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Kinder benötigen nach einem einschneidenden Erlebnis wie dem Tod eines nahestehenden Menschen Unterstützung. Pädagogische Fachkräften haben hier eine ganz entscheidende Rolle: Sie können Kindern im Trauerprozess Sicherheit geben und ihre Ressourcen stärken. In diesem Buch erhalten pädagogische Fachkräfte einerseits wichtiges Hintergrundwissen zum Thema. Andererseits finden sie ganz konkrete Hinweise, wie Trauer in der Kita thematisiert werden kann, wie sie mit Kindern in dieser schwierigen Zeit umgehen und sensible Elterngespräche führen können.
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Seitenzahl: 169
Ute Steffens
Trauer bei Kindern pädagogisch begleiten
in den ersten 10 Lebensjahren
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de
Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Hanel, GestaltungssaalUmschlagmotiv: © Vincent Martinet
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print, Web, Software
Herstellung: Graspo CZ, Zlín
ISBN Print 978-3-451-39101-9ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-83343-4ISBN EBook (PDF) 978-3-451-83341-0
Trauer bei Kindern pädagogisch begleiten
Impressum
Inhalt
Einleitung
1. Wenn Kinder trauern – eine pädagogische Herausforderung
1.1 Gründe für Trauer im Kindesalter
1.2 Ausdrucksformen kindlicher Trauer
1.3 Die Phasen des Trauerprozesses
1.4 Das kindliche Todesverständnis
1.5 Tod und Trauer als Trauma und Chance
2. Die Kindertageseinrichtung als sicherer Ort
2.1 Die Kita als Spiegel gesellschaftlicher Werte
2.2 Der sichere Kita-Alltag als unschätzbare Ressource
2.3 Herausforderung und Chance für die pädagogischen Fachkräfte
2.4 Der persönlichen Haltung zum Tod auf der Spur
3. Kommunikation mit trauernden Kindern
3.1 Methoden der achtsamen und empathischen Kommunikation
3.2 Mit Kindern philosophieren
4. Die Unterstützung trauernder Krippenkinder und das Thema Tod in der Krippe
4.1 Die Entwicklung im ersten Lebensjahr
4.2 Trauerreaktionen
4.3 Konsequenzen für das pädagogische Handeln
4.4 Die Entwicklung im zweiten und dritten Lebensjahr
4.5 Trauerreaktionen der Kinder
4.6 Konsequenzen für das pädagogische Handeln
5. Die Unterstützung trauernder Kindergartenkinder und das Thema Tod im Kindergarten
5.1 Die Entwicklung der Drei- bis Sechsjährigen
5.2 Trauerreaktionen der Kinder
5.3 Konsequenzen für das pädagogische Handeln
6. Die Unterstützung trauernder Grundschulkinder und das Thema Tod in Schule und Hort
6.1 Die Entwicklung im Grundschulalter
6.2 Trauerreaktionen der Kinder
6.3 Konsequenzen für das pädagogische Handeln
7. Umgang mit dem Tod im nahen Umfeld der Kinder in der Kita
7.1 Kinder unserer Einrichtung verlieren einen Menschen im nahen Umfeld
7.2 Der Tod eines Kindes oder einer pädagogischen Fachkraft aus der Kita
7.3 Die Beerdigung
7.4 Kondolenzbriefe, Zeitungsanzeigen & Elterninformation
Schlusswort
Literatur
Über die Autorin
Titelseite
Startup Page
Einleitung
Obwohl der Tod eine unausweichliche Tatsache alles Lebendigen und damit unzertrennlich mit dem Leben verknüpft ist, stellt er im Alltag eines der größten Tabus dar. Wir haben ihn in Nischen verbannt, in Hospize und auf Palliativstationen, wo wir ihn in den Händen von Fachleuten wissen.
Wie für alle Bereiche unseres Lebens sind Erwachsene auch hier, beim Umgang mit Tod und Trauer, das Modell, an dem Kinder lernen. Sie lernen nur zehn Prozent über Worte, der Rest findet, wie Jesper Juul es einmal ausdrückte »›zwischen den Zeilen‹ (statt), also durch die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder behandeln, wie sie mit Freunden und Bekannten, mit Verkäuferinnen, Busfahrern, den eigenen Eltern und Geschwistern, Pädagogen und Lehrern umgehen« (Juul 2015, S. 40). Natürlich machen wir Erwachsenen auch vor, wie wir unsere Trauer, unseren Verlust und unser Vermissen bewältigen.
