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Das magische Licht der Toskana, das Geheimnis einer alten Villa und eine Sommerliebe zum Dahinschmelzen
Noemi liebt es, köstliche Pralinen herzustellen, so wie sie es von ihrer kürzlich verstorbenen italienischen Großmutter Rosa gelernt hat. Als sie ihren Job bei einer Catering-Firma verliert, beschließt sie, auf den Spuren von Rosa nach Venedig zu reisen. In der Cioccolateria Simonetti erfährt Noemi, dass ihre Oma Mitbegründerin eines kulinarischen Festivals in der Toskana war, das nun wiederaufleben soll. Weil der alte Signor Simonetti zu krank ist, um die Reise nach San Gimignano anzutreten, übernimmt Noemi kurzerhand. Zusammen mit Online-Journalist Fabio, der einen großen Bericht über das Festival schreiben will, begibt sie sich auf eine bewegende Reise in die Vergangenheit. Dabei ahnt sie noch nicht, welches Geheimnis in der alten Villa, im Schatten der Mandelbäume, auf sie wartet.
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Seitenzahl: 585
Als Noemi den Mandelgarten der Villa Pitiani inmitten der hügeligen Landschaft der Toskana erblickt, fühlt sie sich ihrer verstorbenen Großmutter plötzlich ganz nah. Vor vielen Jahrzehnten gründete Nonna Rosa mit ihren Freunden hier das Piacere – ein Festival mit kulinarischen Spezialitäten aus der Region, das nun seine Wiederauflage feiert. Doch warum hat sie ihrer Enkelin nie davon erzählt? Während Noemi alle mit ihren zartschmelzenden Pralinen begeistert, sucht sie unter Rosas alten Freunden nach Antworten. An ihrer Seite ist Fabio, der über das Piacere berichtet. Er hat eine der bekanntesten TV-Köchinnen der Welt eingeladen, von deren Urteil nicht nur Fabios und Noemis Zukunft abhängt. Die Anspannung ist groß, aber da ist auch noch etwas anderes zwischen den beiden. Können sie das Festival wieder in alter Blüte erstrahlen lassen und noch dazu Rosas Geheimnis lüften?
Hannah Luis studierte Skandinavistik, Publizistik und Sozialanthropologie in Bochum und Kopenhagen. Nach verschiedenen Stationen in Australien, England und der Schweiz kehrte sie nach Deutschland zurück. Heute lebt und schreibt sie in Essen, aber es zieht sie noch immer regelmäßig in die Ferne. Sie liebt es, Rezepte aus anderen Ländern mitzubringen und zu Hause auszuprobieren.
Bretonischer Zitronenzauber
Der Duft von Tee und Winter
Das Leuchten von Lavendel
HANNAH LUIS
ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 05/2024
© 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München unter Verwendung von © Getty Images (Marco Bottigelli), Alamy Stock Foto (Design Pics), FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31243-5V001
www.heyne.de
Das Gutshaus Lenz war beeindruckend mit seinen Giebeln, dem Fachwerk und den weitläufigen Ländereien im Hintergrund, aber trotzdem herrschte eine angespannte Atmosphäre. Die schwülwarme Juniluft drückte vielen aufs Gemüt. Die Pferde, die später den VIP-Gästen präsentiert werden sollten, donnerten mit ihren Hufen gegen die Türen der Boxen, als wäre ihnen der vertraute Stall plötzlich zu klein geworden. Die Menschen zerrten an den Kragen ihrer Anzüge oder zupften an ihren Oberteilen. Alle schienen sich woandershin zu wünschen. So auch die Gruppe von knapp zwanzig Besuchern – die Damen mit mehr Schmuck, je enger die Kleider waren, die Herren tapfer in Hemd, Weste und Krawatte –, die sich seit geschlagenen zehn Minuten vor dem Hauptgebäude herumdrückte und den Catering-Stand nicht aus den Augen ließ.
Noemi verfiel in den Arbeitsmodus und ließ sich von alldem nicht anstecken, auch wenn ihr die weiße Bluse am Rücken klebte. Sie löste das Cellophan von den ersten Silberplatten und rückte die Lachs-Dill-Röllchen mit der Zange zurecht, damit sich ein symmetrisches Bild ergab. Trotz der Wärme war sie froh, hier draußen zu sein und sich nicht in einem Büro von einer Klimaanlage auskühlen lassen zu müssen. Zufrieden betrachtete sie das Ergebnis ihrer Bemühungen, und augenblicklich kam Bewegung in die Gäste.
»Ich dachte, hier geht es heute darum, die Pferde in sämtlichen Gangarten zu präsentieren«, flüsterte ihre Kollegin und gute Freundin Anja ihr so zu, dass sich ihre Lippen kaum bewegten, polierte weiter die Gläser und hielt dabei ihr Business-Lächeln aufrecht. »Die Einzigen, die hier gleich rennen, sind allerdings die Leute dort vorn, und zwar frontal auf den Stand zu. Ob die nur unseretwegen hier sind? Vielleicht sind denen die Tiere völlig gleichgültig. Andererseits, wenn sie die so gierig betrachten würden wie das Essen, würde ich mir echte Sorgen machen.«
Das Gutshaus Lenz am Rande Düsseldorfs war in der nun schon dritten Generation ein bekannter Name in der Reitpferde-Zucht; die alljährliche Präsentation der Tiere hatte sich als Treff- und Vernetzungspunkt von Publikum mit Rang und Namen in der Region etabliert. Wer bei Lenz geladen war, hatte es geschafft. Hier traf man den pferdebegeisterten Bürgermeister ebenso wie Mitglieder des alten Landadels oder die Köpfe wohlhabender Familien, die auf der Suche nach einem möglichst edlen Tier für den Nachwuchs waren.
Und sie alle schielten nun mehr oder weniger verhohlen auf die Köstlichkeiten vor Noemi. Aber das war völlig in Ordnung. Wenn den Gästen das Catering zusagte und vielleicht sogar die allgemeine Stimmung hob, würde der Tag vergehen wie im Flug.
»Keine Sorge, Anja. Ich beschütze dich.« Sie unterdrückte ein Lachen und wandte sich dem Tisch links von ihr zu, der mit Getränken auf Eis, Süßspeisen in winzigen Schalen und drei Silberplatten mit Pralinen bestückt war, die sie bis gerade gekühlt gelagert hatten und nun auf einem Eisbett anboten. Ihre Pralinen! Stolz betrachtete sie die gleichmäßig geformten Irish-Cream-Kugeln, die weißen Trüffelherzen, die sie für das heutige Event mit Blattgold verziert hatte, und die glänzende Schokolade der Mandelpralinen, deren Rezept sie von ihrer Großmutter übernommen hatte. Nach ihrer Ausbildung zur Konditorin war sie eine Weile angestellt gewesen und hatte mehrmals versucht, das angestaubte Angebot der Konditorei Fechner aufzupeppen, das nur noch Stammkunden und kein frisches Publikum anlockte, war aber jedes Mal auf taube Ohren gestoßen. Nach einer Weile hatte sie sich nach etwas Neuem umgesehen und den Catering-Bereich für sich entdeckt. Hier fand sie die Freiheit und Experimentiermöglichkeiten, die sie sich erhofft hatte und die ihr wichtig waren. Für ihre Chefs, Marion und Guido Ingmann, hatte sie vor Wochen Kostproben angefertigt und kurz darauf die Erlaubnis bekommen, ihre Pralinen beim nächsten größeren Auftrag anbieten zu dürfen. Sie hatte sich nur für ihre besten Kreationen entschieden, denn Catering Ingmann war auf exklusive und gehobene Veranstaltungen spezialisiert.
Und nun stand sie auf dem Gutshof Lenz und zupfte möglichst unauffällig an ihrem Blazer – das Schwarz mit den goldenen Ornamenten war an einem solchen Tag eine kleine Tortur. Noemi war froh, dass sie sich den Pony mit einem goldenen Band zurückgebunden und ihre dunklen Haare vergangenen Monat auf Kinnlänge hatte stutzen lassen. So konnte sie sich immerhin ein wenig abkühlen, wenn sie sich mit einer der Menükarten Luft zufächelte.
Verstohlen warf sie einen Blick zum Himmel und musterte die im Westen aufziehenden Wolken. Das Gewitter war erst für den Abend angekündigt, und sie hoffte, dass die Prognose stimmte.
»Entschuldigung?« Eine Frau trat an den Stand und riss sie aus ihren Gedanken. Sie trug einen Hut, der unter dem üppigen Federschmuck in Metallicblau und grellem Orange beinahe verschwand und mit den gewagtesten Modellen in Ascot mithalten konnte, und tippte auf eine Mandelpraline. »Sind da Walnüsse drin?«
Noemi lächelte, schüttelte den Kopf und erläuterte die Zutaten der drei Sorten, während die übrige Gruppe näherkam, als sei die Dame vorgeschickt worden, um die Lage zu erkunden. Die meisten Frauen sahen sich zuerst die Süßspeisen an und griffen nach den Pralinen – manche nur, um sie mit spitzen Fingern wieder zurückzulegen –, wobei die Silberzangen von den meisten ignoriert wurden. Ein Mann nahm ein Kaviartörtchen mit der einen und ein Trüffelherz mit der anderen Hand, und auch andere aßen Süßes und Pikantes durcheinander.
