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Webb Carrick, Offizier der schottischen Fischereischutzflotte, tritt seinen Dienst als Kommandant des Patrouillenboots Tern an und hat zwei Stunden später schon zwei Mordfälle am Hals. Er kommt rasch dahinter, dass es hier um weit mehr geht, als um die Verletzung von Fischereirechten - und diese Erkenntnis bringt ihm Schwierigkeiten über Schwierigkeiten...
Der Roman Tödliche Wellen von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1979) erschien erstmals im Jahr 1985; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1987 (unter dem Titel Seefahrt bringt Tod).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
BILL KNOX
Tödliche Wellen
Roman
Apex Crime, Band 234
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
TÖDLICHE WELLEN
Vorspiel
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Webb Carrick, Offizier der schottischen Fischereischutzflotte, tritt seinen Dienst als Kommandant des Patrouillenboots Tern an und hat zwei Stunden später schon zwei Mordfälle am Hals. Er kommt rasch dahinter, dass es hier um weit mehr geht, als um die Verletzung von Fischereirechten - und diese Erkenntnis bringt ihm Schwierigkeiten über Schwierigkeiten...
Der Roman Tödliche Wellen von Bill Knox (* 1928 in Glasgow; † März 1979) erschien erstmals im Jahr 1985; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1987 (unter dem Titel Seefahrt bringt Tod).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Anordnung des DAFS, Aktenziffer 1046
Sperrung der Mündungen westschottischer Lochs
Übertretungen der Sperrverordnung werden mit einer Geldstrafe bis zu 50.000 Pfund geahndet;
Fänge sowie Fanggerät werden beschlagnahmt.
Diese Maßnahme soll die Bestände nicht ausgereifter Heringe erhalten, die in den Lochs der Westküste Schottlands überwintern. Die Sperrung bezieht sich nur auf den Gebrauch von beweglichem Fanggerät und betrifft nicht die ansässigen Fischer, die mit feststehendem Gerät arbeiten.
Für die J-Crew der Spartiate III
Die Nacht hing ruhig und wolkenlos über der langen dunklen Reihe versprengter Inseln, die wie Barrieren eines Außenpostens vor der Westküste Schottlands liegen. Mondlicht schimmerte silbergrau auf der flachen Dünung des Atlantiks und hob die schneebedeckten Berggipfel im Hinterland deutlich hervor.
Das Meer bildete Strudel um die Riffs, klatschte gegen die Küstenstreifen und gehorchte stumm den Gezeiten und Strömungen. Am Ende seiner Reise, die viele Breitengrade weiter südlich begonnen hatte, lenkte der Golfstrom wie ein lang ausgestreckter Finger tastend seine Fluten wärmeren Wassers durch die größeren Wasserstraßen.
Hier und da blinkte zwischen den Inseln ein Leuchtturm, Fischer arbeiteten auf ihren Booten, Schiffe pflügten ihre Kiellinie durch den Ozean. Leicht schwankend auf der Dünung schliefen Kolonien von Seevögeln. Und am Strand huschte und stöberte eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Nachtgeschöpfen auf dem Sandstreifen umher.
Die schwarze Schmutzschicht des Ölschlamms rollte von Nordwesten heran und verschonte die weiter draußen gelegenen Inseln. Geschoben von den Strömungen, gezogen von den Gezeiten und ursprünglich auf die Fläche einer Quadratmeile ausgebreitet, war die Öllache inzwischen auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe zusammengedrängt worden.
Aber sie war und blieb eine tödliche Bedrohung, dunkel und dickflüssig, klebrig und lautlos. Seevögel, deren Gefieder damit getränkt war, vermochten nicht mehr zu fliegen, versuchten mit ihren Schnäbeln das Federkleid zu reinigen. Wo der Schlick gegen die Felsen oder den Strand getrieben wurde, erstickte alles Leben unter einer öligen Schlammschicht.
Der Schlick drang unaufhaltsam weiter. Dort, wo zwei Strömungen zusammenschlugen, überzog er ein schlingerndes, halb versunkenes Wrackteil, das einmal das Heck eines Dingis gewesen war. Innerhalb von Sekunden hatte der schwarze Schlamm das dahintreibende Holz erfasst und unter seiner Schwärze begraben.
Eine Dreizehenmöwe hatte Mühe, sich auf das Wrack zu ziehen, kämpfte gegen den Sog des Öls an, erschöpft von der Anstrengung, ließ sie sich auf das leblose Etwas fallen, das in dem halb gesunkenen Rumpf lag. Ein angestrengtes Zappeln, ein Spritzen von öligem Wasser, und eine Seeschwalbe saß neben ihr.
Die Möwe stieß einen Warnlaut aus, nur einmal, tief aus der Kehle, aber die Seeschwalbe rührte sich nicht vom Fleck.
Sie blieben nebeneinander hocken, während die ersten Anzeichen der Morgendämmerung am Himmel heraufzogen.
Das leblose Etwas, auf dem die beiden Vögel saßen, trug einen rauen Wollpullover. Müde und erschöpft versuchte die Dreizehenmöwe, ihre Federn an einem durchnässten Strickärmel zu reiben, um sie vom Öl zu säubern.
Die Seeschwalbe schien unbeteiligt zuzuschauen.
Ein umfangreiches, nahezu ortsfestes Hochdruckgebiet südlich von Island war die Ursache dafür, dass in den Regionen der schottischen See um Bailie, Rockall, die Hebriden und Malin eine leichte nordwestliche Luftströmung vorherrschte. Der Oktoberhimmel war wolkenlos, und die Morgensonne setzte blinkende Lichter auf eine blaugraue Dünung, die mit kleinen, weißen Schaumkronen besetzt war.
Die Piper Aztec flog in einer Höhe von 5.000 Fuß mit einer Geschwindigkeit von 230 Knoten. Für die Männer im Cockpit bildeten die Inseln der Inneren Hebriden ein Panorama aus dunklen Felsen und Klippen, weißen Sandstränden und grünen Flecken üppiger Vegetation.
Über das Funkgerät der Aztec kam eine kurze Meldung; der Pilot bestätigte die Nachricht und stellte die Empfangsfrequenz neu ein.
»He, Käpt’n.« Er blickte den Passagier an, der neben ihm saß, und deutete auf seine Kopfhörer. »Können Sie mich verstehen?«
Webb Carrick nickte. Einen Augenblick lang waren seine Gedanken weit abgeschweift. Er hatte die Route der Aztec schon oft genug geflogen, aber diesmal war es etwas anderes: Alles, was vor ihm lag, schien nur aus Zweifeln und Ungewissheit zu bestehen.
»Gut.« Die Stimme des Piloten klang ein wenig belustigt. »Ihr Baby ist unterwegs; wir treffen uns wie besprochen. Aber zur Kontrolle sollen wir erst noch eine Ehrenrunde fliegen.« Er deutete voraus und ein wenig nach Westen. »Irgendwo dort drüben.«
Einen Augenblick später veränderte sich das dumpfe Brummen der beiden Lycoming-Motoren, und das schlanke weiße Flugzeug beschrieb eine weitgespannte Kurve, wobei es in Schräglage ging. In dem mit Gerät vollgepackten, hinteren Teil des Cockpits wurde das zweite Besatzungsmitglied der Aztec geschäftig.