Wie alle Veränderungen im Leben von Kindern erklärt sich auch die kindliche Reaktion auf den Verlust bedeutsamer Menschen, Tiere oder Objekte vor dem Hintergrund ihres Entwicklungsstandes.
Merke
Die kindliche Trauer ist etwas anderes als die Trauer der Erwachsenen.
Jedes Neugeborene kennt bereits die Erfahrung von Todesangst. Diese resultiert aus der Hilflosigkeit und Abhängigkeit, mit der wir Menschen auf die Welt kommen – ohne Zeitgefühl und ohne die Sicherheit, dass wir geborgen und versorgt sind. Diese frühe Todesangst bleibt als Erfahrung im Körpergedächtnis erhalten und bildet den Kern eines intuitiven Todesverständnisse, das für Kinder charakteristisch ist. Erst im Verlauf ihrer Entwicklung erwerben Kinder auch ein kognitives, ausgereiftes Todesverständnis wie wir Erwachsenen.
Dies müssen pädagogische Fachkräfte wissen, wenn sie trauernde Kinder angemessen begleiten wollen. Darüber hinaus sollte bewusst sein, dass diese pädagogische Arbeit sich grundsätzlich von einer professionellen Trauerbegleitung unterscheidet. Diese gehört in die Hände eigens dafür ausgebildeter Trauerbegleiter:innen.
Merke
Durch den strukturierten Alltag und die Verlässlichkeit stellen Kindertageseinrichtungen eine große Ressource dar, da sie genau den sicheren Raum bieten, den trauernde Kinder so nötig brauchen.
Die pädagogischen Fachkräfte tragen mit ihrer respektvollen Haltung sowie dem Angebot einer reflektierten, authentischen und kindgerechten Beziehung entscheidend dazu bei, Kinder in ihrer Trauer professionell zu unterstützen. Dieses pädagogische Handeln speist sich aus dem Wissen um entwicklungsbedingte Bedürfnisse und Glaubenssätze von Kindern. Durch ihre pädagogische Begleitung fördern die Fachkräfte das jedem Trauerprozess innewohnende Selbstheilungspotenzial, indem sie den betroffenen Kindern dabei helfen, diese existenzielle Erfahrung selbstwirksam so zu verarbeiten, dass die Kinder sogar gestärkt daraus hervorgehen können.
1.Wenn Kinder trauern – eine pädagogische Herausforderung
Die Themen in diesem Kapitel sind
→Was bedeutet Trauer aus (entwicklungs-)psychologischer Sicht?
→Aus welchen Gründen trauern Kinder?
→Wie drückt sich kindliche Trauer aus?
→Welche Herausforderungen und Chancen beinhaltet die pädagogische Begleitung trauernder Kinder?
Kindliche Trauer ist äußerst komplex. Sie ist geprägt von den drei Faktoren der kindlichen Entwicklung: So ist sie abhängig davon, was ein Kind selbst an Temperament mitbringt, sowie davon, welche Erfahrungen es bisher mit seiner Umwelt, mit seinen Bindungspersonen und herausfordernden Ereignissen gemacht hat. Und schließlich wird sie von genetischen Faktoren wie Reifungsprozessen sowie der Entwicklungsphase, in der sich ein Kind gerade befindet, beeinflusst.
Wissen
In der kindlichen Entwicklung beeinflussen sich gegenseitig:
•die Anlagen eines Kindes, also das genetische Programm, nach dem seine Entwicklung abläuft, zum Beispiel seine Fähigkeit, seine Trauer und den Tod auch kognitiv zu begreifen;
•seine Selbststeuerung, also sein Temperament und sein persönlicher Umgang mit Gefühlen
•sowie Umwelteinflüsse wie das Elternhaus und der dort praktizierte Umgang mit Trauer.
