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Was geschah vor ›Throne of Glass‹? Celaena ist jung, schön – und zum Tode verurteilt. Wie die meistgefürchtete Assassinin der Welt gefasst, verurteilt und in die Minen von Endovier geworfen werden konnte und wie sie ihre erste große Liebe findet, das wird in fünf Geschichten erzählt. Kennen Sie bereits die weiteren Serien von Sarah J. Maas bei dtv? »Das Reich der sieben Höfe« »Crescent City«
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Seitenzahl: 616
Sarah J. Maas
Throne of GlassCelaenas Geschichte
Novella I–V
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Ilse Layer
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Celaena Sardothien saß im Unterschlupf der Assassinen im Versammlungsraum und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Es ist vier Uhr morgens«, sagte sie, zupfte die Falten ihres purpurroten seidenen Morgenmantels zurecht und kreuzte die nackten Beine unter dem Holztisch. »Ich will hoffen, dass es wichtig ist.«
»Vielleicht wärst du nicht so müde, wenn du nicht die halbe Nacht gelesen hättest«, stichelte der junge Mann, der ihr gegenübersaß. Ohne darauf einzugehen, musterte Celaena die vier anderen, die sich in dem Kellergewölbe eingefunden hatten.
Alles Männer, alle deutlich älter als sie und alle mieden ihren Blick. Ein Schauder, der nichts mit der Zugluft im Raum zu tun hatte, lief ihr den Rücken hinunter. Während sie ihre manikürten Fingernägel betrachtete, zwang sie sich zu einem neutralen Gesicht. Die fünf Assassinen an dem langen Tisch – sie selbst eingeschlossen – gehörten zu den sieben Gefolgsleuten, denen Arobynn Hamel am meisten vertraute.
Natürlich war diese Zusammenkunft wichtig. Das hatte sie sofort gewusst, als das Dienstmädchen an ihre Tür geklopft und sie gedrängt hatte, nach unten zu kommen, ohne sich richtig anzuziehen. Wenn Arobynn einen rief, ließ man ihn nicht warten. Zum Glück war ihre Nachtwäsche genauso exklusiv wie das, was sie tagsüber trug – und fast genauso teuer. Dennoch, als Sechzehnjährige unter lauter Männern achtete sie darauf, dass ihr Morgenmantel nicht zu viel enthüllte. Ihre Schönheit war eine Waffe – eine, die sie scharf geschliffen hielt –, aber sie konnte auch eine Schwachstelle sein.
Arobynn Hamel, der König der Assassinen, fläzte sich am Kopfende des Tischs, sein Haar schimmerte im Schein des kristallenen Kronleuchters rotbraun. Nun richtete er die grauen Augen auf sie und legte die Stirn in Falten. Vielleicht lag es nur an der späten Stunde, aber Celaena hätte schwören können, dass ihr Mentor blasser war als sonst. Ihr Magen zog sich zusammen.
»Gregori ist geschnappt worden«, sagte Arobynn endlich. Das erklärte, warum bei dieser Versammlung einer fehlte. »Sein Auftrag war eine Falle. Jetzt sitzt er in den königlichen Verliesen.«
Celaena seufzte. Deswegen hatte man sie geweckt? Sie tippte ungeduldig mit dem Hausschuh auf den Marmorboden. »Dann müssen wir ihn umbringen«, sagte sie.
Sie hatte Gregori sowieso nie gemocht. Als Zehnjährige hatte sie sein Pferd mit einer Tüte Süßigkeiten gefüttert und er hatte ihr dafür ein Messer an den Kopf geworfen. Natürlich hatte sie das Messer gefangen und zurückgeworfen. Seither trug Gregori eine Narbe an der Wange.
»Gregori umbringen?«, fragte Sam, der junge Mann auf dem Platz links von Arobynn – da saß normalerweise Ben, Arobynns Stellvertreter. Celaena wusste ganz genau, was Sam Cortland über sie dachte. Das hatte sie schon als Kind gewusst, als Arobynn sie aufgenommen und sie selbst – nicht Sam – zu seinem Protegé, seiner Nachfolgerin, ernannt hatte. Was Sam nicht davon abgehalten hatte, ihre Position bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu untergraben. Und jetzt, mit siebzehn, war Sam noch immer ein Jahr älter als sie und hatte noch immer nicht vergessen, dass er stets der Zweitbeste sein würde.
Bei Sams Anblick auf dem Platz, der eigentlich Ben vorbehalten war, sträubten sich Celaena die Haare. Wenn Ben das sah, würde er Sam dafür wahrscheinlich erwürgen. Oder sie konnte Ben die Mühe abnehmen und es selbst tun.
Celaena sah Arobynn an; warum hatte er Sam nicht zurechtgewiesen? Arobynns Gesicht, immer noch schön trotz der ersten grauen Haare, blieb ungerührt. Sie hasste diese undurchdringliche Maske, besonders wenn es ihr nicht so leichtfiel, ihren eigenen Gesichtsausdruck – und ihre Gefühle – im Griff zu behalten.
»Wenn Gregori geschnappt worden ist«, sagte Celaena gedehnt und warf eine Strähne ihres langen goldenen Haares über die Schulter, »sind die nächsten Schritte ganz einfach: einen Lehrling schicken, der ihm etwas ins Essen tut. Nichts Qualvolles«, schob sie nach, als die Männer um sie herum nervös wurden. »Gerade genug, um ihn zum Schweigen zu bringen, bevor er uns verraten kann.«
Das war Gregori sehr wohl zuzutrauen, wenn er in den königlichen Verliesen saß. Die meisten Verbrecher, die dort landeten, kamen nicht mehr heraus. Zumindest nicht lebend.
Wo sich der Unterschlupf der Assassinen genau befand, war ein gut gehütetes Geheimnis und man hatte ihr beigebracht, es bis zum letzten Atemzug zu wahren. Aber selbst wenn sie es ausplauderte – wahrscheinlich würde niemand glauben, dass einige der größten Assassinen der Welt in einer eleganten Villa in einem sehr respektablen Viertel in Rifthold zu Hause waren. Gab es ein besseres Versteck als mitten in der Hauptstadt?
»Und wenn er schon geredet hat?«, fragte Sam herausfordernd.
»Und wenn Gregori schon geredet hat«, antwortete Celaena, »dann bringt alle um, die zugehört haben.« Sams braune Augen blitzten, als sie ihm das kleine Lächeln zuwarf, von dem sie wusste, dass es ihn zur Weißglut brachte. Sie wandte sich an Arobynn. »Aber du hast uns nicht geholt, um das zu entscheiden. Du hast den Befehl längst gegeben, richtig?«
Arobynn nickte, die Lippen fest zusammengepresst. Sam schluckte seinen Einwand hinunter und blickte vom Tisch weg ins prasselnde Feuer. Dessen Schein goss die weichen, eleganten Züge seines Gesichts in Licht und Schatten – ein Gesicht, das ihm wohl ein Vermögen hätte einbringen können, wenn er in die Fußstapfen seiner Mutter getreten wäre. Aber Sams Mutter hatte ihn nicht bei den Kurtisanen, sondern bei den Assassinen untergebracht, bevor sie gestorben war.
Schweigen trat ein und ein lautes Geräusch war zu hören, als Arobynn Luft holte. Etwas stimmte da nicht.
»Was ist noch?«, fragte Celaena, nach vorn gebeugt. Die anderen Assassinen starrten auf den Tisch. Was auch immer passiert war, sie wussten Bescheid. Warum hatte Arobynn es ihr nicht als Erster gesagt?
Arobynns silbergraue Augen bekamen etwas Stählernes. »Ben ist tot.«
Celaena krallte sich in die Armlehnen. »Was?«, fragte sie. Ben – Ben, der immer ein Lächeln auf den Lippen gehabt und mindestens so oft wie Arobynn mit ihr trainiert hatte. Ben, der damals ihre zerquetschte rechte Hand versorgt hatte. Ben, das siebte und letzte Mitglied von Arobynns innerem Zirkel. Er war noch keine dreißig. Celaenas Lippen öffneten sich. »Was soll das heißen, ›tot‹?«
Als Arobynn ihr in die Augen sah, huschte ein Anflug von Schmerz über sein Gesicht. Er war fünf Jahre älter als Ben, war mit ihm aufgewachsen. Sie hatten ihre Ausbildung zusammen absolviert; Ben hatte dafür gesorgt, dass sein Freund der unangefochtene König der Assassinen wurde, und seinen Platz als Arobynns zweiter Mann nie infrage gestellt. Celaenas Hals schnürte sich zu.
»Es war eigentlich Gregoris Auftrag«, erklärte Arobynn ruhig. »Ich weiß nicht, warum Ben da hineingezogen wurde. Oder wer sie reingelegt hat. Seine Leiche lag beim Schlosstor.«
»Habt ihr sie geholt?«, fragte Celaena. Sie musste sie sehen – musste Ben ein letztes Mal anschauen, sehen, wie er gestorben war, wie viele Wunden es gebraucht hatte, um ihn zu töten.
»Nein«, erwiderte Arobynn.
»Wieso denn nicht?« Celaena ballte die Hände zu Fäusten und löste sie wieder.
»Weil es dort von Wachen und Soldaten gewimmelt hat!«, brach es aus Sam heraus. Celaenas Kopf wirbelte herum. »Was meinst du denn, wie wir überhaupt davon erfahren haben?«
Arobynn hatte Sam geschickt, um nachzusehen, wo Ben und Gregori blieben?