Noemi und Anja beantworteten Fragen, reichten Häppchen, schenkten Champagner ein und warfen sich zwischendurch immer wieder amüsierte Blicke zu. Schließlich deutete Anja zur Seite und trat einen Schritt näher an Noemi heran. »Der Pferdeprinz kehrt zurück«, flüsterte sie, zwinkerte ihr zu und nahm eine neue Champagnerflasche aus der Kühlung.
Noemi drehte sich um und sah Julian Lenz auf sie zuschlendern. Er trug Reithose samt Stiefeln und dazu ein Sakko, alles auf leger getrimmt, aber eindeutig edel. Die Hände baumelten lässig neben seinem Körper, und das helle Haar leuchtete, auch wenn sich die Sonne bereits hinter eine dünne Wolkenschicht zurückgezogen hatte. Sein Lächeln passte zu der Haltung, die ausdrückte, dass er um sein Aussehen und seine Stellung wusste: Sohn des Gutsherrn und Erbe riesiger Ländereien sowie preisgekrönter Warmblutpferde. Noemi hatte die Urkunden und Metallplaketten bewundern können, als Julian ihr und Anja am Vormittag eine Führung durch das Haus und über das Grundstück gegeben hatte. Doch er schien nett zu sein, und sie war froh, hauptsächlich mit ihm zu tun zu haben und nicht mit seinem Vater, der vermutlich jeden in seiner Nähe einschüchterte.
Julian hob eine Hand. »Alles klar bei Ihnen?« Einige der Gäste wandten sich um und strahlten ihn an, und er lächelte zurück, ehe er sich an Noemi wandte. »Ich brauche zwei Flaschen und sechs Gläser im Empfangszimmer.« Er musterte die Auswahl auf den Tischen. »Und vielleicht ein paar Häppchen. Mein Vater hat sich spontan auf ein Geschäftsgespräch eingelassen.«
»Kein Problem.« Noemi zog zwei Tabletts unter dem Tisch hervor und wandte sich an Anja. »Kommst du für einen Moment allein klar? Dann helfe ich, alles ins Haus zu tragen.«
Ihre Kollegin winkte ab und drehte sich mit fliegendem Pferdeschwanz zu einem Mann um, der sich auffällig räusperte. »Natürlich«, rief sie über die Schulter. »Wenn du magst, kannst du auch gleich deine Pause vorziehen, ehe es hier losgeht. Komm einfach wieder, wenn du drinnen nicht mehr gebraucht wirst.«
»Alles klar.« Noemi befüllte ein Tablett mit Häppchen und drückte es Julian in die Hände. »Schaffen Sie das? Dann nehme ich die Gläser und Flaschen.«
Die gespielte Empörung in seinem Blick war nicht zu übersehen. »Ich könnte dieses Tablett bei einem Pferderennen in einer Hand halten und würde kein Salatblättchen verlieren.«
»Sie nehmen an Rennen teil?« Bisher hatte sie nur gewusst, dass er stark in den Zuchtbetrieb eingebunden war.
Er brummte zustimmend. »Es ist Teil der Familientradition. Mein Vater hat früher viele Rennen gewonnen, auch im Ausland. Jeder erwartet, hin und wieder einen Lenz auf der Bahn zu entdecken.« Bei den letzten Worten hatte seine Stimme diesen herrschaftlichen Ton angenommen, der manchmal durchblitzte. Obwohl sich Julian meist locker und freundlich gab, war ihm seine Stellung bewusst – aber das war wohl einfach so, wenn man auf einem solchen Anwesen aufwuchs, und sie nahm es ihm nicht übel.
Noemi folgte ihm über den Kiesweg und hatte dabei Zeit, das lang gestreckte Haupthaus mit den weißen Säulen und den Puttenbrunnen davor aus der Nähe zu betrachten. Sie ging die Steinstufen zu der massiven Eingangstür hinauf und betrat das Innere: Marmorböden, Deckenstuck weit über ihnen und mannshohe Gemälde in verzierten Goldrahmen, die das Anwesen selbst oder Jagd- und Reitszenen zeigten. Schlagartig veränderte sich die Kulisse, wurde ruhig und erhaben, und von draußen drang kaum ein Laut herein. Zwei Blumenbuketts auf dem Beistelltisch, der größer war als die Essecke in Noemis Wohnung, verströmten zarten Duft. Es war ein beeindruckender Anblick, aber Noemi vermisste die Gemütlichkeit, die sie von zu Hause kannte und liebte. Ein Lenz ließ sich vermutlich nicht mit Schwung auf sein Sofa fallen.
Sie brachten die Tabletts in das Empfangszimmer, wo eine Frau, die ungefähr so alt wie Noemis Mutter war, sie entgegennahm und Julian versicherte, sie würde sich um alles Weitere kümmern.
Er wandte sich wieder an Noemi. »Sie haben es gehört, wir werden hier nicht weiter benötigt. Möchten Sie vielleicht einen Blick auf die Tiere werfen? Nachher sind Sie bestimmt zu beschäftigt dafür.« Er strich sich eine Locke zurück, während sie wieder nach draußen traten.
Noemi überlegte. Wollte sie? Gestern hatte es ihr niemand angeboten, und auch, wenn sie keine Ahnung von Pferden hatte, war sie neugierig auf diese Tiere, deren Wert ihr Jahresgehalt bei Weitem überstieg. Zudem hatte Anja recht – besser, sie machte jetzt Pause und sah sich um, ehe sie den restlichen Tag am Stand verbrachte.
»Warum nicht?«
Julian deutete in Richtung der Stallungen und passte seine Schritte den ihren an. Kurz darauf drückte er einen Flügel des bogenförmigen Holztors auf und nickte der Frau zu, die in der Stallgasse auf ihren Einsatz wartete. »Es wird noch eine Weile dauern, Ella. Die Rumanns möchten vor der Vorführung über den Kauf von Corellian verhandeln; gut möglich also, dass wir ihn heute gar nicht erst für die Hauptpräsentation nach draußen führen. Du kannst dir die Beine vertreten.«
Die junge Frau richtete ihr Shirt unter dem dunklen, ab der Taille ausgestellten Jackett. »Gut, ich mach mich schnell frisch. Bleibst du so lange hier und hast ein Auge auf alles?«
»Ja, ich führe Noemi eh noch herum.«
»Wunderbar, bis gleich.« Im nächsten Moment war sie verschwunden.
»Ella ist eine unserer Stallhilfen.« Julian setzte sich in Bewegung und bedeutete Noemi, ihm zu folgen. Sanftes Schnauben begrüßte sie aus manchen Boxen, in anderen wandten die Pferde nicht einmal die Köpfe, müde vom drückenden Wetter. »Hier ist unser ganzer Stolz«, sagte Julian, blieb vor einer Box stehen und öffnete sie.
Ein hübscher Fuchs sah ihnen entgegen und schnaubte Noemi ins Gesicht. Seine Mähne war am Widerrist geflochten, und er hatte eine schmale Blesse auf der Stirn.
»Balou du Rouet ist ein internationaler Star. Bahnbrechende Erfolge und knapp zweihundert Siege und Platzierungen in der schweren Klasse. Unter seinen Nachkommen sind zahlreiche Staatsprämienstuten und gekörte Hengste.«
Noemi hob die Brauen und lachte leise. »Davon habe ich nur die Hälfte verstanden.« Sie strich Balou behutsam über die Nase. Er bewegte die Lippen, sodass sie auf ihrer Haut kitzelten, und senkte dann den Kopf.
»Er sucht vermutlich einen Apfel. Ella steckt ihm regelmäßig welche zu, er ist nämlich auch ihr Liebling. Aber erzähl das nicht meinem Vater.«
Sie wollte bereits etwas Flapsiges erwidern, als ihr auffiel, dass er zum Du übergegangen war – und wie ernst seine letzten Worte geklungen hatten. Zwar hatte er sich um einen lockeren Ton bemüht, um ihnen die Schärfe zu nehmen, es aber nicht ganz hinbekommen. Vermutlich schüchterte sein Vater sogar ihn ein.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Ich verrate nichts.« Ganz abgesehen davon, dass es vermutlich nicht zu einem Gespräch mit Friedrich Lenz kommen würde. Er wirkte stets sehr beschäftigt. Noch einmal streichelte sie Balous Stirn und fuhr zusammen, als Julian ihrem Beispiel folgte. Allerdings kam seine Hand ihrer so nah, dass er ihre Haut berührte und sanft darüberstrich.
Es war … unangenehm. Möglichst beiläufig zog sie ihre Finger zurück, doch Julian hielt sie mit einem leisen Laut fest. »Keine Sorge, Ella ist längst weg.« Seine Stimme hatte sich verändert, war weich und lockend geworden.
Noemi blinzelte verblüfft und versuchte, ihre Hand aus seiner zu befreien. Er verhinderte das mit einem Lächeln im Gesicht, das nicht mehr freundlich war, sondern verlangend und auch ein wenig überlegen. »Julian, bitte. Da hast du etwas völlig falsch verstanden.« Sie schaffte es, neutral zu klingen. Selbst jetzt dachte sie daran, dass sie das Catering-Unternehmen vertrat.
Er runzelte die Stirn. »Überspringen wir solche Spielchen.«
»Bitte?« Mit einem Ruck machte sie sich los und trat einen Schritt zurück.
