Träume aus Beton - Kiko Amat - E-Book

Träume aus Beton E-Book

Kiko Amat

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Beschreibung

Der Shootingstar der jungen spanischen Literaturszene

Eine zärtliche, skurrile und zugleich knallharte Familiengeschichte für Leser*innen von Douglas Stuart, David Sedaris oder Jonathan Safran Foer.

»Vielleicht ist die Anormalität am Ende doch der Weg der Vernunft. Glaubst du nicht auch? Wir leben in einer vom Zufall regierten Welt, umgeben von einem Vakuum. Grausamkeit und Gewalt sind die Regel. Eine Welt, in der nichts von Bedeutung ist und in der die Unschuldigen zermalmt werden. In einer solchen Welt kannst du nur saufen oder verrückt werden. Ich habe es mit Ersterem versucht. Als das nicht mehr half, kam Zweiteres.«

»Träume aus Beton« ist eine Geschichte von Angst, von Unangepasstheit und vom Leben am Rand, die atemberaubende Zärtlichkeit mit brutaler Wirklichkeit kombiniert.

Der Roman erzählt die Lebensgeschichte von Curro, der wegen einer im Wahn begangenen Messerattacke seit über zwanzig Jahren in der Psychiatrie sitzt. Er hat eine illustre Gruppe Gleichgesinnter um sich geschart, mit denen er den Ausbruch plant. Auf einer zweiten Erzählebene lernt der Leser den jugendlichen Curro kennen, ein klassischer Außenseiter mit smarter Weltsicht, dem seine dysfunktionale Familie zu schaffen macht.

  • »Wie Trainspotting mit weniger Drogen und Graham Swift ohne Guinness (dafür Estrella-Bier).« (Carlos Zánon)
  • »Einer der kraftvollsten Romane, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.« (Jordi Garcia, EL PAÍS)
  • »Kompromisslos, süchtig machend, unheimlich komisch – die Stimme von Kiko Amat ist eigen, die eines Predigers in der Popwüste, der jegliche Festlegung literarischer Hinsicht vermeidet.« (David Morán, ABC)
  • »Eine unerhört fesselnder Prosa mit hohem Suchtpotenzial.« (El Mundo)

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Seitenzahl: 835

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DASBUCH

Wir schreiben das Jahr 1982. Curro, ein zerbrechlicher, von Ticks und Phobien geplagter Zwölfjähriger, kämpft damit, sein Leben zu bewältigen. Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zur Mutter und den Launen des Vaters, flüchtet er sich in Traumwelten, bewundert Kevin Keagan und versucht den Misshandlungen seiner Mitschüler zu entkommen. Curro und sein bester Freund Priu sind Nerds, liebevolle Freaks, die in der Peripherie von Barcelona nach dem Schönen und Guten suchen. Bis zu dem Tag, an dem ein Wirbelsturm losbricht und all die Lügen, all die Geheimnisse, die sich in Curros Familie angesammelt haben, ihre Welt für immer zerstören.

Im Jahr 2017 ist Curro seit über zwanzig Jahren in der psychiatrischen Klinik Santa Dympna in Sant Boi de Llobregat untergebracht, nachdem er im schizoiden Wahn eine Messerattacke begangen hatte. Doch Curro hat die Psychiatrie satt, er will ausbrechen. Zusammen mit seinem »Butler«, dem getreuen Plácido, plant er die Flucht.

Träume aus Beton ist »kompromisslos, süchtig machend, unheimlich komisch – die Stimme von Kiko Amat ist einzigartig, die eines Predigers in der Popwüste (ABC)«. Eine unvergessliche Geschichte über Wahnsinn, Familie, Arbeiterklasse und Freundschaft – erzählt mit viel Empathie und außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen.

DERAUTOR

Kiko Amat, geboren 1971, stammt aus Sant Boi de Llobregat, einer Trabantenstadt in der Peripherie von Barcelona. Sein Vater war Rugbyspieler, seine Mutter Krankenschwester in der örtlichen Psychiatrie. Im Alter von siebzehn Jahren brach er die Schule ab, wurde Mod, Kleptomane, Plattenhändler, Kassierer bei McDonald‘s, Fließbandarbeiter bei Seat Martorell, Wachmann auf einem Campingplatz, Pförtner und Kellner in einem großen Hotel. Bisher hat er fünf Romane veröffentlicht, die in seinem Heimatland Kultstatus besitzen und gesellschaftliche Randfiguren in urbanen Settings begleiten. Er schreibt regelmäßig für El País und El Periódico, ist Co-Direktor des Subsol im CCCB, dem Zentrum für zeitgenössische Kunst und Kultur in Barcelona, und ist Co-Moderator des Podcasts Pop y Muerta für Radio Primavera Sound.

Daniel Müller lebt in Berlin-Wedding und überträgt seit mehr als fünfzehn Jahren Texte aus dem Englischen und Spanischen ins Deutsche – unter anderem auch Bücher von Santiago Lorenzo, Bruce Springsteen, James Lee Burke oder Irvine Welsh.

KIKOAMAT

Träume aus Beton

Roman

Aus dem Spanischen von Daniel Müller

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Antes del huracán bei Anagrama, Barcelona

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Übersetzung dieses Romans wurde finanziell von Acción

Cultural Española, AC/E unterstützt.

Copyright © 2018 by Kiko Amat

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text

wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Lektorat: Markus Naegele

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung und -motiv:

Johannes Wiebel | punchdesign, München,

unter Verwendung von Motiven von Adobe Stock

(Phil – stock.adobe.com)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26883-1V001

Für Eugènia, Boi und Lluc

Nicht jeder kann das Glück haben,

ein Waisenkind zu sein.

Rotfuchs, Jules Renard

Jetzt bin ich wirklich ein Narr geworden;

ihr habt mich dazu gezwungen.

2. Korinther 12, Paulus von Tarsus

Ich habe mir das alles ausgedacht.

Kapitel 1

Plácido hat die Hände voll. Vor ein paar Sekunden kam er durch die Tür von Pavillon H und stieg die fünf Treppenstufen hinunter. Einen Fuß vor den anderen, mit aufrechter Haltung, die Arme schwangen ruhig im Rhythmus seiner Schritte. Weder blieb er stehen, um ein Tänzchen aufzuführen, noch schrie er den Himmel an. In der Patientenakte von Plácido gibt es Vermerke über Suizidtendenzen, Fremdaggression, häufige Selbstverstümmelungen, eine ganze Palette unterschiedlicher Verhaltensstörungen, psychomotorische Agitiertheit, Persönlichkeitsveränderungen und Enthemmung. Wahnvorstellungen, allerdings ohne Halluzinationen, gehören ebenfalls zur Liste. Unter all den Verrückten in diesem Irrenhaus, das sagt sich Curro oft, ist Plácido derjenige, dem man es am wenigsten anmerkt. Wer ihn vor zwei Jahren nicht am Rand der Dachterrasse gesehen hat, wie er mit todtraurigem Blick nach unten die Dauer des Sturzes in die Tiefe kalkulierte, könnte zu der Annahme kommen, dass er im Grunde bei bester Gesundheit wäre. Im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte.

