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Politik! Pah! In Thalyria sind die besten Politiker diejenigen, die einem den Dolch ins Herz rammen, bevor man sie kommen sieht. Und deshalb hält Cat sich von allem fern, was auch nur entfernt mit Politik zu tun hat. Egal, ob es um grausame Adlige aus dem mächtigen Norden geht oder um einfache Rebellen, die im magiearmen Süden gerade den Adel entthront haben. Dummerweise braucht der Anführer dieser Rebellen nun Cats Hilfe, um seine Macht zu sichern. Und er holt sie sich, ob Cat will oder nicht ...
Nominiert für den Goodreads Choice Award
»Ich kann dieses Buch gar nicht genug empfehlen. Wenn Sie Fantasy mögen, lesen Sie es. Wenn Sie griechische Mythologie mögen, lesen Sie es. Wenn Sie Alpha-Helden oder Geschichten über Auserwählte oder starke, unabhängige Heldinnen mögen, lesen Sie es. Ganz egal: Lesen Sie es einfach!« All About Romance
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Seitenzahl: 634
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Danksagung
Über die Autorin
Amanda Bouchet, aufgewachsen in den USA, lebt heute zusammen mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern in Paris. Da sie griechische Wurzeln hat, haben die Legenden und Sagen der Antike sie schon immer fasziniert. Die griechische Mythologie diente daher auch als Inspiration für die Welt, die sie in ihrer Fantasy-Trilogie TOCHTER DER GÖTTER entwirft. Die Reihe hat in den USA einen wahren Hype ausgelöst.
Mehr Informationen über die Autorin finden Sie auf ihrer Homepage: amandabouchet.com
Amanda Bouchet
Glutnacht
Aus dem amerikanischen Englisch vonVanessa Lamatsch
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:Copyright © 2016 by Amanda BouchetTitel der englischen Originalausgabe:»A Promise of Fire (The Kingmaker Chronicles 1)«Originalverlag: Sourcebooks imprint, an imprint of Sourcebooks, Inc.www.sourcebooks.com.
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Uwe Voehl, Bad SalzuflenTitelillustration: © Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deunter Verwendung von Motiven von © Shutterstock/Fotokvadrat;Shutterstock/Unholy Vault Designs; Thinkstock/moodboard;Thinkstock/Istock (5); Shutterstock/Popova_IrinaUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5016-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine Familie,nah, fern und jenseits der Sterne.Ihr habt mich immerauf jede mögliche Weise unterstützt.
Ich zupfe an meiner scharlachroten Tunika, um den leichten Leinenstoff von meiner Haut zu lösen. Das heiße südsintanische Klima ist nicht direkt mein schlimmster Albtraum, aber es steht auf der Liste ziemlich weit oben. Zusammen mit dicker Schminke auf dem Gesicht, Lederhosen und kniehohen Stiefeln.
Hitze, Leder und Absätze passen einfach nicht zusammen, aber zumindest passe ich mit meiner Räuberkluft gut zu den anderen Zirkusleuten. Hier fällt auf, wer zu normal aussieht.
Den Kopf in der Hoffnung auf ein wenig frische Luft hocherhoben, bahne ich mir den Weg zwischen den unzähligen Tischen hindurch, die bereits für den Jahrmarkt aufgebaut sind. Die Schausteller auf der Mittelbühne stellen die wahre Attraktion dar. Der Rest von uns hat sich um sie herum gruppiert und sich eigene Inseln in der Menge geschaffen. Heute, auf allen Seiten eingeengt von einem Amphitheater, das von Hunderten Fackeln beleuchtet wird und bis zum Bersten gefüllt wird, fühle ich mich, als säße ein Zyklop auf meiner Brust – wie erstickt.
Feuchte Locken kleben in meinem Nacken. Ich löse sie von der Haut und stopfe sie zurück in meinen Zopf. Im Gehen mustere ich die Menge. Ich erkenne einige Besucher, die schon ein paarmal da waren. Viele andere sind mir unbekannt. Mein Blick stolpert über einen Mann und bleibt an ihm hängen. Er sieht mich direkt an, und es fällt mir schwer, den Blick nicht zu erwidern. Er ist auf dunkle, magnetische Weise beeindruckend. Seine Körpergröße, seine Waffen und sein gesamtes Auftreten verraten mir, dass er ein Kriegsherr aus den Stämmen sein muss. Sein Körperbau spricht von männlicher Stärke, seine Bewegungen sind perfekt ausbalanciert und geschmeidig. Er geht mit raubtierhaftem Selbstbewusstsein, ohne Eile, und doch lässt sich leicht erkennen, dass er jederzeit zu schnellen, explosiven Gewaltausbrüchen fähig ist. Diese Gewalttätigkeit ist weder unterschwellig noch verborgen, sie ist nur kontrolliert.
Er ist wachsam und aufmerksam, sich seiner Umgebung jederzeit bewusst. Und besonders achtet er auf mich.
Unsere Blicke treffen sich, und etwas in mir erstarrt. Seine Augen erinnern mich an Poseidons Wut – stürmisch, grau, intensiv; die Art von Augen, die einen anziehen, festhalten und vielleicht nie wieder gehen lassen.
Adrenalin schießt in meine Adern und jagt meinen Pulsschlag in die Höhe. Mein Herz schlägt wie wild. Ich blinzle und mustere ihn genauer. Intelligentes Gesicht, starkes Kinn. Breiter Mund. Adlernase. Langes, schwarzes Haar fällt auf einen muskulösen Hals über breiten Schultern, die zweifellos davon stammen, dass er schon ein Schwert geschwungen hat, bevor er laufen konnte. Mit dem perfekt durchtrainierten Körper, die Haut dunkel von einem Leben in der Sonne, wirkt er kampfgestählt und hart. Die Art von Mann, die einen Feind in zwei Hälften hacken kann, mit wenig Mühe und noch weniger Gewissensbissen.
Er starrt mich weiter an, und ein kalter Schauder läuft mir über den Rücken. Ist dieser Mann mein Feind?
Es gibt keinen Grund zu der Befürchtung, aber ohne eine gesunde Portion Verfolgungswahn würde ich längst nicht mehr am Leben sein.
Wachsam lasse ich mich an meinem Tisch nieder und behalte den Mann im Blick, als er sich forsch seinen Weg durch Tische voller Tränke, Schmuck und Zauber bahnt.
Vier ähnlich gebaute Männer begleiten ihn. Ihre Haarfarbe unterscheidet sich, aber sie alle strahlen dieselbe Selbstsicherheit aus, auch wenn sie neben der autoritären, anziehenden Aura des Kriegsherrn selbst fast unauffällig wirken. Der Mann mit den grauen Augen ist ein geborener Anführer – nur ein Idiot würde ihn für etwas anderes halten.
Er starrt mich so lange an, dass ich mich langsam frage, ob er mich unter den Schichten meiner Schminke erkennen kann. Aber ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, und er kann unmöglich wissen, wer ich wirklich bin. Ich stamme aus dem Norden von Fisa, wo Magie Macht bedeutet. Er stammt aus dem Süden von Sinta, wo Muskeln und Schläue darüber entscheiden, wer lebt und wer stirbt. Unsere Wege dürften sich in der Vergangenheit nie gekreuzt haben, und Kriegsherrn besuchen gewöhnlich nur selten den Zirkus.
Ich wende den Blick ab, in der Hoffnung, dass er dasselbe tun wird. Es gibt viele Gründe, weshalb ein Mann eine Frau anstarrt. Ein exotisches Gesicht und eine kurvige Figur erregen genauso viel Aufmerksamkeit wie ein gutes Geheimnis – wenn nicht sogar mehr –, und die intensive Musterung des Kriegsherrn wirkt eher anerkennend als beunruhigend.
Ohne die Röte zu beachten, die sich auf meinen Wangen ausbreitet, glätte ich die Falten der groben Wolldecke, die meinen Tisch bedeckt, und ordne meine üblichen Utensilien. Mein glitzerndes Schild mit den goldenen Buchstaben verkündet: Die Großartige Cat – Unvergleichliche Wahrsagerin. Obwohl ich nur hin und wieder kurze Blicke in die Zukunft werfen kann, gewöhnlich in Träumen. Glücklicherweise braucht es nur ein paar Fragen, damit die wahren Antworten sich selbst enthüllen, wie Blumen, die sich für die Sonne öffnen. Ich lese die Körpersprache der Leute, um herauszufinden, wer sie sind und vielleicht auch, wozu sie fähig sind. Letztendlich geht es um Wissen und Illusion. Ich bekomme ein Kupferstück dafür, was für mich mehr als ein gutes Geschäft ist. Aber ich will nicht mit der Zukunft hausieren gehen. Ich weiß etwas über meine eigene, und das ist schlimm genug.
Mein Bein beginnt nervös zu zittern. Prophezeiungen kann man sehr lose auslegen, richtig?
Das Publikum keucht, also drehe ich mich, um herauszufinden, was auf der Bühne geschieht. Vasili wirft mit Messern auf seine Frau. Sie ist an die flache Seite einer aufrecht stehend rotierenden, runden Scheibe gefesselt, und er hat die Augen verbunden. Er hat sie noch nie getroffen, aber trotzdem bleibt mir bei jedem ihrer Auftritte förmlich das Herz stehen. Der heutige Abend bildet da keine Ausnahme. Ich halte den Atem an, gleichzeitig fasziniert und verängstigt, bis er keine Messer mehr in Händen hält.