»Du hast Ja gesagt, als ich gefragt habe, ob du unsere Tiere sehen willst.«
»Und das wollte ich wirklich!« Beinahe hätte Noemi gelacht, weil die Situation so absurd war. »Falls das unter Pferdemenschen ein Code für etwas ganz anderes ist, dann tut es mir leid, da kenne ich mich nicht aus. Besser, ich gehe zurück.«
Am Gangende wurde die Stalltür aufgerissen, und Ella stürmte herein. »Julian.« Sie klang außer Atem, als wäre sie gerannt. »Dein Vater braucht dich. Ich glaube, er ist ungehalten, weil er dich nicht auf dem Handy erreicht hat. Ich muss leider auch gleich wieder los, die Mertensens wollen mit mir über Golden Girl reden, und zwar jetzt.«
Noemi atmete auf – einen besseren Moment hätte Ella nicht wählen können.
»Mein Handy? Mist.« Julian schob Balou zur Seite. »Das habe ich im Haus gelassen. Geh, lass die Mertensens bloß nicht warten.«
Er klang längst nicht mehr so ruhig wie zuvor, und das bot ihr die Gelegenheit zur Flucht. »Danke für den Einblick und den Besuch bei Balou«, sagte Noemi kühl.
Er nickte lediglich und murmelte etwas, in Gedanken offensichtlich schon ganz woanders. Sie hörte, wie er hinter ihr aus der Box trat, und machte sich zunächst auf den Weg zu der außerhalb des Haupthauses gelegenen Gästetoilette, um sich ausgiebig die Hände zu reinigen.
Was war das gerade eben? Hatte sie Julian Lenz irgendwelche Signale gesendet? Aber nein, sie hatte nicht im Geringsten geflirtet und musste sich keine Schuld an der Situation geben. Ganz und gar nicht. Energisch verdrängte sie das dumpfe Gefühl im Magen, ein Gemisch aus Wut, Empörung und Fassungslosigkeit, und hielt auf den Catering-Stand zu, wo Anja noch immer beste Laune zeigte. Sie durfte nicht mehr daran denken, um sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Zum Glück hatte sich der erste Ansturm gelegt, lediglich zwei Frauen ließen sich neue Getränke reichen. Eine kleine Gruppe nippte einige Schritte entfernt an ihren Gläsern – mittlerweile war man von Champagner zu Weißwein übergegangen.
Noemi strich Uniform und Haare glatt. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.« Sie trat neben Anja und stellte fest, dass nicht nur die Tabletts mit den Pralinen geplündert waren, sondern auch die Kühlboxen mit dem Nachschub.
Anja, die ihr nur ein rasches Lächeln zugeworfen hatte, wartete, bis die beiden Frauen sich ebenfalls zu der Gruppe gesellt hatten, und zog dann einen Mundwinkel in die Höhe. Ihre Wangen waren gerötet. »Alles unter Kontrolle. Ich hätte nur nicht erwartet, dass alle so ausgehungert sind.« Sie deutete auf die abgegrasten Tische. Zwei, drei zerknüllte und eine zerrissene Serviette boten ein trauriges Bild. »Ich habe Marion angerufen und um Nachschub gebeten. Sie ist gerade in Krefeld und beeilt sich. Wenn es nach der Vorführung nichts mehr gibt, teeren und federn die uns. Sie klärt das mit Guido.«
Noemi nickte, obwohl sie am liebsten den Kopf geschüttelt hätte. Ihre Chefs berieten im Vorfeld stets ihre Auftraggeber über das Angebot, indem sie sich über das Event und die Menge der erwarteten Gäste informierten, und ein Andrang wie heute kam nur selten vor. Im Grunde hätten sie abbauen können, aber das wäre vor dem offiziellen Beginn der Veranstaltung sicherlich seltsam gewesen. »Sogar meine Pralinen sind allesamt weg«, sagte sie und stippte einen Schokokrümel mit dem Finger auf. »Da gibt’s keinen Nachschub.«
»Auch darum«, sagte Anja geheimnisvoll, zwirbelte ihren blonden Zopf und hob die Augenbrauen, »habe ich mich gekümmert.«
Noemi drehte sich noch einmal um, als hätte sie ein volles Tablett übersehen. »Ich verstehe nicht, was du …« Sie blinzelte, als von der Einfahrt her eine Gestalt auf sie zueilte und wild winkte. Mit ihrem knalligen Sommerkleid in Pink, Lila und Orange hob sie sich von den edlen gedeckten Farben der anderen Gäste ab. Noemis Hirn stotterte, als hätte es einen Anlasser, der soeben versagte. Natürlich erkannte sie die Frau, hatte sie aber niemals hier erwartet. »Tante Elisa?«
Ein Lachen aus von zahllosen Falten umkränzten knallrot geschminkten Lippen war die Antwort und hallte so laut durch die Luft, dass sich manche Gäste umblickten. »Mädchen!« Elisa winkte noch einmal, obwohl sie den Stand beinahe erreicht hatte – so als würde sie in Betracht ziehen, dass Noemi und Anja überraschend kurzsichtig geworden waren. »Rettung ist da!«
Mit ihrer sympathischen Art und den bunten Sachen wirkte sie wie jemand, der sich von einem Hippiemarkt auf das Gut verirrt hatte. Sie schleppte eine ihrer immensen Basttaschen mit sich herum, die sie selbst anfertigte, wenn sie mal etwas anderes sehen wollte als ihre Küche – auch wenn die eindeutig Elisas liebster Ort war. Noemi kannte keinen Menschen, der noch lieber und länger Schokolade rühren und sich über Pralinenfüllungen und -verzierungen Gedanken machen konnte.
So wie Nonna Rosa, dachte sie mit einer gehörigen Portion Wehmut. Die Beerdigung war nun sieben Monate her, und noch immer verging kaum ein Tag, an dem sie sich nicht an ihre Großmutter erinnerte. Jedes Mal, wenn sie Pralinen herstellte, hatte sie Rosas Stimme im Ohr, die ihr sagte, wie sie die Ganache noch cremiger hinbekam oder die Schokolade noch schöner glänzen lassen konnte. Sie vermisste sie jeden Tag, wusste aber, dass ihre Nonna niemals gewollt hätte, dass Trauer sie lähmte. Ihr italienisches Temperament hatte sich Rosa bis zu ihrem Tod erhalten, und sie war stets sehr überzeugend gewesen – wenn sie etwas wollte, hatte man es ihr nur schwer abschlagen können.
Der Herzinfarkt war für die gesamte Familie überraschend gekommen, aber Noemi wusste genau, dass Rosa auch daran etwas Positives gefunden hätte.
Immerhin ist sie nun wieder mit Opa Gerd vereint.
Die Frau, mit der sie unzählige Male in der Küche neue Pralinenrezepte ausprobiert und die ihr die ersten Ohrlöcher gestochen hatte, stand nun vor ihr. Tante Elisa war nicht Noemis echte Tante, aber über all die Jahre Nonna Rosas beste Freundin gewesen und schon seit Noemis Geburt Teil ihres Lebens.
»Was tust du hier?« Sie deutete auf die Tasche, ahnte aber bereits, was es damit auf sich hatte.
Elisa zuckte die Schultern und lachte wieder, wobei sie ihr dunkles Haar fliegen ließ. Es war so lang wie Noemis, asymmetrisch geschnitten und an den Spitzen aufgehellt. Nur wenn man genau hinsah, entdeckte man den schlohweißen Ansatz, denn Elisa legte viel Wert auf ihre Erscheinung. »Wenn ich mir Mühe gebe, sehe ich noch immer aus wie siebzig«, sagte sie stets und hatte vollkommen recht damit. Niemand würde glauben, dass sie beinahe achtzig war.
Jetzt hob sie die Tasche hoch in die Luft, um sie dann auf dem Tisch abzustellen. »Anja hat mich angerufen, als du im Haus beschäftigt warst.« Sie hielt inne, beugte sich vor und legte ihr beide Hände auf die Schultern. »Ist alles in Ordnung, Emi? Geht es dir gut? Du siehst aus, als hätte ich dich mit Schmuggelware in der Tasche erwischt.« Sie warf der Gruppe in der Nähe einen Blick zu. »Keine Sorge«, flüsterte sie verschwörerisch. »Ich will nur die Pralinen abliefern, dann entschwinde ich wieder dieser Tristesse aus gelangweilter Stimmung und all diesen schrecklichen Brauntönen auf einem Haufen. Das schmerzt ja geradezu in den Augen.« Sie zog eine Plastikbox heraus und stellte sie mit Schwung vor Noemi ab. »Hier, die habe ich heute Morgen frisch gemacht und schön kühl gehalten an diesem Tag, der uns beweisen will, dass sich Luft wie Suppe anfühlen kann. Tja, und dann ruft diese hübsche junge Dame an«, sie drehte sich um und entlockte Anja ein Lächeln, indem sie ihre Wange streichelte, »und erzählt mir, dass ihr es hier mit sehr hungrigen Mäulern zu tun habt. Wie gut, dass das Schicksal immer auf uns alle achtet!« Sie küsste ihre Fingerspitzen und streckte sie gen Himmel, als sei der Gruß für all die Geister bestimmt, an die sie glaubte.