Carrick schaute wieder nach unten und versuchte sich zu orientieren. Sie befanden sich nördlich von Mull, und die neue Richtung, welche die Aztec eingeschlagen hatte, würde sie zu den kleinen, unbewohnten Treshnish-Inseln bringen.
»Was gibt es denn dort?«, fragte er durch sein Mikrophon.
»Keine Ahnung.« Der Pilot zuckte mit den Schultern. »Jemand behauptet, dass da etwas ist. Wir werden es rausfinden.«
Carrick nickte und lehnte sich zurück. Die Luftaufklärung des staatlichen schottischen Fischereischutzes war eine kleine, unterbesetzte und überbeschäftigte Abteilung. Verständlich, dass es hier keine Zeit gab für überflüssige Angelegenheiten, und vermutlich zählte man die Beförderung Carricks zu dieser Kategorie.
Er vergaß das Flugzeug für den Augenblick, achtete nicht darauf, wie es in eine Turbulenz hineinschlitterte und dann hochgezogen wurde. Sein erstes wirkliches Kommando - vor zwei Wochen hatte er es erhalten; das so bedeutsame Telex von der Flottenausrüstung steckte sorgfältig zusammengefaltet in einer Innentasche seiner Uniformjacke.
An den Ersten Offizier Carrick vom Fischereischutzkreuzer Marlin ergeht der Auftrag, das Patrouillenboot Tern zu übernehmen. Der Befehl wird wirksam nach Beendigung des Vorbereitungskurses in Greenok und auf dem Clyde. Nach der Übergabe setzt die Tern die ihr zugewiesenen Aufgaben fort, bis neue Einsatzbefehle ausgegeben werden.
Es hatte zur Folge, dass Kapitän James Shannon, der altgediente Kommandant der Marlin ein Knurren ausgestoßen hatte, das so etwas wie eine Gratulation sein sollte. Dann galt es Abschied zu nehmen von einem Schiff, das für Carrick drei volle Jahre lang der Mittelpunkt seines Lebens gewesen war, und von den dreißig Männern seiner Crew, Männer, die er im Lauf der Zeit so gut kennengelernt hatte, als ob sie zu seiner Familie gehörten. Man hatte ihm gratuliert, und er hatte Hände geschüttelt.
»Die Tern! Das überrascht mich aber, Erster.« Kapitän Shannon hatte gewartet, bis sie in seiner Kabine allein waren, ehe er seine Skepsis ausdrückte. Er hatte aus einer Flasche seines Privatvorrats zwei doppelte Malzwhisky eingeschenkt. »Ich hätte gedacht, jemand wie Sie wäre eigentlich an der Reihe, eine größere Aufgabe zu übernehmen.« Er hatte einen Augenblick geschwiegen und wieder in seinen Bart gebrummt. »Aber man gibt Ihnen damit natürlich eine Chance - und es ist in gewisser Weise auch eine Herausforderung. Nehmen Sie beides wahr - und viel Glück.«
Darauf hatten sie angestoßen.
Er war in Stornoway an Land gesetzt und nach Süden geflogen worden, zur Westküsten-Basis der Fischereischutzflotte in Greenock. Dann hatte er sich Hals über Kopf in einen zweiwöchigen, konzentrierten Instruktionskurs gestürzt, der an Land und auf dem Clyde stattfand, und dabei hatte Carrick entdeckt, wie grundlegend sich seine Aufgaben und damit auch sein Leben von nun an ändern würden.
Andern? Beinahe nichts mehr würde so sein, wie er es gewohnt war.
Fischereischutzkreuzer wie die Marlin waren 400-Tonnen-Schiffe, gebaut wie kleine Zerstörer und robust genug, um den stärksten Herbst- und Winterstürmen auch weit draußen auf See widerstehen zu können. Sie überwachten die Fischgründe von den Inseln bis weit draußen im Atlantik.
Im Vergleich dazu war die Tern eine Nussschale: eines der ersten Modelle einer neuen Serie von kleinen, schnellen Patrouillenbooten. Ihre Aufgabe war es, zwischen den Inseln zu operieren, in Situationen und bei Auseinandersetzungen einzugreifen, bei denen es um die Durchsetzung des gültigen Rechts ging und wo Kreuzer allein schon durch ihre Größe und ihre geringe Geschwindigkeit im Nachteil waren. Aus demselben Grund waren die Besatzungen der Patrouillenboote kleine, sorgfältig ausgewählte Teams - jung genug, um die neuen Technologien zu kennen, und erfahren genug, um sie richtig nutzen zu können.
Shannon hatte recht gehabt: die Tern bedeutete in der Tat eine Herausforderung...
Das Flugzeug neigte sich und beschrieb eine plötzliche, scharfe Wende nach Steuerbord, und sie überflogen niedrig die erste der Treshnish Isles. Die nächste lag wie tot vor ihnen. Eine Bucht, tief wie eine Messerwunde, umgeben von hohen Klippen, bot Schutz und Deckung für das Fischerboot, das hier vor Anker lag.
»Auf dem Gabentisch, in Geschenkpapier«, sagte der Pilot der Aztec lakonisch. »Bereit, Charlie? Schaffst du’s in einem Vorbeiflug?«
»Klar«, antwortete der andere hinter ihnen. »Wenn ruhige Hand und scharfes Auge gefragt sind - da ist Charlie immer dabei.«
Carrick drehte sich um und blickte in die Telelinse einer Videokamera, die sich der Mann wie ein Gewehr gegen die Schulter presste, wobei die Linse durch das Plexiglasfenster des Flugzeugs nach unten zielte.
»Na, Käpt’n, was meinen Sie?«, fragte der Pilot beiläufig.
Carrick zog die Stirn in Falten. Das Fischerboot wurde größer. Er sah die norwegische Fahne schlaff am Heck hängen. An der rostigen Außenwand .waren zwei große, schwarze, halb unter Wasser befindliche Gegenstände befestigt. Die deutlich erkennbaren Umrisse einer Harpune am Bug bestätigten es endgültig.
»Das ist ein norwegischer Haifänger. Sieht aus, als ob sie zwei Riesenhaie erwischt hätten.« Er beobachtete das Boot noch ein paar Sekunden lang. »Wahrscheinlich sind sie auf dem Weg zurück zu ihrem Mutterschiff.«
Die Norweger besaßen die Fischrechte auf Haie im Minch, und sie nützten sie auch. Der Pilot der Aztec nickte enttäuscht.
»Halt ihn trotzdem auf dem Film fest, Charlie«, befahl er.