Die Menge ist vom Spektakel gefesselt, also stehe ich wieder auf und gehe zum Schaustellertor, um den Rest der Vorstellung zu beobachten und ein wenig Abstand zwischen mir und den Kriegsherrn und mich zu bringen. Er sieht mich immer noch an, obwohl er das nicht sollte.
Die Luft, die durch das Tor dringt, ist frischer und trägt das Geräusch von Cerberus schnaufendem Atem und den Duft von heißem Fell. Er ist Hades’ Haustier, also bezweifle ich, dass ihm die Hitze etwas ausmacht. Ich winke ihm zu, und zwei seiner drei Lefzen verziehen sich zu einem bestätigenden Knurren. Eines Tages wird er mit allen drei Köpfen reagieren, auch wenn mir das in den bisherigen acht Jahren nie gelungen ist. Ich glaube, sein mittlerer Kopf mag mich einfach nicht.
Nachdem Vasilis Zirkusakt beendet ist, befreit er seine Frau, während Aetos sich in einem dreifachen Salto auf die Bühne katapultiert und mit einem Knall, der die Bühne zum Beben bringt, in Kampfhaltung landet. Die Plattform knirscht unter seinem immensen Gewicht, und die entzückte Menge murmelt ehrfürchtig. Aetos richtet sich auf, trommelt sich auf die Brust, reißt sich das Pferdefell von seinem riesigen Rücken und geht in Flammen auf. Sein Brüllen erschüttert das Amphitheater. Niemand kann brüllen wie Aetos. Ich habe ihn schon Hunderte Male auftreten sehen, und trotzdem jagt mir das Geräusch noch einen Schauder über den Rücken.
Zwei Meter zwanzig groß, muskelbepackt und von Kopf bis Fuß mit den wirbelnden Mustern der tarvanischen Stämme tätowiert, bewegt er seine Hände in einem unglaublich schnellen Tanz und webt so Feuer, bis er von einer Kugel aus lebenden Flammen umgeben ist. Mit einem weiteren Brüllen durchbricht er die knisternde Barriere. Die Explosion aus Hitze bläst mir die Haare aus dem Gesicht und sorgt dafür, dass meine Nase ganz trocken wird. Ich stehe gut zehn Meter entfernt, aber trotzdem fühle ich mich jedes Mal, als befände ich mich in den Feuerstätten der Unterwelt. Mir Luft zuzufächeln ist sinnlos. Ich werde mich niemals an die Hitze des Südens gewöhnen, und mit Aetos auf der Bühne ist es noch schlimmer.
Die Hoi Polloi, das einfache Volk, können sich kaum zügeln. Es ist, als würde man vor Kindern auftreten – alles verzaubert sie. Für diese Menschen ist der Zirkus ein Wirbelwind aus Macht und unmöglichen, magischen Wundern. Überall um mich herum, von der festgetretenen Erde vor der Bühne bis zu den hintersten Rängen der runden Steintribünen, springen Leute auf und ab, jubelnd und stampfend.
Ich stampfe zusammen mit der Menge, als mein Blick Aetos über die Bühne folgt. Was für eine Erleichterung, zurück in Sinta zu sein, trotz des allgegenwärtigen Staubs und der Hitze. Ich nehme alles auf mich, um mich immer im Westen von Thalyria aufzuhalten. Unser Ausflug ins Mittelreich Tarva vor nicht so langer Zeit hat mir die Brust zusammengeschnürt und bewirkt, dass meine Finger sich nach einem Messer sehnten. Wahrscheinlich würde ich mich vor meinem eigenen Schatten erschrecken, sollte der Zirkus je ganz nach Osten nach Fisa ziehen. Allein der Gedanke an mein Heimatreich lässt kalten Schweiß auf meine Stirn treten.
Sinta. Tarva. Fisa. Von Westen nach Osten. Von hier nach … Nein. Ich werde nicht darüber nachdenken.
Das Publikum bejubelt Aetos’ feurigen Auftritt. Die Hoi Polloi im Amphitheater sind vollkommen in Ekstase – und das nicht nur wegen der Vorstellung. Sie feiern, seitdem ein Kriegsherr aus dem von Stämmen beherrschten Süden sich seinen Weg nach Norden zur Burg Sinta erkämpft hat, um seine Schwester auf den Thron zu setzen. Man könnte meinen, Dionysos hätte Wein für drei Monate über dem gesamten Reich ausgegossen. Die sintanischen Tempel quellen förmlich über von lobpreisenden Menschen, und ihre heiligen Männer sind überwältigt von den Gaben, um die Armen zu kleiden und zu ernähren. Statuen von Athena, die der siegreiche Kriegsherr offensichtlich sehr schätzt, wurden spontan in Städten von hier bis zu den Eisebenen in Sintas Norden aufgestellt. Das Land strotzt vor Glück und Großzügigkeit, und ich will lieber nicht darüber nachdenken, wie viele Schafe geschlachtet wurden, um zu feiern.
Zum ersten Mal seit Anbeginn der Zeit hat die magielose Mehrheit das Sagen, und die Hoi Polloi tanzen in den Straßen – wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, sich in sklavischer Ergebenheit vor die Füße der neuen Königsfamilie zu werfen. Zumindest habe ich das gehört. Tatsächlich habe ich noch niemanden aus der neuen königlichen Familie gesehen. Aber Neuigkeiten verbreiten sich schnell, wenn es welche zu erzählen gibt. Nachdem der Kriegsherr und seine Armee aus dem Süden sich letzten Frühling den sintanischen Thron gesichert haben, hat seine Familie Wochen gebraucht, um ihm nach Norden nachzuziehen. Nicht, weil sie so langsam waren, sondern wegen der schieren Masse an Bewunderern auf ihrem Weg.
Es ist kein Geheimnis, dass die im Norden geborenen Magoi-Könige hier in Sinta Despoten waren, genau wie überall anders in Thalyria. Die Hoi Polloi wissen, dass sie mit einem der Ihren auf dem Thron besser fahren.
Aber ein Herrscher ohne Magie? Mein Schnauben geht im Überschwang der Menge unter. Das kann nicht gut gehen.
Aetos wirft sich das Pferdefell wieder über die Schulter, springt in einem großen Satz in die Luft und landet nicht mehr. Er schwebt ein gutes Stück über der Bühne und lässt Flammen in den sich verdunkelnden Himmel schießen. Sie fallen in einem Regen aus Funken zurück auf die Erde, der schwarze Punkte in die hölzerne Bühne brennt und die unerträgliche Hitze noch verstärkt. Aetos landet im selben Moment wie die letzten Feuerfetzen, tritt mit seinen riesigen Stiefeln die Flammen aus, brüllt – natürlich – ein letztes Mal und verbeugt sich tief.
Ich halte mir grinsend die Ohren zu, sonst wäre ich vom Applaus vielleicht taub geworden.
Aetos stampft in einem Wirbel aus schwarzem Cape und roten Flammen zum Ausgang und nickt mir zu, bevor Desma für ihren Tanz der Tausend Farben auf die Bühne tritt.
Sie bewegt sich zu der Melodie einer Kithara. Ihr Tanz beginnt langsam, um dann nach und nach Geschwindigkeit aufzunehmen, bis sie in einem Kaleidoskop von Farben über die Bühne wirbelt. Ihre nackten Füße berühren kaum den Boden. Regenbogen dringen aus jeder Pore, aus jedem Haar und jeder Wimper, bis die sommerliche Abenddämmerung von einer unglaublich komplexen Helligkeit erleuchtet wird. Ihre Augen leuchten in mehr verschiedenen Farben, als selbst die Götter sie benennen können. In ihrer unfassbaren Schönheit bildet Desma das große Finale, und die Menge betet sie an.
Ich bin von Desmas Tanz genauso gefesselt wie alle anderen, daher kreische ich kurz auf, als Vasili mich mit dem stumpfen Ende eines Messers anstößt.
»Du solltest mit ihr dort oben sein, Cat. Ihr könntet eine neue Nummer kreieren und euch die Fantastischen Fisanischen Zwillinge nennen.«
Ich ziehe ihm blitzschnell das Messer aus der Hand, lasse es herumwirbeln und pieke zurück. »Zwillinge ähneln sich.«
Er schaut zwischen Desma und mir hin und her. »Klein. Langes, dunkles Haar. Leuchtend grüne Augen. Fisaner.«
Okay. Da hat er nicht ganz unrecht. Wir sind sogar gleich alt – dreiundzwanzig.
Ich mache eine Geste, die meine kurvenreiche Figur einschließt, dann deute ich auf Desmas viel schmaleren Körperbau.
Vasili grinst so breit, dass sein Schnurrbart fast auf beiden Seiten seine buschigen Augenbrauen berührt. »Das stimmt natürlich. Desma sollte mehr essen.«
Ich schnaube. »Ich könnte auch weniger essen.«
»Du bist eine Frau, Cat. Du siehst aus, wie du aussehen solltest.«
Ich ziehe eine Grimasse. Vasili behandelt mich seit dem ersten Tag wie ein Familienmitglied; seitdem ich im Zirkus aufgetaucht bin – fünfzehn Jahre alt, ausgehungert und dreckig, mit Blasen an den Füßen. »Es gibt doch nichts Besseres, als fast zu verhungern, um einer Person Wertschätzung fürs Essen zu lehren«, sage ich, während mein Blick über den Ort gleitet, an dem ich Selenas Wanderzirkus zum ersten Mal in Aktion gesehen habe. Acht Jahre sind vergangen, aber dieser südsintanische Staubhaufen ist immer noch mein liebster Veranstaltungsort.