Wie so oft reihte sie in ihrer typischen Art unterschiedlichste Themen aneinander – manchmal so atemberaubend schnell, dass ihr Gegenüber nicht mitkam. Früher war sie dabei öfter ins Italienische verfallen. Als Kind hatte Noemi neugierig nachgefragt, was die fremden Wörter bedeuteten, und so ihren ersten Sprachunterricht erhalten. Es hatte ihr gefallen, sich an manchen Tagen mit Nonna Rosa und Elisa in der Sprache ihrer Heimat zu unterhalten. Anfangs noch holprig, doch schon nach kürzester Zeit hatte es wunderbar geklappt. Nonna hatte darauf bestanden, dass ihre Enkelin regelmäßig übte, und sich eine ganze Weile sogar geweigert, mit ihr Deutsch zu reden. »Dafür ist Gerd zuständig«, hatte sie gesagt.
Noemis Opa war wenige Wochen nach ihrer Einschulung gestorben, bei der er es sich nicht hatte nehmen lassen, ihr die Schultüte in die Hand zu drücken, mit bereits zittrigen Fingern, auf denen die Haut zu blass geworden war. Mit den Jahren waren die Gespräche auf Italienisch immer weniger geworden, aber hin und wieder hatten Rosa und Elisa verkündet, dass es Zeit für einen Auffrischungskurs sei, wie sie es genannt hatten.
Elisa stammte wie Rosa aus Italien – Nonna aus Bondeno, einem kleinen Ort zwischen Padua und Bologna, Elisa aus der Hafenstadt Chioggia. Zwar hatte sie nicht wie Rosa einen deutschen Mann kennengelernt, dem sie in seine Heimat gefolgt war, aber sie hatte Abenteuer stets geliebt. Auf Deutschland war sie neugierig gewesen, als es ihre beste Freundin dorthin verschlug, und es hatte ihr bei ihren Besuchen gefallen, also war sie eines Tages geblieben und hatte sogar geheiratet, sich aber nach einigen Jahren wieder von ihrem Mann getrennt. Sie redete kaum über ihre Ehe und war seitdem Single geblieben.
»Denkst du, das geht in Ordnung?« Noemi warf Anja einen Blick zu. Natürlich würden Elisas Pralinen großartig sein, daran hegte sie keinen Zweifel, aber schließlich unterlagen sie als Cateringfirma Richtlinien zur Qualitätssicherung, die von der Herstellung bis zum Servieren einzuhalten waren.
Anja zuckte die Schultern. »Bei dem Appetit der Gäste wird es eher einen Skandal geben, wenn die Pralinenteller leer sind. Ich würde sagen, dass dieser Nachschub einfach unser kleines Geheimnis bleibt.« Sie arbeitete schon lange für die Ingmanns und wusste, was sie tat.
Noemi fing Elisas verschwörerischen Blick auf und atmete insgeheim auf. »Also gut. Danke, du bist großartig«, sagte sie und hauchte Elisa einen Kuss auf die Wange. »Was hast du dabei?« Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass die Pralinen den Anforderungen von Catering Ingmann entsprachen, schließlich hatte sie alles, was sie über die Herstellung wusste, von Elisa und Nonna Rosa gelernt.
Elisa lachte und strich ihr über die Wange, ehe sie eine zweite Plastikdose zutage förderte. »Einmal natürlich Mandelpralinen, dann Irish Cream und Honigtrüffel. Schließlich …«
»… gibt es den besten Honig der Welt in Italien, und daher bestellst du dort jedes Jahr ein Glas«, beendete Noemi grinsend den Satz. Sie nahm einen der Deckel ab und schnupperte. Voll und dunkel drang das Aroma von Waldhonig an ihre Nase. Mit einer Zange reichte sie Anja eine Praline. »Hier, bitte. Wir brauchen eine Vorkosterin.«
Anja biss ein Stück ab, wartete eine Weile, bis sich die Schokolade im Mund verteilt hatte, und nickte. »Wow!« Ihre Augen strahlten. »Ich glaube, wir werden unsere Gäste sehr glücklich machen. Elisa, Sie sind unsere Rettung, wenn es um den Nachtisch geht.«
Noemi kostete ebenfalls und schloss die Augen, als sich die herbe dunkle Schokolade mit der Süße des Honigs verband. Die Ganache im Inneren war herrlich cremig. Anja hatte recht, die Gäste würden den Nachschub vermutlich ebenso lieben wie sie. »Wie immer wundervoll. Danke, du bist ein Schatz.« Sie griff nach Elisas Händen und drückte sie leicht, während Anja bereits die Mandelpralinen probierte.
»Schie schmecken auch schuper, genau wie deine«, nuschelte sie und machte sich daran, ein Tablett zu säubern und neu zu bestücken.
Elisa zwinkerte Noemi zu; ihre Augen strahlten. »Ich habe mir gedacht …« Sie stieß einen kleinen Schrei aus und fuhr herum, als es hinter ihnen krachte. Dann direkt noch einmal, als würde etwas gegen eine Wand prallen. Die Geräusche kamen aus den Stallungen, gefolgt vom schrillen Wiehern mehrerer Pferde.
In die Gruppe, die den Cateringstand verstohlen beobachtet hatte, kam Unruhe. Die beiden Frauen mit den extravaganten Hüten wichen zurück, in der nächsten Sekunde flog das große Tor auf, und etwas raste aus dem Stall in die drückende Schwüle des Sommers. Nun schrien mehrere Leute, jemand ließ ein Glas fallen, und Noemi beobachtete, wie sich die Splitter mitsamt der Flüssigkeit in Zeitlupe auf dem Kopfsteinpflaster verteilten. Erst dann hob sie den Kopf.
Ein Pferd galoppierte mit erhobenem Schweif über den Hof, ließ die Zierhecken und -büsche am Rand mit einem eleganten Sprung hinter sich und verschwand zwischen den Bäumen. Noemi holte erschrocken Luft, kniff dann aber die Augen zusammen. War das etwa Balou gewesen?
Die Gruppe drehte sich und folgte ihm mit Blicken, die Münder offen und die Hände erhoben, als würden sie das Tier im Nachhinein aufhalten wollen. Die Art, wie es stolz den Kopf gehalten hatte, wies auf seinen Wert hin.
Einige Sekunden lang schien die ganze Szenerie wie erstarrt, dann setzte Gemurmel ein. Die Frau mit dem größten Hut fluchte äußerst undamenhaft, während sie über ihr Kleid strich, und der Mann neben ihr rief etwas in Richtung Stall.
»Was bei allen Gutsherren war das?«, murmelte Anja.
Tante Elisa räusperte sich. »Eindeutig ein Pferd. Und ich vermute sehr, sein kleiner Ausflug war so nicht geplant. Es sei denn, es ist hier üblich, dass Pferde wie Hofkatzen kommen und gehen, wann sie wollen.«
Noemi atmete langsam aus und wischte sich über die Stirn. In den vergangenen Sekunden war ihr noch wärmer geworden. Sie war recht sicher, dass es Balou gewesen war, der ganze Stolz des Guts, und dachte an den hektischen Aufbruch zuvor. Hatte Julian in der Eile die Box nicht richtig geschlossen? Sie wollte etwas erwidern, aber dann entdeckte sie jemanden an den Stallungen. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt; das blonde Haar lag nicht mehr so ordentlich wie zuvor, und selbst auf die Entfernung erkannte sie den Schock in den Gesichtszügen.
Julian Lenz war blass geworden – und er fuhr zusammen, als ein donnernder Bariton das Szenario übertönte.
»Was ist hier los?«
Sein Vater, Friedrich Lenz, war eine Naturgewalt. Nicht nur seine Stimme und seine hochgewachsene Gestalt, sondern auch und vor allem seine nahezu militärischen Gesten. Sicherlich stand die arme Ella in der Stallgasse stramm, wenn er auftauchte.
Jetzt trat er mit langen, harten Schritten neben seinen Sohn. »Julian!« Entweder schien er nicht zu bemerken, dass er mit seinem Auftritt sämtliche Aufmerksamkeit an sich riss, oder es war ihm gleichgültig. »War das etwa Balou, der sich selbstständig gemacht und womöglich dort draußen verletzt hat?« Die unterschwellige Aussage war deutlich: Der Wert des preisgekrönten Tiers durfte nicht geschmälert werden.
Es war nicht zu übersehen, wie sehr sich Julian Lenz innerlich wand. Die Schuld war ihm ins Gesicht geschrieben. Doch dann presste er die Lippen aufeinander, hob den Kopf und … blickte zum Cateringstand. »Was haben Sie getan, Noemi?«
Sämtliche Köpfe wandten sich zu ihnen um, und Noemi erstarrte.
»Was soll das?«, flüsterte Anja und trat näher an Noemi heran.
Sie wollte ihr antworten, dass sie es nicht wusste, brachte aber keinen Ton heraus. Ein ungutes Gefühl kribbelte in ihrem Nacken und sorgte dafür, dass sich die Härchen dort aufstellten.
Mittlerweile hatten Friedrich und Julian Lenz den Weg zum Cateringstand halb zurückgelegt. »Ich habe Sie vorhin aus dem Stallgebäude kommen sehen, Frau Wittkamp«, rief Julian so laut, dass es alle hörten, »und Sie gebeten, die Pferde vor der Präsentation nicht zu stören. Sie sagten, Sie wären nur in der Gasse gewesen und hätten keine der Boxen geöffnet.«
Das konnte einfach nicht wahr sein! Noemis Mund klappte auf, und sie suchte nach Worten, um dieser Geschichte die Tatsachen entgegenzusetzen. Aber sie war zu perplex.