Es ist neun Uhr vormittags, aber noch ist es nicht besonders hell. Eine kalte Sonne mit unscharfen Rändern wabert kraftlos zwischen den Wolken am verhangenen Himmel. Sie ist von blassroter Farbe, wirkt abgegriffen wie eine Fünf-Cent-Münze. Hinter den Pavillons im Osten des Anstaltsgeländes drängelt sich eine Handvoll aufgequollener Wolken über dem Río Llobregat. Es ist Januar, das Jahr das jetzige. Und das hier ist der Anfang dieses Romans.

Als Plácido die Tür von Pavillon H öffnete, tat Curro gerade so, als würde er sich eine Zigarette anzünden. Anschließend gab er vor, an dem imaginierten Glimmstängel zu ziehen, den Rauch auszuatmen und, ein paar Sekunden später, durch leichtes Tippen mit dem Zeigefinger die Asche von der Zigarette abzuschnippen. Die Verrückten in der Anstalt sind fast alle zwanghafte Raucher. Nicht so Curro. Für ihn ist es nur eine Geste, die ihm etwas Ruhe schenkt. Er fühlt sich etwas besser als zuvor, denn vor ein paar Minuten hat er in der Küche sein Clozapin bekommen, die zweite Gabe des Tages, verabreicht in einem fingerhutgroßen Messbecher.

Plácido stellt sich zu Curro und reicht ihm einen karierten, mehrfach übereinandergeschlagenen Lappen aus dickem Stoff und ein längliches Glas, in dem sich eine schaumige Flüssigkeit von gelblicher Farbe befindet.

»Guten Morgen, Señor. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Soldevila verschwunden ist.«

»Morgen, Plácido. Ja, das hab ich auch schon mitbekommen.«

»Verstehe, Señor. Hier, nehmen Sie, Ihr Schal.«

»Danke.«

»Ich dachte, dass Sie ihn wahrscheinlich brauchen können, Señor. Es ist ein ziemlich frischer Vormittag. Nahezu perfekt, um sich einen heimtückischen Katarrh zuzuziehen. Hier habe ich noch Ihren Vitaminmix.«

Curro wirft die nicht vorhandene Zigarette auf den Boden und tut so, als würde er sie mit seinem Pantoffel austreten. Plácido hat recht. Es ist kalt, richtig kalt. Der Boden ist hart und trocken. Curros Gesichtshaut spannt an den Wangen, und seine Zähne klappern, während ihm ein kurzer Schauder über den Körper läuft, an der Wirbelsäule aufwärts, an den Armen abwärts. Es ist kein Vormittag, um nur mit Morgenmantel bekleidet durch die Gegend zu laufen. Er reibt sich das Kinn und wartet die drei Tics ab, die Braue und Lid seines Auges durchzucken und seine Gedanken klären. Als wäre es ein direkter Befehl seines Nervensystems, verspürt er plötzlich den Impuls, Plácido die Nase abzulecken, aber er ballt die Fäuste, schüttelt kraftvoll den Kopf und schafft es auf diese Weise, dass der Drang nachlässt.

»Hervorragend, Plácido.« Er greift den Schal, legt ihn um seinen Hals und verknotet die Enden. Danach nimmt er das Glas.

»Ah, ein Shake aus rohen Eiern und Zitronenlimonade – das altbewährte Kräftigungsmittel der Arbeiterklasse. In meiner Familie wurde das oft getrunken. Besonders meine Mutter war nahezu besessen von diesem Wundersaft. Und von vielen anderen Dingen natürlich auch, aber das brauche ich wohl nicht mehr extra zu erwähnen.«

»Wenn ich die Lage richtig einschätze, Señor, können Sie diesen Shake heute ganz besonders gebrauchen. Drinnen im Pavillon heißt es, das Frühstück sei alles andere als zufriedenstellend gewesen.«

»Und recht haben sie, Plácido. Das Frühstück sah aus wie das erbrochene Gewölle eines Steinkauzes mit ganz und gar abscheulichen Ernährungsgewohnheiten.« Curro klopft sich mit der flachen Hand auf den Bauch. »Gott ist mein Zeuge, früher oder später werden die Herrschaften aus der Küche uns mit ihrem Gemurkse alle umbringen. Wo haben diese Leute ihr Handwerk gelernt, Plácido? An der Internationalen Giftpanscher-Akademie Lucrezia Borgia, oder was?«

»Nun, Señor …«, erwidert Plácido, ohne eine Miene zu verziehen.

Curro ist leicht irritiert. In den zwei Jahren, die Plácido mittlerweile in seinen Diensten steht, hat der Butler über keinen einzigen seiner Witze gelacht. Nach Curros Beobachtungen haben sich die Gesichtsmuskeln seines Bediensteten bislang lediglich beim Essen und beim Sprechen bewegt. Und noch nicht mal das stimmt wirklich, denn Curro hat noch nie gesehen, wie Plácido etwas Essbares zu sich genommen hat. Gut möglich, dass er sich durch Fotosynthese ernährt, wie die Pflanzen.

»Wie dem auch sei … danke jedenfalls für den Schal«, sagt Curro und streicht mit der Hand über den Lappen, der sich für ihn wie Kaschmir anfühlt, in Wirklichkeit aber nur ein mit Fettflecken übersäter Fetzen aus einem alten Vorhang ist. Danach leert er das Glas und schaut seinen Butler an.

Plácido ist der einzig vorzeigbare Patient der Anstalt. Schwarzer Seersucker-Anzug, ebenfalls schwarze Plastron-Krawatte mit traditioneller Knotung, blütenweißes Hemd, dazu eine Weste von auffällig goldgelber Farbe mit schwarzen Längsstreifen und englische Schuhe, dunkelgrau und mit Doppelknoten, bei denen die Schnürsenkel so perfekt, die Enden so gleich lang sind, dass seine Füße wie zwei Geschenke aussehen.

Die beiden stehen vor der Eingangstreppe zum Pavillon H. Es sind nur fünf Stufen, aber sie sind sehr breit und aus weißem, schwarz gesprenkeltem Granit gefertigt. Sie erinnern Curro an den Eingang zum Terrarium des Zoos in Barcelona. Als kleiner Junge war er öfter mit seinem Vater dort, um sich die Reptilien anzusehen. Das war in den Jahren vor 1982. Vor dem Hurrikan, als die Welt noch nicht aus den Fugen geraten war.

Von dort, wo er steht, kann Curro, wenn er über die Hecken hinweg und zwischen den Pavillons K und A hindurchschaut, die kranken Platanen am Rand der Straße zur Industrieansiedlung Colonia Güell sehen. Und dahinter dann das Röhricht am Flussufer, dessen Spitzen wie die Lanzen und Standarten in diesem alten Gemälde aussehen, dessen Titel er sich partout nicht merken kann. Die Übergabe. Die Übergabe von XYZ. Er kommt nicht drauf.