Vasili holt sich sein Messer zurück und lässt den Knauf auf seiner Handfläche herumwirbeln, als stecke er auf einer unsichtbaren Achse.
Ich beobachte die glitzernde Klinge. »Weißt du, ich wünschte, ich könnte das auch.«
Lächelnd erhöht er die Geschwindigkeit, bis die Klinge nicht mehr als solche zu erkennen ist.
»Angeber«, grummle ich.
Er lacht leise, bevor er zurückweicht, damit Desma durch das Tor treten kann. Sie bleibt in Bewegung, wiegt sich rhythmisch, und ich drehe mich um, um ihr zu folgen. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass sie nicht einfach damit aufhören kann, weil sich die Farben sonst in ihr aufbauen, bis der Druck unerträglich wird. Sie ergreift meine Hände und zieht mich in ihren Tanz, sodass unsere Füße Staub in die schimmernde Luft wirbeln. Auf dem Weg nach draußen kommen wir an Cerberus vorbei. Er hebt einen seiner Köpfe und spitzt die Ohren.
Desmas Farben huschen über meine Haut und hinterlassen ein Gefühl, als würden winzige Zähne an mir nagen. Ihre Regenbogen springen eifrig auf mich über, und ich nehme sie so schnell in mich auf, dass die Magie mich atemlos zurücklässt.
»Du beruhigst mich, Cat.« Sie führt uns eine grobe Steinmauer hinter dem Amphitheater entlang. »Du bist Balsam für meine Seele.«
»Ich bin der Wassereimer für deine Fackel.«
Sie lacht über meine bissige Antwort, wobei Farben aus ihrer Kehle strömen und in mich eindringen.
Es dauert nicht lange, bis Desma aufhört zu glühen. Ihre Macht lässt mich so voller Leben zurück, dass ich die drückende Hitze vergesse. Regenbogen schießen aus meinen Fingerspitzen und tauchen die abendlichen Schatten in ein Farbenmeer. Ich zeichne damit ein Bild des Minotaurus an eine Wand, bevor ich mit den harmlosen Lichtern auf vorbeikommende Freunde schieße. Tadd und Alyssa eilen in einer Mischung aus Laufen und Purzelbäumen über das sonnenverbrannte Gras, um den Strahlen zu entkommen. Zosimo und Yannis lassen sich von meinen farbenfrohen Geschossen treffen, um dann mit vorgespielten Wunden zu Boden zu sinken.
»Cat! Du stellst eine öffentliche Gefahr dar!«, dröhnt Aetos hinter mir.
Lachend wirble ich herum und beschieße ihn mit allem, was ich noch habe. Die Magie kann nicht mehr anrichten, als ein wenig zu kitzeln, doch er benimmt sich, als befände er sich wieder auf den Gletschern und müsste im Kampf gegen die menschenfressende Stute des Diomedes antreten.
Seine Miene verzieht sich, wird mit jedem Schritt angsteinflößender. Ich beäuge seine hochaufragende Gestalt und das riesige Pferdefell, das hinter ihm flattert wie dunkle Flügel und wünsche mir, ich hätte ebenfalls den Gletschern getrotzt, ein Monster besiegt und den Göttern eine Opfergabe wie den Kopf dieser Stute dargebracht.
Was habe ich getan, um meine Magie zu verdienen – mal abgesehen davon, zu überleben?
Aetos watet durch die farbengeschwängerte Luft und packt mich, um mich in eine ungestüme Umarmung zu ziehen. »Wer lacht jetzt?«, rumpelt seine Stimme irgendwo über meinem Kopf.
»Zu fest«, keuche ich. Magie knistert, als meine Knochen zusammengepresst werden.
»Tut mir leid.« Er lässt mich los, und ich kann wieder atmen. Er kneift die Augen, gletscherblau wie die Eisebenen, zusammen, als er mich ansieht. »Zeus! Du siehst aus wie vierzig.« Er tippt mit einem Finger an meine Nase. »Deine Schminke ist so dick, dass ich kaum erkennen kann, was sich darunter befindet.«
»So ist es gedacht«, erkläre ich mit einem vorsichtigen Grinsen.
Er wird ernst. »Vor wem versteckst du dich, Cat? Wer bist du?«
Meine Miene verfinstert sich, und die gute Laune verlässt meinen Körper wie die Magie eines anderen. Aetos hat mich seit Jahren nicht mehr so angesehen. Nicht, seitdem er aufgehört hat, nachzuhaken, vor wem ich weggelaufen bin und warum ich nachts schreie.
Ich zwinge mich zu einem frechen Lächeln. »Ich bin die Großartige Cat, unvergleichliche Wahrsagerin.«
Er erwidert mein Lächeln nicht, lässt mich aber für den Moment vom Haken. Aber vorher wirft er mir noch einen Blick zu, der mir verrät, dass er noch nicht mit mir fertig ist. »Es ist Zeit, dass du ein paar Sintaner blendest, Großartige Cat, unvergleichliche Wahrsagerin.«
Die Spannung zwischen uns, die ich so sehr verabscheue, löst sich in Luft auf, als Desma mir auf den Hintern schlägt. »Entweder diese Hosen sind geschrumpft oder du hast mal wieder zu viel Gewürzkuchen gegessen.«
Ich stoße ein angewidertes Geräusch aus. »Wieso verbünden sich alle gegen mich?«
Sie grinst. »Weil du seltsam bist und niemand weiß, was du eigentlich verbirgst.«
»Meine Hosen sind in Ordnung.« Um ehrlich zu sein, werden sie langsam wirklich unbequem, aber das werde ich jetzt kaum zugeben.
Aetos verschränkt stirnrunzelnd die Arme. »Sie sind zu eng. Wenn ich mitbekomme, dass jemand dich länger als fünf Sekunden ansieht, werde ich ihm den dämlichen Kopf vom verdammten Körper reißen.«
Meine rechte Augenbraue wandert nach oben. »Das dürfte ziemlich blutig werden.«
»Lach nur«, knurrt er. »Aber achte darauf, dass du nicht in der Fontäne stehst.«
Ich rufe mit einer Geste die Götter auf dem Olymp an. »Schenkt mir Geduld.«
»Ehrlich, Cat.« Desma packt unerwartet drängend meinen Arm. »Diese Schminke und diese Kleidung lassen dich älter und viel erfahrener wirken, als du wirklich bist. Sei heute in der Menge vorsichtig.«
Ich verdrehe die Augen. »Ich habe das schon öfter getan.«
»Ich weiß.« Sie gibt mich genauso plötzlich frei, wie sie mich gepackt hat. »Aber die Dinge in Sinta liegen jetzt anders, besonders im Süden. Diesen Leuten ist bewusst geworden, dass Muskeln tatsächlich über Magie siegen können. Die Hoi Polloi fühlen sich seit dem Frühling recht mutig, und du willst doch nicht aus Versehen jemanden töten.«
Ich erstarre innerlich. »Was lässt dich glauben, dass ich das kann?«
Desma zuckt nur mit den Achseln. Aetos wirkt viel zu interessiert, also richte ich meinen Blick auf ihn.
»Du kannst mit Feuer töten.«
»Ich kann mit einem Finger töten«, spottet er und schnippt zusätzlich noch mit den Fingern. »Und das auch noch schnell.«
Desma stemmt ihre kleinen Hände auf die schmalen Hüften. »Wir reden von Magie, nicht von obszön muskelbepackten Riesen.«
»Wen nennst du hier obszön, Regenbogenfrau?« Aetos’ breite Brust schwillt vor Entrüstung, und seine Augen verdunkeln sich.
»Stopp!« Ich unterbreche ihre Streiterei, bevor sie richtig in Fahrt kommen können. Die Schicksalsgöttinnen haben bei diesen beiden alles durcheinandergebracht – ein riesiger, tätowierter Südländer mit der Gabe des Feuers und des Fliegens und eine winzige Halbgöttin, der ihre olympische Herkunft nichts geschenkt hat außer ungewöhnlicher Schönheit und einem farbenprächtigen Glühen. Was für ein Paar. Ich wünschte, sie würden endlich miteinander schlafen und all diese unterdrückten Gefühle rauslassen. »Ich muss gehen. Mein Tisch ist bereit.«
Aetos zwinkert mir zu. »Schön vorsichtig da draußen.«
Ich schubse ihn, auch wenn es ist, als hätte ich meine Hand gegen eine Marmorstatue gerammt. »Wieso glauben plötzlich alle, ich bräuchte Schutz? Hast du nicht gerade noch behauptet, ich wäre eine Gefahr und könnte aus Versehen töten?«
»Also kannst du es?«, fragt Desma.
Ich schüttle den Kopf. »Natürlich nicht.«
Ich hasse es, meine Freunde anzulügen.
*
Ein Junge mit einem Beereneis in der Hand und einem rot verschmierten Kinn wandert drei Mal an meinem Stand vorbei, bevor er endlich anhält.
Ich deute auf den Stuhl mir gegenüber. »Setz dich.«
Nervös lässt er sich auf den äußersten Rand sinken. »Kannst du meine Zukunft sehen?«, fragt er.
»Vielleicht.« Nie zu etwas verpflichten, was man vielleicht gar nicht kann. Ich kann jederzeit versuchen, Tee mit Zeus zu trinken. Das bedeutet nicht, dass ich es hinkriege.