»Wenn wir seine Leiche mitgenommen hätten«, sprach Sam weiter, ohne sich durch Celaenas Blick verunsichern zu lassen, »hätten wir sie direkt hierhergeführt.«
»Ihr seid Assassinen«, fauchte Celaena ihn an. »Ihr solltet eine Leiche bergen können, ohne gesehen zu werden.«
»Wenn du dabei gewesen wärst, hättest du genauso gehandelt.«
Celaena fuhr so ruckartig hoch, dass ihr Stuhl nach hinten kippte. »Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich sie alle umgebracht, um an Bens Leiche zu kommen!« Sie schlug mit den Handflächen auf den Tisch, dass die Gläser klirrten.
Sam sprang auf, die Hand am Schwertgriff. »Hört euch das an! Du kommandierst uns rum, als würdest du die Gilde anführen. Aber so weit ist es noch nicht, Celaena.« Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
»Schluss jetzt«, bestimmte Arobynn und stand auf.
Celaena und Sam rührten sich nicht. Keiner der anderen Assassinen sagte ein Wort, aber alle griffen nach ihren Waffen. Celaena hatte am eigenen Leib erfahren, wie Kämpfe im Unterschlupf abliefen; Waffen dienten ebenso sehr zur Selbstverteidigung wie dazu, Streithähne vor ernsthaftem Schaden zu schützen.
»Schluss jetzt, habe ich gesagt.«
Wenn Sam auch nur einen Schritt auf sie zu machte, sein Schwert einen Millimeter hob, würde das unter ihrem Morgenmantel verborgene Messer ein neues Zuhause in seinem Hals finden.
Arobynn bewegte sich als Erster, packte Sam mit einer Hand am Kinn und zwang den jungen Mann, ihn anzusehen. »Reiß dich zusammen, Junge, sonst übernehme ich das für dich«, sagte er. »Es wäre idiotisch, heute Nacht Streit mit ihr anzufangen.«
Celaena schluckte ihren Kommentar hinunter. Sie würde heute Nacht mit Sam fertigwerden – und in jeder anderen Nacht. Wenn es zu einem Kampf kam, würde sie gewinnen – sie besiegte Sam immer.
Doch Sam löste die Hand vom Schwertgriff. Sogleich ließ Arobynn Sams Kinn los, blieb aber vor ihm stehen, bis Sam mit gesenktem Blick ans andere Ende des Versammlungsraums stapfte und sich mit verschränkten Armen an die Steinwand lehnte. Er war immer noch in Reichweite – eine Bewegung ihres Handgelenks und aus seiner Kehle würde Blut schießen.
»Celaena«, sagte Arobynn. Seine Stimme hallte in dem stillen Raum wider.
Heute Nacht war schon genug Blut geflossen; sie brauchten nicht noch einen toten Assassinen.
Ben. Ben war tot, für immer fortgegangen, sie würde ihm nie wieder in den Fluren der Villa begegnen. Nie wieder würde er mit seinen kühlen, geschickten Händen ihre Verletzungen behandeln, sie nie mehr mit einem blöden Witz oder einer anzüglichen Bemerkung zum Lachen bringen.
»Celaena«, sagte Arobynn noch einmal warnend.
»Mir reicht’s.« Sie legte den Kopf in den Nacken, fuhr sich mit der Hand durch die goldenen Haare und ging zur Tür, drehte sich auf der Schwelle aber noch einmal um.
»Nur damit ihr Bescheid wisst«, sagte sie zu allen, den Blick aber immer noch auf Sam gerichtet, »ich gehe jetzt Bens Leiche holen.« Sams Kiefermuskeln mahlten, doch er war klug genug, sie nicht anzusehen. »Aber erwartet nicht, dass ich zu euch genauso zuvorkommend bin, wenn eure Zeit gekommen ist.«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und stieg die Wendeltreppe in die Villa über ihnen hinauf. Als sie eine Viertelstunde später durchs Eingangstor in die stillen Straßen der Stadt hinausschlüpfte, hielt niemand sie auf.
Zwei Monate, drei Tage und ungefähr acht Stunden später schlug die Uhr auf dem Kaminsims Mittag. Captain Rolfe, der Piratenlord, war unpünktlich. Celaena und Sam ebenfalls, aber Rolfe hatte keinen triftigen Grund, schließlich trafen sie sich in seinem Hauptquartier und waren sowieso schon zwei Stunden später dran als geplant.
Und sie konnte nichts für die Verspätung. Der Wind wehte nicht auf Kommando und die angstschlotternden Seeleute hatten sich nicht gerade beeilt, zum Archipel der Dead Islands zu segeln. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viel Gold Arobynn hatte lockermachen müssen, damit sich überhaupt eine Crew ins Herz des Piratenterrains wagte. Aber Skull’s Bay lag nun mal auf einer Insel, es hatte also keine echte Alternative gegeben.
Celaena, getarnt mit einem viel zu warmen dunklen Umhang mit Kapuze und einer ebenholzschwarzen Maske, erhob sich von ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch des Piratenlords. Wie konnte er es nur wagen, sie warten zu lassen! Schließlich wusste er genau, warum sie hier waren.
Drei Assassinen waren von Piratenhand ermordet worden und Arobynn hatte sie als seinen persönlichen Dolch geschickt – um eine Entschädigung lockerzumachen, vorzugsweise in Gold, für das, was ihr Tod die Gilde der Assassinen kostete.
»Für jede Minute, die er uns warten lässt«, sagte Celaena zu Sam, »schlage ich ihm auf seine Schulden zehn Goldstücke extra drauf.« Durch die Maske klangen ihre Worte tief und gedämpft.
Sam, der sein attraktives Gesicht offen zur Schau trug, verschränkte die Arme und blickte finster drein. »Das wirst du nicht tun. Arobynns Brief ist versiegelt und dabei bleibt es auch.« Seine braunen Augen bohrten sich in ihre.
Sie waren beide nicht besonders begeistert gewesen, als Arobynn verkündet hatte, Celaena werde mit Sam zu den Dead Islands fahren. Besonders da Ben – dessen Leichnam Celaena tatsächlich geholt hatte – erst seit zwei Monaten unter der Erde lag. Der Schmerz über seinen Verlust hatte noch nicht wirklich nachgelassen.
Arobynn hatte Sam als ihren Begleiter bezeichnet, aber Celaena wusste, was seine Anwesenheit bedeutete: ein Aufpasser, damit sie kurz vor dem Treffen mit dem Piratenlord von Erilea nicht noch etwas anstellte. So eine Chance bekam man nur einmal im Leben. Allerdings hatten die winzige, bergige Insel und die heruntergekommene Hafenstadt sie bislang nicht besonders beeindruckt.
Sie hatte eine Villa wie den Unterschlupf der Assassinen oder wenigstens eine alte Festung erwartet, aber der Piratenlord residierte in der Etage über einem eher zwielichtigen Wirtshaus. Die Zimmerdecken waren niedrig, die Holzdielen knarrten und der Raum war nicht nur klein, sondern auch drückend heiß, so wie überall auf den Inseln im Süden. Celaena lief der Schweiß in Strömen herab. Aber die Unannehmlichkeit lohnte sich: Auf dem Weg durch Skull’s Bay hatten sich viele Köpfe nach ihr umgedreht – der wehende Umhang, die vornehme schwarze Kleidung und die Maske machten aus ihr ein dunkles Geheimnis. Ein wenig Einschüchterung konnte nie schaden.
Celaena trat an den hölzernen Schreibtisch, griff mit den schwarzen Handschuhen nach einem Blatt Papier und begann zu lesen. Ein Wetterbericht. Wie öde.
»Was tust du da?«
Celaena nahm das nächste Blatt. »Wenn es Seiner Piratheit nicht zuzumuten ist, für uns aufzuräumen, sehe ich nicht ein, warum ich nicht einen Blick darauf werfen soll.«
»Er kann jede Sekunde hier sein«, zischte Sam. Celaena hob eine aufgerollte Landkarte hoch, studierte die Pünktchen und Markierungen entlang der Küstenlinie ihres Kontinents. Unter der Karte funkelte etwas Kleines, Rundes. Sie ließ es in die Tasche gleiten, bevor Sam es bemerken konnte.
»Ach, sei still«, sagte sie und öffnete das Schränkchen an der Wand neben dem Schreibtisch. »Die Dielen knarren so laut, dass wir ihn schon eine Meile vorher hören.« Das Schränkchen war vollgestopft mit zusammengerollten Papieren, Schreibfedern, Münzen und sehr altem, sehr teuer aussehendem Brandy. Celaena nahm eine Flasche heraus und schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Sonnenlicht, das durch das winzige runde Fenster hereinfiel. »Drink gefällig?«
»Nein.« Sam drehte sich auf seinem Stuhl halb in Richtung Tür. »Stell das zurück. Sofort.«
Celaena hob den Kopf, schwenkte den Brandy noch einmal und stellte die Flasche ab. Sam seufzte. Unter ihrer Maske grinste Celaena.
»Wenn das hier sein persönliches Hauptquartier ist«, sagte sie, »kann er kein besonders guter Anführer sein.« Sam protestierte, als Celaena sich in den riesigen Sessel hinter dem Schreibtisch fallen ließ, die Geschäftsbücher des Piraten aufschlug und darin zu blättern begann. Seine Handschrift war verkrampft und fast unleserlich, seine Unterschrift lediglich ein paar Kringel und Zacken.
Sie suchte eigentlich nichts Bestimmtes. Ihre Brauen hoben sich ein wenig beim Anblick eines parfümierten lila Briefbogens, der von einer gewissen »Jacqueline« unterschrieben war. Sie lehnte sich zurück, legte die Füße auf den Tisch und begann zu lesen.