Gedämpfter Straßenlärm dringt an sein Ohr; Fahrzeuge auf dem Weg zu den bereits erleuchteten Fabriken, Werkstätten und Bürogebäuden. Ein organischer und lebendiger Strom von Geräuschen, wie die eines pulsierenden Körpers. Dann eine Hupe, ein paar Flüche und das Röhren eines Motors, als die Ampel auf Grün springt und jemand das Gaspedal bis zum Bodenblech durchtritt. Es riecht nach Eukalyptus- und Johannisbrotbäumen, nach Zementfabriken und dem in den nahe gelegenen Artischockenfeldern und Olivenhainen verbrannten Unkraut. Nach zur Hälfte ausgehärtetem Beton. Nicht ein Vogel ist am Himmel zu sehen, auch nicht in den Bäumen. Es ist windstill, alles starr vor Kälte.

»Nichts zu danken, Señor. Wenn Sie mir gestatten …« Plácido zieht sich ein kleines Taschentuch aus dem linken Ärmel, wickelt es um seinen Zeigefinger und wischt Curro den Restschaum vom Schnurrbart. »So, fertig. Tut mir leid, dass ich Sie heute nicht habe ankleiden können. Als ich mit der sauberen Garderobe in Ihr Zimmer kam, waren Sie schon aufgebrochen.«

»Nicht ganz«, antwortet Curro mit einem verärgerten Gesichtsausdruck. »Schwester Lourdes hat mich heute um sieben Uhr früh aus den Federn geholt. Dringliches Gespräch mit Doktor Skorzeny, diesem ausgemachten Kurpfuscher.«

»Tut mir leid, das zu hören, Señor.«

»Und das ohne Clozapin! Kaum zu glauben, oder? Noch vor der ersten Medikamentenausgabe hat sie mich antreten lassen, verdammt! Kompletter Kaltstart. So war ich Skorzeny beim Verhör schutzlos ausgeliefert. Hört sich das für dich vielleicht besonders ethisch an oder im Sinne des alten Hippokrates? Auf dem Weg zum Büro fragte sie mich in einem fort, was ich denn angestellt hätte, dass Skorzeny mich so dringend einbestellt.« Curro drückt mit den Fingern an einem seiner Ohrläppchen, quetscht es, als würde er es melken wollen. »Weißt ja selbst, wie das mit den Schuldgefühlen funktioniert – man tendiert dazu, sich alles auf die eigenen Schultern zu laden. Aber mir wollte partout nichts einfallen, was ich ihr hätte antworten können. Das heißt, abgesehen von meiner Flucht aus dieser Anstalt, die ich ja ursprünglich zusammen mit Soldevila geplant hatte. Natürlich war das auch der Punkt, auf den Skorzeny in erster Linie hinauswollte, obwohl er es während des Gesprächs vermieden hat, mich direkt mit der Sache in Verbindung zu bringen.«

Curro hält einen Moment lang inne und denkt nach. Er mag zwar nicht bei vollem Verstand sein, aber er weiß, dass die Ärzte nicht in der Lage sind, seine Gedanken auszulesen und auf diese Weise von seinen Fluchtplänen zu erfahren. Und was Soldevila angeht, nun, der ist stumm, und das macht einen Verrat durch ihn eher unwahrscheinlich. All das beruhigt Curro ein wenig.

»Skorzeny hat mich wieder und wieder gefragt, ob ich nicht doch den Aufenthaltsort meines ›Freundes‹ kennen würde«, berichtet Curro weiter. »Worauf ich dem Doktor erklärt habe, dass die Bezeichnung ›Freund‹ doch ein bisschen weit hergeholt ist und das Wort ›Bekannter‹ wohl eher unsere Beziehung beschreibt. Meinetwegen auch ›Mitbürger‹ oder ›Zeitgenosse‹. Und sicherlich findet da ab und an eine Art Austausch statt, basierend auf gegenseitigem Respekt und dem Streben nach Eintracht, aber dieser reicht ganz gewiss nicht bis zur … wie nennt man das noch gleich? Brüderlichkeit. So oder so, ich habe jedenfalls herausgestellt, dass wir sein Verschwinden sehr bedauern und sein Lächeln vermissen werden. Denn die Erinnerung an das Tal, in dem er lebte, wird nicht durch den Staub ausgelöscht … den Staub der Straße, ähm, des Vergessens …«

»Verstehe, Señor«, sagt Plácido. Er ist einigermaßen perplex angesichts der letzten Worte seines Dienstherrn, lässt sich die Verwirrung aber nicht anmerken.

»Wovon ich Skorzeny natürlich nichts erzählt habe – weil ich nämlich, wie du am besten weißt, schlau wie ein Fuchs bin –, ist die Tatsache, dass ich selbst gern den Aufenthaltsort von Soldevila wüsste, um hinzugehen und dem Kerl die Kehle durchzuschneiden. Rom bezahlt keine Verräter!«

»Natürlich nicht, Señor. So etwas macht Rom nicht. Insgesamt keine besonders guten Neuigkeiten.«

»Spar dir deine Euphemismen, mein Lieber. Das sind ganz und gar abscheuliche Neuigkeiten. Und dann noch alle auf einen Schlag. Wie geht das Sprichwort noch mit der Brühe und dem Mund?«

»Oft wird vom Teller zum Mund die Suppe kalt und ungesund, lautet das Sprichwort, Señor. Es bedeutet, dass selbst die berechtigtsten Hoffnungen auf das Erreichen unserer Ziele und Träume von einer Sekunde auf die andere zerstört werden können.«

»Sehr richtig, Plácido. Meine Ziele und Träume, zum Greifen nahe und doch allesamt zerplatzt. Sieht so aus, als hätte Gott wieder einmal direkt über meinem Kopf seine Notdurft verrichtet. Entschuldige die Wortwahl, mein Freund. Aber damit sind unsere Fluchtpläne im Eimer, zunichtegemacht von einem unbeherrschten Schizophrenen mit Aphasie, der allem Anschein nach unfähig ist, selbst die simpelsten Befehle zu verstehen. Und natürlich ist es nicht dabei geblieben. Nein, nein, nein. Obendrein ist mir Skorzeny natürlich wieder mit der alten Leier gekommen: erst die Vorfälle in meiner Kindheit, dann der Grund für meine Einweisung in diese Anstalt und die psychiatrisch-neurologische Krankengeschichte meiner Familie. Und abschließend, als großes Finale sozusagen, hat er sich erdreistet, eine Anspielung auf die … die Attacke zu machen.«

»Eine Unverschämtheit sondergleichen, Señor!«

»So sieht’s aus, mein Bester. Und obendrein …« Curro unterbricht, zweifelt, ob er es aussprechen soll. Er wendet den Blick von seinem Butler ab und beginnt, mit dem Fingernagel seines rechten Zeigefingers unter einem Nagel der anderen Hand zu bohren.

»Señor?«

»Am Ende des Verhörs habe ich wieder Wahnbilder gesehen.«

Unmerklich fast schraubt Plácido die Augenlider einen Millimeter nach oben. Sein Nacken wird steif, und er räuspert sich. Die Finger im Pinzettengriff zupft er sich ein nicht vorhandenes Haar vom linken Ärmel seines Jacketts.