Seine Miene wird kampfeslustig. »Heißt das, du kannst es nicht?«
»Lass uns eine Abmachung treffen.« Ich beuge mich vor und senke meine Stimme. »Wenn du findest, dass ich meine Arbeit nicht gut mache, musst du mich nicht bezahlen.«
Der Blick in seinen haselnussbraunen Augen wird scharf, und er nickt.
»Sag es.«
»Abgemacht.«
Ich lehne mich befriedigt zurück. »Was willst du wissen?«
Er rutscht unruhig hin und her, dann verzieht er das Gesicht, das, obwohl jetzt noch jungenhaft und unausgewogen, vermuten lässt, dass er in ein paar Jahren viele Herzen brechen wird. Ich warte und bemühe mich um Geduld, bis er endlich seine Frage ausspuckt.
»Werde ich je Magie besitzen?«
Ich unterdrücke ein Seufzen. Man wird entweder mit Magie geboren oder nicht. Magoi oder Hoi Polloi. Es erscheint mir jedoch grausam, seine Hoffnungen zu schnell zu vernichten. »Gib mir deine Hand.«
Vertrauensvoll streckt er mir seine rechte Hand entgegen.
Ich wische meine verschwitzte Handfläche an meiner Lederhose ab, was kaum hilft, dann ergreife ich seine Finger. Sie kleben vom Beereneis, unsere Haut scheint förmlich zu verschmelzen.
Handlesen ist ein uraltes Ritual, das keinerlei Bedeutung hat. Man kann absolut gar nichts aus den Linien einer Hand ablesen. Aber wenn dieser Junge auch nur einen winzigen Splitter der Eisebenen in sich trägt, werde ich es fühlen. Seine Macht wird mir auf dieselbe Art entgegenstreben, wie sich die Menschen nach den Göttern sehnen.
Da ist nichts. Seine Haut ist warm, klebrig und riecht nach Kalabeeren. Seine Hand hält keine Macht, auch wenn das nicht bedeutet, dass Magie ihm für immer verwehrt bleibt. Ich zögere, bevor ich ihn auf einen gefährlichen Weg schicke. »Wieso möchtest du Magie zu besitzen?«
Seine Wangen werden rot. »Ich werde nie so klug und stark sein wie die Kriegsherren der Stämme. Wenn ich keine Magie habe, habe ich gar nichts.«
Das stimmt nicht. Er hat ein Hirn. Er scheint gesund zu sein. Er kann alles machen, was er will. Aber der Junge glaubt, was er sagt, sonst hätte meine Magie auf die Lüge angesprochen.
»Bist du tapfer?«, frage ich.
Er wirkt überrascht. »Ich versuche, es zu sein.«
»Liebst du deine Mutter?«
Er nickt, auch wenn er bei meiner Frage die Stirn runzelt.
»Sag es laut«, beharre ich.
»Ich liebe meine Mutter.«
»Ist deine Familie gut zu dir?«
Wieder will er nicken, aber ich hebe warnend den Zeigefinger. Ich muss es hören. Es liegt Magie in gesprochenen Worten. Sie sind bindend. Es gibt einen Grund dafür, dass Leute sich das Wort eines anderen geben lassen. Jeder Satz, den eine Person äußert, kann ein Versprechen sein – oder ein Verrat.
»Sie sind gut zu mir«, antwortet er.
Eine liebende Familie. Wie außergewöhnlich.
»Wenn du sehen würdest, wie ein Kind geschlagen wird, würdest du weitergehen oder eingreifen?«
Er reißt die Augen auf. »Aber was könnte ich machen?«
»Das beantwortet nicht meine Frage«, sage ich mit harter Stimme. Er wird bleich.
Ups. Für die Zukunft merken: Keine Kinder verängstigen.
Er nimmt die Schultern zurück. »Ich würde eingreifen.«
Ich wappne mich für das Reißen in meiner Seele. Überraschenderweise spüre ich nichts. Er hat mir die Wahrheit gesagt, was ihn meines Ratschlages würdig macht. Außerdem ist er mutig und hat eine Familie, die ihn unterstützen wird; was bedeutet, dass er tatsächlich überleben könnte.
»Die Götter begünstigen Freundlichkeit und Selbstlosigkeit.« Manche zumindest. Und abscheuliche Leute wie Vetter Aarken werden gefressen. Ha! »Unter den richtigen Umständen können Anstand und Ehrlichkeit belohnt werden.«
Der Junge wirkt verwirrt. »Ich muss anständig sein und die Götter um Magie bitten?«
Ich gebe seine Hand frei und lehne mich zurück. »Ja, aber du kannst nicht einfach in den Tempel gehen, beten und ›bitte, bitte‹ sagen. Wenn du älter, weiser und viel stärker bist, entscheide dich entweder für die Eisebenen oder die See-Orakel.«
»Du meinst, ich soll nach Norden gehen.« Er rümpft angewidert die sommersprossige Nase.
»Dort liegt die Magie. Hier sind wir so weit vom Olymp entfernt, dass selbst die Magie derjenigen, die sie besitzen, schwach und verwässert ist. Selbst Magoi haben so weit südlich Probleme. Es fällt den meisten von uns hier schwerer, unsere Magie zu wirken.«
»Den meisten?«
Ich zwinkere verschwörerisch. »Den meisten.«
Der Junge kaut mit weißen Zähnen auf einer beerenrot verschmierten Unterlippe. »Wofür soll ich mich entscheiden?«
Er wirkt so ernsthaft, dass sich etwas in meiner Brust zusammenzieht. Ich habe ihm vorgeschlagen, sich bösartigen magischen Kreaturen oder Orakelfischen in der Größe von Drachen zu stellen. Was, wenn ich ihn in den Tod schicke?
»Du musst sehr stark sein, um die Eisebenen zu überleben. Die Orakel sind wankelmütig, aber gewöhnlich die sicherere Variante.«
Er nickt, als er sich diese Information merkt. Ich sollte zwei Kupferstücke für so etwas verlangen, besonders im Süden von Sinta. Hier gibt es mehr Unwissen über Magie und Geschichte als irgendwo sonst in Thalyria.
»Welcher See?«
Es müssten drei Kupferstücke sein! Vielleicht sogar vier …
»Das ist deine Wahl, und es hängt davon ab, welchen Gott du dir als Beschützer wünschst.« Ich lehne mich vor und sage leise: »Aber falls du je in die Nähe von Fisa kommst und Poseidons Tentakelforelle begegnest, sag ihr, dass Catalia Grüße ausrichtet.«
Erschrocken rücke ich zurück. Was zur Unterwelt? Ich platze nie mit etwas heraus. Ich gebe nicht einfach Informationen über mich selbst preis, vor allem solche, die ich selbst meinen Freunden nie verraten habe. Wie meinen vollen Namen.
Die Augen des Jungen werden groß wie Topfdeckel. »Du warst bei einem Orakel?«, fragt er viel zu laut.
Mein Magen hebt sich, während ich mich frage, wann ich die Kontrolle über meine eigene Zunge verloren habe.
Verdammte, sich einmischende Götter. Was wollen sie von diesem Kind? Oder noch schlimmer – von mir?
Ich nicke widerwillig. »Und bin am richtigen Ende herausgekommen. Nicht hinten«, füge ich als Erklärung hinzu. Ich will nicht mal darüber nachdenken, von einem riesigen Fisch verdaut zu werden. »Die Orakel werden dir in die Augen sehen, in deinem Kopf herumgraben und dich dann kosten. Wenn du Glück hast, werden sie dir helfen. Wenn du nicht würdig bist, verschlingen sie dich im Ganzen.«
Er wird bleich. »Sie fressen … Leute?«
»Selbst Orakel brauchen Nahrung. Ich habe einen Vetter, der das auf die harte Tour herausgefunden hat.«
Die Kinnlade des Jungen knallt förmlich auf meinen Tisch.
»Oh, er hatte es verdient«, versichere ich ihm. Mutter wusste, dass Aarken und ich Rivalen waren, und hat mich mit ihrer üblichen Mischung aus Grausamkeit und Enttäuschung darüber informiert, dass ich mich um ihn hätte kümmern müssen, bevor das Orakel es getan hat. Töten oder getötet werden – das Familienmotto.
»Du bist großartig.« Die Stimme des Jungen klingt atemlos.
Ich lache. Irgendwie. »Das finden alle.«
Meine unvergleichliche Bescheidenheit bringt ihn zum Grinsen, dann gräbt er in seiner Tasche nach einem Kupferstück.
»Behalt es«, sage ich. »Kauf dir noch ein Beereneis und bring mir auch eins.« Es ist so heiß, dass ich fast in Versuchung bin, mir das Eis auf dem Rücken schmelzen zu lassen, aber ich fühle mich schon jetzt klebrig genug.
»Danke!« Sein Grinsen wird noch breiter.
Ich kann nur hoffen, dass er die Informationen, die ich ihm über mich gegeben habe, für sich behält. Sein Lächeln ist charmant, und ich will mir keinen weiteren Feind machen. »Wie alt bist du?«
»Dreizehn«, antwortet er stolz.
Es ist nur eine kleine Lüge, trotzdem reißen Schmerzen an meiner Seele. Flammen verbrennen mich von innen, entzünden mein Innerstes und drängen danach, meine Knochen zu schwärzen. Ich verspanne mich und bleibe still sitzen, bis das Brennen verklingt.