Was Julian Lenz weiter ausnutzte. »Sie haben offenbar gelogen.« Er deutete in die Richtung, in der Balou verschwunden war. »Dieses Tier ist unheimlich wertvoll, das ist Ihnen vermutlich nicht bewusst.«
Das weiß ich. Das hast du mir gesagt, als du ihn mir gezeigt hast. Ehe du mehr versucht hast. Und das ist nun die Rache, weil ich nicht wollte.
»Das weiß ich«, stotterte sie. »Das …«
Friedrich Lenz trat vor und schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Das hier ist keine Bar, in der man sich nach Herzenslust danebenbenehmen kann! Sie haben Hausfriedensbruch begangen und großen Schaden angerichtet, und das wird ein Nachspiel haben, glauben Sie mir. Wir können nur hoffen, dass meine Angestellten das Tier schnell zurückbringen.« Er ähnelte Julian mit dem kantigen Gesicht und dem hellen Haar, nur strahlte er eine eisige Kälte aus.
Noemi wurde rot, als sie die Blicke sämtlicher Anwesenden spürte. Aber sie brachte keinen Ton mehr hervor. Dann berührte Anja ihre Hand und riss sie aus ihrer Schockstarre. Hastig schüttelte sie den Kopf. »Ich war nicht allein im Stall, und das wissen Sie genau, Julian.« Ihre Stimme war nicht so fest, wie sie es sich gewünscht hätte. »Nachdem wir die Tabletts ins Haus gebracht hatten, wollten Sie mich herumführen. Sie haben den Stall nach mir verlassen und die Box geschlossen.« Sie beschloss, das entscheidende Detail zu verschweigen – ihr würde eh niemand glauben, wenn ihr Wort gegen Julians stand. Damit würde sie sich nur lächerlich machen.
Als sich sein Vater noch immer voller Zorn zu ihm umdrehte, lachte Julian hart auf. »Sie lügt.«
Seine Worte schienen die Stille um sie herum noch zu vertiefen. Empörung flackerte in Noemi auf und schickte eine unangenehme Hitze durch ihren Körper, die sich in ihren Wangen sammelte. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, ihn gefragt, wie er es wagen konnte. Im Augenwinkel sah sie, wie einige Gäste die Köpfe schüttelten, dann setzte Getuschel ein.
Noemi atmete tief durch und wünschte sich, ihre vor Wut zitternden Hände beschäftigen zu können. Doch sie wollte nicht schuldig oder ertappt wirken, also bemühte sie sich, locker stehen zu bleiben. »Das tue ich nicht. Fragen Sie Ihre Angestellte. Ella.« Sie versuchte, Julians Blick einzufangen, doch er ignorierte sie.
»Ich werde wohl eher meinem Sohn glauben als Ihnen«, sagte Friedrich Lenz. »Solange Sie keine Doppelgängerin besitzen, die sich heute ebenfalls auf unserem Gut aufhält, ist die Sache eindeutig und wird Konsequenzen nach sich ziehen.«
Damit stand das Wort des wohlhabenden Sohns gegen das einer Catering-Angestellten, und sie hatte von vornherein verloren. Fassungslos starrte sie Julian an. Wie hatte sie sich nur so in ihm täuschen können? Er hatte nicht mal das Rückgrat, um einen Fehler zuzugeben, da er den Zorn seines Vaters fürchtete.
Sie zuckte zusammen, als sich neben ihr etwas bewegte. Tante Elisa trat vor den Stand und schirmte Noemi teilweise vor den Blicken der anderen ab. »Da liegt ein Missverständnis vor«, sagte sie laut und deutlich. Wie immer, wenn sie aufgebracht war, verstärkte sich ihr italienischer Akzent, der während all der Jahre in Deutschland beinahe verschwunden war. »Ich kenne Noemi schon ihr ganzes Leben. Wenn sie sagt, sie war es nicht, dann ist das so.«
Noemi griff nach Elisas Hand. »Ist schon gut«, flüsterte sie. Besser, sie traten diesen Vorfall nicht in der Öffentlichkeit breit.
Friedrich Lenz gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen Bellen und Schnauben lag, und deutete zum Haus. »Das klären wir drinnen.« Er wischte sich über die Hose. »Aber erst werden Julian und ich uns um Balou kümmern, sobald er zurückgebracht wurde. Anschließend will ich Sie von meinem Grundstück wissen.« Er stieß seinen Sohn an, der sich sofort auf den Weg zum Stall machte, und wandte sich an die Gäste. »Ich entschuldige mich für diese Unannehmlichkeiten, kann Ihnen aber versichern, dass dies keine Auswirkungen auf unser Tagesprogramm haben wird. Allerhöchstens wird es eine kleine Verzögerung geben.« Er deutete zur Seite. »Bitte trinken Sie noch etwas, wir werden Sie informieren, sobald es losgeht.«
Die Leute nickten, manche musterten noch einmal Noemi – verstohlen oder ganz offen. Doch in ihren Gesichtern las sie bereits, dass Julian Lenz gewonnen hatte.
»Hast du noch einmal mit deinen Chefs gesprochen?«
Tante Elisa drehte die Zitronenhälfte bei jeder Silbe über die Presse, so fest, dass feine Safttropfen herausstoben.
Noemi nahm das Brett mit der weißen Kuvertüre, die sie klein gehackt hatte, und brachte etwas Abstand zwischen sich und die erboste Frau. »Ex-Chefs. Ich arbeite nicht mehr für die Ingmanns.«
Sie horchte zunächst den eigenen Worten nach, dann den Empfindungen, die sie in ihr auslösten. Ja, sie bedauerte ihren Rauswurf, und natürlich war sie wütend auf Julian Lenz – weil er sie benutzt hatte, um seinen Fehler zu vertuschen und sich für die vermeintliche Kränkung zu rächen –, aber ein Teil von ihr zuckte auch die Schultern und sagte sich, dass weit schlimmere Dinge geschehen konnten, als sich einen neuen Job suchen zu müssen. Es hatte ihr im Catering gefallen, aber vor allem, da die Ingmanns ihren Angestellten vertraut und ihnen freie Hand gelassen hatten. In ihrem letzten Gespräch hatten sie mehrmals bedauert, dass Noemi gehen musste, und betont, dass sie ihr glaubten, aber sich nicht leisten konnten, einen wichtigen Kunden wie die Familie Lenz zu verlieren. Vor allem, weil es nicht bei dem Gutshof bleiben würde. Der alte Lenz besaß viel Einfluss, auch über die Region hinaus, und wenn sich der Vorfall herumsprach und der Name Ingmann beschmutzt wurde, wäre das ein ernsthaftes Problem für das Geschäft. Noemi hatte es verstanden und sich gesagt, dass sie den Job ohnehin nicht auf Dauer hatte machen wollen. Für ein Intermezzo von einem, vielleicht zwei Jahren war er ideal gewesen, um neue Erfahrungen zu sammeln und Kontakte zu knüpfen, und mit ihren Kolleginnen hatte sie sich gut verstanden. Danach wollte sie weitersehen. Noch hatte sie keine genaue Vorstellung, aber sie wollte auf jeden Fall in ihrem Metier bleiben. Vielleicht bei einem Onlineservice. Schließlich taten sich stets neue Wege auf.
Elisa schnaubte und hob den Kopf. Ihre dunklen Wimpern verliehen dem Funkeln in ihren Augen eine düstere Note. »Wenn die Ingmanns noch einmal über diese lächerliche Geschichte nachdenken, dann werden sie dich zurückhaben wollen und diesem Jüngling die Meinung geigen. Offenbar hat er keine Erziehung genossen, und seine Eltern sollten froh sein, wenn jemand dieses Defizit ausgleicht und ihm sagt, wo es langgeht.« Sie legte die Zitronenhälfte hin und schnappte sich die nächste.
Noemi schob die Schokoladensplitter auf dem Holzbrettchen mit dem Messer beiseite und griff nach dem nächsten Stück. »Du weißt doch, wie das ist. Es geht nicht um die Wahrheit, sondern um den Schein. Das Ansehen. In der Welt von Lenz und Co. ist es mit das Wichtigste, und die Cateringfirma muss sich anpassen, um Aufträge zu bekommen. Glaub mir, ich ärgere mich ebenso sehr wie du darüber, dass Julian damit durchkommt. Immerhin ist dem Pferd nichts geschehen.«
Die nächste Zitronenhälfte flog in die Spüle, und Elisas Haare wippten, als sie sich die letzte nahm. »Genau deshalb ist es angebracht, da einmal auf den Tisch zu hauen. Die Ingmanns …«
»Sind nicht in der Position dafür«, sagte Noemi sanft und wartete, bis Elisa den Zitronensaft noch einmal abgemessen und in die Schüssel auf dem Wasserbad gefüllt hatte. Behutsam trat sie neben sie und schob die weißen Splitter nach und nach mit dem Messer hinein. »Ehrlich gesagt möchte ich nicht in ihrer Haut stecken. Das Hauen und Stechen ist in den gehobenen Kreisen noch mal schlimmer.«
»Kein Wunder«, sagte Elisa düster und rührte das Gemisch behutsam um. Erste Schokoladensplitter schmolzen am Rand der Schüssel, und ihr volles Aroma vermischte sich mit dem fruchtigen der Zitrone. »Die haben ja auch den ganzen Tag nichts zu tun, nachdem sie den Gärtner beaufsichtigt und sich durch die neuesten Klatschkolumnen gelesen haben. Da wird wegen jedem Kinkerlitzchen zum Telefon gegriffen und getratscht.«
Noemi schnalzte mit der Zunge. »Haben wir da etwa Vorurteile?« Sie stupste Elisa an, woraufhin sich deren Schultern eine Winzigkeit lockerten. »Komm schon, es passt gar nicht zu dir, so verbittert zu sein.« Sie deutete auf Elisas Schürze, wo Blumen und Schmetterlinge den Schriftzug Bunt ist meine Lieblingsfarbe zierten. Ihre eigene war einer Schokoladentafel nachgestaltet und verkündete: Solange Kakaobohnen auf Bäumen wachsen, ist und bleibt Schokolade für mich Obst. »Außerdem hast du mir immer gesagt, dass man niemals in schlechter Stimmung Pralinen machen soll, da sich das Bittere sonst im Geschmack festsetzt. Also. Möchtest du, dass unsere Zitronentrüffel misslingen?«
Beide blickten in die Schüssel, wo sich die Schokolade weiter im Saft auflöste.