»Muss das sein, Celaena!«
Sie runzelte die Stirn, aber das konnte Sam ja nicht sehen. Die Maske und der Umhang waren eine unerlässliche Vorsichtsmaßnahme. So war es erheblich einfacher, unerkannt zu bleiben. Arobynns Assassinen hatten allesamt schwören müssen, das Geheimnis ihrer Identität für sich zu behalten – unter Androhung endloser Folter bis hin zum Tod.
Celaena schnaubte, obwohl es dadurch unter ihrer sowieso schon unerträglichen Maske nur noch heißer wurde. Das Einzige, was die Welt über Celaena Sardothien, Adarlans Assassinin, wusste, war, dass sie eine Frau war. Und dabei sollte es auch bleiben. Wie sonst könnte sie die Prachtstraßen von Rifthold entlangschlendern oder sich auf große Partys schmuggeln, indem sie sich für eine fremde Adlige ausgab? Einerseits wünschte sie sich zwar, Rolfe könnte ihr Gesicht bewundern, andererseits wusste sie, dass sie in der Verkleidung ziemlich beeindruckend wirkte, zumal die Maske ihre Stimme zu einem dumpfen Krächzen verfälschte.
»Geh zurück an deinen Platz.« Sam wollte nach seinem Schwert greifen, aber die Wachen am Wirtshauseingang hatten ihnen die Waffen abgenommen. Natürlich hatte keiner von ihnen gemerkt, dass Sam und Celaena selbst Waffen waren. Sie konnten Rolfe genauso leicht mit bloßen Händen töten wie mit einer Klinge.
»Sonst gehst du auf mich los?« Celaena warf den Liebesbrief auf den Tisch. »Irgendwie glaube ich nicht, dass das einen günstigen Eindruck auf unsere neuen Bekanntschaften machen würde.« Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah aus dem Fenster auf das türkisgrüne Meer zwischen den verwahrlosten Gebäuden von Skull’s Bay.
Sam war sprungbereit. »Setz dich einfach wieder auf deinen Platz.«
Celaena verdrehte die Augen. »Ich habe die letzten zehn Tage auf See verbracht. Warum sollte ich auf dem unbequemen Stuhl da sitzen, wenn der hier viel mehr meinem Geschmack entspricht?«
Sam knurrte. Ehe er etwas sagen konnte, ging die Tür auf.
Sam erstarrte und Celaena nickte zur Begrüßung, als Captain Rolfe, der Piratenlord, sein Hauptquartier betrat.
»Ich freue mich, dass Ihr Euch wie zu Hause fühlt.« Der große, dunkelhaarige Mann schloss die Tür hinter sich. Riskante Entscheidung, wenn man bedachte, wen er vor sich hatte.
Celaena blieb sitzen. Er sah eindeutig nicht so aus, wie sie erwartet hatte und es kam nicht so oft vor, dass sie überrascht war. Sie hatte ihn sich ein bisschen ungepflegter vorgestellt – und viel auffälliger. Bei all den Geschichten, die sie von Rolfes wilden Abenteuern gehört hatte, fiel es ihr schwer zu glauben, dass dieser Mann – schlank, aber nicht drahtig, gut gekleidet, aber nicht übertrieben, und wahrscheinlich Ende zwanzig – der legendäre Pirat sein sollte. Vielleicht trug er gegenüber seinen Feinden ebenfalls eine Art Maske.
Sam stand auf und neigte leicht den Kopf. »Sam Cortland«, sagte er zur Begrüßung. Als Rolfe die Hand ausstreckte, fiel Celaenas Blick auf die tätowierte Handfläche und die Finger, die Sams breite Hand umschlossen. Die Landkarte – das war die legendäre Landkarte, für die er seine Seele verkauft hatte. Die Landkarte der Weltmeere, die er sich auf seine Hände hatte tätowieren lassen – die Landkarte, die lebendig war und Stürme, Feinde und Schätze anzeigte.
Rolfe wandte sich Celaena zu. »Ihr müsst Euch vermutlich nicht vorstellen.«
»Nein.« Celaena lehnte sich tiefer in seinen Schreibtischsessel zurück. »Vermutlich nicht.«
Rolfe lachte in sich hinein und auf seinem sonnenverbrannten Gesicht breitete sich ein schiefes Grinsen aus. Er trat an das Schränkchen, was Celaena Gelegenheit bot, ihn genauer zu mustern: breite Schultern, hocherhobener Kopf, eine lässige Sicherheit in seinen Bewegungen, die aus dem Wissen herrührte, dass er hier das Sagen hatte. Er trug auch kein Schwert. Noch eine riskante Entscheidung. Aber ebenso eine kluge, schließlich könnten sie seine Waffen leicht gegen ihn benutzen. »Brandy?«, fragte er.
»Nein danke«, erwiderte Sam. Celaena spürte Sams strengen Blick auf sich, mit dem er sie dazu bringen wollte, die Füße von Rolfes Schreibtisch zu nehmen.
»Und Ihr«, überlegte Rolfe, »könnt mit dieser Maske sowieso nichts trinken.« Er schenkte sich selbst Brandy ein und nahm einen großen Schluck. »Diese ganzen Kleider bringen Euch bestimmt ins Schwitzen.«
Celaena stellte die Füße auf den Boden und ließ die Hände am geschwungenen Rand des Schreibtischs entlanggleiten, bis ihre Arme ausgestreckt waren. »Das bin ich gewohnt.«
Rolfe trank noch einen Schluck und beobachtete sie über den Rand seines Glases hinweg. Seine Augen waren von einem auffälligen Grün, so hell wie das Meer wenige Querstraßen entfernt. Während er das Glas sinken ließ, näherte er sich dem Rand des Schreibtischs. »Ich weiß nicht, wie Ihr es im Norden handhabt, aber hier unten wissen wir gern, mit wem wir reden.«
Celaena reckte den Kopf. »Ihr habt es selbst gesagt, ich brauche mich nicht vorzustellen. Und was das Privileg angeht, mein wunderschönes Gesicht zu sehen – das ist nur wenigen Männern vorbehalten.«
Rolfes tätowierte Finger schlossen sich fester um sein Glas. »Räumt meinen Sessel.«
Augenblicklich spannte Sam sich an. Den Blick wieder auf Rolfes Schreibtisch gerichtet, schnalzte Celaena mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Ihr müsst wirklich etwas tun, um dieses Chaos in den Griff zu bekommen.«
Sie spürte, wie der Pirat nach ihrer Schulter greifen wollte, und war auf den Beinen, noch bevor seine Finger die schwarze Wolle ihres Umhangs berühren konnten. Er war einen guten Kopf größer als sie. »Das würde ich an Eurer Stelle lieber nicht tun«, flötete sie.
Bei dieser Kampfansage leuchteten Rolfes Augen auf. »Ihr befindet Euch in meiner Stadt und auf meiner Insel.« Sie standen nur eine Handbreit voreinander. »Es steht Euch nicht zu, mir Anweisungen zu erteilen.«
Sam räusperte sich, aber Celaena starrte in Rolfes Gesicht. Dessen Augen durchforschten die Schwärze unter der Kapuze ihres Umhangs – die glatte schwarze Maske, die Schatten, die jede Spur ihrer Gesichtszüge schluckten. »Celaena«, warnte Sam und räusperte sich noch einmal.
»Na schön.« Mit einem lauten Seufzer ging Celaena im Bogen um Rolfe herum, als wäre er nur ein im Weg stehendes Möbelstück, und ließ sich auf den Stuhl neben Sam fallen. Der durchbohrte sie mit einem Blick, glühend genug, um die kompletten Frozen Wastes zum Schmelzen zu bringen.
Celaena spürte, dass Rolfe jede ihrer Bewegungen registrierte, doch er rückte lediglich die Aufschläge seiner mitternachtsblauen Tunika zurecht, bevor er sich hinsetzte. Schweigen trat ein, nur unterbrochen vom Geschrei der über der Stadt kreisenden Möwen und den Rufen der Piraten, die sich in den schmutzigen Straßen lautstark miteinander verständigten.
»Ich höre.« Rolfe stützte die Unterarme auf den Schreibtisch.
Sam sah Celaena an. Sie war am Zug.
»Ihr wisst genau, warum wir hier sind«, sagte Celaena. »Aber vielleicht ist Euch der viele Brandy zu Kopf gestiegen. Soll ich Euch auf die Sprünge helfen?«
Rolfe bedeutete ihr mit seiner tätowierten Hand, weiterzusprechen, als wäre er ein König auf seinem Thron und höre sich die Klagen des Pöbels an. Arsch.
»Drei Assassinen aus unserer Gilde wurden in Bellhaven tot aufgefunden. Der eine, der entkommen konnte, sagte uns, dass sie von Piraten angegriffen wurden.« Celaena legte einen Arm an die Stuhllehne. »Euren Piraten.«
»Und woher wusste der Überlebende, dass es meine Piraten waren?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wegen der Hand.« Rolfes Männer trugen alle das Tattoo einer farbenprächtigen Hand auf dem Handgelenk.