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich so direkt frage, Señor, aber gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie von einer Erscheinung sprechen? Dem Geist Ihrer verstorbenen Mutter?«

Curro stützt sich an der Außenwand des Pavillons ab, als würden ihm seine Beine jeden Moment den Dienst versagen. Von außen betrachtet gleicht das Gebäude den anderen Pavillons: rechteckige Grundfläche, in hellem Beige gestrichene Mauern mit einem in Kniehöhe um das Haus laufenden Band aus smaragdgrünen Fliesen, auf denen klassische Motive des Mittelmeers dargestellt sind: Windrosen, Segelboote, Sardinen im Profil, strahlende Sonnen. Die Fenster sind mit gelblichen Lamellenvorhängen versehen, die über Endlosschnüre aus Kugelketten verfügen und aus grobem Material bestehen, sodass man von außen nicht genau erkennen kann, was in den Räumen vor sich geht. Flüchtige Schatten, Teile von Gesichtern, der Schimmer von Leuchtstoffröhren, mehr ist nicht zu sehen.

»Ja«, antwortet Curro schließlich mit dünner Stimme. Dann überkommt ihn ein Dreifach-Tic: Sein Gesicht verzerrt sich, sein Hals zuckt, und sein Ellbogen schnellt gen Himmel. Plácido wendet den Blick ab, um es nicht mitansehen zu müssen. »Richtig geraten, und wie zu erwarten war die Erscheinung heute besonders grauenhaft. Sie kam aus einer Hecke hervor und bewegte sich reichlich ungelenk. Na ja, wenigstens hat sie sich dieses Mal bewegt, Plácido. Ist ja auch nicht mehr so leicht für sie, schließlich ist die Gute bereits seit 1982 tot. Sie trug wieder dieses alte Brautkleid, das mit den … mit den Kakerlaken drauf, die kreuz und quer über den Stoff huschen.«

»Also wieder die Kakerlaken, Señor?«

»Ja, Plácido«, sagt er und tritt von der Wand weg, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Dann greift er mit beiden Händen seinen Kopf. Kurz darauf lässt er ihn wieder los, um seinen Butler anzusehen und die offenen Hände seitlich auszustrecken, als würde er ein unsichtbares Bandoneon halten. »Diese unseligen Krabbelviecher. Eines von denen war zerquetscht wie bei … egal. Es war jedenfalls ein ekelhafter Anblick, und als Krönung habe ich auch noch reichlich unmannhaft das Bewusstsein verloren. Und das alles im Büro von Skorzeny.«

»Ich kann mir vorstellen, wie schwierig das für Sie war, Señor. Und wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Señor, an Ihrer Männlichkeit gibt es nun wirklich keinerlei Zweifel anzumelden. Auch starke Männer weinen. Denken Sie nur an Sir Winston Churchill, Señor. Der hat häufig geweint, und ich glaube nicht, dass auch nur einer seiner Zeitgenossen ihn für ein Weichei hielt.«

»Danke, Plácido.«

»Wir werden an den Stränden kämpfen, Señor.« Seine Stimme beginnt vor Emotion zu zittern. »Noch nie in der Geschichte menschlicher Konflikte hatten so viele so wenigen so viel …«

»Ist gut, Plácido. Ich hab’s kapiert.«

»Verstehe, Señor. Wenn Sie mir noch eine Frage erlauben: Im Pavillon spricht alle Welt von der Sache mit Señor Soldevila, und ich frage mich, ob er vielleicht irgendeinen Hinweis auf seinen Verbleib oder seinen momentanen Aufenthaltsort hinterlassen haben könnte.«

»Nein. Obwohl, warte …« Curro hebt den Finger und reißt die Augen auf. »Das hätte ich beinahe vergessen.« Er schiebt Daumen und Zeigefinger in die rechte Tasche seines Morgenmantels und zieht einen kleinen, einmal gefalteten Zettel hervor. Dann streckt er den Arm aus und hält seinem Diener mit einer dramatischen Handbewegung das Papier entgegen. »Auf seinem Bett lag diese Nachricht hier. Sie war an mich gerichtet, aber da der Zettel nicht in einem Umschlag steckte, haben Skorzenys Leute ihn gelesen. Hätte ja schließlich etwas über seine Flucht drinstehen können. Nun ja … ich denke, es ist besser, wenn du ihn selbst liest.«

Kapitel 2

»Curro! Ruf deinen Vater und deinen Bruder. Mach schon, das Abendessen ist fertig.«

Das Exemplar Nummer 1, nennen wir es »Mutter«, ist ein zweibeiniges Säugetier und das größte Lebewesen in der Wohnung. Das auffälligste Merkmal ist der ausgeprägte Sexualdimorphismus: Das Weibchen kann bis zu fünfzig Kilogramm mehr als das Männchen wiegen. Sie ist eine Allesfresserin und hat aufgrund der Körpergröße nur wenige natürliche Feinde.

Meine Mutter spricht, während sie kaut, und umgekehrt. Dadurch klingen ihre Worte so klebrig, als würden sie sich in einem Haferbrei stromaufwärts kämpfen.

»Hast du gehört, Curro?«

Ich schaue sie an. Ihr Gesicht strahlt eine sanfte Traurigkeit aus, einen Kummer, der über die zwei großen Wangen an die Oberfläche gepresst wird. Es ist ein kleines Gesicht, das versucht, aus dem anderen, größeren Gesicht zu entfliehen. Sie kaut etwas, allerdings beiläufig und freudlos, als wäre dieses Etwas gegen ihren Willen in ihren Mund gelangt.

Ich rühre mich nicht, bleibe im Schneidersitz auf dem Boden hocken, die Beine angewinkelt und ineinandergeschoben. Ich habe Strümpfe an, sitze neben dem Gasofen, auf dem Kunstfaserteppich mit den feinen persischen Mustern, den meine Eltern vor zwei Jahren mit der Kundenkarte eines Nachbarn (sie selbst haben keine) im Großmarkt gekauft haben. Die Hitze des Ofens wärmt meine rechte Wange und die ihm zugewandte Seite meines Körpers. Das Butan knistert und flackert, kleine bläuliche Flämmchen zucken hinter dem Ofengitter empor und verschwinden wieder. Ich schaue sie einen Moment lang an. Sie sehen aus wie Irrlichter: Sie tanzen, vollführen Wellenbewegungen, verschlingen sich selbst. Die andere Seite meines Körpers, die vom Ofen abgewandte, bleibt kalt, die Hälfte meines Hinterns ebenfalls. Im Fernsehen läuft Más vale prevenir. Ich schaue aber nicht hin. Es ist nicht unbedingt meine Lieblingssendung. Gerade bringen sie einen Sonderbericht über eine Massenvergiftung durch gepanschtes Rapsöl.