Sie zogen in 500 Fuß darüber hinweg, wobei die Videokamera surrte. Carrick konnte den Namen am Bug des Haifängers entziffern, Asmar. Ein paar Männer von der Besatzung setzten einen Pressluftspeer ein, um ihrer Beute zusätzlichen Auftrieb zu verleihen. Zwei schauten zu ihnen herauf und winkten.
Die Videokamera stoppte; und das Flugzeug gewann rasch an Höhe, um den Klippen zu entkommen. Das Videoband, das mit dem Computersystem für die Navigation der Aztec in Verbindung stand, würde zusätzlich einen Ausdruck der genauen Position des Norwegers liefern. Es war das übliche Verfahren, und es würde, falls nötig, nützliches Beweismaterial beisteuern.
»Du kannst dich wieder schlafen legen, Charlie«, sagte der Pilot zufrieden. Er blinzelte Carrick zu. »Ich weck’ dich auf, wenn wir unseren Seemann hier loswerden.«
Sie gewannen weiter an Höhe und steuerten in einer weiten Kurve auf das Festland zu. Charlie hatte sich wieder hinter sein Videogerät verschanzt, und Carrick saß mit halbgeschlossenen Augen da und lauschte dem Dröhnen der Motoren. Der Pilot gähnte und betrachtete dann mit unverhohlener Neugier seinen Passagier.
Webb Carrick war einunddreißig Jahre alt, einsachtundsiebzig groß und kräftig gebaut. Auf den ersten Blick sah der Pilot nichts weiter als einen Seemann in Uniform, der einen weißen Rollkragenpullover aus Wolle unter der dunkelblauen Uniformjacke des Fischereischutzes trug. Wobei ihm auffiel, dass dieser hier ein breitknochiges Gesicht mit wettergebräuntem Teint hatte, dunkelbraune Augen und einen wirren dunkelbraunen Haarschopf. Rings um die Augen waren die ersten Anzeichen von Krähenfüßchen zu erkennen.
Der Pilot schmeichelte sich, den Charakter eines Menschen nach seinem Äußeren beurteilen zu können - ausgenommen natürlich die Frauen. Carricks schmale Lippen und die wenigen Worte, die sie gewechselt hatten, hinterließen bei ihm den Eindruck, dass sein Passagier, der oberflächlich betrachtet durchaus umgänglich erschien, hinter dieser Fassade schwierig sein konnte.
Er summte amüsiert vor sich hin. Er hatte gehört, dass Carrick zuvor Erster Offizier auf der Marlin gewesen war. Wenn jemand unter dem Kommando des legendären alten Seeteufels Shannon überleben konnte, dann musste er sehr gut sein - oder vollkommen wahnsinnig. Vielleicht auch beides.
Die Aztec zog dröhnend ihre Bahn. Schließlich stieß der Pilot seinen Passagier an und deutete nach unten. Sie waren jetzt fünf Meilen vom Festland entfernt und näherten sich einer weiteren Inselgruppe. Die meisten Inseln sahen wenig einladend aus, aber die am nächsten gelegene Insel war ein schmaler, grüner Landbuckel, umgeben von einem breiten, sandigen Strand.
»Das ist unsere Landepiste.« Er deutete auf den schimmernden Strand auf der Ostseite. »Kenbride Island - die Jungs von der Luftambulanz haben sie als erste entdeckt und benützen sie immer noch, auch wenn sie ihre Patienten erst mit dem Boot hier herausschippern müssen.«
»Gibt es keine günstigere Landemöglichkeit auf dem Festland?«, fragte Carrick.
»Keine - es sei denn, Sie haben einen Hubschrauber oder bevorzugen Fallschirmspringen im freien Fall. Aber selbst auf Kenbride muss man die Ebbe abwarten - und auf das Barometer achten. Wenn man einen Fehler macht, kriegt man nicht nur nasse Füße.« Der Pilot schwieg, dann gab er ein zufriedenes Brummen von sich. »Ja, und ich glaube, ich kann schon ihr neues Baby sehen - erstklassiges Timing.«
Ein Boot kam von Norden herein, war erst ein winziger Fleck auf dem Wasser, fuhr aber schnell und legte eine breite, weiße Schaumspur zwischen die anderen Inseln. Eine Stimme meldete sich über das Funkgerät der Aztec, und der Pilot grinste Carrick an, während er den Funkspruch bestätigte.
Beim Landeanflug beschrieb die Aztec zunächst eine niedrige Schleife über den Strand, dann wendete der Pilot und fuhr das Fahrwerk aus. Ein erster, leichter Stoß, ein kurzes Spritzen, als die Reifen durch eine Pfütze sausten, dann waren sie auf trockenem Sand, und die Maschine rollte aus. Die Triebwerke wurden abgeschaltet. Der Pilot beugte sich über Carrick hinweg und öffnete die Tür auf der Passagierseite.
»Wir danken Ihnen, dass Sie sich bei Ihrem Flug für unsere Fluggesellschaft entschieden haben«, sagte er feierlich. »Bedauerlicherweise untersagt uns eine unerbittliche Geschäftsführung, Dankbarkeitsbezeugungen unserer Passagiere entgegenzunehmen.« Er warf einen Blick nach hinten. »Wuchte sein Gepäck raus, Charlie.«
Carrick kletterte hinaus, fing seinen Seesack auf, den man ihm nachwarf, und blickte dann dem Patrouillenboot entgegen, das sich rasch dem Strand näherte.
Die blaue Standarte der Fischereischutzflotte flatterte am Heck, und es schien, als ziehe die Tern eigens eine Schau ab, die für ihren neuen Kapitän bestimmt war. Das Rauschen der breiten Bugwelle wurde noch übertönt vom Brummen ihrer Maschinen.
Plötzlich verstummte das Brüllen der Motoren, und die weiße Bugwelle kräuselte sich nur noch schwach. Das Patrouillenboot beschrieb noch eine enge Schleife und ankerte dann etwa hundert Meter weit draußen. Gestalten bewegten sich auf Deck neben der aufragenden Cockpit-Brücke, dann hörte er das Quietschen eines elektrischen Ladebaums, der ein Schlauchboot präzise von der Heckrampe auf das Wasser senkte.
Sekunden später heulte der Außenbordmotor des Schlauchboots auf. Mit zwei Mahn an Bord näherte es sich dem Strand.
Carrick ging ihnen über den Strand entgegen. Aber sein Blick war noch immer auf die Tern gerichtet, auf ihren grauen, breiten Rumpf und die weißen Aufbauten, ihre Ausguck-Kanzel und das Gerüst mit den Suchscheinwerfern, den Wirrwarr der Radar- und Funkantennen.
An einem Fall flatterte ein Wimpel. Die leichte Brise schlug ihn einen Augenblick lang auseinander, und Carrick musste lachen. Gekreuzte Cocktailgläser, Weiß auf Schwarz, waren in keinem offiziellen Signalbuch verzeichnet.
Das Schlauchboot kam heran, schob sich auf den Sand, und einer der beiden Männer sprang mit einem Satz heraus. Dann ging er auf Carrick zu.