»Ich ärgere mich eben an deiner Stelle«, sagte Tante Elisa schließlich, griff nach der silbernen Pralinenzange mit dem geschwungenen Griff und dem Rosenmuster, mit der Noemi schon als Kleinkind gespielt hatte, betrachtete sie nachdenklich und legte sie wieder zurück. »Weil dich das alles so kaltlässt, Emi.«
»Das tut es nicht. Aber ich weiß, dass ich nichts an der Situation ändern kann, und versuche, das Ganze positiv zu sehen. So wie Nonna es tun würde.«
Die Erwähnung von Rosa zauberte endlich ein Lächeln auf Elisas Gesicht. »Bevor deine Nonna eine Familie gegründet hat, hätte sie einen solchen Rausschmiss zum Anlass genommen, um wieder auf Tour zu gehen. Sie hätte ihren Rucksack gepackt, wäre losgezogen und irgendwo einige Wochen geblieben.« Die Worte klangen so liebevoll, dass Noemi einen feinen Stich in der Herzgegend spürte. Es stimmte, Rosa war in ihrer Jugend öfter aufgebrochen und länger geblieben als geplant, weil sich spontan etwas ergeben oder sie sich schlicht in die Landschaft verliebt hatte. So hatte sie zwei Wochen statt nur ein Wochenende im Fischerdorf Manarola verbracht, weil die Häuserreihen in Pastellfarben sie so fasziniert hatten. Einmal hatte sie für knapp ein Jahr in einer WG in Venedig gelebt, bei Freunden, weil ein Zimmer frei geworden war. Sie hatte in einem Café gejobbt, sich in die Stadt verliebt und war erst ausgezogen, als der ursprüngliche Bewohner ihres Zimmers von seinem Auslandsstudium zurückgekehrt war. Nonna war so voller Leben gewesen, bis …
Noemi blinzelte mehrmals, um die Erinnerung an den schrecklichen Tag vor über sieben Monaten zu verdrängen, als ihr Vater sie angerufen und ihr mit tränenerstickter Stimme mitgeteilt hatte, dass seine Mutter einem Herzinfarkt erlegen war. Es war wie aus dem Nichts gekommen. In der einen Minute hatte Nonna Rosa auf dem Markt mit Herrn Gunder vom Obst- und Gemüsestand geplaudert, in der nächsten hatte sie über Schwindel geklagt und war wenig später zusammengebrochen, die Tüte mit einem Salatkopf und Tomaten noch fest in der Hand. Der Krankenwagen hatte nicht einmal zehn Minuten gebraucht, war aber trotzdem zu spät gewesen. Ihr Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Dabei hatte Rosa nicht geraucht, nur hin und wieder Alkohol getrunken und sich für ihr Alter viel bewegt.
Ihr Tod hatte eine riesige Lücke in die Familie gerissen, die sich niemals wieder füllen lassen würde.
Diese Erinnerung schmeckte fahl. Vorsichtig rührte Noemi die Schokoladenmischung um und schluckte energisch, bis der Kloß in ihrem Hals verschwand. Zu ihrem Leidwesen bildete er sich oft, wenn sie Elisas gemütliche Wohnung in einem kleinen Hinterhaus in der Meineckestraße im Düsseldorfer Stadtteil Golzheim betrat, weil sie beinahe erwartete, dass auch Rosa aus der Tür kam, um sie zu begrüßen. Aber Elisa verscheuchte den Anflug von Wehmut stets mit einer ihrer Umarmungen, die ein ganzes Dorf umfassen konnten. Heute hatte sie Noemi in eine Diskussion über die Pralinensorten verwickelt, die sie für ihr Backtreffen ausgesucht hatte, kaum dass sie die Schuhe ausgezogen hatte.
Noemi dachte an Elisas letzte Bemerkung; dass Rosa nach einem Rauswurf etwas gänzlich Neues getan hätte. »Du hast recht. Sie wäre losgezogen, um frische Eindrücke zu sammeln. Und …« Sie machte eine Pause und breitete die Arme aus. »Ich werde ihrem Beispiel folgen.«
Elisa zog die akkurat gezupften Augenbrauen in die Höhe, bis sie Dreiecken ähnelten. »Was hast du vor?«
»Ich habe gestern Abend mit Lea telefoniert und ihr alles erzählt. Sie hat mir angeboten, sie in Venedig zu besuchen, und ich halte das für eine gute Idee. Immerhin haben wir es nach der Beerdigung so besprochen, weißt du noch?«
Welch eine Frage! Keine von ihnen würde diese Stunden jemals vergessen. Noemi, ihre Eltern und Elisa hatten sich in Rosas Wohnung getroffen und beratschlagt, wie sie weiter vorgehen wollten. Elisa hatte Mandelpralinen mitgebracht, weil es Rosas liebste Sorte gewesen war, und Noemi Kaffee in einem großen Spender, den sie sich von Ingmanns geliehen hatte. Sie hatten geredet, waren von Rosas persönlichen Sachen auf Rosa selbst gekommen und Jahr um Jahr in der Zeit zurückgereist. Irgendwann war die Idee entstanden, Rosas mit einem Besuch in ihrer alten Heimat zu gedenken, doch bislang hatten ihre Jobs, der Umbau des Hauses von Noemis Eltern und generell ihre Terminpläne dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber zumindest für Noemi gab es jetzt keinen Job mehr, sondern freie Zeit, die sie füllen konnte. Momentan wusste sie noch nicht, womit, aber mit etwas Glück würde ihr die Reise auch helfen, einen Plan für sich zu entwickeln. Sie konnte ihre Nonna nicht mehr um Rat fragen, so wie früher. Vielleicht sah sie die eigene Zukunft klarer, wenn sie sich auf Rosas Spuren begab; vielleicht würde sie dann wissen, was Nonna ihr gesagt hätte.
»Also setze ich unser Vorhaben endlich in die Tat um und fahre nach Italien.« Triumphierend sah sie Elisa an. »Weißt du noch, wie Nonna immer gesagt hat, man solle in die Fremde gehen, wenn man sich selbst finden will? Damals habe ich das nur für einen Spruch gehalten, aber mittlerweile glaube ich, sie hatte recht.«
Elisa runzelte die Stirn. »Wenn du keine Lust mehr hast, umzurühren, lass mich das tun.«
Noemi machte sich wieder an die Arbeit. »Ich habe auf den richtigen Augenblick gewartet, um dir die Neuigkeiten zu verraten. Es passt perfekt, nicht wahr? Außerdem ist es schon fast ein Jahr her, dass sich Lea und Enrico die Wohnung in Venedig gekauft haben, also viel zu lange.«
Ihre beste Freundin vermisste sie fast ebenso sehr wie ihre Nonna. Und wenn ihr Rosas Tod eines gezeigt hatte, dann, dass man nicht allzu lange warten sollte, um Menschen, die man liebte, endlich wieder in die Arme zu schließen.
Sie kannte Lea seit der fünften Klasse; sie hatten sich fast sofort angefreundet und waren seitdem nicht mehr aus dem Leben der jeweils anderen wegzudenken. Lea hatte Enrico getroffen, als ihre Firma ihn für eine Beratung im agilen Projektmanagement anheuerte, und sich innerhalb weniger Monate in ihn verliebt. Vor über einem Jahr hatten sie geheiratet und sich kurz darauf eine Wohnung in seiner Heimatstadt Venedig gekauft. Lea konnte von dort aus weiter für ihre Düsseldorfer Firma arbeiten, war glücklich an der Seite ihres Mannes und hoffte, bald ein Baby in den Armen halten zu können – dann wäre alles so, wie sie es schon vor Jahren geplant hatte.
Noemi kannte niemanden, dessen Pläne so ausgefeilt waren wie Leas.
Elisa drehte an einer ihrer großen bunten Creolen. »Wo hast du den Puderzucker hingeräumt? Emi, du machst mich ganz wirr im Kopf.«
»Hast du mir zugehört? Einen besseren Moment für einen Besuch in Venedig werde ich wohl kaum finden, jetzt, wo ich Zeit habe.«
»Ja, die hast du«, murmelte Elisa. »Ich verstehe noch immer nicht, warum du diesen Lenz damit durchkommen lässt.« Sie rührte die Mischung um, bis die gesamte Schokolade geschmolzen war.