Rolfe zog eine Schreibtischschublade auf, nahm ein Blatt Papier heraus und überflog es. »Als ich hörte, dass Arobynn Hamel mich verantwortlich machen könnte, ließ ich mir vom Werftmeister von Bellhaven diese Aufzeichnungen schicken. Offenbar ereignete sich der Vorfall um drei Uhr morgens an den Docks.«
Diesmal antwortete Sam. »Das ist korrekt.«
Rolfe legte das Papier ab und blickte zur Decke. »Wenn es also um drei Uhr morgens an den Docks war – wo es keine Beleuchtung gibt, wie Ihr bestimmt wisst« – Celaena wusste es nicht –, »wie konnte Euer Assassine dann die Tattoos sehen? Versteht mich nicht falsch, bevor hier Anschuldigungen gegen meine Männer vorgerbracht werden, muss ich die Lage klären.«
Celaena verzog das Gesicht unter ihrer Maske. »Weil es vor drei Wochen war – bei Vollmond.«
»Ah. Aber der Frühling fängt gerade erst an. Sogar oben in Bellhaven sind die Nächte noch kalt. Wenn meine Männer Mäntel trugen, konnte er auf keinen Fall …«
»Schluss jetzt«, fauchte Celaena. »Dieser Wisch liefert Euren Männern bestimmt zehn verschiedene miese Ausreden.« Sie griff nach der Tasche am Boden und zog die beiden versiegelten Briefe heraus. »Die sind für Euch.« Sie warf sie auf den Schreibtisch. »Von unserem Meister.«
Rolfes Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, während er nach den Umschlägen griff und die Siegel studierte, sie gegen das Licht hielt. »Ich bin überrascht, dass sie nicht manipuliert sind.« Seine Augen funkelten hinterhältig. Celaena spürte förmlich, wie Sam vor Selbstzufriedenheit fast platzte.
Mit zwei flinken Bewegungen aus dem Handgelenk öffnete Rolfe beide Umschläge mit einem Brieföffner, der Celaena irgendwie entgangen war. Wie hatte sie den übersehen können? Idiotischer Fehler.
In den Minuten des Schweigens, während Rolfe die Briefe las, bestand seine einzige Reaktion darin, gelegentlich mit den Fingern auf den hölzernen Schreibtisch zu trommeln. Es war drückend heiß und Schweißtropfen rannen über Celaenas Rücken. Geplant war, dass sie sich drei Tage hier aufhielten – lange genug, damit Rolfe das Geld zusammenbekommen konnte, das er ihnen schuldete. Was, dem wachsenden Unmut auf Rolfes Gesicht nach zu urteilen, eine ganze Menge sein musste.
Als Rolfe fertig war, atmete er tief aus und schob die Papiere zusammen.
»Euer Meister verhandelt hart«, sagte er und sah von Celaena zu Sam. »Aber seine Bedingungen sind nicht unfair. Vielleicht hättet Ihr den Brief lesen sollen, bevor Ihr mich und meine Männer mit Vorwürfen überschüttet. Es wird keine Ausgleichszahlung für die toten Assassinen geben. Ihr Tod ist nicht im Entferntesten mir anzulasten. Das sieht Euer Meister auch so. Offenbar ist er gar nicht so unvernünftig.« Celaena unterdrückte den Impuls, sich vorzubeugen. Wenn Arobynn keine finanzielle Entschädigung für den Tod dieser Assassinen verlangte, was sollten sie dann hier? Ihr Gesicht brannte. Sie stand als Idiotin da, oder? Wenn Sam ein Grinsen auch nur andeutete …
Rolfe trommelte wieder mit seinen tätowierten Fingern und fuhr sich durch die schulterlangen rotbraunen Haare. »Was das Handelsabkommen angeht, das er skizziert … Mein Buchhalter soll die anfallenden Unkosten zusammenstellen, aber Ihr werdet Arobynn sagen müssen, dass er frühestens bei der zweiten Schiffsladung mit Gewinnen rechnen darf. Möglicherweise erst bei der dritten. Und wenn er damit ein Problem hat, soll er selbst herkommen und es mir sagen.«
Gewinne? Schiffsladung? Ausnahmsweise war Celaena dankbar für die Maske. Das klang, als wären sie hergeschickt worden, um irgendein Geschäft abzuschließen. Sie warf einen Seitenblick auf Sam. Der nickte Rolfe zu, als wüsste er genau, wovon der Piratenlord redete. »Und was sollen wir Arobynn sagen, wann er mit der ersten Schiffsladung rechnen kann?«, fragte er.
Rolfe stopfte Arobynns Briefe in die Schreibtischschublade und schloss sie ab. »Die Sklaven werden übermorgen hier sein – und am nächsten Tag bereit zur Weiterreise mit Euch. Ich borge Euch sogar mein Schiff, Ihr könnt also Eurer schreckhaften Crew sagen, dass sie heute Abend nach Rifthold zurückkehren kann, wenn sie will.«
Celaena starrte ihn an. Arobynn hatte sie hierhergeschickt wegen … wegen Sklaven? Wie konnte er sich bloß zu so etwas hergeben? Und sie angeblich wegen etwas ganz anderem nach Skull’s Bay schicken … Sie spürte, wie sich ihre Nasenflügel vor Wut blähten. Sam hatte von dem Handel gewusst, aber irgendwie vergessen, den wahren Grund ihres Besuchs zu erwähnen – sogar während der zehn Tage auf See. Sobald sie mit ihm allein war, würde er das bitter bereuen. Aber jetzt durfte Rolfe nicht mitbekommen, dass sie keine Ahnung gehabt hatte.
»Ihr solltet das lieber nicht vermasseln«, warnte Celaena den Piratenlord. »Wenn etwas schiefgeht, kann Arobynn ungemütlich werden.«
Rolfe lachte in sich hinein. »Ihr habt mein Wort, dass alles plangemäß laufen wird. Schließlich bin ich nicht umsonst der Piratenlord.«
Celaena beugte sich vor und imitierte den Tonfall eines Geschäftspartners, der sich Sorgen um seine Investition macht. »Seit wann genau seid Ihr im Sklavenhandel tätig?« Es konnte nicht lange sein. In Adarlan wurden erst seit zwei Jahren Sklaven gefangen und verkauft – größtenteils Kriegsgefangene aus den Gebieten, die gegen ihre Eroberung zu rebellieren wagten. Die meisten stammten aus Eyllwe, aber es gab auch welche aus Melisande, Finntierland und den abgelegenen White Fang Mountains. Fast alle schickte man nach Calaculla oder Endovier, die größten und berüchtigtsten Arbeitslager des Kontinents, um Salz und Edelmetalle abzubauen. Doch zunehmend fanden Sklaven auch den Weg in die Haushalte von Adarlans Adel. Wenn Arobynn ein schmutziges Handelsabkommen schloss – eine Art Schwarzmarktdeal –, würde das den Ruf der gesamten Assassinengilde besudeln.
»Glaubt mir«, sagte Rolfe mit verschränkten Armen, »ich habe reichlich Erfahrung. Ihr solltet Euch eher Gedanken um Euren Meister machen. Bei einer Investition in den Sklavenhandel ist der Profit zwar garantiert, aber er wird wohl mehr Mittel lockermachen müssen, als ihm lieb ist, um zu verhindern, dass unser Geschäft den falschen Leuten zu Ohren kommt.«
Celaena wurde übel, nach außen hin blieb sie jedoch völlig gleichgültig und erwiderte: »Arobynn ist ein cleverer Geschäftsmann. Egal was man ihm liefert, er holt das Beste heraus.«
»Das will ich für ihn hoffen. Ich möchte meinen Namen und meinen Ruf nicht unnötig aufs Spiel setzen.« Rolfe erhob sich und Celaena und Sam standen ebenfalls auf. »Ich lasse die Papiere unterschreiben und gebe sie Euch morgen zurück. Was Eure Unterbringung angeht …« Er deutete auf die Tür. »Ich habe zwei Zimmer für Euch herrichten lassen.«
»Wir brauchen nur eins«, sagte Celaena schnell.
Rolfes Augenbrauen hoben sich vielsagend.
Celaenas Gesicht brannte unter der Maske und Sam verschluckte sich an einem Lachen. »Ein Raum, zwei Betten.«
Rolfe war sichtlich amüsiert, während er zur Tür ging und sie für seine Gäste öffnete. »Wie Ihr wünscht. Ich werde Euch auch ein Bad richten lassen.« Celaena und Sam folgten ihm in den engen, dunklen Flur. »Ihr könnt beide eins gebrauchen«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu.
Celaena musste ihre gesamte Selbstbeherrschung aufbieten, um ihm nicht das Knie zwischen die Beine zu rammen.
Sie brauchten fünf Minuten, um den beengten Raum nach Gucklöchern oder Anzeichen von Gefahr abzusuchen; fünf Minuten, um die gerahmten Bilder an den mit Holz verkleideten Wänden anzuheben, die Dielen abzuklopfen, den Spalt zwischen Tür und Boden zu verschließen und das Fenster mit Sams abgetragenem schwarzem Umhang zu verhängen.
Als Celaena sicher war, dass niemand sie hören oder sehen konnte, riss sie sich die Kapuze vom Kopf, band die Maske los und wirbelte herum.
Sam, der auf seinem schmalen Bett saß – eigentlich eher eine Pritsche –, hob abwehrend die Hände. »Bevor du mir den Kopf abreißt«, sagte er betont ruhig, »lass mich sagen, dass ich vor dem Treffen auch nicht mehr wusste als du.«
Celaena starrte ihn an. »Ach wirklich?« Die frische Luft auf ihrem heißen, verschwitzten Gesicht tat gut.
»Du bist nicht die Einzige, die improvisieren kann.« Sam streifte seine Stiefel ab und rutschte in die Mitte des Betts. »Dieser Mann ist genauso von sich eingenommen wie du; er sollte auf keinen Fall erfahren, dass er in dieser Sache schlauer war als wir.«
Celaena grub die Fingernägel in ihre Handflächen. »Warum sollte Arobynn uns hierherschicken, ohne uns den wahren Grund zu verraten? Rolfe zur Rechenschaft ziehen … für ein Verbrechen, mit dem er nichts zu tun hatte! Vielleicht hat Rolfe uns über den Inhalt des Briefs angelogen.« Sie richtete sich auf. »Das könnte sehr gut sein …«
»Er hat uns nicht über den Inhalt des Briefs angelogen, Celaena«, sagte Sam. »Warum sollte er sich die Mühe machen? Er hat Wichtigeres zu tun.«
Eine lange Reihe von Schimpfwörtern vor sich hin grummelnd, ging Celaena auf und ab und rammte dabei die Absätze ihrer schwarzen Stiefel in die ausgetretenen Holzdielen. Von wegen Piratenlord. Das hier war der beste Raum, den er ihnen zu bieten hatte? Sie war Adarlans Assassinin, die rechte Hand von Arobynn Hamel – und keine Hinterhofhure!