»In Madrid sind heute zwei weitere Personen gestorben«, sagt der Moderator betroffen. »Dem Ministerium für Gesundheit und Verbraucherfragen zufolge stehen diese Todesfälle erneut im Zusammenhang mit dem Verzehr von Rapsöl, das für Industriezwecke bestimmt war.«

Ich blättere mein Sammelkartenalbum España 82 durch und bleibe mal wieder auf der Seite der englischen Nationalmannschaft hängen. Mir fehlen noch ein paar Spieler, aber egal: Ich bin für England. Mein Lieblingsspieler ist Kevin Keegan. Er ist klein, hat eine lockige Mähne und stämmige Beine. Seine Sammelkarte ist eine von denen, die mir noch fehlen. Priu meinte zwar, er würde sie mir besorgen, aber ich weiß, das wird nie was. Priu hat keine Ahnung von Fußball, keine Freunde und kein Geld. Wenn einer also die Karte von Kevin Keegan besorgen kann, dann ich selbst.

Ich weiß nur noch nicht, wie ich es anstellen soll. Kaufen kommt nicht infrage, denn finanziell ist die Lage bei uns zu Hause gerade etwas schwierig. »Alle Welt macht momentan eine schwere Zeit durch«, sagt meine Mutter. Ich dachte bisher, wir wären ein bisschen arm, und gut ist. Meine Mutter sagt aber, dass das nicht stimmt. Und dass wir zur Mittelschicht gehören.

Im Gegensatz zu mir schaut meine Mutter tatsächlich zum Fernseher. Gleichzeitig deckt sie mit ihren Roboterarmen den Tisch. Die Programme, bei denen es um die Leiden der anderen geht, Programme wie Más vale prevenir, verpasst sie nie.

»Nehmen wir auch Rapsöl, Mama?«, frage ich vom Teppich aus, ohne den Blick von meinen Sammelkarten abzuwenden. Obwohl ich nicht zum Fernseher schaue, bekomme ich die Zahl der geschätzten Todesfälle trotzdem mit einem Ohr mit. Mehrere Hundert. Grund genug, um etwas beunruhigt zu sein.

»Nein«, sagt sie. Mit einer Hand, die einem aufgedunsenen Seestern ähnelt, streicht sie die rot-weiß karierte Tischdecke glatt und sieht anschließend erneut zum Bildschirm. »Das kaufen nur die Hungerleider.«

In meiner Familie rennt man wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt. Begeisterung erfüllt das Haus, wenn eine Magen-Darm-Grippe die Runde macht. Komplette Vormittage verbringen wir in der Poliklinik, beobachten schmerzgeplagte Menschen mit ihren Neuralgien, Prolapsen und Sepsen, ihren Thrombosen und Krampfaderleiden. Später machen wir das Gleiche in den Apotheken. Danach kümmert sich meine Mutter eingehend um unsere Krankheiten und vernachlässigt dafür sogar die Hausarbeit. Sie quetscht Pickel aus, bindet Warzen ab, trägt Jodtinktur auf, verabreicht Heilkräutertees. Man könnte meinen, dass es ihr gefällt, wenn wir kraft- und schutzlos darniederliegen, fiebrig und lethargisch.

Trotz der großen Achtung, die sie vor Ärzten und Medizinern hat, schwört sie auf Selbstmedikation. In bestimmten Fällen, insbesondere bei fiebrigen Erkältungen, verordnet sie uns mehrere Medikamente auf einmal, die dann zu einem von ihr selbst erfundenen und nach überreifen Orangen schmeckenden Arzneimittelcocktail zusammengerührt werden. Das Gemisch wirkt zwar gegen Erkältung, verursacht aber auch heftigste Durchfälle. Meine Mutter sagt dann, man könne nicht alles im Leben haben, und ich glaube, ich verstehe, was sie damit sagen will. Meine Nase ist trocken, aber mein Hintern nicht. Manchmal muss man sich entscheiden, was das kleinere Übel ist.

»Na los, mach schon, Curro«, sagt meine Mutter, denn ich lümmele immer noch am Boden herum, mittlerweile auf dem Teppich liegend, den Kopf mit der Hand abgestützt. Ich ignoriere ihre Aufforderung und blättere stattdessen weiter in meinem Album. Ich bin auf der Seite der österreichischen Auswahl angekommen. Manchmal denke ich mir Geschichten zu den Spielern auf den Sammelkarten aus: Weber ist gerade sauer auf Prohaska. Wegen des schiefgelaufenen Banküberfalls ist er schlecht auf ihn zu sprechen. Die beiden wurden nämlich aufgehalten, und zwar von … Dihanich. Es fehlte nicht viel, und Dihanich hätte sie voll Blei gepumpt.

»Ooo-kay«, sage ich und stehe auf.

»Die chronische Phase ist gekennzeichnet durch Hepatopathie, Sklerodermie und …«, erklärt der Mann im Fernsehen.

Ich reibe die Hände aneinander und drehe sie dabei, ungefähr so, als würde ich sie mir waschen, aber ohne Wasser und Seife. Anschließend lasse ich meine Fingerknöchel knacken – und zwar ein, zwei, drei Mal –, rieche danach erst an der einen, dann an der anderen Hand und schnipse zum Abschluss zwei Mal hintereinander mit den Fingern. Fertig. Jetzt kann ich machen, was meine Mutter sagt. Obwohl, noch nicht ganz.

»Lass den Lichtschalter in Ruhe, Curro! Mit dem Geknipse machst du nur die Glühbirne kaputt.«

Okay, jetzt geht’s.

»Papa, was ist eigentlich Sklerodermie?«

»Was? Woher zum Henker soll ich das wissen? Los, Curro, zähl mit. Ab jetzt, verstanden? Und wehe, du träumst hier wieder rum. Ist nämlich immer das Gleiche mit dir!«

Bei dem Exemplar Nummer 2, das wir fortan »Vater« nennen werden, handelt es sich um einen räuberischen Vertreter der Crustacea, der Krebstiere also. Er besitzt ein einfaches Gehirn, das ihn zu einer grundlegenden Kommunikation mittels einer symbolhaften und größtenteils auf Drohungen und Gebärden basierenden Sprache befähigt. Das zweite Merkmal von Bedeutung bei diesem Exemplar ist die Tatsache, dass es in einem ungewöhnlichen Entwicklungsstadium stecken geblieben ist: ähnlich einer Raupe, die zum Kokon geworden ist, nun aber in diesem Zustand verharrt, anstatt sich in einen Schmetterling zu verwandeln.

»Vater« ist gerade auf der Dachterrasse, direkt unter den dort gespannten Wäscheleinen; ein paar rostige Drähte mit grüner Plastikummantelung, die an einigen Stellen schon reichlich abgenutzt ist. Er macht Liegestütze. Obwohl es Januar und ziemlich kalt ist, trägt er nur Feinrippunterhemd und kurze Hose. Es ist halb neun, die Sonne ist schon vor ein paar Stunden untergegangen. Am Himmel sind weder Sterne noch Mond zu sehen, sie werden von einer dicken Schicht Wolken verdeckt.