Je jünger Kinder sind, desto mehr brauchen sie Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit, um sich sicher zu fühlen. Ein bedeutsamer Verlust ist eine massive Veränderung der Lebensumstände. Dieses Ereignis verletzt und verunsichert Kinder existenziell. Trauer stellt einen schmerzhaften Ausnahmezustand und, wie alle dramatischen Veränderungen, eine Krise dar, der sowohl das Potenzial zu einem enormen Entwicklungs- und Reifungsschritt innewohnt als auch die Gefahr, sich zu einem Entwicklungstrauma auszuwachsen.
Mithilfe der in der Einrichtung üblichen Instrumente der systematischen Beobachtung können pädagogische Fachkräfte den Ausschlag in die eine oder andere Richtung sensibel wahrnehmen und dokumentieren. Und sie müssen verlässliche Ansprechpartner:innen sein, um trauernde Kinder empathisch begleiten zu können.
Die übliche pädagogische Sicht auf Kinder ist von der Erwartung eines altersangemessenen Lern- und Entwicklungszuwachses geprägt. Pädagog:innen sind es gewöhnt, Entwicklungsfortschritte zu beobachten und zu dokumentieren. Sie kennen entwicklungstypische Verhaltensweisen und Bedürfnisse der Kinder in Krippe, Kita oder Hort. Sie greifen ein, wenn Kinder Probleme haben oder Überforderungen ausgesetzt sind.
Damit werden wir dem Thema Tod und Trauer in der pädagogischen Arbeit allerdings nur teilweise gerecht – und zwar immer dann, wenn es um kognitive Aspekte, also um das verstandesmäßige Erfassen und Verarbeiten einer wie auch immer gearteten Auseinandersetzung mit dem Tod geht.
Es scheint auf der Hand zu liegen, dass es leichter ist, trauernde Kinder zu erreichen, je weiter ihre kognitive Entwicklung fortgeschritten ist. Das ist zwar richtig, aber nicht allgemeingültig, weil die kindliche Trauer ganz stark von individuellen Erfahrungen geprägt ist. Kleine Kinder mit einer entsprechenden Todeserfahrung haben einen anderen Zugang zu diesem Geschehen als ältere, in ihrer kognitiven Entwicklung weiter vorangeschrittene Kinder. Sie erfassen den Verlust intuitiv und deuten diese Erfahrung entsprechend ihres Entwicklungsstandes.
Trauer ist eine schwere Erschütterung, die alle Bereiche des Seins betrifft, also Körper, Geist und Seele. Mit diesem Begriff beschreiben wir üblicherweise den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen.
Merke
Die Gründe kindlicher Trauer unterscheiden sich nicht groß von denen Erwachsener. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Kinder – umso mehr, je jünger sie sind – Trauer um eine geliebte Bindungsperson als eine existenzielle Bedrohung erleben.
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, fasst den Begriff der Trauer noch weiter. Über den Schmerz hinaus begreift er Trauer als einen Prozess, in dem wir den Verlust eines geliebten Menschen aktiv verarbeiten. In diesem Zusammenhang hat er den Begriff der »Trauerarbeit« geprägt (Freud 1915). Psychologisch betrachtet ist Trauer also Seelenarbeit, deren Ziel es ist, einen schwerwiegenden Verlust zu überwinden. Das gilt auch für kindliche Trauer. Allerdings sind Kinder keine kleinen Erwachsenen – ein Statement aus der Kinderheilkunde, das auch im Zusammenhang mit kindlicher Trauer gilt.
Trauer fordert uns heraus, die Erfahrung eines einschneidenden Verlustes so in unser Seelenleben zu integrieren, dass wir ihn irgendwann überwinden und in unseren Alltag zurückfinden, um uns neuen Herausforderungen stellen zu können. Wir müssen unsere seelische Stabilität wieder herstellen, indem wir diese schmerzhaften Veränderungen als eine Erfahrung in unsere Persönlichkeit integrieren. Wenn das gelingt, spricht die Psychologie von einer »integrierten Persönlichkeit«.