»Du bist elf«, sage ich dann kühl. »Wieso lügst du?«
Er zieht ein langes Gesicht und starrt auf seine Füße. »Ich wollte dich beeindrucken.«
»Lügen beeindrucken niemals.« Ich bemühe mich, nicht die Zähne zusammenzubeißen und ihn zu verängstigen. »Denk daran, wenn du das Orakel triffst, oder du kommst vielleicht am falschen Ende heraus.«
Er nickt, ohne aufzusehen.
Schweiß bildet sich auf meiner Oberlippe. Ein Tropfen läuft mir über den Rücken. Das südliche Klima und die Lüge des Jungen sorgen dafür, dass mich später jemand aus meiner Hose wird schälen müssen. Ich hoffe, Desma ist der Aufgabe gewachsen.
»Wie heißt du?«, frage ich.
»Jason.« Er lässt immer noch den Kopf hängen.
»Geh und hol mir dieses Beereneis, Jason von Sinta. Ich zerschmelze fast in der Hitze.«
Er schenkt mir ein erleichtertes Lächeln und rennt davon.
Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und fächle mir selbst Luft zu, während ich mich nach dem kühlen Norden sehne, nach dem Anblick der Eisebenen und nach einer Möglichkeit, wie ich einen Teil der gerade gesprochenen Worte zurücknehmen kann. Zumindest ist dem Jungen nicht bewusst, dass es wichtig war. Poseidon und Fisa liegen für einen Jungen aus dem südlichen Sinta Welten entfernt. Der Name Catalia bedeutet ihm nichts.
Ich habe es fast geschafft, mich selbst davon zu überzeugen, dass mein Fehler nicht allzu schlimm war, als eine tiefe Stimme hinter mir erklingt und mich zusammenzucken lässt.
»Die Götter begünstigen nicht Freundlichkeit und Selbstlosigkeit. Sie begünstigen Stärke und Mut.«
Die tiefe Stimme schwappt über mich hinweg wie die einlaufende Flut in einer dunklen Nacht. Sie sorgt dafür, dass mir trotz der Hitze kalt wird. Ich drehe mich um und sofort schnürt sich meine Kehle zu. Der Kriegsherr, der mich vorhin so angestarrt hat, tritt näher heran. Seine langen Finger berühren fast meine Schulter, als er auf das Schild deutet, das mich zur Wahrsagerin erklärt. »Du hast ihm eine Idee in den Kopf gesetzt. Du hast ihm nicht die Zukunft vorhergesagt.«
»Diese Gespräche sind vertraulich!«, blaffe ich und springe auf die Füße. Oh Götter! Wie viel hat er gehört?
»Der Junge hat gefragt, ob er je Magie besitzen wird, und du hast es ihm nicht gesagt.«
Mir bleibt der Mund offen stehen. Wie kann dieser Rohling es wagen, uns zu belauschen! »Ich habe ihm einen Weg gezeigt, Magie zu bekommen. Das ist besser, als eine Ja-oder-Nein-Frage zu beantworten.«
»Also, wird er sie kriegen?«
Ich habe keine Ahnung. Das hängt vom Orakel ab. Es hängt von Jason ab. »Das geht dich nichts an.«
»Du warst bei einem Orakel. Bei welchem?«
Ich spüre, wie mein Gesicht bleich wird. »Auch das geht dich nichts an.«
Er verengt die Augen zu Schlitzen und starrt an seiner Raubvogelnase entlang auf mich herab. »Was hast du dem Jungen zugeflüstert?«
Mein Herz setzt für einen Schlag aus. »Das geht …«
»… mich nichts an«, beendet der Kriegsherr trocken meinen Satz.
Wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt tot. Ich reagiere nicht gut auf Drohungen, selbst wenn sie nur mit den Augen ausgesprochen werden. Sofort richte ich mich auf und werde steifer als Poseidons Dreizack. »Wenn du versuchst, mich einzuschüchtern, dann spar dir die Mühe. Es wird nicht funktionieren.«
Seine vollen Lippen verziehen sich zu einem kühlen Lächeln. »Meiner Erfahrung nach kann ich jeden einschüchtern.«
Ich schnaube ungläubig. »Willst du meine Dienste in Anspruch nehmen? Falls ja, setz dich. Andernfalls geh weg. Du verjagst mir mit diesem Blick die Kunden.«
Seine Miene verfinstert sich. »Mit welchem Blick?«
»Dem da.« Ich wedle mit einem Finger vor seinem Gesicht herum. »Diesem Blick, der sagt: Ich bin groß, ich bin böse, und ich kann dich fressen, deine Eingeweide ausspucken und deine Knochen als Zahnstocher verwenden.«
Die Miene des Kriegsherrn erstarrt vor Überraschung. Man könnte meinen, ich hätte mich gerade vor seinen Augen in die Hydra verwandelt und mir noch ein paar Köpfe zusätzlich wachsen lassen.
Einer seiner vier Gefolgsleute, der Braunhaarige mit der Axt, der links von seinem Herrn steht, kann ein amüsiertes Schnauben nicht unterdrücken, und bekommt als Belohnung die Faust des Kriegsherrn in den Bauch. Nicht allzu hart, aber hart genug, dass das Lachen in einem Keuchen verklingt.
Ich starre in die Runde der großen, muskulösen Männer, die mich inzwischen von dem Lärm und dem Gedränge des restlichen Jahrmarktes abschneiden. Mein Tisch steht in meinem Rücken, sie stehen vor mir, und ich könnte nicht gehen, selbst wenn ich das wollte. »Verschwinde und nimm deine Gewalt mit. Dies ist ein friedlicher Tisch.«
Friedlich? Ich? Ha!
»Oh, eine empfindliche Blume«, höhnt der Kriegsherr. Seine strahlend grauen Augen wandern auf eine Art an meinem Körper entlang, die meine Temperatur nach oben treibt. Er mustert mich eingehend und ein wenig zu lang. »Die in der Hitze dahinwelkt.«
Ich ziehe ein finsteres Gesicht und unterdrücke den Drang, mir meine verschwitzten Hände an seiner weißen Tunika abzuwischen. Er wirkt viel zu sauber für einen Stammeskriegsherrn. Er riecht nicht mal schlecht, und sein wildes, mitternachtsschwarzes Haar lockt sich in glänzenden Strähnen in seinem Nacken. Ich entdecke keinen einzigen Schweißtropfen auf seiner Haut, was mich wütend macht. Nachdenklich betrachte ich das große Schwert, dessen Heft aus einer auf dem Rücken befestigten Scheide über seine Schulter hinaussteht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diese Monstrosität nicht einmal heben könnte. Nur gut, dass ich andere Stärken besitze.
Ich spüre den scharfen Biss von Magie auf meiner Haut und drehe mich um. Aetos beobachtet uns.
»Entweder du setzt dich hin und lässt dir eine Frage beantworten, oder der Mann dort drüben« – ich deute auf meinen tätowierten Freund – »wird deinen Kopf zum Platzen bringen, als wärst du eine Kirsche im Schnabel einer Krähe.«
Die Zähne des Kriegsherrn blitzen auf wie die eines Wolfes kurz vor dem Angriff. »Du glaubst, das kann er?«
»Ich weiß, dass er es kann.«
Der Idiot lacht tatsächlich. »Er wüsste nicht mal, was ihn getroffen hat.«
Ich schnaubte. »Er würde dich in Flammen aufgehen lassen.«
»Er kann es versuchen.«
Sein Tonfall ist völlig unbekümmert. Ich beiße die Zähne zusammen. Typischer Kriegsherr: riesiges Ego, riesiges Schwert, riesiger Arsch. Bildlich gesprochen – der eigentliche Körperteil sieht ganz annehmbar aus.
»Geh weg.« Ich deute von meinem Tisch in die Ferne. Niemand beleidigt meine Freunde.
Er zieht die Augenbrauen hoch. »Geh weg?«
»Muss ich es dir noch in Zeichensprache verdeutlichen?« Ich vollführe eine unhöfliche Geste, die meine Botschaft in jeder Sprache vermittelt.
Mit zusammengebissenen Zähnen umrundet der Kriegsherr meinen Stand. Ich drehe mich mit ihm. Seine Männer folgen ihm und der Halbkreis aus Muskeln bewegt sich auf die andere Seite des Tisches, deckt dem Kriegsherrn den Rücken und öffnet mir den Weg zum Jahrmarkt und einem Dutzend sehr mächtiger Leute, die sofort zu meiner Hilfe eilen werden, falls ich sie brauche.
Der Kriegsherr setzt sich auf den Stuhl, den der Junge benutzt hat. Unter ihm wirkt er winzig. »Du bist ein bisschen klein, um Drohungen auszusprechen«, merkt er beiläufig an.
»Es war eher eine Botschaft«, antworte ich, immer noch stehend.
Seine grauen Augen werden hart, dann erhebt er sich halb, stemmt seine Hände auf den Tisch und lehnt sich vor, bis unsere Nasen sich fast berühren. »Schick diese Botschaft ein weiteres Mal, und ich werde dir beibringen, wie man eine echte Drohung ausspricht und auch wahr macht.«
Meine Kopfhaut kribbelt. Eins muss ich ihm lassen: Der Kriegsherr weiß wirklich, wie man bedrohlich wirkt. Aber ich bekam schon als Kind Todesangst zum Frühstück serviert, und ich erkenne echte Bösartigkeit, wenn ich sie sehe. Er besitzt sie nicht. Für Leute wie uns ist das nur Geplänkel.