»Freut mich, Sie zu sehen.« Er schüttelte Carrick die Hand in einem herzlichen Willkommensgruß. »Tim Maxwell. Willkommen im Wunderland.«
»Wunderland?«, fragte Carrick etwas erstaunt.
»Wunderland«, wiederholte Maxwell. »Hier in dieser Gegend erwache ich jeden Morgen und frage mich, was wohl heute wieder los sein wird.« Er atmete tief und zufrieden ein. »Aber von heute an habe ich einen Monat Urlaub!«
»Sie haben ihn sicher verdient.« Carrick hatte einiges über Maxwell in Erfahrung gebracht. Er war ein großer, hagerer Mann mit scharfen Augen. Er trug einen ausgebleichten, blauen Overall und einen groben Fischerpullover. Maxwell, der von der Forschungsabteilung als Kommandant auf die Tern versetzt worden war, sollte in den kommenden Jahren einen neuen Fischereischutzdienst für eine Gruppe von Commonwealth-Ländern in der Karibik aufbauen. »Respekt für die Demonstration, als Sie hereingefahren sind.«
»Das?« Maxwell tat es mit einer Geste ab. »Nur eine letzte Kraftprobe - ich hatte sentimentale Gefühle. Werfen Sie Ihr Zeug ins Boot; ich sag’ den Männern in ihrer fliegenden Kiste, dass sie ein bisschen warten müssen.«
Die große, hagere Gestalt drehte sich um und näherte sich dann dem Flugzeug. Carrick warf sich entschlossen den Seesack über die Schulter und stapfte durch den Sand auf das Schlauchboot zu. Der Mann im Boot hatte ihm den Rücken zugekehrt und beschäftigte sich mit dem Außenbordmotor. Seine Gestalt kam Carrick irgendwie vertraut vor.
»Was, zum Teufel, machen Sie denn hier?«, fragte er.
Der Mann drehte sich um und strich sich über das unrasierte Kinn. Sein Gesicht, das an einen unbehauenen Felsblock erinnerte, verzog sich zu einer Grimasse.
»Sie wissen ja, wie das so geht«, erwiderte Clapper Bell. »Ich hab’ ein bisschen Abwechslung gebraucht.«
Carrick starrte ihn noch immer verblüfft an. Der einsfünfundachtzig große, strohblonde, dickfällige Ire aus Glasgow, auf der Marlin Bootsmann und Obermaat William Clapper Bell, war so ungefähr der letzte, den Carrick hier zu sehen vermutet hätte. Gemeinsam hatten sie die Tauchmannschaft des Fischereischutzkreuzers gebildet. Und sowohl an Land als auch auf See hatte zwischen ihnen eine vertrauensvolle Partnerschaft bestanden, wobei sie sich an ihre eigenen Regeln von Disziplin hielten.
»Soll das heißen, Sie sind jetzt auf der Tern?«
»Bin ich, seit einer Woche.« Clapper Bell verzog nachdenklich das Gesicht. »Und ich fange grade an, zu kapieren, was dort läuft. Ich dachte, einer von uns sollte es wenigstens wissen - Sir.«
Carrick schluckte. Als er Bell zuletzt gesehen hatte, war der Bootsmann an Bord der Marlin gewesen, hatte an der Heckreling gelehnt, als der Kreuzer den Hafen von Stornoway verließ. Am Abend zuvor hatten sie noch einen Schluck miteinander getrunken, aus einer Flasche, die Bell im Fach mit der Taucherausrüstung versteckt hatte. Wenn er sich richtig erinnerte, war der größte Teil des Flascheninhalts durch Beils Kehle geflossen.
»Darf ich fragen, wie es dazu gekommen ist?« Wieder kam Carrick ein Gedanke. »Hielt es da jemand vielleicht für richtig, ein Kindermädchen abzustellen?«
»Nein.« Beils Gesicht drückte Nachsicht aus. »Schon eher einen Aufpasser.«
Sie grinsten sich an.
»Und wie ist es gelaufen?« Carrick achtete nicht auf eine Welle, die auf den Sand hereinleckte und seine Schuhe berührte.
»Zwei oder drei Tage nachdem Sie weg waren, habe ich gehört, dass die Tern einen Ersatzbootsmann sucht«, erklärte Bell lakonisch. »Einer ihrer Maate ist zwischen die Tern und ein Fischerboot geraten und hat sich dabei sämtliche Rippen gebrochen. Also hab’ ich beim Alten ein bisschen Stimmung gemacht, dann noch bei ein paar anderen Leuten, und die Sache war perfekt.«
Carrick bezweifelte es keinen Augenblick lang. Wenn Clapper Bell etwas durchsetzen wollte, verfügte er über erstaunliche Verbindungen. Die meisten gingen zurück auf die Ordensbänder der Royal Navy, die er an seiner Ausgehuniform trug.
»Vielleicht brauche ich ein freundliches Gesicht, Clapper.« Er schaute zweifelnd hinüber zur Tern. »Und wie ist es dort die ersten Tage gewesen?«
»Anders«, sagte Bell ungerührt. »Aber in Ordnung.« Er blickte den Strand entlang. Maxwell stapfte wieder vom Flugzeug herüber. »Hieven Sie mal Ihr Zeug ins Boot - der Typ da vergeudet keine Zeit.«
Maxwell kam heran, warf Carrick einen amüsierten Blick zu und deutete mit dem Daumen auf Bell.
»Die Überraschung des Tages?«
Carrick nickte.
»Der ist in Zukunft Ihr Problem, nicht das meine.« Maxwell atmete tief ein. »Der Flugzeugführer meint, er kann wegen der zu erwartenden Flut nur eine halbe Stunde hierbleiben. Also machen wir, dass wir weiterkommen.«
Carrick half, das Schlauchboot mit der nächsten zurückweichenden Welle ins Wasser hinauszuschieben. Sie sprangen hinein, der Außenbordmotor heulte wieder auf, und das Boot schoss vom Strand hinaus auf das offene Wasser.
Maxwell und Carrick gingen ohne besonderes Zeremoniell an Bord der Tern, während Clapper Bell sich um das Schlauchboot kümmerte; dann ging Maxwell über eine Treppe voraus zum Hauptdeck des Patrouillenbootes, während das Flugzeug am Strand wartete.
»Erst sollten Sie die Mannschaft kennenlernen - die Leute warten darauf.« Er blickte Carrick von der Seite an. »In Zukunft sind Sie und vier Männer allein für die Schau verantwortlich; das wird Ihnen zunächst recht merkwürdig Vorkommen.«
Carrick nickte. Man hatte ihm diesen Punkt oft genug bei der Umschulung auf dem Clyde klargemacht, wo er einen Großteil der Zeit damit verbrachte, sich mit einem anderen Boot derselben Klasse vertraut zu machen. Die Mannschaft eines Patrouillenboots bestand aus dem Kommandanten, einem Zweiten Offizier, einem Maschineningenieur und zwei Obermaaten.