»Bestimmt hat Arobynn seine Gründe.« Sam streckte sich auf seinem Bett aus und schloss die Augen.
»Sklaven«, fauchte Celaena und fuhr sich durch das geflochtene Haar. Ihre Finger blieben im Zopf stecken. »Was denkt sich Arobynn nur dabei, in den Sklavenhandel einzusteigen? Wir sind besser als das – wir brauchen dieses Geld nicht!«
Außer, Arobynn machte ihnen etwas vor und seine immensen Ausgaben waren nicht durch vorhandene Mittel abgedeckt. Celaena war immer davon ausgegangen, dass er unermesslich reich war. Er hatte für ihre Erziehung ein Vermögen ausgegeben – allein schon für ihre Garderobe: Pelze, Seide, Juwelen, dazu jede Woche ein Sümmchen dafür, dass sie immer schön aussah … Natürlich hatte er klargemacht, dass sie es ihm zurückzahlen musste.
Oder vielleicht wollte Arobynn seinen Reichtum einfach noch vermehren. Wäre Ben noch am Leben, hätte er das nicht mitgemacht. Ben wäre von diesem Auftrag genauso angewidert gewesen wie sie. Korrupte Regierungsbeamte töten war eine Sache, aber Kriegsgefangene machen, sie misshandeln, bis sie sich nicht mehr wehrten, und sie zu lebenslanger Sklaverei verurteilen …
Sam öffnete ein Auge. »Willst du dein Bad jetzt nehmen oder kann ich zuerst gehen?«
Celaena warf ihren Umhang nach ihm. Er fing ihn mit einer Hand auf und pfefferte ihn auf den Boden. »Ich gehe zuerst«, sagte sie.
»Logisch.«
Sie warf ihm einen bösen Blick zu, rauschte ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu.
Von allen Abendessen, an denen Celaena je teilgenommen hatte, war dieses mit Abstand das schlimmste. Nicht wegen der Gesellschaft – die war, wie sie widerstrebend zugab, sogar irgendwie interessant – und auch nicht wegen des Essens, das wunderbar aussah und duftete, sondern ganz einfach, weil sie wegen der blöden Maske keinen Bissen zu sich nehmen konnte.
Es kam ihr so vor, als würde Sam absichtlich von allem eine zweite Portion nehmen, nur um sie zu ärgern. Halb hoffte sie, das Essen wäre vergiftet. Sam bediente sich aber nur von den Fleisch- und Schmorgerichten, die Rolfe zuvor schon gekostet hatte, sodass es eher unwahrscheinlich war, dass dieser Wunsch in Erfüllung ging.
»Miss Sardothien«, sagte Rolfe, der rechts neben ihr saß, und hob die dunklen Augenbrauen. »Ihr müsst völlig ausgehungert sein. Oder genügt mein Essen nicht den Ansprüchen Eures verwöhnten Gaumens?«
Unter ihrem Wollumhang und der dunklen Tunika war Celaena nicht nur ausgehungert, sondern auch schweißgebadet und müde. Und durstig. Was sich bei ihrem Temperament regelmäßig als verhängnisvolle Kombination erwies. Natürlich war ihr das nicht anzusehen.
»Mir geht es prächtig«, log sie und schwenkte das Wasser in ihrem Becher. Es schwappte an die Seiten und verhöhnte sie mit jeder Umdrehung. Sie setzte den Becher ab.
»Wenn Ihr die Maske abnehmen würdet, würde Euch das Essen vielleicht leichter fallen«, sagte Rolfe und steckte sich ein Stück Wildschweinbraten in den Mund. »Es sei denn, das, was sich darunter befindet, würde uns den Appetit verderben.«
Die fünf anderen Piraten – alles Kommandanten von Rolfes Schiffen – lachten boshaft. Celaena richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.
»Wenn Ihr so weiterredet« – Celaena packte ihren Becher diesmal am unteren Ende –, »verschaffe ich Euch vielleicht einen Grund, eine Maske zu tragen.« Sam versetzte ihr unter dem Tisch einen Tritt, den sie zurückgab, ein rascher Tritt ans Schienbein, hart genug, dass er sich an seinem Wasser verschluckte.
Den meisten der anderen Piraten verging das Lachen, nur Rolfe nicht. Celaena legte ihre behandschuhte Hand auf den mit Brandflecken und tiefen Rillen übersäten Esstisch, der eindeutig schon jede Menge Streit miterlebt hatte. Hatte Rolfe denn gar nichts für Luxus übrig? Vielleicht war er nicht so wohlhabend und deshalb in den Sklavenhandel eingestiegen. Aber Arobynn … Arobynn war so reich wie der König von Adarlan selbst. Warum musste er sich zu so etwas hergeben?
Rolfe richtete seine meergrünen Augen auf Sam, der wieder ein mürrisches Gesicht machte. »Habt Ihr sie ohne Maske gesehen?«
Zu Celaenas Überraschung schnitt Sam eine Grimasse. »Ein Mal.« Er warf ihr einen ziemlich überzeugenden skeptischen Blick zu. »Und das hat gereicht.«
Rolfe musterte Sam eine Sekunde lang, dann schob er sich das nächste Stück Fleisch in den Mund. »Wenn Ihr uns Euer Gesicht vorenthaltet, möchtet Ihr uns vielleicht mit der Geschichte entschädigen, wie genau Ihr Arobynn Hamels Protegé geworden seid?«
»Ich habe trainiert«, antwortete Celaena dumpf. »Jahrelang. Nicht jeder hat das Glück, eine magische Landkarte auf die Hände tätowiert zu haben. Manche von uns mussten aus eigener Kraft nach oben kommen.«
Rolfe erstarrte und die anderen Piraten hörten auf zu essen. Er fixierte Celaena so lange, dass ihr unbehaglich wurde, dann legte er seine Gabel weg.
Sam beugte sich ein wenig näher zu Celaena, aber nur, so merkte sie, um besser zu sehen. Rolfe hatte beide Hände offen auf den Tisch gelegt, damit sie sie betrachten konnte.
Aneinandergefügt zeigten seine Hände eine Landkarte ihres Kontinents – nichts weiter.
»Auf dieser Karte hat sich seit acht Jahren nichts mehr getan.« Rolfes Stimme war kaum mehr als ein leises Grollen. Es lief Celaena kalt den Rücken hinunter. Acht Jahre. Genau die Zeit, die vergangen war, seit die Fae verbannt und abgeschlachtet worden waren. Seit Adarlan den restlichen Kontinent erobert und versklavt hatte und die Magie verschwunden war. »Denkt nicht«, sprach Rolfe weiter und zog die Hände zurück, »ich hätte mich auf meinem Weg nicht genauso durchbeißen müssen wie Ihr.«
Wenn er knapp dreißig war, hatte er wahrscheinlich sogar noch mehr Leute umgebracht als sie selbst. Und nach den vielen Narben auf seinen Händen und seinem Gesicht zu schließen, hatte er mehr als einmal die Ellbogen eingesetzt.
»Gut zu wissen, dass wir verwandte Seelen sind«, sagte Celaena. Wenn Rolfe bereits daran gewöhnt war, sich die Hände schmutzig zu machen, musste er sich für den Sklavenhandel nicht verbiegen. Aber er war ein dreckiger Pirat, während sie Arobynn Hamels Assassinen waren – gebildet, wohlhabend, kultiviert. Sklaverei war unter ihrer Würde.
Rolfe warf ihr sein schiefes Grinsen zu. »Benehmt Ihr Euch so, weil es tatsächlich Eurem Naturell entspricht, oder nur aus Angst vor dem Umgang mit Menschen?«
»Ich bin die größte Assassinin der Welt.« Celaena hob das Kinn. »Ich habe vor niemandem Angst.«
»Im Ernst?«, fragte Rolfe. »Ich bin nämlich der größte Pirat der Welt und ich habe vor einer Menge Leute Angst. Nur so habe ich es geschafft, so lange am Leben zu bleiben.«
Celaena würdigte ihn keiner Antwort. Sklavenhändlerschwein.
Rolfe schüttelte den Kopf und setzte genau das Lächeln auf, mit dem sie selbst Sam immer zur Weißglut trieb. »Es überrascht mich, dass Arobynn Euch Eure Arroganz nicht ausgetrieben hat. Euer Begleiter scheint zu wissen, wann er besser den Mund hält.«
Sam hustete laut und beugte sich vor. »Wie seid Ihr dann der Piratenlord geworden?«
Rolfe zeichnete eine tiefe Kerbe im Holztisch nach. »Ganz einfach. Ich habe jeden umgebracht, der besser war als ich.« Die fünf anderen Piraten – alle älter, sonnenverbrannter und weit weniger attraktiv als er – schnaubten, widersprachen ihm aber nicht. »Jeden, der überheblich genug war, zu meinen, gegen einen jungen Mann mit einer kunterbunt zusammengewürfelten Crew und einem einzigen Schiff auf seinen Namen könnte er nicht verlieren. Aber sie mussten alle dran glauben, einer nach dem anderen. Wenn sich so was rumspricht, kommen die Leute in Scharen angelaufen.« Rolfes Blick wanderte zwischen Celaena und Sam hin und her. »Wollt Ihr meinen Rat hören?«, fragte er Celaena.