Ich entblöße meine Zähne in etwas, was man kaum als Lächeln bezeichnen kann, und kontere mit seinen eigenen Worten: »Du kannst es versuchen.«
»Bring mich nicht in Versuchung«, knurrt er leise.
»Versuchst du, mir Angst zu machen?«
»Freut mich, dass es funktioniert.«
Ich lache – obwohl ich das vielleicht besser nicht getan hätte. Denn er wirkt plötzlich ziemlich sauer.
In magischen Kämpfen kann ich die Macht der anderen Magoi in mich aufnehmen und ihre eigenen Fähigkeiten gegen sie richten. Wenn ich gegen einen Hoi Polloi kämpfe, muss ich schneller, stärker oder klüger sein. Wenn nicht, sollte ich besser irgendwelche nützliche Magie gespeichert haben. Im Moment habe ich gar nichts. Ich bezweifle, dass ich schneller bin als der Kriegsherr, und ich weiß sicher, dass ich nicht stärker bin als er. Was das Hirn angeht, kann man vermutlich geteilter Meinung sein. Na ja, zumindest habe ich meinen Sinn für Humor.
Ich entscheide mich, seinen zu testen: Ich werfe einen Blick in den Nachthimmel und zucke zusammen, als käme etwas Schreckliches direkt auf uns zu. Sofort springt der Kriegsherr auf die Füße und zieht sein Schwert, wobei er spektakulär wild wirkt. Sein freier Arm schwingt über den Tisch, greift nach mir und drückt mich grob nach hinten. Ich stolpere und mache mich bereit, wütend zurückzuschlagen – bis mir aufgeht, dass er versucht, mich zu beschützen.
Unter der Hitze seiner Hand zieht sich etwas in meiner Brust scharf zusammen. Seine durchdringenden Augen mustern den Nachthimmel, die Umgebung, alles – suchen aufmerksam nach Bedrohungen. Natürlich ist da nichts, und er lässt den Arm wieder sinken.
»Zieh deine Augenbrauen nicht so zusammen«, schelte ich ihn, ohne guten Grund ein wenig außer Atem. »Sonst kriegst du Falten in diesem hübschen Gesicht.«
Er ist nicht hübsch. Dafür ist er viel zu männlich, mit seinen strahlend grauen Augen und dem muskulösen Körper. Eine frische Narbe zieht sich diagonal durch seine rechte Augenbraue. Zusammen mit seinem breiten Mund und der Hakennase verleiht ihm das eine piratenartige Erscheinung, die seltsame Dinge in meinem Inneren auslöst.
Als er seinen Blick wieder auf mich richtet, habe ich keine Ahnung, wie ich seine Miene deuten soll. Der braunhaarige Mann läuft langsam rot an von der Anstrengung, nicht zu lachen, also zucke ich noch mal zusammen und schlage mir die Arme über den Kopf.
»Was treibst du da?« Der Kriegsherr setzt sich wieder, mit dem Schwert auf seinem Schoß ruhend.
»Die Götter könnten dein gigantisches Ego strafen wollen, o Schrecklicher. Ich will nicht von den Blitzen erwischt werden.«
Der Axtträger lacht auf und tritt dann eilig einen Schritt zurück.
»Behandelst du so alle deine Kunden?«, fragt der Kriegsherr.
Meine Überraschung dürfte offensichtlich sein. »Bisher wurden keine Fragen gestellt, und kein Geld hat den Besitzer gewechselt. Ich würde dich nicht als Kunden bezeichnen. Du bist eher ein Lauscher und ein Tyrann.«
»Gute Götter!«, keucht der Axtträger. »Sie hat mehr Eier als ich.«
Erheiterung blitzt in den silbernen Augen des Kriegsherrn auf. »Nur sind große Eier nicht unbedingt ein Anzeichen von Verstand.«
»Meine schon.« Wäre mein Lächeln noch süßlicher, würden mir wahrscheinlich die Zähne verfaulen.
Er zieht die Augenbrauen hoch, als wolle er mich auffordern, sie ihm zu zeigen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich lachen oder weglaufen soll. Angesichts meiner Unentschlossenheit wende ich mich an den braunhaarigen Krieger. »Soll ich dir deine Zukunft voraussagen? Zum halben Preis?«
»Sicher.« Er rückt die Axt auf seiner Schulter zurecht, sodass sie das Fackellicht einfängt und es direkt in meine Augen scheint.
Ich trete zur Seite. Geblendet zu sein ist ähnlich wie im Dunklen zu sitzen – nie gut.
»Ich habe eine Frage«, unterbricht der Kriegsherr.
Neugier steigt in mir auf. »Endlich.« Ich stoße ein gequältes Seufzen aus und lasse mich wieder auf meinen Stuhl sinken. Wahrscheinlich ist es sicher, mich zu setzen. Auch wenn der Kriegsherr alles andere als harmlos ist, vermittelt er mir doch nicht den Eindruck, dass er mir Schaden zufügen will. »Ich dachte schon, wir müssten die ganze Nacht hier verbringen.«
Er bedenkt mich mit einem Blick, der eine Person, die nicht bereits vor ihrem fünfzehnten Geburtstag gefoltert, beinahe zu Tode geprügelt und sechs Mal fast in ihrem eigenen Bett ermordet worden wäre, wahrscheinlich vollkommen verängstigt hätte.
»In meiner Umgebung gehören große Klappen meist toten Leuten.«
Ich seufze und schüttle den Kopf. »Was für eine Art Mensch droht ständig anderen mit dem Tod?« Und damit meine ich Menschen außer den meisten, mit denen ich aufgewachsen bin.
Er beugt sich erneut vor. Eines seiner Augen öffnet und schließt sich in einem unerwarteten Zwinkern, das die Bedrohlichkeit seiner Worte abmildert. »Die Art, die es kann.«
Plötzlich habe ich Schmetterlinge im Bauch. »Entweder hast du ein auf olympisches Maß aufgeblasenes Selbstwertgefühl, oder du überspielst nur deine Unsicherheiten.«
Kleine Fältchen erscheinen in den Augenwinkeln des Kriegsherrn, und seine Lippen verziehen sich zu einem kurzen Lächeln, das sein attraktives Gesicht von einem Augenblick auf den anderen viel zu anziehend macht.
»Frieden?«, bietet er ernsthaft an.
Ich beiße mir auf die Lippe und antworte mit einem Lächeln, das ich nicht richtig unterdrücken kann, bevor ich so tue, als müsste ich über sein Angebot nachdenken. »Schön. Aber lass noch keine weißen Tauben frei.«
Er lacht leise. Das warme, anerkennende Geräusch jagt eine Welle von Hitze durch meinen Körper, die nichts mit dem südlichen Klima zu tun hat. Als ich mich nach seiner Frage erkundige, klingt meine Stimme seltsam heiser.
Er lehnt sich zurück und deutet mit einer ausgreifenden Geste auf die vier Männer hinter sich. »Sind meine Begleiter mir gegenüber loyal?«
Und sofort fühle ich mich wieder unwohl. Seine Frage erinnert mich an ein anderes Leben, in dem ich gefoltert wurde, um Wahrheiten zu enthüllen.
»Wahrsager sagen die Zukunft voraus.« Ich zwinge mich, trotz meines rasenden Herzens ruhig zu sprechen.
Er formuliert die Frage um, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von mir abzuwenden. »Werden meine Männer mir gegenüber loyal bleiben?«
Ich versuche, mich nicht auf meinem Stuhl zu winden. Diese überarbeitete Frage gefällt mir kein Stück besser.
Als er mein Zögern bemerkt, runzelt der Kriegsherr die Stirn. »Was ist wichtiger als Loyalität?«
Sein Ton ist hart, und die Frage trifft bei mir einen Nerv. War ich illoyal? Macht meine Flucht mich zu einem Verräter, oder beweist sie nur, dass ich klug bin?
Mein Blick huscht zu den Männern hinter ihm. »Alle vier?«
»Alle vier.« Er nickt seiner Mannschaft zu.
Ich verdränge meine Zweifel. Der Kriegsherr kennt mich nicht. Er weiß nicht, wozu ich fähig bin. »Dann vier Kupferstücke. Eines für jeden.«
Er legt die Münzen auf den Tisch. Ich stecke sie ein und wende mich zuerst dem Axtträger zu. »Was ist wichtiger? Das Leben deines Kriegsherrn oder dein eigenes?«
»Das meines Kriegsherrn.«
Er zögert keinen Augenblick. Meine Seele wird nicht zerrissen.
»Du musst zwischen diesem Wilden« – ich lasse eine Menge Hohn in meiner Stimme mitschwingen, einfach, weil es Spaß macht – »und deiner Frau wählen. Für wen entscheidest du dich?«
»Ich habe keine Frau.«
»Und wenn doch?«
»Falls ich mich zur Ehe entschließe, werden meine Frau und meine Kinder an erster Stelle stehen.«
Keine brennenden Flammen. Keine schmelzenden Knochen. Keine niederprasselnden Wahrheiten, um die Lüge auszugleichen.
Ich lasse meinen Blick unscharf werden und lege meine Hände um meine Kristallkugel, um für einen angemessenen Zeitraum wahrsagermäßige Dinge zu tun. Wahrscheinlich sollte ich mystische Worte vor mich hin murmeln, doch das bringe ich einfach nicht über mich.