Unsere Wohnung hat zwei Etagen, allerdings ziemlich kleine, und sie gehört uns nicht. Wir mieten. Sie ist eng und feucht, und an den Wänden in der unteren Etage blättert der Putz und wölben sich die Zierleisten. Fast könnte man meinen, unsere Wohnung hätte Blähungen, Pickel und Entzündungen. Sie befindet sich zu nah am Fluss, und einen Garten mit kleinen Zwergen und Hundehütte wie die Leute in Dallas haben wir auch nicht. Auf der Dachterrasse steht ein Häuschen mit Asbestdach, dessen Glühbirne ein schwaches Licht auf die Gegenstände um uns herum wirft: ein alter Besen samt Kehrschaufel aus Plastik, rosa, die Borsten nach oben gerichtet; ein grünes Fensterrollo, eingerollt und kaputt; ein Tisch mit Beinen wie aus dem Metallbaukasten und einer ziemlich abgewetzten Tischplatte aus Pressholz; eine Waschmaschine, bedeckt von einem alten Wachstuch mit orangefarbenen Punkten; ein Waschbecken aus Beton, überzogen von einer glitschigen Schicht grünem Moos.

Der Rest der Dachterrasse liegt fast komplett im Dunkeln. Ebenso die Umgebung, ausgenommen die Fenster einiger Nachbarwohnungen. Die Wassertanks aus Beton, die Abflussrohre, die Taubenschläge, die Antennen – nichts von alldem ist zu erkennen. Nur mein Vater und ich sind hier. Aus dem mit Fliegengitter bespannten Schlafzimmerfenster meiner Eltern fällt Licht nach draußen, direkt in meinen Rücken, und ermöglicht mir einen guten Blick auf die Züge meines alten Herren. Sein Gesicht sieht aus wie das Innere eines Granatapfels. Er schnaubt und keucht, seine Arme zittern und spannen sich bei jedem Liegestütz neu an, aber er hält nicht inne. Und so zähle ich. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Ich wende den Blick von ihm ab und schaue nach links, zum Patio unserer Nachbarn und ehemaligen Freunde, der Hurtados. Mir fällt ein, dass ich weder zu ihnen hinübersehen noch irgendetwas erwähnen darf, was mit ihnen zu tun hat, also schaue ich wieder zu meinem Vater.

Sein Körper geht runter, kommt wieder hoch; geht runter, kommt wieder hoch. Fast wie eine Maschine. Neue Muskeln erheben sich aus seinen Schulterblättern. Ich rubbele mit den Fingern an meinen Handgelenken, dann reibe ich die Hände aneinander, dann rieche ich an meinen Fingerspitzen. Über unserer Terrasse hängt jedoch ein Duft nach frisch gewaschenen Laken, wahrscheinlich von einem Nachbarhaus herübergezogen, der den wahren Geruch meines Körpers, meiner Finger und meines Speichels übertüncht. Ich reibe mir weiter die Handgelenke, zähle weiter die Liegestütze.

»Was hab ich dir gesagt, hä? Hör auf, diesen Mist mit den Händen zu machen, verdammt nochmal!«, sagt er. Von seinem Kopf steigt eine Dampfwolke auf, als hätte dort jemand ein Feuer entzündet. Und dann, durch zusammengepresste Zahnreihen: »Nichts als Scherereien mit dem Bengel!«

Mit neuer Energie reibe ich die Hände aneinander und rieche daran. Dann verdrehe ich sie wieder und biege die Handgelenke nach oben durch. Dieses Mal bemerkt es mein Vater nicht. Früher hat er sich häufig wegen solcher Sachen aufgeregt, jetzt macht er das weniger. Er wirkt etwas abwesend, als wäre er an einem anderen Ort. Irgendetwas ist mit ihm. Manchmal überrasche ich ihn, wenn er diesen gedankenverlorenen Blick draufhat und ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht liegt. Dann weiß ich, dass er nicht hier ist.

Mein Vater macht weiter mit den Liegestützen. Der Boden ist glatt, klamm von der Feuchtigkeit des Flusses und kurz davor zu überfrieren. Vielleicht friert es ja heute Nacht tatsächlich noch, wenn die Temperatur noch ein paar Grad runtergeht. In unserem Ort ist die Luft immer irgendwie feucht, die Nähe zum Llobregat ist schuld. Alles ist irgendwie rutschig und glitschig, außer in den heißen Monaten natürlich. Auch heute Abend bedeckt eine Schicht, glibberig und kalt wie die Haut auf dem Truthahnfleisch, alle Oberflächen. Irgendwo in einem weit entfernten Patio bellt ein Hund.

Sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf. Mein Vater: Schnaubend atmet er ein und aus, grunzt hin und wieder dabei. Wie eine Kette Rauchwölkchen quillt der heiße Atem aus seinem Mund.

»Dann weißt du also nicht, was Sklerodermie ist?«, sage ich, einfach um zu reden.

»Nein, verdammt nochmal, weiß ich nicht. Ich hab gesagt, du sollst mitzählen!«

Vor einiger Zeit kam es meinem Vater in den Sinn, Sport zu machen. Dabei war das bis dahin nie etwas für ihn gewesen; so kannten wir ihn nicht.

Damals wog meine Mutter noch vierzig Kilo weniger, und mein Vater saß für gewöhnlich im Morgenmantel in seinem schwarzen Kunstledersessel und spielte mit einem Zauberwürfel herum, Abend für Abend. Er kümmerte sich um sein Aquarium und seine anderen Sachen. Einmal verbrachte er einen ganzen Monat damit, den Modellbausatz einer Raumfähre namens Space Shuttle zusammenzubauen und dabei eine Kassette mit dem Titel Tales of Mystery and Imagination zu hören. Die ganze Wohnung roch nach Uhu-Kleber und den Chesterfields, die er andauernd rauchte.

Ein Jahr später, als der Wind sich allmählich gedreht hatte, warf mein Bruder Richard bei einem seiner regelmäßigen Wutanfälle das Modell der Raumfähre auf den Boden. Mein Vater verpasste ihm mit der flachen Hand eine Backpfeife, die ihm fast das Gesicht verschoben hätte, aber Richard ließ sich nicht einschüchtern und schleuderte meinem Vater ein schreckliches Erwachsenenschimpfwort an den Kopf, das er auf dem Schulhof aufgeschnappt hatte. Daraufhin versuchte meine Mutter, Richard mit einem Pantoffel zu erwischen, aber der hatte seinen Ellbogen zum Schutz ausgefahren, sodass sich meine Mutter ihren wabbeligen Unterarm daran stieß. Sie heulte vor Schmerz auf und humpelte mit nur einem Pantoffel an den Füßen durch die Gegend, während mein Vater weiter meinen Bruder anbrüllte, ihm mit der Faust drohte und um den Esstisch jagte. Ich war der Einzige, der noch am Tisch saß, und würgte mühevoll das mit gehacktem Knoblauch und Petersilie gebratene Hähnchenfleisch herunter, das meine Mutter für uns zubereitet hatte. Alles nur, um sie glücklich zu machen. Aber sie bemerkte es nicht einmal, weil sie sich in der Küche eingeschlossen hatte.