Noch vor ein paar Jahren wäre das undenkbar gewesen. Aber die Tern war eine neue Boots-Generation, ein kompaktes 45-Tonnen-Wunder, vollgestopft mit modernster Technik. Die meisten der Kontroll- und Navigationssysteme waren doppelt vorhanden; sie verfügte außerdem über ein computergesteuertes Radarsystem und über das Neueste an Funkgeräten, drei massive V 8-Turbolader-Dieselmotoren, die jeweils eine der drei großen Schiffsschrauben antrieben, und als Kontrolle dieses Kraftpakets schlanke, tiefgehende, spatenförmige Dreifachruder.
Jedes Patrouillenboot der Tern-Klasse kostete knapp eine Million Pfund, und jedes musste diese hohen Investitionen rechtfertigen.
Das Klatschen der Wellen gegen den Rumpf mischte sich mit dem Gemurmel eines Generators, als Carrick hinter Maxwell über das schwankende Deck herging, um die drei Männer zu begrüßen, die sich in einer Reihe neben der Cockpitbrücke aufgestellt hatten und auf ihn warteten. Da es sich um die erste Begegnung handelte, beschränkte sich die Begrüßung auf Händeschütteln und das Austauschen der Namen und Ränge.
Andy Grey, der Zweite Offizier, war Mitte Zwanzig, mit einem schmalen, pockennarbigen Gesicht und störrischem, schwarzem Haar. Er trug einen blauen Kampfanzug mit einem einzelnen, neu aussehenden Goldstreifen an jeder Schulterklappe, und er verhielt sich gegenüber Carrick reserviert und zurückhaltend, bevor er sich wieder auf die Kommandobrücke zurückzog. Der Maschineningenieur der Tern war ein untersetzter Mann namens Sam Pilsudski. Er war der älteste von den dreien, Ende Dreißig, mit einem breiten Lächeln, das vertraulich wirkte. Aus der Brusttasche seines ausgewaschenen, weißen Overalls lugte eine Packung mit schwarzen Stumpen heraus.
Blieb noch der andere Obermaat. Gogi MacDonnell, der auch die Rolle des Kochs übernommen hatte und auf den ersten Blick erkennen ließ, dass er der schwierigste Mann der Crew war. Mager und mit stets betrübter Miene, lispelte MacDonnell ein wenig, wie es im westlichen Hochland üblich war. Er trug eine karierte Wollmütze, und die Beine seines Overalls steckten in abgeschnittenen Fischerstiefeln. Sein Händedruck war fest, aber in seinen Augen glitzerte ein argwöhnisches, vielleicht auch launisches Funkeln.
Pilsudski und MacDonnell zogen sich bald aufs Achterdeck zurück. Sobald sie außer Sichtweite waren, drehte sich Maxwell um und stützte seine Hände auf die Reling.
»Es wird mir fehlen - das hier.« Er blickte einen Augenblick zum Strand hinüber. »Und Sie, Carrick? Bei Ihrer bisherigen Karriere hätten Sie erwarten dürfen, dass man Sie zum Käpt’n eines unserer Schutzkreuzer ernennt. Enttäuscht?«
Es war eine Frage, die auf der Hand lag - aber sie war ihm zum ersten Mal direkt gestellt worden. Mit dem Kommando der Tern betraut zu werden, stellte keine Beförderung dar, soweit es die Personalakten der Abteilung betraf. Er war immer noch offiziell Erster Offizier, genau wie zuvor - und wie alle anderen Kommandanten der Patrouillenboote auch. Wenn man ihn »Käpt’n« nannte, so war das nur eine Höflichkeitsanrede.
»Nein, ich bin nicht enttäuscht.« Er meinte es ernst. »Im Gegenteil, ich bin sehr froh darüber.«
»Gut.« Maxwell blickte ihn noch immer neugierig an. »Na ja, ich hab’ gehört, Sie hatten früher schon mal eine Chance - und haben sie abgelehnt.«
Das stimmte, und für seine Ablehnung hatte es mehr als einen Grund gegeben. Carrick wollte jetzt nicht darauf eingehen.
»Doch das ist Ihre Angelegenheit. Vielleicht ist es jemandem eingefallen, Sie dafür büßen zu lassen.« Maxwell ließ eine Pause entstehen, dann nickte er in Richtung auf den selbstgemachten Wimpel, der über ihnen im Wind flatterte. »Den nehme ich mit. Gestern Abend haben wir hier eine Abschiedsparty gefeiert.« Er zögerte. »Wie reagieren Sie auf Ratschläge, Carrick?«, fragte er dann unvermittelt.
»Im Normalfall höre ich sie mir erst einmal an«, erwiderte Carrick.
»Um dann das zu tun, was Sie für richtig halten?« Maxwell lachte. »Ich will Sie nicht langweilen, und ich gestehe, ich mache es ebenso. Denken Sie aber immer daran, dass Sie es auf einem Boot dieser Größe nicht mit einer Mannschaft, sondern mit einem Team zu tun haben, und das ist ein gewaltiger Unterschied.
Manchmal kommt es auf Diplomatie an - so habe ich es jedenfalls gehalten. Andererseits sind Sie natürlich der Boss.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Also gut, beginnen wir mit der Führung.«
Unter Deck war jeder Quadratzentimeter sinnvoll genutzt - hier und da sogar auf ungewöhnlich raffinierte Weise. Für Bell und MacDonnell gab es kleine, nach vorn gelegene, voneinander getrennte Kabinen und eine eigene Mannschaftsmesse mit eingebautem Fernseher. Sam Pilsudskis Kabine lag mittschiffs und war von dem Maschinenraum nur durch ein Schott getrennt; von dort führte ein schmaler Kabinengang nach achtern unter die Brücke zu den Heckkabinen für den Kommandanten des Schiffs und den Zweiten Offizier. Ihre kleine Offiziersmesse befand sich darüber auf dem Hauptdeck, daneben die kleine Kombüse, ein makellos sauberer Raum, der mit allem ausgestattet war, was man für die Zubereitung der Mahlzeiten brauchte: vom Kühlschrank und der Tiefkühltruhe bis zum Mikrowellenherd.
Maxwell führte alles vor, doch die Besichtigung ging fast im Eiltempo vonstatten. Er erklärte kurz die einzelnen Geräte und Apparaturen, deutete auf bestehende und mögliche Probleme hin und scheuchte Carrick dann weiter, was bewies, dass er das am Strand wartende Flugzeug keineswegs vergessen hatte.
Aber als er beim letzten Punkt der Besichtigungstour, der Kommandobrücke, angekommen war, blieb er stehen, schwieg und gönnte Carrick endlich einmal Zeit, sich umzusehen. Wenn ihn in diesem Augenblick verständliche Gefühle übermannten, dann ließ er es sich nicht anmerken.
