, überhaupt nichts. Eine so ausgeprägte Anonymität ergibt in der Google-Welt keinen Sinn. Wir werden weitergraben. Ich werde dir morgen ein paar weitere Informationen geben. Und wenn ich mehr Zeit habe, muss ich wissen, was da vor sich geht. ›Es geht nicht um Romantik‹, was? Wenn es wirklich nicht darum geht, dann bist du entweder blind oder dumm, und ich weiß, dass du beides nicht bist. Und jetzt muss ich ins Le Coucou.«

David legte auf. Er schaltete den Computer aus.

Im Haus herrschte eine so tiefe Stille, als triebe der Ort außerhalb der Zeit, versetzt durch eine Laune der Physik. Der Planet drehte sich und an der Wand verschob sich die Leiter von Sonne und Schatten ein wenig, und die hellen Streifen wurden schwächer. Während das Licht beinahe langsam zu verdunsten schien und den Raum geheimnisvoller machte, fragte sich David Thorne, was er Maddison Sutton beim Abendessen sagen sollte, wie er sie aus der Reserve locken konnte, ohne verdächtig zu wirken – und was er in seinem Geist und seinem Herzen fühlen würde, wenn er sie berührte.

11

Auf dem Wasser befand sich ein mehrstöckiges Partyboot, eine bloße Hülle aus Räumen, die für Bankettsäle, Buffets, Mietkasinos und Tanzflächen genutzt werden konnten, geschmückt mit Ketten winziger weißer Lichter, wobei Gäste einer bestens versorgten Veranstaltung an der Reling posierten oder hinter den riesigen Fenstern in mit cremeweißen Tüchern und riesigen weißen und gelben Blumensträußen geschmückten Sälen zu sehen waren. Dieses gewaltige Machwerk gekünstelter Eleganz glitt an den Fenstern des Restaurants vorüber und bewegte sich sanft durch Hafenwasser, das im ersten goldenen Licht des Sonnenuntergangs schimmerte. Es schien nicht angetrieben von seinen Motoren, sondern auf der Musik einer Big Band zu gleiten, die Glenn Millers »In the Mood« spielte.

Maddison war vor David eingetroffen. Sie saß bereits an dem Fenstertisch, an dem er am Abend zuvor allein gegessen hatte. Ihr Martini war kurz zuvor serviert worden. Sie hatte ihn kaum angerührt.

Vielleicht sah sie seine Reflexion im Glas. Sie wandte den Kopf und lächelte, als er sich näherte.

Das vorüberziehende Spektakel verblasste im Vergleich zu dieser Frau. Für David wurde die kostspielige und glänzende Einrichtung des Restaurants beinahe ordinär. Das festliche Klirren von Gläsern, das Klappern von Besteck, das Lachen der Singles auf der Jagd an der Bar, die angeregte Unterhaltung der anderen Gäste – all das verblasste, und obwohl sie leise sprach, war ihre Stimme klar und vertraut, als er sich auf dem Stuhl gegenüber von ihr niederließ.

»Ich habe über Emily nachgedacht.«

»Inwiefern nachgedacht?«

»Dass ich nicht sie bin.«

»Darüber waren wir uns einig.«

»Aber deswegen sind wir hier.«

»Nicht wirklich, nein.«

»Ein Mädchen denkt gern, dass es einzigartig ist.«

»Ich habe Sie angesprochen, weil Sie so aussehen wie sie, aber das ist nicht der Grund, warum ich mit Ihnen ausgehen wollte.«

»Sondern weswegen?«

»Ich mochte die Art, wie Sie reden.«

»Huch. Gestern Abend haben Sie gesagt, ich rede wie sie.«

»Ich sage eine Menge dummes Zeug.«

»Nur wenige Männer würden das zugeben.«

Der Kellner kam, um ihre Getränkebestellung aufzunehmen.

Als David und Maddison wieder allein waren, sagte er: »Vielleicht sollte ich nach Hause gehen und meinen Bruder schicken.«

»Dann müsste ich allein zu Abend essen. Und selbst wenn es ihn gäbe, wäre er bestimmt nicht niedlicher als Sie. Oder unterhaltsamer.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wünschte sich, er hätte bereits einen Drink.

Nachdem sie einen Schluck von ihrem Martini genommen hatte, fragte sie: »Welche Frau in Ihren Romanen ist Emily?«

»Ich habe nie über sie geschrieben.«

Maddison hob eine Augenbraue.

»Sie haben sie mehr geliebt als das Leben selbst, aber nie über sie geschrieben?«

Obwohl er mit Maddison nicht über seine Liebe zu Emily gesprochen hatte, nahm er an, dass sie diese Liebe aus seinen Handlungen ableiten oder durch seine Augen in sein Herz sehen konnte.