Definition
Unter einer integrierten Persönlichkeit wird in der Psychologie eine Person verstanden, die in der Lage ist, herausfordernde Veränderungen so zu verarbeiten, dass sie durch diesen Prozess ihre psychische Stabilität wiedererlangt.
Je nachdem, wie wichtig Menschen oder Objekte für ein Kind sind, wird eine Verlusterfahrung als eine prägende Erfahrung in die kindliche Psyche integriert. Der Verlust stellt eine Veränderung dar, die im höchsten Maße verunsichert. Die Erfahrung von Trauer und Verlust im Kindesalter stellt deshalb die Weichen für die gesamte weitere Persönlichkeitsentwicklung. Sie geht weit darüber hinaus, nur ein schmerzhaftes Gefühl zu sein. Kindliche Trauer umfasst schließlich alle Entwicklungsbereiche und nicht, wie man meinen könnte, nur den der emotionalen Entwicklung.
Wissen
Der Verlust eines Haustieres
Erich Stern, ein deutscher Psychiater, Psychologe und Pädagoge, beschrieb 1957 in seinem Werk »Kind Krankheit Tod« folgende Beobachtung: »… dass das Kind gelegentlich den Tod eines Tieres, das seine Liebe besaß, … als das begreift, was der Tod ist: Aufhören des Lebens, Verschwinden für immer aus seinem Gesichtskreis. … Es kann … aber keinerlei Analogie ziehen zwischen diesem Tod und dem Sterben eines geliebten Menschen« (Stern 1957, S. 83f.).
Das ist gerade für pädagogische Fachkräfte eine wichtige Information. Sie kann in der Praxis darin bestärken, den Tod eines Haustieres – anders als beim Tod eines geliebten Familienmitgliedes – durchaus zum Anlass für ein Projekt über Tod, Trauer und Verlust zu nehmen (vgl. Kapitel 1.4). In diesem Zusammenhang kann auch das sachlich-naturwissenschaftliche Interesse von Kindern aufgegriffen werden.
Die Psychologinnen Virginia Slaughter und Maya Griffiths (2007) haben herausgefunden, dass biologisches Wissen über den Tod die kindliche Angst vor dem Tod in dem Maße verringert, wie die Kenntnisse der Kinder um die physiologischen Aspekte des Sterbens und des Todes wuchsen. Dies unterstreicht noch einmal die Notwendigkeit, den Tod auch im sachlich-naturwissenschaftlichen Sinne mit Kindern in Form von Angeboten und Projekten zu thematisieren.
Wissen
Der Verlust eines Übergangsobjekts
Der Begriff des Übergangsobjekts stammt ursprünglich von D.W. Winnicott, einem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker. Damit werden Objekte wie ein Nuckel, eine Kuscheldecke, ein bestimmtes Kissen oder Kuscheltier bezeichnet, die vor allem für Kleinkinder, aber auch noch für Kinder im Kindergartenalter von unschätzbarem Wert sind. Sie sind besonders wichtig in Übergangssituationen, weil sie für das Kind ein Stück der häuslich familiären Sicherheit repräsentieren. Übergangsobjekte stehen quasi für die häusliche Geborgenheit.
Viele pädagogische Fachkräfte kennen Situationen mit völlig verzweifelten Eltern, die das Übergangsobjekt ihres Kindes suchen. Übergangobjekte sind in der Regel nicht ersetzbar, auch dann nicht, wenn sie Gebrauchsspuren zeigen oder schmutzig sind. Häufig wird der ehemals geliebte Teddy nach einem Waschgang in der Maschine abgelehnt, weil er nicht mehr derselbe ist.
Wie sich kindliche Trauer ausdrückt, hängt vom Entwicklungsstand und der Vorerfahrung eines Kindes ab. Je jünger ein Kind ist, desto existenzieller wird die Trauer empfunden.
Grundsätzlich sollten pädagogische Fachkräfte aufmerksam sein, wenn ein Kind, das gerade einen Verlust erlitten hat, plötzlich ein stark verändertes Verhalten zeigt oder wenn ein Kind anhänglicher ist als zuvor und die körperliche Nähe der Erwachsenen in der Einrichtung sucht oder sich auffällig oft zurückzieht.