Die Brücke nahm fast die gesamte Breite des Patrouillenbootes ein; hier gab es mehr Raum als in jedem anderen Bereich des Bootes. Der Kommandoteil war mit Mahagoniholz getäfelt und auf drei Seiten mit dicken Sicherheitsscheiben verglast. In einem Bereich weiter achtern befanden sich Gerätespinde, eine Funkausrüstung und ein Lesepult, das den Kartenraum ersetzen sollte.
Langsam trat Carrick vor. Vor ihm lag ein Plan, der mehr über die Tern aussagte als alle Worte.
»Lassen Sie sich Zeit«, murmelte Maxwell.
Carrick nickte und hatte das Gefühl, als ob sein Mund völlig ausgetrocknet sei.
Zwei schwarze, gepolsterte und verstellbare Sessel standen auf Podesten gegenüber der Anordnung von Instrumenten, Anzeigegeräten und blinkenden Kontrolllampen. Andy Grey saß auf dem rechten Sessel und drehte sich jetzt zu ihnen um. Eine Hand ruhte lässig auf dem Steuerrad der Tern - und dieses war aus Holz, was angesichts der elektronischen Ausrüstung etwas anachronistisch wirkte.
»Machen Sie ruhig mal Pause, Andy.« Maxwell deutete mit dem Daumen auf die Tür. »Wir sind fast fertig.«
Der Zweite Offizier der Tern erhob sich zögernd, schenkte ihnen ein etwas gezwungenes Lächeln und ging dann hinaus an Deck.
»Momentan ein bisschen schwierig, unser Andy«, sagte Maxwell trocken. »Ich hatte mal einen Hund, der war genau wie er - er konnte keine Veränderungen leiden. Achten Sie darauf, dass er nicht allzu mürrisch wird. Auf einem Boot wie diesem ist das ein Luxus, den Sie sich nicht leisten können.« Er hielt inne und schaute sich um. »Nun, das ist also von nun an Ihr Büro. Die Einrichtung kennen Sie ja.«
»Ja.« Carrick legte eine Hand auf das Steuerrad. Es zitterte leicht unter seinen Fingern, als eine Unterwasserströmung mit den Ruderblättern spielte. Das Rad war mit einer Servo-Einrichtung ausgestattet, um es leicht und gefühlvoll handhaben zu können. »Mit verbundenen Augen.«
Er meinte es buchstäblich. Darin hatte eine der abschließenden Prüfungen bestanden.
»Macht man das also immer noch?« Maxwell grinste. »Und wie eingehend hat man Sie mit dem Einsatzbefehl der Tern vertraut gemacht?«
»Das Grundsätzliche.« Auf einer Seite drang ein leises Zischen aus einem Lautsprecher. Darüber waren die Digitalanzeigen der zusätzlichen Instrumente zu sehen, die über den Fenstern der Brücke angebracht waren. »Man hat mir gesagt, dass Sie für alles übrige sorgen würden.«
»Typisch.« Maxwell gab ein Knurren von sich. »Nun, ich habe einen Umschlag in meiner Kabine hinterlegt - das heißt, jetzt in Ihrer Kabine. Er enthält die üblichen vertraulichen Informationen, und ich hab’ ein paar zusätzliche Notizen gemacht, die Ihnen nützlich sein können.«
»Danke.« Carrick schaute ihn an. »Einiges davon hätte ich gern von Ihnen selbst gehört.«
»Wenn Sie wollen.« Maxwell blickte ihn überrascht und zugleich erfreut an, warnte aber gleich darauf: »Es ist nicht viel Erfreuliches. Zum Beispiel treibt eine ganz frische Öllache zwölf Meilen nördlich von hier - jedenfalls meinen wir, dass sie frisch ist, und für uns ist so etwas auch noch ziemlich neu. Ein Fischerboot hat sie heute Morgen beim ersten Tageslicht ausgemacht.«
Carrick verzog das Gesicht. »Groß?«
»Nicht allzu groß. Etwa eine halbe Meile breit und schon in Auflösung begriffen. Aber scheußlich - sieht aus wie Schwerölschlamm.« Maxwell öffnete, während er sprach, eine Schublade und nahm zwei kleine Reagenzgläser heraus. Sie waren verkorkt, mit einem Aufkleber versehen und enthielten eine schwarze, teerartige Substanz. »Ich hab’ sie mir auf der Fahrt hierher angesehen und die üblichen Proben abgezogen; die nehme ich gleich mit.«
»Dann gibt es für mich weniger Arbeit«, stimmte ihm Carrick zu. Die Proben würden analysiert und chemisch identifiziert werden im Hinblick auf den möglichen Ursprung. Wenn es wirklich Schweröl war, bedeutete das, dass der Kapitän eines Öltankers eine streng verbotene, aber kostensparende Tankreinigung auf hoher See durchgeführt hatte, ohne sich dabei um die Folgen zu kümmern. Aber es gab noch ein unmittelbareres Problem. »In welche Richtung treibt die Lache?«
»Halten Sie die Daumen«, meinte Maxwell. »Es könnte sein, dass sie dreht und wieder hinaustreibt. Dort in der Gegend gibt es eine Unterströmung; vielleicht reicht sie aus, um das Öl vom Strand fernzuhalten, obwohl die Öllache dann ein paar der kleineren Inseln streifen dürfte.« Er steckte die Reagenzgläser in eine Außentasche seines Overalls, drehte sich wieder um und nahm eine Karte aus einem der Regale. »Aber, jetzt will ich Ihnen die wirklichen Probleme zeigen. Willkommen bei der Patrouille Box Tango.«
Carrick half ihm, die Admiralitätskarte auf dem Lesepult auszubreiten, dann schaute er Maxwell an.
»Haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht?«, fragte Maxwell.
Er nickte. Der Fischereischutz hatte auf höchst einfache Weise die Gewässer um Schottland in einzelne Patrouillensektoren aufgeteilt, indem er mit Kugelschreiber ein Netzwerk einander im rechten Winkel kreuzender Linien auf eine Landkarte zog. An der Westküste bedeutete das rechteckige Areale, die sogenannten Boxen, welche sich vom Festland hinaus über die Sturmtrichter des Minch bis zu den Äußeren Hebriden und noch weiter aufs offene Meer erstreckten. Und jeder beim Fischereischutz kannte den Ruf von Box Tango: Wenn man sich mit einem Schiff dort aufhielt, musste man alles, was man je gelernt hatte, parat halten.
»Dann wird das Leben wenigstens nicht langweilig«, murmelte Maxwell, als könnte er die Gedanken des anderen lesen.
»Vermutlich, ja.« Carrick betrachtete einen Moment lang die Karte. »Von nun an kann es also nur noch schlimmer werden.«
Jemand hatte den Sektor Box Tango in grellem Gelb markiert. Die Insel Kenbride lag an seinem südlichen Rand, und Tango erstreckte sich von dort aus nach Norden in einer Linie, die an die sechzig Meilen felsigen Küstenlandes einbezog. Im Westen reichte der Sektor hinaus in den Minch, umschloss einen navigatorischen Alptraum von kleinen Inseln und Riffen, ein Gebiet, das auf der Karte mit Markierungen älterer und neuerer Wracks übersät war, während andere, rote Markierungen andeuteten, wo die vereinzelten Leuchttürme ein jedes Schiff abschreckten, das töricht genug war, sich ohne zwingenden Grund in diesen Gewässern aufzuhalten.