»Dein Mann ist loyal«, verkünde ich schließlich. »Aber ich würde nicht empfehlen, seine zukünftige Familie gegen ihn zu verwenden.«
»Ich werde eine Familie haben?« Ein breites Lächeln erscheint auf dem Gesicht des Axtträgers.
Ähm … »Ja. Wunderbare Frau. Mehrere starke Kinder«, lüge ich. Oder vielleicht auch nicht. Woher in der Unterwelt soll ich das wissen?
Das unverwandte Starren des Kriegsherrn lässt mich auf meinem Stuhl hin und her rutschen. »Tritt zurück, Flynn«, befiehlt er. »Carver, du bist der Nächste.«
Ein dunkelhaariger Mann kommt näher. Er bewegt sich mit selbstbewussten Schritten. Er ist groß, ungefähr in meinem Alter, schlank und wirkt, als könnte er in einem Kampf ziemlich gemein werden. Er gehört zu dem Typus sehniger Schwertkämpfer, die sich bewegen können wie Schatten und zuschlagen, noch bevor man blinzeln kann. Ich kenne solche Männer. Er ist jemand, den man als Rückendeckung haben will. Andernfalls ist er nämlich der Kerl, der sich unbemerkt von hinten an dich heranschleicht. Sein Gesicht ähnelt dem des Kriegsherrn, ebenso wie das schwarze Haar und die grauen Augen, aber da endet auch schon die Ähnlichkeit. Der Kriegsherr wiegt mindestens dreißig Kilo mehr als er und ist wahrscheinlich gute zehn Jahre älter.
Der Mann – Carver – lächelt mich an. Ich sehe ein entwaffnendes, recht freundliches Funkeln in seinen Augen, und doch zweifle ich keinen Moment daran, dass sein lockeres Lächeln sofort in eine drohende Miene umschlagen könnte.
»Ist dir Loyalität wichtig?«, frage ich.
»Ja.«
Ich deute auf den Kriegsherrn. »Würdest du diesem Mann in den Kampf folgen?«
Carver nickt.
»Sprich es aus.«
»Das würde ich. Ich habe es getan, und ich würde es wieder tun.«
Ich werfe einen Blick zum Kriegsherrn. Seine Miene ist unlesbar, doch aber sein Blick auf meinem Gesicht fühlt sich an, als würde ein Zyklop auf mir stehen. Ich bitte um Carvers Hand, wobei ich mich nicht ganz wohlfühle in meiner Haut. Selbst wenn Handlesen nur Schwindel ist, erzählt mir seine raue Haut eine Geschichte von Kämpfen und Blut. »Würdest du für diesen Mann und seine Sache sterben?«
»Ja.« Eine einfache, einsilbige, wahre Antwort.
Ich starre auf Carvers lange, kräftige, schwielige Finger herunter. Was ist das Ziel des Kriegsherrn? Soweit ich gehört habe, hat die neue königliche Familie jeden Kampf zwischen den sintanischen Stämmen verboten. Jetzt, wo einer der Ihren die Macht ergriffen hat, sollen sie plötzlich alle miteinander auskommen.
Ich unterdrücke ein Grinsen. Viel Glück dabei.
»Ich würde für ihn bluten. Ich würde für ihn sterben.«
Carvers Wahrheit ist so stark, dass ich ein Wort daraus lesen kann – Bruder. Schockiert lasse ich seine Hand fallen, als wäre sie eine giftige Schlange. Ich höre fast nie ein Echo in Wahrheiten.
Das Wort hallt immer noch in mir wider, als ich sage: »Dein Bruder ist loyal, aber ich denke, das wusstest du bereits.«
»Hmmm.«
Ich betrachte den Kriegsherrn stirnrunzelnd. »Was soll das denn bedeuten?«
»Ich habe nie gesagt, dass er mein Bruder ist.«
Verdammt! Wer hat mir heute die Kontrolle über meinen Mund gestohlen? »Ihr seht euch ähnlich.«
»Nicht allzu sehr.«
Ich wedle mit den Händen über dem Tisch herum. »Wahrsagerin, schon vergessen? Ich weiß Dinge.«
Er legt den Kopf schräg und sieht mir tief in die Augen. Diese Inspektion hält er aufrecht, bis mir unbehaglich zumute wird und ich anfange, unruhig herumzuzappeln.
Der Kriegsherr bricht den Blickkontakt. »Basil«, ruft er ausdruckslos und winkt einen weiteren Krieger nach vorne.
Ein blonder Mann nimmt Carvers Platz ein. Er ist gut aussehend, aber nicht außergewöhnlich; stark, aber nicht überwältigend. Er kann in der Menge untertauchen. Ich nehme an, das ist seine Aufgabe in dieser Gruppe. Der Kriegsherr, Flynn und der fünfte Mann können nicht unbemerkt bleiben. Sie sind zu groß, zu mächtig. Sie verlangen nach Aufmerksamkeit. Carver fällt ebenfalls auf. Er ist schlank und kantig, mit einem listigen Blick. Basil dagegen ist, soweit ich es sagen kann, einfach … durchschnittlich.
Basil tritt leicht nach rechts, entfernt sich ein Stück vom Kriegsherrn und nähert sich damit dem fünften Krieger mit seinen wachsamen blauen Augen und einem riesigen Streitkolben, der wahrscheinlich drei Köpfe gleichzeitig zerschmettern kann. Basils ausweichende Bewegung ist fast unmerklich. Es fällt mir nur auf, weil ich mir beigebracht habe, auf die Körpersprache zu achten. Es hilft mir dabei, die Leute davon zu überzeugen, dass ich kein Scharlatan bin.
Na super. Plötzlich ergibt die Frage des Kriegsherrn Sinn. Bei diesem fröhlichen Fest hier geht es darum, Basil auffliegen zu lassen. Zu dumm, dass ich eingeladen wurde.
»Basil, ja?«, frage ich, obwohl ich das bereits weiß. Ich zögere nur das Unvermeidliche heraus. Der Mann nickt.
Ich hole tief Luft, dann spanne ich meine Muskeln an, um mich auf eine verlogene Antwort vorzubereiten. »Wo liegt deine Loyalität?«
Basil wirkt selbstgefällig. Wie die meisten Südländer hat er keinerlei Vorstellung von der Macht von Magie und Worten. Hätte er eine Ahnung, wäre er schon weggelaufen.
Seine Antwort ist eine Lüge. Schmerzhaftes Feuer durchfährt mich. Meine Knochen brennen. Organe brutzeln. Ich versuche, nicht bleich zu werden, als sich gleichzeitig mit seiner Lüge Wahrheiten in mir entzünden und meine Eingeweide versengen wie rot glühende Kohlen.
In einer plötzlichen, schnellen Bewegung entwaffnet der Kriegsherr Basil und packt ihn an der Kehle. »Für wen arbeitest du?«
»Ich bin loyal«, quiekt Basil. Er wirkt so fassungslos, wie ich mich fühle.
Wieder trifft mich seine Lüge.
»Ich habe ihre Miene gesehen.« Der Kriegsherr drückt Basils Kehle zusammen, bis er um Luft ringt. »Du bist ein Lügner.«
Er hat meine Schmerzen gesehen? Das bereitet mir mehr Sorgen als alles andere. Ich habe mich wie immer unter Kontrolle gehalten. Und woher weiß irgendein Hoi-Polloi-Kriegsherr überhaupt, was ein kleines Zucken in meinem Gesicht bedeutet?
Basil schiebt die Hand in eine Tasche und zieht eine dünne Glasphiole mit einem grauen Pulver darin heraus, das im Fackellicht silbern leuchtet und mir glatt die magischen Socken auszieht. Er reißt die behandschuhte Hand zurück, bereit, dem Kriegsherrn das Gift ins Gesicht zu schmettern.
Ich springe über den Tisch, wobei ich die schwarze Wolltischdecke und meine Kristallkugel mit mir reiße, und werfe mich auf Basils Arm. Mit meinem gesamten Gewicht hänge ich nun an seiner Hand, sodass er die Phiole nicht mehr einfach werfen kann.
»Zurück«, warne ich den Kriegsherrn. »Das ist Medusas Staub. Er wird dich in Stein verwandeln.«
Er löst seine Finger von Basils Hals und tritt zurück, während ich weiterhin wie eine Idiotin vom Handgelenk des Verräters baumle.
»Woher weißt du das?« Seine Frage klingt scharf. Der Kriegsherr richtet seine Aufmerksamkeit auf mich und mir drängt sich der Gedanke auf, dass ich ihn vielleicht hätte sterben lassen sollen.
»Ich bin eine Giftexpertin.« Oder so was Ähnliches. Ich puste mir eine feuchte Strähne aus dem Gesicht. Das Einzige, was Basil davon abhält, mich abzuschütteln, ist Carvers sehr langes und sehr tödliches Schwert in seinem Rücken. Wir sind umgeben von großen Männern mit beängstigenden Waffen, und niemand unternimmt irgendwas, verdammt noch mal. »Könnte ihm bitte jemand den Arm abhacken? Oder ihn töten? Wenn ich loslasse, wird er den Staub in die Luft werfen und uns alle erwischen.«
Flynn hebt seine Axt etwas höher. »Das wäre Selbstmord.«
»Danke, Flynn.« Ich verdrehe die Augen in seine Richtung. »Glaubst du wirklich, das interessiert ihn noch?«
Flynn zuckt mit den Achseln. »Er ist sowieso tot.«
Genau. Also komm in die Gänge.