Noemi runzelte die Stirn. »Ist etwas?«
»Nein, natürlich nicht, mein Mädchen. Ich konzentriere mich nur auf unsere Arbeit.« Sie hielt die Nase über die Schüssel und schnupperte. In dieser Hinsicht waren sie und Nonna Rosa sich sehr ähnlich gewesen – mit dem Unterschied, dass sich Elisa mehr Zeit nahm. Sie hielt öfter inne, um zu probieren, die Konsistenz zu prüfen oder sich am Glanz der Ganache zu erfreuen, und widmete sich stets einem Rezept nach dem anderen. Rosa dagegen hatte in ihrer fröhlichen Art oft mehrere Sorten Pralinen parallel hergestellt und die Wartezeiten innerhalb eines Rezepts dafür genutzt, um das nächste zu beginnen. Elisa hatte ihr hin und wieder vorgeschlagen, doch lieber einen Marathon zu laufen, wenn sie es nicht schaffte, auch nur eine Sekunde stehen zu bleiben und die Hände stillzuhalten, aber Rosa hatte nur gelacht.
Jetzt füllte Elisa die Mischung mit ruhigen Bewegungen in eine andere Schüssel, deckte sie mit Folie ab und stellte sie in den Kühlschrank. Später würden sie die Masse sowie Butter aufschlagen und nach und nach vermengen, um dann die Pralinen daraus zu formen. Bis dahin blieben ihnen mehrere Stunden, die sie bereits verplant hatten.
Noemi zuckte die Schultern. Aus irgendeinem Grund wollte Elisa nicht über ihre Venedigpläne reden, aber vielleicht machte ihr die Vorstellung wegen Rosa zu sehr zu schaffen. Also begann sie, die Gerätschaften zu säubern und in die Spülmaschine zu befördern, während Elisa die übrig gebliebenen Zutaten verstaute. Dann startete sie einen letzten Versuch. »Ich fahre heute Abend bei meinen Eltern vorbei und hatte überlegt, einen Schwung Pralinen mitzubringen.« Sie nickte in Richtung der bunten Dosen, die sich auf dem Regal reihten.
Elisa lachte. »Du willst sie bestechen, wenn du ihnen von deinen Plänen erzählst.« Nun wirkte sie wieder ganz normal.
»Zumindest Mama. Papa kommt erst morgen von seinem Auftrag zurück.« Noemi hielt inne. »Du weißt, was sie sagen wird: dass ich erst hier alles regeln und mir einen neuen Job suchen soll, ehe ich Urlaub machen kann.« Dabei ging es ihr nicht darum, die Füße hochzulegen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Vielmehr wollte sie die Zeit bis zur nächsten Anstellung nutzen, um aufzuatmen und sich zu überlegen, wie ihre Zukunft aussehen sollte.
Mal wieder.
Erschreckenderweise hatten diese beiden Worte in ihrem Kopf den vorwurfsvollen Klang, den ihre Mutter später vermutlich anschlagen würde, und sie wischte energischer, um nicht weiter daran zu denken. Ein Teil von ihr glaubte fest daran, dass Dinge aus einem bestimmten Grund passierten und das Leben es ihr nicht absichtlich schwer machte. Es ging nicht darum, möglichst vielen Stolperfallen auszuweichen oder nicht über Hindernisse zu straucheln und dabei stur weiter geradeaus zu laufen, sondern darum, den passenden Weg zu finden, auch wenn man dafür manchmal die eine oder andere Kurve mitnehmen musste.
»So, ich bin hier fertig«, sagte sie und wusch sich die Hände. »Wie sieht es aus, wollen wir jetzt sofort zum Friedhof?«
Tante Elisa nickte, band ihre Schürze ab und hängte sie an den Haken neben der Tür. »Natürlich. Du glaubst doch nicht, dass du nur zum Pralinenmachen hergekommen bist.« Sie zwinkerte, aber wie immer, wenn es um Nonna Rosa ging, wollte die Fröhlichkeit nicht so recht durchkommen.
Noemi verstand das. Elisa hatte niemals eine eigene Familie gegründet. Nachdem sie Rosa nach Deutschland begleitet hatte, hatte sie Klaus kennengelernt, einen Freund von Opa Gerd, und ihn schließlich geheiratet. Er war auf Baustellen im ganzen Land unterwegs und nur selten zu Hause gewesen, und er und Elisa trennten sich, noch ehe Noemi die Grundschule hinter sich gebracht hatte. Sie redete nur selten über ihn, und Noemi fragte sich manchmal, ob er einen Teil ihres Herzens mitgenommen und sie sich daher nie wieder für längere Zeit gebunden hatte.
»Wozu denn auch, wenn ich doch euch habe«, hatte sie stets gesagt. Zwar war sie kein Kind von Traurigkeit und im Laufe der Jahre mit einigen Männern ausgegangen – meist Künstler oder Hobbyphilosophen –, doch eine ernsthafte Beziehung war für sie nicht mehr infrage gekommen. »Ich habe keine Zeit für so etwas«, hatte sie einmal gesagt.
Früher hatte Noemi nie länger darüber nachgedacht und war einfach nur froh gewesen, dass es mit Elisa einen weiteren geliebten Menschen in ihrem Leben gab. Doch jetzt, mit der Lücke, die Nonna Rosa hinterlassen hatte, fragte sie sich manchmal, ob Elisa trotz all ihrer Hobbys, Termine und Bekannten einsam war.
Einer spontanen Eingebung folgend, trat sie zu ihr und umarmte sie. Zunächst reagierte Elisa nicht, dann legte sie die Hände auf Noemis Rücken und tätschelte ihn leicht. Bis auf das Ticken der Wanduhr war es still in der Küche, dann räusperte sich Elisa und schob Noemi von sich.
»Falls das ein Versuch ist, dich vor der Hitze draußen zu drücken, dann hast du keinen Erfolg, mein Mädchen.« Ihre Augen schimmerten feucht, und sie trat in die Diele, wo sie ihren großen Strohhut von der Garderobe nahm. »Denk an die Kühltasche!«
Noemi zupfte an ihrem Oberteil und warf einen Blick zum Himmel, wo die Sonne sämtliche Wolkenfetzen weggebrannt hatte. Vor zwei Tagen waren die Temperaturen in die Höhe geschossen, aber für morgen war Regen angekündigt. Noch war nicht die Zeit für hochsommerliche Dürre, und die Pflanzen, Hecken und Bäume auf dem Friedhof Gerresheim hatten sich ihre satten Farben bewahrt. Noemi sah zum Waldfeld in einiger Entfernung und sehnte sich nach Schatten. Auch wenn es Nonna Rosa gefallen hätte, am Fuße eines Baums ihre letzte Ruhe zu finden, war ihre Urne im Reihengrab von Opa Gerd beerdigt worden.
Endlich wieder vereint.
»Bei den Temperaturen werden sie vermutlich sofort schmelzen«, sagte Noemi und zog die kleine Tupperdose aus der Kühltasche. Darin lagen drei Pralinen – eine von jeder Sorte, die in der vergangenen Woche in Elisas Küche entstanden waren. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, eine Kostprobe auf Rosas Grab zu stellen – in der Dose, damit nicht Tiere die Schokolade fraßen. »Wir haben uns immer gegenseitig kosten lassen. Damit höre ich jetzt doch nicht auf.«
Noemi stellte den Behälter behutsam auf die dunkle Erde, während sich Elisa vorbeugte und den Blumenkranz auf der Immergrünen Heckenkirsche platzierte. Sie hatte ihn aus Wiesen- und Wildblumen geflochten, da sie nichts von gekauften Kränzen hielt. »Ich möchte ihr nicht mit Blumen kommen, die extra für den Friedhof gezüchtet wurden – allein der Gedanke ist deprimierend. Zu Rosa passen bunte Blüten, die Wind und Sonne genossen haben, so wie sie selbst.« Jetzt leuchteten sonnengelbe, zartrosa und violette Tupfen um die Wette. Elisa wischte mit einem Tuch über den Grabstein, richtete sich zufrieden wieder auf und legte einen Arm um Noemis Taille.
»Sie fehlt mir immer dann besonders, wenn die Sonne scheint, so wie heute«, sagte sie leise. »Weil ich dann erwarte, ihr Lachen zu hören. Sie hat den Sommer so geliebt und war davon überzeugt, dass man bei schönem Wetter keine schlechte Laune haben kann.« Sie hob den Kopf, starrte zunächst in den Himmel, dann zu den nahe gelegenen Hecken. Noemi wusste, dass sie versuchte, die Vögel dort zu erkennen – was ihr vermutlich nicht gelang, da sie sich weigerte, eine Brille zu tragen. Nonna Rosa hatte einmal gesagt, dass sie nach dem Tod gern als Rotkehlchen zurückkehren würde, da sie die hübschen Sänger besonders geliebt hatte.
Noemi drückte ihre Tante an sich, die ihr auf einmal so viel schmaler und gebrechlicher erschien, und ignorierte, dass der Strohhut an ihrem Hals kratzte. Gemeinsam musterten sie den grauen Grabstein mit der vergoldeten Schrift.