Die Ausdruckformen oder Symptome kindlicher Trauer gibt es nicht. Vielmehr ist es so, dass Trauer – genauso wie andere psychische Überforderungen auch – Kinder häufig auf Verhaltensweisen früherer Entwicklungsstufen zurückfallen lässt.
Um das zu verstehen, müssen wir wissen, dass sich die kindliche Entwicklung in Phasen vollzieht. Diesen Phasen lassen sich bestimmte Altersgruppen zuordnen.
Wissen
Die Entwicklungsphasen
1. Lebensjahr: Säuglingsalter
2. bis 3. Lebensjahr: Kleinkindalter
4. bis 6. Lebensjahr: Kindergartenalter (frühe Kindheit)
7. bis 10. Lebensjahr: Grundschulalter (mittlere Kindheit)
Natürlich kann dieses Raster nur einen groben Überblick über die Entwicklungsstände geben, von dem es immer wieder individuelle Abweichungen geben wird. Man kann sich den Entwicklungsprozess wie eine Zelle vorstellen, die sich von Phase zu Phase teilt. So sind in jeder neuen Zelle bereits Erfahrungen und persönliche Deutungen vorausgegangener Erfahrungen enthalten. Für jede Phase lassen sich typische Entwicklungsaufgaben beschreiben:
Wissen
Typische Entwicklungsaufgaben in den einzelnen Phasen
1. Lebensjahr: Erwerb von Urvertrauen
2. bis 3. Lebensjahr: Erwerb von Autonomie
4. bis 6. Lebensjahr: Erwerb der Geschlechtsidentität und des Gewissens
7. bis 10. Lebensjahr: Erlernen von Kulturtechniken
Mit diesen Entwicklungsaufgaben sind typische innere Konflikte, Befriedigungsmuster und Befriedigungserfahrungen verbunden. Die Beobachtung von typischen Befriedigungsmustern – oder des Versuchs, sich selbst zu trösten – veranlasste Freud, das Säuglingsalter als die »orale« Phase zu bezeichnen, da Kinder im ersten Lebensjahr ihre Befriedigung, Beruhigung und Sicherheit durch das Saugen erfahren. Das Kleinkindalter bezeichnete er als »anale« Phase, weil Kinder während dieser Zeit beginnen, trocken zu werden. Sie machen die Erfahrung, ihre Ausscheidungen kontrollieren zu können. Dies verleiht ihnen ein erstes Gefühl für Autonomie. Die kindlich-genitale Phase ordnet Freud dem Kindergartenalter zu, in dem Kinder sich mit dem Erwerb ihrer geschlechtlichen Identität beschäftigen und sich das Gewissen ausbildet. Für das Grundschulalter schließlich beobachtete er ein Ruhen der rein körperlichen Bedürfnisse, die »Latenz«, zugunsten kognitiver Bedürfnisse wie dem Erlernen von Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen.
Wissen
Typische Befriedigungsmuster in den einzelnen Entwicklungsphasen
1. Lebensjahr: Saugen
2. bis 3. Lebensjahr: Geben oder Behalten
4. bis 6. Lebensjahr: »So tun als ob«
7. bis 10. Lebensjahr: »Etwas Richtiges tun«
Regressionen: Trost durch »alte« Befriedigungsmuster
Werden Konflikte oder schmerzhafte Gefühle in der individuellen Situation als Überforderung erlebt, sucht das Kind Trost in Befriedigungsmustern früherer Entwicklungsphasen. Es fällt auf Verhaltensweisen zurück, die es bereits als befriedigend erlebt hat. Das bekannteste Beispiel ist ein Kind, das die orale Phase längst durchlaufen hat, doch kurz nach der Geburt eines Geschwisterkindes wieder nach der Flasche verlangt. Dieses Verhalten wird in der Entwicklungspsychologie als »Regression« bezeichnet:
Definition
Als Regression wird ein Rückfall in Verhaltensweisen früherer Entwicklungsphasen verstanden. Überforderung, zum Beispiel ausgelöst durch Trauer, lässt ein Kindergartenkind dann plötzlich wieder nach der Nuckelflasche verlangen.