»Nein.«
»Ich wäre Sam gegenüber vorsichtig. Ihr mögt die Beste sein, Sardothien, aber es gibt immer jemanden, der nur darauf wartet, dass Ihr einen Fehler macht.«
Sam, der treulose Mistkerl, konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Die anderen Piraten lachten in sich hinein.
Celaena starrte Rolfe durchdringend an. Ihr Magen knurrte. Sie würde später essen – etwas aus der Wirtshausküche mitgehen lassen. »Wollt Ihr meinen Rat hören?«
Er wedelte nachlässig mit der Hand, als Zeichen weiterzusprechen.
»Kümmert Euch um Euren eigenen Kram.«
Rolfe grinste sie träge an.
»Ich finde Rolfe gar nicht so übel«, murmelte Sam später in die pechschwarze Finsternis ihres Zimmers. Celaena, die die erste Wache übernommen hatte, drehte den Kopf zu seinem Bett an der gegenüberliegenden Wand.
»Natürlich nicht«, erwiderte sie missmutig. Sie saß auf ihrem Bett, an die Wand gelehnt, froh, dass frische Luft an ihr Gesicht kam, und zupfte an der Bettdecke herum. »Er hat dir geraten, mich abzumurksen.«
Sam kicherte. »Wahrlich ein weiser Ratschlag.«
Celaena krempelte die Ärmel ihrer Tunika auf. An diesem grässlichen Ort herrschte sogar nachts eine Affenhitze. »Vielleicht ist es dann keine kluge Idee, wenn du schlafen gehst.«
Sams Matratze ächzte, als er sich umdrehte. »Ach komm! Verstehst du nicht mal ein bisschen Spaß?«
»Wenn es um mein Leben geht? Nein.«
Sam schnaubte. »Glaub mir, wenn ich ohne dich nach Hause käme, würde Arobynn mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen. Buchstäblich. Wenn ich dich umbringe, Celaena, dann erst, wenn ich ungestraft davonkomme.«
Sie machte ein mürrisches Gesicht. »Sehr beruhigend.« Sie fächelte sich Luft zu. In diesem Moment hätte sie für eine kühle Brise ihre Seele an eine Meute Dämonen verkauft, aber sie mussten das Fenster verdunkelt lassen. Schließlich wollte sie nicht, dass ein spionierendes Augenpaar entdeckte, wie sie aussah. Obwohl sie eigentlich nur zu gern Rolfes Gesicht sehen würde, wenn er die Wahrheit herausfand. Dass sie jung war, war bekannt, doch wenn Rolfe erfuhr, dass er es mit einer Sechzehnjährigen zu tun hatte, wäre das ein schwerer Schlag für sein Ego.
Sie würden nur drei Nächte hier verbringen; sie konnten beide mit weniger Schlaf auskommen, wenn sie dadurch Celaenas Anonymität – und ihrer beider Leben – schützten.
»Celaena?«, fragte Sam in die Dunkelheit. »Muss ich mir denn Sorgen machen, wenn ich schlafe?«
Sie war überrascht, dann lachte sie leise. Wenigstens nahm Sam ihre Drohungen halbwegs ernst. Sie wünschte, sie könnte von Rolfe dasselbe sagen. »Nein«, gab sie zurück. »Heute Nacht nicht.«
»Dann in irgendeiner anderen Nacht«, nuschelte er. In der nächsten Minute war er eingeschlafen.
Celaena lehnte den Kopf an die Holzverkleidung und lauschte auf das Geräusch seines Atems, während die langen Stunden der Nacht langsam verstrichen.
Celaena lag wach, selbst als sie mit Schlafen an der Reihe war. Während der Stunden, in denen sie das Zimmer überwacht hatte, waren ihre Gedanken fast nur um ein Thema gekreist.
Die Sklaven.
Vielleicht wenn Arobynn jemand anderen geschickt hätte – vielleicht wenn es einfach ein Geschäft gewesen wäre, von dem sie im Nachhinein erfahren hätte, zu beschäftigt, um sich Gedanken zu machen –, wäre es ihr womöglich nicht so gegen den Strich gegangen. Aber sie damit zu beauftragen, eine Schiffsladung Sklaven abzuholen, ging zu weit. Leute, die nichts Böses getan hatten, sondern nur für ihre Freiheit und die Sicherheit ihrer Familien gekämpft hatten, in die Sklaverei zu verkaufen, war einfach verabscheuungswürdig.
Wie konnte Arobynn so etwas von ihr verlangen? Wenn Ben noch am Leben wäre, hätte sie in ihm vielleicht einen Verbündeten finden können; trotz ihres blutigen Handwerks war Ben der mitfühlendste Mensch, den sie kannte. Sein Tod hinterließ eine Lücke, die sich wohl nie wieder schließen würde.
Nach einer ruhelosen Nacht fühlte sie sich, als wäre eine Herde Wildpferde über sie hinweggetrampelt.
Schließlich weckte Sam sie auf – mit einem etwas unsanften Stoß mit dem Schwertknauf. Nach einem einzigen Blick sagte er: »Du siehst grässlich aus.«
Celaena nahm das als Einstimmung für den Tag, sprang aus dem Bett und knallte die Badezimmertür hinter sich zu.
Als sie eine Weile später wieder auftauchte, so frisch, wie es mit einem Waschbecken und den bloßen Händen eben ging, war ihr eine Sache absolut klar.
Unter keinen Umständen würde sie diese Sklaven nach Rifthold bringen – nicht einmal, wenn man ihr die Hölle heißmachte. Sollte Rolfe sie doch behalten. Sie würde die Sklaven jedenfalls nicht in die Hauptstadt transportieren.
Das bedeutete, sie hatte zwei Tage, um einen Weg zu finden, den Handel zwischen Arobynn und Rolfe platzen zu lassen.
Und um einen Weg zu finden, das Ganze lebend zu überstehen.
Sie warf sich den Umhang über die Schultern und bedauerte insgeheim, dass der viele Stoff den größten Teil ihrer wunderschönen schwarzen Tunika verdeckte – vor allem die zarte Goldstickerei. Na ja, wenigstens war ihr Umhang auch ein edles Teil. Selbst wenn er von der langen Reise ein wenig schmutzig war.
»Wo willst du hin?«, fragte Sam und setzte sich auf. Er hatte faul auf dem Bett gelegen und sich mit einem Messer die Nägel gesäubert. Sam würde ihr ganz bestimmt nicht helfen. Sie würde auf eigene Faust einen Weg finden müssen, aus dem Geschäft auszusteigen.
»Ich muss Rolfe ein paar Fragen stellen. Allein.« Sie setzte ihre Maske auf und ging zur Tür. »Ich will, dass das Frühstück auf mich wartet, wenn ich zurück bin.«
Sam erstarrte, seine Lippen wurden zu einer schmalen Linie. »Was?«
Celaena deutete zum Flur, Richtung Küche. »Frühstück«, sagte sie gedehnt. »Ich habe Hunger.«
Sam machte den Mund auf und sie wartete auf irgendeine spitze Bemerkung, die aber nicht kam. Stattdessen verbeugte er sich. »Dein Wunsch sei mir Befehl«, sagte er, gefolgt von einer nicht besonders feinen Geste. Celaena antwortete ihm auf die gleiche Art und verließ das Zimmer.
Darauf bedacht, nicht in Dreck, Erbrochenes und alles Mögliche andere zu treten, hatte Celaena nur ein klein wenig Mühe, mit Rolfe Schritt zu halten. Am Himmel ballten sich Regenwolken zusammen und die vielen Menschen auf der Straße – abgewrackte Piraten, die sich kaum auf den Beinen halten konnten, Prostituierte, die nach einer langen Nacht vorbeiwankten, barfüßige Waisenkinder, die wild herumrannten – zogen sich in die zahllosen klapprigen Häuser zurück.
Skull’s Bay galt nicht als schöne Stadt und viele der krummen und schiefen Gebäude schienen fast nur aus Holz und Nägeln zu bestehen. Abgesehen von ihren Bewohnern war die Stadt berühmt für den Schiffsbrecher, die lange Kette, die sich quer über die Zufahrt zu der hufeisenförmigen Bucht spannte.
Der Schiffsbrecher befand sich dort schon seit Jahrhunderten und war so gewaltig, dass er, wie sein Name besagte, jedem Schiff, das ihn rammte, den Mast brechen konnte. Er war zwar in erster Linie dazu gedacht, Angriffe abzuwehren, verhinderte aber auch, dass jemand sich einfach davonmachte. Und da die Insel ansonsten von gewaltigen Bergen bedeckt war, gab es kaum andere geschützte Anlegestellen. Alle Schiffe, die in den Hafen fahren oder ihn verlassen wollten, mussten also warten, bis die Kette auf den Meeresboden hinabgelassen war – und eine saftige Gebühr bezahlen.
»Ihr habt drei Häuserblocks«, sagte Rolfe. »Zählt also besser mit.«
Ging er absichtlich so schnell? Celaena versuchte ihre zunehmende Gereiztheit zu überspielen und richtete ihr Augenmerk auf die zerklüfteten, von Dschungel überwucherten Berge um die Stadt herum, auf den schimmernden Bogen der Bucht, auf die leichte Süße in der Luft. Rolfe hatte das Wirtshaus gerade wegen eines Geschäftstermins verlassen wollen und war bereit, ihre Fragen auf dem Weg dorthin zu beantworten.