Gerhard Jürgen Wittkamp
1940 – 2002
Rosa Maria Carlota Wittkamp
1945 – 2023
Nicht verloren – nur vorangegangen
Noemi mochte den Spruch. In all der Trauer hatte er etwas Tröstliches, da der Abschied nur vorübergehend war. »Ciao, Nonna«, flüsterte sie. »Und tschüs, Opa.« Sie legte die weiße Tulpe, die sie für Opa Gerd mitgebracht hatte, neben den Kranz. Erst als Elisa nach ihrer Hand tastete, stellte sie fest, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie erwiderte den Druck der Finger, die sich anfühlten, als würden sie mit Leichtigkeit brechen, und starrte nach vorn, bis die Buchstaben auf dem Stein zu einer Fläche aus Gold verschwammen.
»Ich finde, du solltest dir das wirklich noch mal überlegen, Noemi.« Silvie Wittkamp verengte die Augen hinter ihrer Brille.
Jetzt ist nicht die passende Zeit, um Urlaub zu machen.
»Jetzt ist nicht die richtige Zeit, um an Urlaub zu denken«, fuhr ihre Mutter fort. »Natürlich ist es eine schöne Idee, Lea zu besuchen, aber du solltest zumindest einige Bewerbungen schreiben, ehe du aufbrichst. Und vielleicht noch mal mit den Ingmanns reden, ob sie eine Empfehlung für dich haben. Kann es nicht auch sein, dass die Sache im Sand verläuft? In einigen Wochen redet doch niemand mehr darüber, was auf dem Gutshof geschehen ist. Sie könnten dich in der Küche arbeiten lassen oder in die Planungen einbeziehen. Vielleicht musst du gar nicht bei Veranstaltungen vor Ort sein, das wäre doch auch eine Möglichkeit.«
Noemi aß das letzte Stück Apfelkuchen – die Pralinen, die sie von Elisa mitgebracht hatte, waren längst vernichtet – und schüttelte den Kopf. »Sie brauchen Angestellte für Veranstaltungen. Die Küche ist Guidos Domizil, und Marion würde sich niemals von irgendwem in die Planung hineinreden lassen.«
Ihre Mutter nahm ihre Kaffeetasse und schwenkte sie. Dass ihre Tochter mit achtundzwanzig Jahren weder einen festen Platz im Leben gefunden hatte noch Anstalten machte, einen solchen zu suchen, war für sie unverständlich. »Ich kann nachts nicht schlafen, wenn ich nicht weiß, ob du über die Runden kommst.«
»Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich habe etwas angespart und werde ganz sicher nicht in naher Zukunft obdachlos werden. Und wenn alle Stricke reißen, kassiere ich vorübergehend in einem Supermarkt oder bleibe einfach bei Lea. Sie und Enrico haben ein Gästezimmer, und ich könnte bei den Gondolieri anheuern.« Sie ließ es übertrieben fröhlich klingen, damit der Scherz auch bei ihrer Mutter ankam, die bereits wieder die Stirn runzelte.
Sie rieb sich die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. »Bei dir weiß ich nie, ob du es ernst meinst.«
Noemi behielt für sich, dass sie zumindest den Teil mit der Supermarktkasse durchaus ernst gemeint hatte, beugte sich vor und legte eine Hand auf die ihrer Mutter. »Es sieht nicht danach aus, dass meine Zukunft im Catering liegt.« Sie behielt für sich, dass der Job lediglich etwas gewesen war, um sich auszuprobieren und Erfahrungen mitzunehmen. »Also denke ich darüber nach, was ich als Nächstes machen will, und das geht am besten, wenn ich Abstand zu allem habe. Auch zu Düsseldorf. Da kommt Lea ins Spiel. Sie kennt mich in- und auswendig und kann mir sicher helfen, meine Gedanken zu ordnen. Außerdem«, sie zwinkerte, »hat niemand von uns es nach Nonna Rosas Tod geschafft, nach Italien zu fahren. Diese Trödelei muss ein Ende haben.«
Ihre Mutter verzog keine Miene. Mit einem lautlosen Seufzer ließ sie sich in die Polster des cremeweißen Sofas fallen, auf dem die Kissen so akkurat angeordnet waren, als befänden sie sich in einem Möbelhaus. »Warum muss es denn nur wieder etwas Neues sein? Ich dachte, diese Phase wäre vorbei. Du hast eine abgebrochene Lehre zur Steuerfachangestellten und eine abgeschlossene Ausbildung. Du bist gelernte Konditorin! Warum suchst du nicht in diesem Bereich? In einem Café, Restaurant oder einem Hotel lässt sich doch sicher etwas finden. Ich kann mich gern umhören.«
Ein ähnliches Gespräch hatten sie schon mal geführt, ehe Noemi den Vertrag bei den Ingmanns unterschrieben hatte. Auch damals hatte sie ihrer Mutter nicht verständlich machen können, dass es sich falsch anfühlte, über Jahre hinweg jeden Tag am selben Ort aufzuschlagen, am besten noch zur selben Zeit – schlimmstenfalls unter der Supervision eines Chefs, der jeden Handschlag seiner Angestellten kontrollierte.
Nur ungern dachte sie an das Jahr zurück, in dem sie im Hotel Sangelier in der Altstadt gearbeitet hatte – wo sie sich noch eingeengter gefühlt hatte als im Anschluss in der Konditorei Fechner. Der Küchenchef stammte aus Karlsruhe, hielt sich aber für einen französischen Maître, zumindest sprach er mit einem schrecklich falschen Akzent und legte ein Temperament an den Tag, das zu französischen Starköchen in schlechten Filmen passte. Irgendwann hatte Noemi ihn freundlich darauf hingewiesen, dass ein angenehmeres Klima für bessere Ergebnisse bei der Arbeit sorgte. Seine Antwort bestand in einem Wutanfall, den man sicher bis auf die Straße gehört hatte. Also hatte sie beschlossen, dass das Sangelier nicht der Ort war, an dem sie ihre Lebenszeit verbringen wollte.
Aber sie wusste auch, dass ihre Mutter sie liebte und nur das Beste für sie wünschte – und in ihrer Welt kam das möglichst großer Sicherheit durch eine unbefristete Anstellung gleich.
Noemi erhob sich aus ihrem Sessel und ließ sich schwungvoll neben ihrer Mutter auf das Sofa fallen. Vor ihnen gewährten die Fenster den Blick in den Garten, wo eine ebensolche Ordnung herrschte wie im Wohnzimmer.
»Danke für das Angebot, Mama. Aber ich werde mich nicht entscheiden können, ehe ich nicht darüber nachgedacht habe. Mit Abstand. Du weißt, ich bin nicht so wie du.«
»Nein.« Nun seufzte Silvie Wittkamp doch. »Du bist wie dein Vater, ehe ich ihm mühsam beigebracht habe, dass er sesshaft werden muss, wenn er eine Familie hat.« Es klang noch immer streng, aber auch liebevoll, was Noemi ein warmes Gefühl in den Bauch zauberte.
So verschieden ihre Eltern auch waren, sie liebten sich nach wie vor und hatten das Kunststück vollbracht, die Eigenarten des anderen zu tolerieren und sich ein Stück weit anzupassen. So ließ ihre Mutter ihren Vater ohne Murren ziehen, wenn ihn ein Grafikauftrag wieder quer durch Deutschland führte. Dafür achtete er darauf, keine allzu große Unordnung im Haus zu veranstalten – außer in seinem Arbeitszimmer, dessen Tür daher stets geschlossen war.
Ein leises Geräusch weckte Noemis Aufmerksamkeit: Ein Insekt war gegen eine der Fensterscheiben geflogen und hielt nun auf den Streifen Wildblumenwiese neben dem Zaun zu, den sich ihr Vater gewünscht hatte und der wie ein Fremdkörper in dem fast schon englischen Garten wirkte.
»Ich war heute mit Tante Elisa an Nonnas Grab«, sagte sie.
»Lenk nicht ab.« Ihre Mutter klang längst nicht mehr so energisch wie zuvor. Lag da ein Hauch Resignation in ihrer Stimme?
Noemi lächelte. »Weißt du, wenn ich nach Venedig fahre, würde ich ja nicht nur Lea besuchen, sondern all die Dinge, Geschäfte und Bauten sehen, die Nonna geliebt hat, wo sie gelebt und gejobbt hat. Ich werde durch dieselben Straßen streifen wie sie und da einkaufen, wo sie eingekauft hat.«
»Falls es die alten Läden überhaupt noch gibt«, sagte ihre Mutter.
Noemi knuffte sie in die Seite. »Etwas mehr Romantik könnte dir nicht schaden. Schon allein, weil du demnächst mit Papa nach Dresden fährst!«
»Wir sehen uns die Stadt und die Semperoper an. Dafür ist Romantik keine Voraussetzung.« Ihre Mutter zwinkerte, weil sie genau wusste, worauf Noemi hinauswollte. Ihr Mann redete schon lange davon, Schloss Moritzburg zu besuchen, weil dort Drei Haselnüsse für Aschenbrödel gedreht worden war und er den Film wie jeder aus der Familie mochte, und, auch wenn sie es nicht zugab, sie freute sich genauso sehr darauf wie auf die Oper.
»Gut.« Noemi zog die Beine an und kuschelte sich an ihre Mutter. »Dann nehme ich all die Romantik mit nach Venedig und verspreche dir, dass ich dort nicht auf der faulen Haut liegen, sondern mir Gedanken über meine berufliche Zukunft machen werde.«
»Ach, Kind.« Ihre Mutter stand auf, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und begann, das Geschirr zusammenzuräumen. »Du kannst nicht dein Leben lang so weitermachen.«