»Das Gelb war Andys Idee.« Es klang so, als wolle sich Maxwell dafür entschuldigen. »Aber es hilft - man sieht, wie die Dinge stehen. Einerseits gibt es einige gute Tiefwasserkanäle. Andererseits ist das reines Patrouillenbootgebiet, das allem, was wesentlich größer ist, zum Verhängnis werden kann - und das gleiche gilt auch für die meisten der sogenannten Häfen. Bis wir auftauchten, hat mindestens die Hälfte der Fischer an dieser Küste nicht einmal an unsere Existenz geglaubt.«
Carrick grinste. »Und wann haben sie’s kapiert?«
»Die haben Sinn für Humor in ihrem rauen Leben«, knurrte Maxwell. »Ich habe die Tern vor genau drei Wochen in Stellung gebracht. In der zweiten Nacht, als wir vor Anker lagen, hat uns jemand als Übungsziel beim Gewehrschießen benutzt. Ha, da sind unsere Fenster gesplittert...!«
»Besser, als wenn man ignoriert wird«, sagte Carrick nachdenklich.
»Ignoriert?« Maxwell zeigte sich nicht sonderlich amüsiert. »Wir haben auch schon einen Spitznamen. Immer wenn sie per Funk von der Tern reden, heißt sie das Babysitter-Boot. Und sie haben auch noch recht damit - genau dazu sind wir hier.«
Carrick nickte. Die Informationen, die er von seiner Behörde erhalten hatte, waren zwar in etwas anderslautenden Formulierungen gehalten, und es war darin von Vereinbarungen einer Kommission der EG-Staaten die Rede gewesen. Aber das, was unter dem Strich übrigblieb, war das gleiche. Seine Aufgabe würde die eines Babysitters sein.
Der neue wirtschaftliche Reichtum vor der Küste um Schottland stammte von den riesigen Gas- und Ölbohrinseln in der Nordsee und den neuen Bohrfeldern in der Keltischen See. Aber es gab noch eine zweite Quelle: die jährlichen Heringsfänge, die Europa brauchte, Fänge, die in die Millionen Tonnen gingen.
Gegangen waren. Denn während der Nachkriegsjahre hatten die gierigen, modernen Schleppnetzfischer von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs den Fischreichtum dezimiert. Bis plötzlich, kaum zu glauben, die Boote leer aus den Fanggründen zurückkehrten. Die riesigen Heringsschwärme existierten nicht mehr.
Der europäische Hering laicht in den Tiefwasserbuchten der schottischen Nordwestküste, wo die ständige Wärme des Golfstroms seiner Brut die Chance bietet, den ersten Winter zu überleben. Und Europa war gezwungen, die Gesetze zu ändern: Es wurden durch ein neues Gesetz strengere Fangbeschränkungen auferlegt, das von Oktober bis März die schottischen Laichgründe für Schleppnetz- und andere Fischfangboote völlig sperrte. Zuwiderhandlungen wurden mit Geldstrafen bis zu 50.000 Pfund geahndet. Der Fang, die Ausrüstung und sogar das Boot konnten zusätzlich beschlagnahmt werden.
Der Information des Fischereischutzes war eine Fußnote beigefügt gewesen: Patrouille Box Tango galt nach Auskunft der Meeresbiologen als das Gebiet mit den reichsten und größten Heringslaichplätzen der Welt.
»Kennen Sie den Käpt’n von der Puffin, Johnny Walker?«, fragte Maxwell unvermittelt.
»Ich kenne ihn, ja«, bestätigte Carrick vorsichtig. Die Puffin war ein weiteres Patrouillenboot der Tern-Klasse, und Walker galt nicht gerade als einer seiner sympathischsten Kollegen.
»Die Puffin arbeitet in unserer Box. Das Department hat sie vor zehn Tagen herbeordert, damit sie uns unterstützt. Ich habe beide Boote sozusagen als ein Team betrachtet.« Maxwell schaute ihm mit Nachdruck in die Augen. »Ich habe mich erkundigt: Sie sind um ein paar Monate länger im Dienst als Walker und daher sein Vorgesetzter - also bleibt die Tern wie bisher das Kommandoboot.«
Carrick gab keinen Kommentar dazu und entschloss sich, auch nicht danach zu fragen, was Walker wohl davon halten mochte. Er würde es ohnehin früh genug erfahren.
Ein raues Kreischen übertönte die Motorengeräusche des Patrouillenboots, und eine Möwe mit schwarzem Rücken stieg nach einem gelungenen Fischzug in die Höhe auf. Immer noch kreischend verschwand sie, und Maxwell beugte sich wieder über die Karte.
»Wissen Sie, dass es schon ein paarmal Alarm gegeben hat in der Laichzone?«
»Blinden Alarm«, sagte Carrick trocken. »So hieß es im Department.«
»Zum Teufel mit dem Department.« Maxwell legte einen Finger auf eine Stelle des gelb markierten Sektors. »Natürlich kommen hier und da Übertretungen des Verbots vor. Und, ehrlich gesagt, wenn ich der Käpt’n eines Schleppnetzfischers wäre, ich würde es vielleicht sogar selbst einmal wagen - eine Nacht zu fischen in irgendeinem dieser Fjorde, und wenn man ungeschoren davonkommt, ist das so, als ob man im Lotto gewonnen hat.«
»Wie erfahren Sie davon?«
»Auf die übliche Weise: irgendein Fischer, der mit Funk ausgerüstet ist, legal dort arbeitet, entweder angelt oder auf Hummern fischt und sich beschwert, dass sein Gerät zerstört oder mitgeschleppt worden ist.« Maxwell zuckte mit den Schultern. »Wir haben zwei Meldungen erhalten über Boote, die nachts dort beinahe zusammengestoßen sind, sogar Geschichten über Schießereien, und so weiter - meistens keine allzu großen Dinge.«
»Glauben Sie, dahinter steckt eine Organisation?«
»Immerhin werden die Meldungen so gezielt an uns geleitet, dass wir danach immer wie die Idioten dastehen.« Maxwell wandte sich ab und ging auf der Brücke hin und her. »Ich habe den Hafen Dunbrach in der Priest Bay als Basis benutzt, weil er günstig in der Mitte des Sektors gelegen ist und, noch wichtiger, weil die paar anderen Häfen noch kleiner sind oder austrocknen. Von dort aus habe ich die Patrouillen gefahren und überraschende Kontrollen durchgeführt - das übliche.« Er presste die Lippen zusammen. »Aber jedes Mal waren wir am falschen Ort oder zu spät dran. So, als ob jemand unsere Pläne kennen würde.«
»Jemand an Land, der für die Gegenseite arbeitet?«
»So muss es sein«, räumte Maxwell ein. »Und jemand mit den richtigen Verbindungen.«
Carrick nickte. Die Fischer an der Westküste arbeiteten zusammen wie eine Küstenmafia, besonders, wenn sie draußen waren auf See. Sie benutzten ihre eigenen Funkfrequenzen, um sich mit anderen Booten aus demselben Hafen zu verständigen - oder mit den Frauen an Land. Und jedem unerwarteten Auftauchen des Fischereischnüfflers folgte eine sofortige Warnung an Freunde und Nachbarn.