»Wenn die Sklaven eintreffen«, fragte Celaena und versuchte, so unerfreut wie möglich zu klingen, »habe ich dann Gelegenheit, sie zu inspizieren, oder kann ich mich darauf verlassen, dass wir eine einwandfreie Lieferung bekommen?«
Rolfe schüttelte den Kopf über ihre Arroganz. Celaena sprang über die ausgestreckten Beine eines bewusstlosen – oder toten – Betrunkenen auf ihrem Weg. »Sie werden morgen Nachmittag eintreffen. Ich wollte sie persönlich inspizieren, aber wenn Ihr so besorgt über die Qualität Eurer Ware seid, erlaube ich Euch, mich zu begleiten. Betrachtet es als Privileg.«
Celaena schnaubte. »Wo? Auf Eurem Schiff?« Am besten verschaffte sie sich einen genauen Überblick darüber, wie alles ablaufen sollte, und schmiedete dann auf dieser Grundlage ihren Plan. Jedes Detail konnte sie auf Ideen bringen, wie sie den Handel mit möglichst wenig Risiko für sich selbst durchkreuzen konnte.
»Ich habe einen großen Viehstall am anderen Ende der Stadt zu einer Lagerhalle umbauen lassen. Normalerweise sehe ich mir die Sklaven dort an, aber da Ihr am nächsten Morgen schon auslauft, prüfen wir Eure direkt auf dem Schiff.«
Celaena schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Und wie lange soll das dauern?«
Rolfe hob eine Augenbraue. »Habt Ihr etwas Besseres vor?«
»Beantwortet einfach die Frage.« In der Ferne grollte Donner.
Sie erreichten die Docks, den mit Abstand beeindruckendsten Teil der Stadt. Schiffe aller Größen und Formen schaukelten gegen die hölzernen Piers, Piraten wuselten über die Decks und zurrten alles Mögliche fest, bevor der Sturm losbrach. Am Horizont leuchtete ein Blitz direkt über dem einsamen Wachtturm am nördlichen Ende der Bucht – von dort aus wurde der Schiffsbrecher abgesenkt und wieder eingeholt. Im grellen Licht des Blitzes hatte Celaena auch die beiden Katapulte auf einem der Turmvorsprünge gesehen. Wenn der Schiffsbrecher ein Schiff nicht zerstörte, übernahmen diese Katapulte den Rest.
»Keine Sorge, Miss Sardothien«, sagte Rolfe, während sie die verschiedenen Wirtshäuser und Gasthöfe an den Docks passierten. Noch zwei Häuserblocks lagen vor ihnen. »Eure Zeit wird nicht verschwendet. Auch wenn es schon eine Weile dauert, bis man sich hundert Sklaven angesehen hat.«
Hundert Sklaven auf einem Schiff! Wo waren die denn untergebracht?
»Solange Ihr keine krumme Tour versucht«, gab sie spitz zurück, »wird es für mich sinnvoll genutzte Zeit sein.«
»Ich bin sicher, Ihr werdet morgen Euer Bestes geben, um alles zu bemängeln. Also mache ich Euch einen Vorschlag. Warum kommt Ihr nicht zu einer anderen Inspektion mit? Heute Abend sehe ich mir eine weitere Schiffsladung Sklaven in der Lagerhalle an. Dann habt Ihr morgen einen Vergleich.«
Eigentlich wäre das ideal. Vielleicht konnte sie einfach behaupten, die Sklaven erfüllten nicht die Anforderungen, und deswegen das Geschäft ablehnen. Und dann abreisen, ohne mit Rolfe aneinanderzugeraten. Danach müsste sie noch mit Sam fertigwerden – und anschließend mit Arobynn –, aber … darüber würde sie sich später Gedanken machen.
Celaena zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Lasst mich einfach holen, wenn es so weit ist.« Die Luft war so feucht, dass es ihr vorkam, als würde sie nicht gehen, sondern schwimmen. »Und nachdem Arobynns Sklaven inspiziert sind?« Jede kleinste Information konnte später als Waffe gegen Rolfe dienen. »Muss ich sie auf dem Schiff selbst bewachen oder übernehmen das Eure Männer für mich? Sonst könnten die Piraten ja meinen, sie dürften sich bei den Sklaven nach Lust und Laune bedienen.«
Rolfes Hand schnellte zum Schwert. Es glitzerte im trüben Licht und Celaena bewunderte den reich verzierten Knauf, der einem Wasserdrachen nachempfunden war. »Wenn ich Anweisung gebe, Eure Sklaven nicht anzurühren, werden sich alle daran halten«, zischte Rolfe durch die Zähne. Seine Verärgerung war ein unerwartetes Vergnügen. »Aber ich werde ein paar Wachen auf dem Schiff postieren, wenn Ihr dann besser schlaft. Arobynn soll nicht denken, ich würde seine Investition nicht ernst nehmen.«
Sie näherten sich einem blau getünchten Wirtshaus, vor dem mehrere Männer in dunklen Tuniken herumstanden. Bei Rolfes Anblick nahmen sie Haltung an und salutierten. Seine Wachen? Warum hatte ihn niemand durch die Straßen begleitet?
»In Ordnung«, sagte sie knapp. »Ich möchte nicht länger hier sein als nötig.«
»Ihr könnt es sicher kaum erwarten, zu Euren Kunden nach Rifthold zurückzukehren.« Rolfe blieb vor der Tür stehen, von der die Farbe abblätterte. Darüber hing ein Schild, das im zunehmenden Sturmwind hin- und herschwang, mit der Aufschrift THESEADRAGON. Das war auch der Name von Rolfes berühmtem Schiff, das direkt hinter ihnen vertäut war und eigentlich gar nicht so spektakulär aussah. Vielleicht war das das Hauptquartier des Piratenlords. Und wenn er sie und Sam in dem Wirtshaus ein paar Blocks entfernt untergebracht hatte, dann vielleicht, weil er ihnen so wenig über den Weg traute wie sie ihm.
»Ich kann es vielmehr kaum erwarten, in zivilisierte Gesellschaft zurückzukehren«, gab sie mit zuckersüßer Stimme zurück.
Rolfe stöhnte leise, bevor er die Wirtshaustür öffnete: Schatten, Stimmengemurmel – und ein strenger Geruch nach abgestandenem Bier. Mehr konnte Celaena nicht ausmachen.
»Irgendwann«, sagte Rolfe verdächtig ruhig, »wird jemand Euch diese Überheblichkeit so richtig heimzahlen.« Ein Blitz ließ seine grünen Augen aufleuchten. »Ich hoffe nur, dass ich das miterleben darf.«
Er knallte ihr die Tür vor der Nase zu.
Celaena grinste und ihr Grinsen wurde breiter, als dicke Regentropfen auf die rostrote Erde fielen und die feuchtheiße Luft augenblicklich abkühlten.
Das war überraschend gut gelaufen.
»Ist es vergiftet?«, fragte sie Sam und ließ sich im selben Moment aufs Bett fallen, als ein Donnerschlag das Wirtshaus in seinen Grundfesten erzittern ließ. Die Teetasse tanzte auf dem Unterteller, und während Celaena die Kapuze abstreifte und ihre Maske löste, sog sie den Duft von frisch gebackenem Brot, Würstchen und Haferbrei ein.
»Von ihnen oder von mir?« Sam saß auf dem Boden, ans Bett gelehnt.
Nur um ihn zu ärgern, schnüffelte Celaena an ihrem Essen. »Rieche ich da … Tollkirsche?«
Sam starrte sie genervt an und sie riss grinsend ein Stück Brot ab. Mehrere Minuten saßen sie schweigend da. Die einzigen Geräusche waren das Klirren ihres Bestecks auf den schäbigen alten Tellern, das Trommeln des Regens auf dem Dach und das gelegentliche Ächzen einer sich entladenden Gewitterwolke.
»Also«, sagte Sam, als sie nach ihrer Teetasse griff. »Weihst du mich in deine Pläne ein oder soll ich Rolfe einen Tipp geben, sich aufs Schlimmste gefasst zu machen?«
Celaena nippte graziös an ihrem Tee. »Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon du redest, Sam Cortland.«
»Was für ›Fragen‹ hast du ihm gestellt?«
Sie setzte ihre Tasse ab. Es war kaum zu hören, so stark prasselte der Regen gegen die Fensterläden. »Ganz höfliche.«
»Ach ja? Ich dachte, du weißt gar nicht, was höflich bedeutet.«
»Ich kann durchaus höflich sein, wenn mir danach ist.«
»Wenn du dadurch bekommst, was du willst, meinst du wohl eher. Also was willst du von Rolfe?«
Celaena musterte ihren Gefährten. Er schien wegen des geplanten Geschäfts nicht die geringsten moralischen Bedenken zu haben. Er mochte Rolfe misstrauen, aber es störte ihn nicht, dass einhundert Unschuldige wie Vieh gehandelt werden sollten. »Ich wollte mehr über die Landkarte auf seinen Händen wissen.«
»Verdammt noch mal, Celaena!« Sam schlug mit der Faust auf den Holzboden. »Sag mir die Wahrheit!«
»Warum?«, fragte sie und zog eine Schnute. »Und woher willst du wissen, dass ich dir nicht die Wahrheit sage?«
Sam sprang auf und ging in dem kleinen Raum auf und ab, wobei er den obersten Knopf seiner schwarzen Tunika öffnete, sodass die Haut darunter zu sehen war. Etwas daran fühlte sich seltsam intim an und Celaena ertappte sich dabei, wie sie schnell wegsah.
»Wir sind zusammen aufgewachsen.« Sam blieb am Fußende ihres Bettes stehen. »Meinst du, ich kriege es nicht mit, wenn du was ausheckst? Was willst du wirklich von Rolfe?«
Wenn sie es ihm sagte, würde er sie mit allen Mitteln davon abzuhalten versuchen. Und ein Gegner reichte ihr schon. Solange ihr Plan noch nicht ausgereift war, musste sie Sam außen vor halten. Außerdem, sollte es hart auf hart kommen, würde Rolfe Sam womöglich umbringen, wenn er beteiligt war. Oder einfach nur deshalb, weil er sie kannte.