Jetzt ist mein Vater eigentlich so gut wie nie zu Hause. Er kommt erst sehr spät heim, und wenn er die Tür aufmacht, schnaubt er erst mal: »Diese Nebenjobs machen mich fertig … diese beschissenen Nebenjobs.« Ist er dann doch mal zu Hause, verbringt er den Abend mit Liegestützen oder Rumpfbeugen auf der Terrasse, bis es Zeit fürs Essen ist. Er schaut weder nach seinem Aquarium noch nach seinen Kassetten oder Modellen. Nicht mal auf meine Tics achtet er noch. Und meine Mutter läuft dauernd zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, immer hin und her, mit diesen lächelnden Augen voller Gram, den aufgedunsenen Lidern mit den schwarzen Rändern, die wie angesengt aussehen, und diesem Kiefer, der immer nur kaut, kaut, kaut, als wäre sie eine Raupe, die sich durch eine Müllhalde frisst.

»Raus mit dir, du Lutscher!«

Das Exemplar Nummer 3 ist Richard, den wir auch »älterer Bruder« nennen können. Es handelt sich um ein fleischfressendes Säugetier beim Übergang ins Erwachsenenalter. Zu seinen besonderen Merkmalen zählen die fettige Haut, der unangenehme Körpergeruch, der willkürliche Körperhaarwuchs, der Rücken, Achselhöhlen, Geschlechts- und Mundbereich mit wild sprießenden Haarbüscheln übersät, sowie das aggressive Territorialverhalten. Das Exemplar Nummer 3 ist selbst zu mentalen Prozessen geringer Komplexität nicht in der Lage und wird in seinem Handeln von primitiven Trieben und Instinkten geleitet.

»Raus mit dir, hab ich gesagt, verdammter Klumpfuß!«, schreit er mich noch einmal an. Dieses Mal habe ich darauf geachtet anzuklopfen, bevor ich eintrete. Ganz so, wie es der Aufkleber verlangt, den er an die Tür unseres gemeinsamen Zimmers gepappt hat. Darauf steht: »ZUTRITTVERBOTEN – LEBENSGEFAHR!« Das Bild darüber zeigt einen Mann mit Anzug und Hut, der von einem nicht sehr großen, aber ganz sicher tödlichen Blitz getroffen wird und explodiert. Exemplar Nummer 3 wirft eine seiner Jesuslatschen nach mir. Zum Glück sind sie weich, und zum Glück halte ich mir schnell genug den Arm vors Gesicht. Ich sage ihm, dass ich doch nur der Bote bin, verdammt, dass meine Mutter uns zum Abendessen ruft und dass es auch mein Zimmer ist und ich meine Hälfte nicht einfach so hergeben werde.

Unser Zimmer ist das feuchteste in der ganzen Wohnung, eine Höhle in der unteren Etage mit Fenster zur Straße, die vor unserer Geburt eine Mischung aus Abstellkammer und Erweiterung des Eingangsbereichs war und in die niemals die Sonne scheint, nicht am Morgen, nicht am Nachmittag. Die Wände sind mit Korkplatten verkleidet, die dank der Feuchtigkeit nicht nur dunkler geworden sind und eine moosartige Farbe angenommen haben, sondern auch von kleinen und großen Flecken überzogen werden, die wie Inseln und Kontinente aussehen. Wir haben ein Doppelstockbett, meine Etage ist die untere. Richard liegt gerade oben auf seiner Matratze, lässt die Beine herunterbaumeln und schaut mich mit seinem Raubtierlächeln an. Hinter ihm an der Wand ist ein Poster von Rummenigge, dem deutschen Stürmer, zu sehen. Es ist ein schlechtes Foto; der Fotograf hat ihn in einer merkwürdigen Haltung erwischt. Man könnte meinen, Rummenigge hätte sich gerade den Knöchel verdreht. Sein Körper kippt zur Seite, als würde er gleich zusammenbrechen.

Mein Bruder ist vierzehn Jahre alt und geht seit Kurzem aufs Instituto Rubió i Ors, das direkt neben dem Parc de la Muntanyeta liegt. Richard ist ein sehr dunkler Typ. Sein Haar, schwarz wie das eines Sioux, trägt er lang. Er hat ein recht symmetrisches Gesicht, klare Augen von mandelbrauner Farbe und für sein Alter einen ziemlich definierten Körper. Und er verprügelt mich in einer Tour. Es sind harte, präzise Schläge, oft ins Gesicht, und fast ist es so, als gäbe es die Blutsbande zwischen uns gar nicht. Als würde er mich überhaupt nicht kennen.

»Er benutzt die Fäuste, du benutzt eben die Worte«, sagte mir meine Mutter eines Nachmittags, als Richard mir die Lippe blutig geschlagen hatte. »Na los, verteidige dich!«

Wir standen mitten im Zimmer, als meine Eltern reinkamen. Es roch nach Schweiß. Die Luft schien noch heiß von den zwei Körpern, die kurz zuvor zusammengeprallt waren, um ihre Kräfte zu messen. Ich hob die Hand zum Gesicht, betastete meine Lippe und sah, dass meine Handfläche voller Blut war. Richard hielt mich immer noch am Hals gepackt. Seine rechte Faust, am Ende seines langen Arms, schwebte über uns in der Luft. Mein Mund war von einem metallischen Geschmack erfüllt. Der Grund: die Wunde auf der Innenseite meiner Lippe, wo die Schneidezähne das Fleisch aufgerissen hatten.

»Na los, du musst ihm auch eine verpassen!«, schrie mein Vater mich an und rüttelte an meinen Schultern, nachdem er mir Richard mit einem Schubser vom Leib geschafft hatte. »Sei keine Heulsuse, Mensch! Schlag zurück!«

Ich rieb mir die Hände. Beide waren voller Blut, aber als ich es verrieb, blieben kleine Hautareale, die weniger stark eingefärbt waren. Schlammfarbener Dreck, der jeden Moment trocknen würde. Meine Finger sahen aus wie die eines Chirurgen, als hätte ich in den Lungenflügeln eines von Hals bis Bauchnabel geöffneten Patienten herumgewühlt. Ich starrte sie an. Dann antwortete ich meinem Vater.

»Ich kann aber nicht!«, schrie ich und schluchzte erbärmlich. Richard, der hinter meinem Vater stand, brach in schallendes Gelächter aus, während mein alter Herr sich das Gesicht rieb und die Haare raufte. Der Geruch seines Aftershaves, Marke Aqua Velva, legte sich auf die Szene, und meine Mutter, mit ihren geschwollenen und versengt aussehenden Augenlidern, schaute in eine andere Richtung.