Wenn wir also im Zusammenhang mit einem Verlustereignis eine kindliche Regression erleben, dann können wir dies als den kindlichen Versuch werten, sich selbst trösten zu wollen. Wir können dieses Verhalten sensibel beobachten und erst einmal geschehen lassen. Weder müssen pädagogische Fachkräfte dieses Verhalten bestärken, noch sollten sie versuchen, es zu unterdrücken. Im Regelfall werden Pädagog:innen das Bedürfnis des trauernden Kindes nach Sicherheit und Geborgenheit mitfühlend respektieren, ohne dies sprachlich zu kommentieren.
Beispiel
Lore, pädagogische Fachkraft im Kindergarten, erzählt: »Als der vierjährige Albert nach dem Tod seines Vaters in die Kita zurückkehrte, nuckelte er in manchen Situationen wieder am Daumen, während er gleichzeitig versonnen mit den Fingern der anderen Hand eine Haarsträhne drehte. Larissa, eines der älteren Mädchen, war die erste, die das bemerkte. Wir saßen zusammen am Maltisch, und Albert hatte sich auf das Sofa in der Vorlese-Ecke zurückgezogen, das wir vom Tisch aus gut einsehen konnten. Eines der Kinder kicherte, wies auf Albert und sagte: ›Der ist ja noch ein Baby.‹ Ich erklärte den Kindern, dass Albert wohl noch sehr traurig sei, weil sein Papa gestorben ist. Da fiel mir die fünfjährige Rike heftig nickend ins Wort: ›Ich war auch mal total traurig, als meine Mama im Krankenhaus war. Da habe ich vor dem Schlafengehen immer am Zipfel meiner Bettdecke gelutscht. Da war ich noch klein – Papa hat mir das erzählt.‹ Spontan frage ich die anderen Kinder am Tisch, ob sie auch solche Tricks hätten, wenn sie traurig sind. Während des Werkens entspann sich daraufhin ein Austausch darüber, wie sich die Kinder zu beruhigen und wie sie sich selbst Mut zu machen versuchen, wenn sie Angst haben.«
Auch im Erwachsenenalter kennen wir Regressionen, wenn wir überfordert, im Stress oder müde sind. Dann essen wir vielleicht zu viel, wir trinken, rauchen oder können gar nichts essen. All das ist Ausdruck einer Regression.
Psyche und Soma sind noch miteinander verwoben
Oft drückt sich kindliche Trauer auch körperlich aus. Je jünger ein Kind ist, desto stärker sind Psyche und Soma, also Seele und Körper, noch miteinander verwoben. Selbst Kindergarten- und Schulkinder verorten häufig ihre seelischen oder körperlichen Schmerzen im Bauchraum, selbst dann, wenn hinzugezogene Kinderärzt:innen schließlich eine Mittelohrentzündung diagnostizieren.
Auch Trauer wird körperlich empfunden. Manchmal führt das dazu, dass Kinder sich krank fühlen und aus der Einrichtung abgeholt werden wollen. Sie haben keinen Appetit, oder erscheinen müde und antriebsarm. Sie halten sich von Bewegungsspielen fern und sind nur schwer dazu zu motivieren, mit den anderen nach draußen zu gehen.
Trauer als Ausnahmezustand: Auffällige Verhaltensänderungen
Trauer stellt einen psychischen und körperlichen Ausnahmezustand dar, der Kinder zeitweise zwangsläufig überfordert. Manche Kinder verkrampfen sich, sind angespannt und häufig auch aggressiv. Hier sucht sich die aus der Trauer resultierende psychische Anspannung ein körperliches Ventil. Ein Kind, das vor dem Verlustereignis noch ausgeglichen war und verantwortungsvoll mit dem Spielzeug umgegangen ist, kann nun dadurch auffallen, dass es mit Bausteinen wirft oder gegen Sachen tritt. Oder es verschafft sich Erleichterung, indem es die körperliche Auseinandersetzung mit anderen Kindern sucht.