Bevor ich die Worte aussprechen kann, dreht Basil den Arm, an dem ich immer noch hänge und schafft es irgendwie, die Phiole an meinem Hals zu zerschlagen. Ich reiße die Augen auf, als Medusas Staub sich tief in meine Haut gräbt, so hungrig wie ein Blutegel. Der Ansturm der Magie bringt mich aus dem Gleichgewicht, und ich stolpere gegen den Tisch. Mir ist schwindelig, ich ringe um Luft und habe das Gefühl, leicht neben mir zu stehen.
Der Kriegsherr brüllt, seine Miene wird furchterregend, und er springt auf mich zu.
»Nicht berühren!«, schreie ich und weiche ihm aus. Sobald die Magie sich in mir ausgebreitet hat, wird das Gift auf jeden überspringen, der mich berührt. Ich weiß nicht, wie lange das dauert. Bei einer normalen Person geht es schnell. Bei mir dauert es länger.
Bald schon werden meine Gliedmaßen schwer. Kurz darauf verhärtet sich meine Haut und nimmt eine graue Färbung an. Ich mache mir keine Sorgen. Medusas Staub basiert auf Magie. Mein Körper wird das Gift verdauen wie ein Lammsteak. Zwingt genug giftige Beeren durch meine Kehle oder legt mir ein paar Nattern ins Bett, und ich sterbe wie alle anderen auch. Aber Magie kann mich nicht töten.
Der Kriegsherr beobachtet mit düsterem Blick, wie meine Haut jede Farbe verliert. Er ballt die Hände zu Fäusten. Etwas in seinem Blick trifft mich tief. Ich frage nicht nach, wieso ihn mein Überleben interessiert, auch wenn ich ihm fast verrate, dass ich schon in ein paar Minuten wieder pink und weich und giftfrei sein werde. Aber das ist nichts, was er wissen muss.
Ich wende mich Basil zu. Er grinst, offensichtlich glücklich, dass er die nervige Wahrsagerin mit in den Tod gerissen hat.
»Danke für das Geschenk.« Ich schenke ihm ein Lächeln, das perfekt zu der blutrünstigen Irren passt, die ich eigentlich hätte werden sollen. »Hier ist auch eines für dich.«
Ich packe mit beiden Händen seinen Arm, direkt über den Handschuhen, die ihn vor dem Gift schützen. Medusas Staub rast über seine Arme nach oben. Seine Haut wird augenblicklich hart und erstarrt, sein Mund halb geöffnet in einem Keuchen und seine Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.
Fast enttäuscht gebe ich ihn wieder frei. »Das ging schnell.«
Der Kriegsherr starrt mich an. Er wirkt auf fast komische Art entgeistert. »Wieso bist du nicht tot?«
Ich schenke ihm einen frechen Blick. »Glaubst du, ich wäre so leicht zu töten?«
Erleichterung breitet sich auf seiner Miene aus. Er grinst. Sofort scheinen winzige Blitze über meine Wirbelsäule nach unten zu schießen. »Sie ist es«, verkündet er seinen Männern. »Ich will sie.«
Hey. Was?
Wen? Mich?
Wofür?
Seine Krieger umringen mich. Ich reiße meine Arme hoch, um eine Barriere aus Gift um mich zu errichten. »Zurück oder ihr endet wie Basil.«
»Gibt es ein Problem, Cat?« Aetos’ blau tätowiertes Gesicht erscheint hinter ihren Köpfen. Der Kriegsherr wirkt im Vergleich zu dem Riesen klein, obwohl er über einen Meter achtzig groß ist.
Ich schüttle den Kopf. »Sag Selena, dass wir einen neuen Gargoyle haben. Sie mag solche Sachen.« Ich werfe einen Blick zu Basil und bemühe mich, seine erstarrte Miene und die schiefen Zähne zu ignorieren. Seine Nasenlöcher sind gebläht, als versuche er immer noch, Luft in sich einzusaugen.
Nach einem kurzen Blick zu der menschlichen Statue zieht Aetos die Augenbrauen hoch, packt sie und trägt sie davon. Desma und er hatten recht. Wer hätte gedacht, dass ich heute Abend aus Versehen jemanden töte? Na ja, nicht wirklich aus Versehen.
Verärgerung huscht über die Miene des Kriegsherrn. »Ich versuche seit Tagen, ihn auffliegen zu lassen. Jetzt kann ich ihn nicht mehr befragen.«
»Irgendeine tarvanische Frau will deinen Kopf im Austausch gegen das Leben von Basils Bruder.« Entsetzen durchfährt mich. Diese Worte sind ohne meine Erlaubnis über meine Lippen gedrungen. Ich schwöre bei den Göttern, dass ich sie noch nicht einmal gedacht hatte, als sie schon heraus waren und belastend zwischen uns schweben. Wer in aller Unterwelt hat heute die Kontrolle über meinen Mund? Denn ich bin es eindeutig nicht!
Die Lippen des Kriegsherrn öffnen sich, nicht etwa vor Überraschung. Vielmehr setzt er eine befriedigte Miene auf, die ich nicht verstehe und die mir nicht gefällt.
Mit verkrampftem Magen drehe ich die Handflächen nach oben und zucke mit den Achseln. »Wahrsagerin, erinnerst du dich?«
»Du bist genau das, wofür ich dich halte, oder?«
Die Frau, die Wahrheiten in Lügen erkennt? Die begehrteste diplomatische Waffe der Reiche? Die Königsmacherin?
Ich schiebe meinen immer noch giftigen Körper nach hinten, wobei ich sorgfältig darauf achte, niemanden anzurempeln. Ich fühle mich, als würden die verfluchten Götter vom Olymp auf mich herunterpinkeln. Ich war glücklich hier. Der Zirkus war meine Familie.
»Alle zweihundert Jahre wird eine wie du geboren.« Der Kriegsherr verfolgt mich entschlossen durch die Menge. Seine großen Schritte fressen förmlich den Abstand zwischen uns. »Königreiche erstehen und fallen für dich. Wegen dir.«
Der Blick in seinen intensiven grauen Augen ist jetzt leicht zu deuten. Er denkt darüber nach, mich zu kontrollieren, mich zu fangen und zu benutzen. Er wird mich auffliegen lassen. Er wird mich in einen Käfig stecken und mich zwingen, zu singen wie eine Sirene.
Vergesst das. Er wird versuchen, mich singen zu lassen wie eine Sirene. »Berühr mich, und ich werde dich töten.«
Seine Lippen werden schmal. »Du kannst es versuchen.«
Wenn es mein Entkommen bedeutet, werde ich ein weiteres meiner Talente vor all diesen Leuten offenbaren. Doch dazu kommt es glücklicherweise nicht. Ich schlüpfe rückwärts durch das Schaustellertor, und Cerberus tritt zwischen uns, schneidet dem Kriegsherrn den Weg ab und bringt ihn zum Stoppen. Die riesigen Zähne des Hundes glitzern im Fackelschein. Tropfen von giftigem Geifer fallen zischend zu Boden. Ein tiefes Knurren aus drei Kehlen hallt durch den dunklen Gang, als ich eilig das Amphitheater verlasse. Hades hat eine Schwäche für Selena, daher schützt sein Wachhund den Zirkus statt die Tore zur Unterwelt. Cerberus wird den Kriegsherrn zurückhalten. Zu dumm, dass er auch Jason und mein Beereneis zurückhalten wird.
Ich wünschte, ich müsste nicht weiterziehen. Danke, dass ihr mich aufgenommen habt. »Oikogeneia.«
Ich spreche das Wort für Familie laut aus, als ich es in der alten Sprache der Götter schreibe, in der Hoffnung, dass jemand im Zirkus es lesen kann und um die Macht und das Versprechen weiß, das darin enthalten ist. Aetos hat keine entsprechende Ausbildung. Desma und Selena vielleicht schon. Ich vertraue darauf, dass sie die Magie nur einsetzen, wenn es nötig ist. Aetos würde für mich sterben. Desma würde für mich sterben. Vasili und Selena vielleicht auch, und wahrscheinlich gilt das noch für ein Dutzend andere. Wenn sie mich rufen, gibt es keine Bedrohung in den drei Königreichen, die mich davon abhalten kann, zu ihnen zurückzukehren.
Bevor ich zum Zirkus kam, gab es nur eine Person, die ich nicht bereit gewesen wäre, zu töten, oder für die ich willentlich selber gestorben wäre. Jetzt gibt es mehr Leute, als ich Finger und Zehen besitze, und das macht mich schwach.
Familie.
Es stört mich, dass ein Wort, das in meinem Kopf so besudelt ist, solche Macht besitzt. Aber ich habe sie dem Wort verliehen und diese Macht damit meinen Freunden geschenkt. Ich würde mich lieber umbringen, als das Wort Familie zu benutzen, um meine übrig gebliebenen Blutsverwandten zu beschreiben.
Meine wenigen Besitztümer sind in dem alten, braunen Ranzen gepackt, den ich vor acht Jahren einem schlafenden Händler auf der fisanischen Küstenstraße gestohlen habe. Ein wenig Kleidung und ein paar alte Stiefel. Ein Umhang, drei Wurfmesser, ein paar Haarbänder, ein Kamm und meine Bühnenschminke – alles, was ich besitze. Ich schnalle die Bettrolle und Decke aus dem Zirkus unter dem Ranzen fest. Ich glaube nicht, dass es Selena etwas ausmachen wird. Nach so vielen Jahren kann man das ohnehin kaum noch als Diebstahl bezeichnen.