»Manchmal braucht man viel Distanz, um ein Stück seines Lebens in ein fiktives Werk zu packen.«

»Zehn Jahre sind eine große Distanz. Haben Sie sie verlassen?«

»Warum hätte ich sie verlassen sollen, wenn ich sie mehr geliebt habe als das Leben selbst?«

»Wir alle tun leichtsinnige, törichte Dinge. Sie hat Sie also verlassen, ist einfach gegangen?«

»Ja.« Er ließ es dabei bewenden.

»Sie haben Angst, über sie zu schreiben und ihr unrecht zu tun. Sind Sie immer noch zu wütend, um ihr gegenüber fair zu sein?«

»Ich war noch nie wütend auf sie.«

»Dann ist es Schmerz.«

»Ist es das?«

»Dass sie Sie verlassen hat, hat Sie so sehr verletzt, dass Sie nicht glauben, Sie könnten ihr gegenüber fair sein, und Sie lieben sie immer noch zu sehr, um auf unfaire Weise über sie zu schreiben.«

»Sie halten mich für sensibler und rücksichtsvoller, als ich es bin. Werden wir den ganzen Abend über Emily reden?«

»Nicht den ganzen Abend. Aber weil Sie gestern Abend glaubten, ich sei Emily, und weil Sie sich immer noch wünschen, ich wäre sie, habe ich noch mehr Fragen. Eine Frau muss ihre Konkurrenz kennen, wenn sie eine Chance haben will.«

»Ich wünsche mir nicht, dass Sie Emily sind.«

»Das ist schon die zweite Lüge, die Sie mir heute Abend erzählt haben. Sie sind kein Typ, der gut lügt, was für Sie spricht, auch wenn Sie lügen.«

»Die zweite? Was war die erste?«

»Als Sie sagten, sie habe Sie verlassen. Zweifellos war es komplizierter. Sie hat sich nicht gelangweilt, nicht mit jemandem wie Ihnen. Und Sie sind kein Grobian.«

Sie schien so offen und direkt zu sein wie niemand, den er je gekannt hatte. Dennoch spürte er, dass sie ihre Seite des Gesprächs schon viel länger als einen Tag lang ausgestaltet hatte – und dass seine Antworten sie nicht überraschten.

Er sagte: »Komplizierter als dass sie mich einfach verlassen hat? Haben Sie ein anderes Szenario im Kopf?«

Sie begegnete seinem Blick und schien ihn nicht nur an-, sondern in ihn hineinzuschauen. »Vielleicht war ein Moment gekommen, in dem sie Sie dringend brauchte, und Sie waren nicht da. Vielleicht verfolgt Sie das auch nach all diesen Jahren noch. Vielleicht nagen die Schuldgefühle darüber, sie im Stich gelassen zu haben, immer noch wie eine Säure an Ihnen. Über sie zu schreiben wäre so qualvoll, als würden Sie sich durch eine Meile Stacheldraht zwängen.«

Er war schockiert und sprachlos. Er konnte den Blickkontakt nicht unterbrechen. Ihre stahlblauen Augen fixierten ihn, als wäre er ein Schmetterling, der an einem Spannbrett befestigt ist.

Nach einer erdrückenden Stille sagte er schließlich: »Sehr dramatisch. Sie denken wie eine Schriftstellerin.«

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich habe nicht den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, und auch nicht das Talent dafür. Früher oder später werden Sie mir sowieso die ganze Geschichte erzählen.«

Ihr Blick schreckte ihn nicht mehr. Ihr Lächeln war warm. Was sie gesagt hatte, war keine Anklage, sondern nur müßige Spekulation gewesen. Sie konnte nicht wissen, dass sie eine offene Wunde der Wahrheit berührt hatte.

Trotzdem war David erleichtert, dass der Kellner in diesem Moment mit seinem Glas Macallan-Scotch auf Eis kam.

12

Sobald die goldene Phase vorbei war, nutzte die Sonne nur noch das rote und orangefarbene Spektrum ihrer Palette, um den Himmel vor der langen Nacht der Dunkelheit zu bemalen, und durch die Reflexion fing das Wasser im Hafen Feuer.

Maddison erfreute sich mit fast kindlichem Vergnügen an diesem Schauspiel und David fand Gefallen daran, ihr beim Genießen des Sonnenuntergangs zuzusehen. Auch Emily war von der Natur in ihrer gewöhnlichen Außergewöhnlichkeit fasziniert gewesen und er hatte es geliebt, sie zu beobachten, wenn sie so verzaubert und ihr nicht bewusst war, dass sie ihn bezirzte.