Pädagogische Fachkräfte sind manchmal überrascht, dass ein Kind, das vor dem einschneidenden Verlust als in sich ruhend und friedfertig galt, plötzlich Raufereien provoziert, trotzig auf Ansprache reagiert oder Regeln missachtet. Sie sind überrascht, weil sie bei Trauer eher an Traurigkeit und Tränen denken, an Kinder, die plötzlich sehr anhänglich sind, die sich zurückziehen. All das gibt es natürlich auch. Hier gibt ebenfalls die professionelle Beobachtung Aufschluss darüber, ob diese Verhaltensweisen im Zusammenhang mit einem bedeutsamen Verlustereignis stehen.
Kindliche Trauer ist, wie die Trauer von Erwachsenen auch, ein Prozess, für den sich typische Phasen beschreiben lassen. Allerdings folgt dieser Prozess anderen Gesetzmäßigkeiten als wir es von Erwachsenen kennen.
Es gibt verschiedene Phasenmodelle, die diesen Prozess oder auch »Traueraufgaben« (Spiegel 1973) abbilden. Allerdings gelten sie in der Regel für Erwachsene. Eine Ausnahme bildet das Modell des Kinderarztes und Psychoanalytikers John Bowlby, der sich, basierend auf seinen klinischen Beobachtungen, ausdrücklich mit den Trauerphasen von Kindern beschäftigt hat. Er gliedert den kindlichen Trauerprozess in vier Phasen:
1. Phase: Betäubung
Während dieser Phase, die Bowlby seinem Modell erst nachträglich hinzufügte, scheinen die Kinder unter Schock zu stehen. Dies äußert sich darin, dass sie äußerlich unbeeindruckt und in auffälliger Ruhe ihrer Alltagsroutine nachgingen. Jedoch wurde diese Ruhe immer wieder von plötzlichen Panikattacken unterbrochen oder einem starken Gefühl, der gestorbenen Bindungsperson ganz nah zu sein.
Diese Phase ist durch einen überwältigenden Schmerz charakterisiert. Kinder können vorübergehend Verhaltensweisen zeigen, die man aus der Hospitalismus-Forschung (Spitz 1969) kennt. Bekannt sind in diesem Zusammenhang vor allem rhythmische, anhaltende Bewegungen des Kopfes von einer Seite auf die andere oder das Schaukeln des Oberkörpers vor und zurück. Während dieser überwältigenden ersten Phase ist es wichtig, dass das Kind eine zuverlässige Ansprechperson hat, die für es da ist.
2. Phase: Sehnsucht und Suche nach der verlorenen Figur
Bowlby beschreibt am Beispiel der vierjährigen Wendy, dass Kinder in dieser Phase bei Geräuschen aufhorchen, weil sie es für möglich halten, dass der/die Verstorbene zurückkehrt. Wurde diese Hoffnung zerstört, so reagierte Wendy mit Wutausbrüchen. Sie schwankte zwischen der allmählich reifenden Erkenntnis, dass sie die Mutter verloren hatte, und der immer wieder aufflackernden Hoffnung, dass dies nicht stimmen möge. Anna Freud beobachtete dasselbe Phänomen, wenn Kinder immer wieder durch das ganze Haus liefen, um in jedem Winkel nach der Mutter zu suchen (Freud & Burlingham1982):.
In dieser Phase geht es darum, die Lücke zu füllen, die der Tod der Bezugsperson gerissen hat. Das Kind muss eine neue Bindungsperson finden. Wenn die Mutter eines Kleinkindes stirbt, kann das bedeuten, dass der Vater oder die Großmutter sich durch Präsenz und Fürsorge anbietet sowie viele Aufgaben und Routinen der verstorbenen Bindungsperson übernimmt.
3. Phase: Desorganisation und Verzweiflung
Am Beispiel der vierjährigen Kathy, deren Vater gestorben war, beschreibt Bowlby, wie sich die kindliche Verzweiflung als Wut äußert, wenn es Trigger (siehe hier) gab.
Während dieser Phase sollten Kinder ein stabiles inneres Bild von der verstorbenen Bezugsperson entwickeln können. Die neue Bindungsperson kann im besten Fall das Kind dabei unterstützen. Fotos, Poster, Erzählungen sowie regelmäßige Friedhofsbesuche können dabei sehr hilfreich sein.