Aber bei den Raubzügen in den Laichgründen schien es sich um größere Trawler zu handeln, nicht um Fischerboote. Trawler, gleich welcher Nationalität, waren Fremde, verhasst und meistens vom codifizierten Funkverkehr ausgeschlossen.
Es sei denn, jemand verfügte über die richtigen Verbindungen.
Die Möwe mit dem schwarzen Rücken war zurückgekommen und auf dem Vorderdeck gelandet. Jetzt starrte sie zu ihnen herein, stieß einen herausfordernden Schrei aus, und von irgendwo achtern flog ein zusammengeknüllter Baumwollfetzen als Antwort herüber. Erschreckt flatterte die Möwe davon, während eine raue Stimme einen Fluch ausstieß.
»Gogi«, erläuterte Maxwell gedankenabwesend. »Er hasst Vogeldreck auf den Planken.« Dann schaute er auf seine Armbanduhr. »Ich muss los. Hören Sie, wenn Sie einen anderen Hafen als Alternative zu Dunbrach suchen, versuchen Sie es mal mit St. Ringan im Norden. Aber seien Sie vorsichtig - die Zufahrt ist ziemlich riskant.«
»Ich werde aufpassen«, versprach Carrick. »Wie steht es mit Kontakten?«
»Die beste Verbindung ist Jimsy Fletcher in Dunbrach. Er ist der Posthalter und Constable am Ort und noch das eine oder andere: Er hilft, wenn er kann. Aber halten Sie sich von einer Familie namens Rose fern - die bedeutet Unheil, die Frauen eingeschlossen.« Maxwell verzog das Gesicht. »Und was Sie auch tun, gehen Sie einem Typ, den sie den Sackmann nennen, aus dem Weg - alles, was Uniform trägt, ist sein natürlicher Feind. Er lebt wie ein Strandläufer, aber er kann Leute wie uns zum Frühstück verspeisen.«
»Vielleicht sollte ich doch erst einmal mit Ihnen auf eine Fahrt gehen«, schlug Carrick vor.
»Ausgeschlossen, mein Freund.« Maxwell öffnete einen Spind, nahm seine Mütze mit der goldenen Plakette des Fischereischutzes über dem Schirm heraus und warf einen Blick darauf. »Mir wird manches fehlen, aber verdammt noch mal, ich denke nicht daran, sentimental zu werden.«
»Viel Glück«, sagte Carrick leise.
»Für uns beide.« Maxwell grinste, setzte sich die Mütze auf und richtete sich dann gerade auf. Seine rechte Hand fuhr zu einem militärischen Gruß an den Mützenschirm. »Und damit ist die Tern Ihr Boot, Käpt’n. Bitte um Erlaubnis, an Land gehen zu dürfen.«
»Erlaubnis erteilt.« Carrick erwiderte den Gruß, folgte so der Formalität und wusste, dass dieser Augenblick für den scheidenden Mann im Overall sehr viel bedeutete. »Und vielen Dank.«
Sie schüttelten sich die Hände, dann ging er mit Maxwell ans Heck, wo Clapper Bell im Schlauchboot wartete. Maxwells Seesack war bereits an Bord, und nun kletterte er in das Boot. Der Außenborder ratterte, und das Boot nahm Kurs auf die Küste und das wartende Flugzeug.
Carrick schaute sich um.
Der Wimpel mit den Cocktailgläsern war vom Fall verschwunden.
Backbord- und Steuerborddiesel tuckerten, bläuliche Rauchfahnen drangen aus den Auspuff Öffnungen am Heck: Die Tern machte sich zur Abfahrt bereit, sobald Clapper Bell von der Insel zurückgekehrt war. Während das Schlauchboot an Bord gehievt wurde, konnten sie beobachten, wie die Piper Aztec unten am Strand startete. Sie gewann rasch an Höhe, beschrieb dann eine weite Schleife und »wackelte« noch einmal grüßend mit den Tragflächen.
Nun war es auch für die Tern an der Zeit, sich in Bewegung zu setzen. Bell hatte den Platz des Obermaats eingenommen, Carrick hatte den Posten des Kommandanten eingenommen, und Andy Grey stand hinter ihm.
»Andy.« Carrick wandte sich zu ihm um. »Wir fahren zurück zur Priest Bay, im normalem Patrouillentempo. Kurs?«
»Steuern Sie - äh...«, Greys Blick richtete sich rasch auf die Kompassnadel, »...bringen Sie sie auf Null-drei-zwo.«
»Null-drei-zwo«, wiederholte Bell, während er bereits das Steuerrad betätigte.
»Mittlere Fahrt, zweitausend Touren pro Minute.« Behutsam und sich wohl bewusst, dass er zumindest einen kritischen Beobachter hatte, drehte Carrick die beiden äußeren Gashebel auf. »Bleiben Sie hier, Andy.«
Sie nahmen Fahrt auf, und der Rumpf des Bootes vibrierte, als die Dieselmotoren höher zu drehen begannen. Carrick erhaschte noch einen Blick auf die Aztec, ein immer kleiner werdender Fleck am Himmel, dann richtete er seine Aufmerksamkeit ganz auf die Führung des Patrouillenboots. Gischt spritzte am Bug auf, und das Schiff ließ eine weiße Schaumspur hinter sich, während es mit zunehmender Fahrt dahinglitt.
Carrick lächelte zufrieden, warf einen kontrollierenden Blick auf die Instrumente und lehnte sich dann zurück.
»Richtung?«
»Null-drei-zwo.« Clapper Bell zwinkerte ihm kaum merklich zu. »Auf Kurs Käpt’n.«
»Gut.« Er stand auf und deutete Grey an, seinen Platz einzunehmen. »Übernehmen Sie, Andy; ich bin in meiner Kabine.«
Der Zweite Offizier, nickte, strich sich mit der Hand durch das störrische schwarze Haar und übernahm dann das Kommando. Carrick verließ die Brücke über den schmalen Kajütengang. Er erreichte die Treppe, die zu seiner Kabine hinunterführte und sah im Vorübergehen Gogi MacDonnell durch die offene Tür der Kombüse. Der Obermaat mit dem stets traurigen Gesichtsausdruck, die karierte Wollmütze auf dem Kopf, hielt einen großen Kaffeebecher in der Hand. Carrick hielt inne und trat dann zu ihm in die Kombüse.
»Gibt’s davon noch mehr?«, fragte er.