»Vielleicht kann ich seinem Charme einfach nicht widerstehen«, sagte sie.
Sam richtete sich auf. »Er ist zwölf Jahre älter als du.«
»Na und?« Er dachte doch nicht etwa, dass sie es ernst meinte, oder?
Mit einem vernichtenden Blick, der sie gut und gern in ein Häufchen Asche hätte verwandeln können, ging Sam zum Fenster und riss seinen Umhang herunter.
»Was machst du denn da?«
Er öffnete die hölzernen Fensterläden. Der Himmel war voller Regenwolken und verästelter Blitze. »Ich habe es satt, hier drin zu ersticken. Und wenn du an Rolfe interessiert bist, muss er irgendwann herausfinden, wie du aussiehst, oder? Warum also langsam zu Tode brutzeln?«
»Mach das Fenster zu.« Sam verschränkte nur die Arme. »Mach es zu«, zischte Celaena.
Da er sich nicht rührte, sprang sie auf, wobei das Tablett mit Essen auf ihrem Bett umkippte. Sie stieß ihn so energisch weg, dass er einen Schritt zurückweichen musste. Mit gesenktem Kopf schloss sie das Fenster und die Läden und hängte seinen Umhang wieder darüber.
»Idiot«, zischte sie. »Was ist denn in dich gefahren?«
Sam kam näher, sie spürte seinen Atem heiß auf ihrem Gesicht. »Ich habe das ganze Melodrama und den Mist satt, der passiert, wenn du diese lächerliche Maske und den Umhang trägst. Und noch mehr habe ich es satt, von dir herumkommandiert zu werden.«
Darum ging es also. »Gewöhn dich daran.«
Sie wollte sich ihrem Bett zuwenden, aber er packte sie am Handgelenk. »Du brütest gerade einen Plan aus und wirst mich sicher in irgendwelche Machenschaften reinziehen, aber denk dran, noch bist du nicht die Meisterin der Assassinengilde; du stehst immer noch unter Arobynns Befehl.«
Celaena verdrehte die Augen und wand sich aus seinem Griff. »Wenn du mich noch mal anfasst«, sagte sie, ging zu ihrem Bett und begann das Essen aufzusammeln, »hast du eine Hand weniger.«
Danach sagte Sam nichts mehr zu ihr.
Das Abendessen mit Sam verlief schweigend und um acht tauchte Rolfe auf, um sie beide zur Lagerhalle mitzunehmen. Sam fragte nicht einmal, wo sie hingingen. Er lief einfach mit, als wüsste er längst Bescheid.
Die Lagerhalle war ein riesiger Holzschuppen, bei dessen Anblick vom anderen Ende der Straße Celaena instinktiv am liebsten weggelaufen wäre. Den strengen Geruch nach ungewaschenen Körpern bemerkte sie erst, als sie das Gebäude betraten. Geblendet von der Helligkeit von Fackeln und einfachen Kerzen, brauchte sie ein paar Sekunden, um sich zu orientieren.
Rolfe ging voraus und steuerte, ohne zu zögern, an einer Reihe von Zellen vorbei, die alle mit Sklaven vollgestopft waren, auf einen großen offenen Bereich am anderen Ende der Halle zu, wo ein dunkelhäutiger Eyllwe vor einem Trupp von vier Piraten stand.
Neben ihr atmete Sam hörbar aus, das Gesicht bleich. Der Gestank war schon schlimm genug, aber die Leute in den Zellen zu sehen, wie sie sich an die Stäbe klammerten oder an der Wand kauerten oder ihre Kinder an sich gedrückt hielten – Kinder –, war schlicht und einfach unerträglich.
Abgesehen von gelegentlichem gedämpftem Schluchzen waren die Sklaven still. Manche bekamen bei Celaenas Anblick große Augen. Sie hatte vergessen, wie sie wirken musste, wenn sie mit verdecktem Gesicht und wehendem Umhang an ihnen vorbeischritt wie der Tod persönlich. Andere malten sogar unsichtbare Zeichen in die Luft, um das Böse zu bannen, das sie in ihr sahen.
Celaena registrierte die Schlösser an den Türen und zählte die Menschen in den Zellen. Sie schienen aus allen Königreichen des Kontinents zu stammen. Es waren sogar ein paar Stammesangehörige aus den Bergen dabei – wild aussehende Männer mit orangeroten Haaren und grauen Augen, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. Und Frauen, manche kaum älter als sie selbst. Hatten sie auch gekämpft oder waren sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?
Celaenas Herz schlug schneller. Selbst nach all den Jahren wehrten die Menschen sich noch gegen Adarlans Eroberung. Aber welches Recht hatte Adarlan – oder Rolfe oder sonst jemand –, sie so zu behandeln? Eroberung war nicht genug; nein, Adarlan musste sie brechen.
Eyllwe, so hatte Celaena gehört, war besonders betroffen. Obwohl dessen König seine Macht dem König von Adarlan übertragen hatte, waren bei den Rebellen, die Adarlans Streitkräften das Leben schwer machten, noch immer Eyllwe-Soldaten zu finden. Aber Eyllwe war zu wichtig für Adarlan, um es aufzugeben. Es hatte zwei der wohlhabendsten Städte des Kontinents vorzuweisen und sein Territorium – reich an Ackerland, Wasserstraßen und Wäldern – war für die Handelsrouten unentbehrlich. Nun hatte Adarlan offenbar beschlossen, auch aus Eyllwes Bewohnern Kapital zu schlagen.
Als Rolfe näher kam, teilten sich die Piraten, die um den Eyllwe-Gefangenen herumstanden, und nickten ihm zu. Celaena erkannte zwei der Männer vom Abendessen am Vorabend wieder: den kleinen, kahlen Captain Fairview und den einäugigen, schwergewichtigen Captain Blackgold. Celaena und Sam blieben neben Rolfe stehen.
Der Eyllwe stand splitternackt da, sein drahtiger, magerer Körper war mit blutenden Wunden überzogen.
»Der da hat sich ein bisschen gewehrt«, sagte Captain Fairview. Obwohl Schweiß auf der Haut des Sklaven glänzte, hielt er das Kinn hoch, den Blick in die Ferne gerichtet. Er musste etwa zwanzig sein. Hatte er eine Familie?
»Legt ihn in Fesseln, dann bringt er trotzdem einen guten Preis«, sprach Fairview weiter und wischte sich das Gesicht an der Schulter seiner purpurroten Tunika ab. Die Goldstickerei war zerfranst und der ehemals wohl farbenprächtige Stoff verblichen und voller Flecke. »Ich würde ihn auf den Markt in Bellhaven schicken. Dort brauchen viele reiche Männer starke Arme für ihren Hausbau. Oder Frauen brauchen starke Arme für etwas ganz anderes.« Er sah in Celaenas Richtung.
Kalte Wut stieg in ihr hoch, ließ sie kaum noch atmen. Dass ihre Hand zu ihrem Schwert schnellte, merkte sie erst, als Sams Finger sich dazwischenschoben. Es war eine eher beiläufige Geste und jeder andere hätte sie für eine Zärtlichkeit halten können. Aber Sam drückte ihre Finger fest zusammen. Er wusste genau, was sie als Nächstes getan hätte.
»Wie viele dieser Sklaven werden als brauchbar eingestuft?«, fragte Sam und zog seine Hand zurück. »Unsere kommen alle nach Rifthold, aber wird diese Ladung hier aufgeteilt?«
Rolfe erwiderte: »Denkt Ihr, Euer Meister wäre der Erste, der Geschäfte mit mir macht? Wir haben andere Verträge mit anderen Städten. Meine Partner in Bellhaven sagen mir, wonach die Reichen suchen, und ich beliefere sie. Wenn mir kein guter Ort einfällt, wo ich die Sklaven verkaufen kann, schicke ich sie nach Calaculla. Sollte Euer Meister welche übrig haben, kann er sie immer noch nach Endovier schicken. Beim Ankauf von Sklaven für die Salzminen ist man in Adarlan ziemlich geizig, aber es ist besser, als gar nichts zu verdienen.«
Adarlan holte sich Gefangene also nicht nur von den Schlachtfeldern und direkt aus ihren Häusern – sie kauften auch Sklaven für die Salzminen in Endovier.
»Und die Kinder?«, fragte Celaena mit möglichst neutraler Stimme. »Wo kommen die hin?«
Rolfes Augen verdunkelten sich und sein Blick wurde so schuldbewusst, dass Celaena sich fragte, ob der Sklavenhandel die letzte Rettung für ihn gewesen war. »Wir versuchen die Kinder bei ihren Müttern zu lassen«, gab er ruhig zurück. »Aber während der Auktion haben wir keine Macht darüber, ob sie getrennt werden oder nicht.«
Celaena lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, sie sagte aber nur: »Verstehe. Sind sie beim Verkauf ein Hindernis? Und mit wie vielen Kindern können wir bei unserer Ladung rechnen?«
»Hier haben wir etwa zehn«, erwiderte Rolfe. »Eure Ladung sollte auch nicht mehr enthalten. Und beim Verkauf sind sie kein Hindernis, wenn man sie am richtigen Ort anbietet.«
»Wo?«, fragte Sam.
»Reiche Haushalte können sie als Küchenmädchen oder Stallburschen gebrauchen.« Rolfes Stimme blieb zwar fest, aber sein Blick war auf den Boden geheftet. »Auch eine Bordellbesitzerin könnte bei der Auktion auftauchen.«
Sams Gesicht wurde weiß vor Zorn. Wenn es etwas gab, das ihn in Rage brachte, ein Thema, das garantiert funktionierte, dann dieses.