»Lass den Lichtschalter zufrieden, du Waschlappen!«, sagt Richard jetzt und legt die Motorradzeitschrift beiseite, die er gerade durchgeblättert hat. Solomoto heißt sie. Danach springt er von seiner Matratze in der oberen Etage des Doppelstockbetts herunter und landet mit gespreizten Beinen direkt vor mir. »Hab doch gesagt, dass ich gleich komme. Und was ich dir noch sagen wollte, du Spinner … du solltest unbedingt damit aufhören.« Er zeigt auf meine Hände. »Von wegen andauernd das Licht an- und ausschalten und dieser ganze andere Scheiß. Du weißt schon, dich selbst anfassen und dann an den Fingern riechen und so.« Er zieht die Nase hoch, wodurch er kurz wie ein fieses Kaninchen aussieht, und schiebt sich die Haare auf einer Seite hinters Ohr. Dann geht er um mich herum und verlässt das Zimmer, aber ich höre, wie er im Flur die Stimme hebt und den Gedanken fortführt. »Das ist nicht normal, Junge. Absolut nicht normal. Ich sag dir lieber nicht, wie die Leute aus meiner alten Klasse bei den Salesianern dich genannt haben.«

»Clochard, runter vom Tisch!«, sagt meine Mutter.

Bei Exemplar Nummer 4 handelt es sich um ein domestiziertes Säugetier aus der Familie der Canidae, das wir »Clochard« nennen. Sein markantestes Merkmal: Er ist harmlos. Clochard ist die beste Person in der Familie, und er ist ein Hund. Gerade hat er den Kopf in der Nähe meines Tellers auf den Tisch gelegt. Die schwarze, haarige Schnauze, überzogen mit zum Himmel stinkendem Speichel, die glänzende Nase in Form einer dunklen Olive, die auf beiden Seiten des Kopfes positionierten Pfoten – es sieht aus, als hätte man ihn am Rand der Tischplatte festgeklemmt wie eine dieser Leseleuchten mit biegsamem Arm. Seine Augen sind nicht zu sehen. Er hat ein sehr dunkles Fell, schwarz wie Teer, zerzaust und verfilzt. Er gehört keiner besonderen Rasse an, ist einfach nur Hund. Und er riecht auch so. Er schnauft und stöhnt, bewegt sich nicht, hat den Kopf starr auf meinen Teller gerichtet. Er ist so arglos wie ein Reh.

»Runter mit dir, du ekelhafte Fellkugel!«, schreit mein Vater ihn an und reißt dabei drohend die flache Hand in die Höhe. Clochard macht einen Satz und springt vom Tisch herunter. Ich schaue ihn an. Er steht an meiner Seite, ganz rechts am Tisch. Dann bringt er sich vor der Wand in Stellung und beginnt zu bellen, obwohl es dort absolut nichts anzubellen gibt.

Ein weiteres wichtiges Merkmal von Exemplar Nummer 4 besteht neben seiner geringen Intelligenz und den nur mangelhaft bis gar nicht funktionierenden Sinnesorganen in der Tatsache, dass dieser Hund an diversen Defekten leidet, zu denen dysfunktionale Verhaltensweisen, Soziopathien, Zwangsstörungen, Angstzustände und Phobien zählen.

Clochard bellt weiter die Wand an. Er ist nicht ganz richtig im Kopf. Bester Beweis für die These, dass Hunde sehr wohl verrückt sein können. Viele Menschen wissen das nicht; es hat sich noch nicht rumgesprochen. Priu hat es mir erzählt. Er meinte, er hätte es in einem Buch gelesen.

Meine Familie wusste das von Anfang an, als sie Clochard vor ein paar Jahren, Anfang 1980, in einer Tierhandlung namens Mis Canarios kaufte, einem Laden in der Nähe des alten Fußballplatzes, direkt auf der ansteigenden Straße bei der Tankstelle, wo die billigen Häuser stehen. Es war ein Samstagvormittag im Frühling, und wir waren zu viert unterwegs, die ganze Familie also. Wohin wir wollten, weiß ich nicht mehr – uns vielleicht im Parc de la Muntanyeta die Beine vertreten, vielleicht auf einen Wermut zur Plaza Catalunya, wie wir es an den Samstagen öfter machten.

Clochard saß im Schaufenster von Mis Canarios und kratzte mit den Vorderpfoten an der Scheibe, was ein sehr unangenehmes Quietschen verursachte. Damals war er noch etwas kleiner als heute und dürfte noch nicht mal ein Jahr alt gewesen sein. Alle vier drängten wir uns vor dem Schaufenster, um ihn anzuschauen, und irgendwann ging jemand rein, um sich nach dem Kleinen zu erkundigen. Richard bestand darauf. Wie viel er denn koste und so weiter.

»Er war lange Zeit hier eingesperrt«, erklärte uns die junge Frau in dem Laden. Sie holte den Hund aus dem Käfig im Schaufenster, streichelte ihn ein wenig und setzte ihn dann auf den Boden, wo der Welpe mit heraushängender Zunge und freudig bellend herumsprang und sich drehte und wand, als würde er jeden Moment einen Herzinfarkt bekommen. Am Ende legte er sich auf den Rücken und pinkelte sich selbst an. Meine Mutter zog gerade noch rechtzeitig das Bein weg, indem sie das Knie anwinkelte, aber es fehlte nicht viel, und der Urinstrahl des Welpen wäre auf ihren breitgelatschten Schuhen gelandet. Schon damals waren ihre Hacken durch das Gewicht ihres Körpers nach innen abgeknickt, und dabei wog sie noch nicht mal annähernd so viel wie jetzt.

»Er hat Agoraphobie«, erläuterte die Verkäuferin von Mis Canarios.

»Agoraphobie?«, fragte ich nach. Ich kannte das Wort nicht. Priu und ich hatten es noch nicht in seiner Enzyklopädie nachgeschlagen.

»Angst vor der Außenwelt«, antwortete die Frau wie aus der Pistole geschossen und war ganz offensichtlich stolz darauf, für einen kurzen Moment mit ihrem Wissen prahlen zu können. Sie hatte einen sehr straff nach hinten gezogenen Pferdeschwanz, was ihre Augen etwas schlitzförmig machte und für einen finsteren Blick sorgte, der so gar nicht zu ihrer freundlichen Art passen wollte. Ihr war anzusehen, dass sie sich wünschte, wir würden den verdammten Hund einfach mitnehmen, keine Frage. Aber andererseits schien sie auch eine sehr pflichtbewusste Zeitgenossin zu sein und legte sich extra ins Zeug, um uns eingehend über die psychische Verfasstheit des Tieres zu informieren.

Ich verzog mich in den hinteren Teil des Ladens und analysierte dort, nach vorn gebeugt und die Hände auf den Knien aufgestützt, einen vollkommen schlappen Leguan – Farbe: zerquetschte Banane –, der absolut reglos in einem Terrarium hockte. Ich klopfte mit dem Fingernagel gegen die Scheibe.

»Hey«, sagte ich. »Hey, du.«

Der Leguan bewegte sich keinen Millimeter, sondern starrte einfach nur mit seinen gelben Augen die Umgebung an. Die Luft in dem Laden war zum Schneiden und roch nach einer Mischung aus Staub, Fertigfutter und Reptilien. Es war so heiß wie im Dschungel. Aus dem Augenwinkel sah ich die Fische in den Aquarien, mit ihren absurd bunt glänzenden Flossen. Ein paar Vögel piepsten in den Käfigen, und irgendwo in einem Hinterzimmer krächzte, vor den Blicken der Kunden geschützt, ein Papagei.

Ich ging einige Schritte nach rechts, wo ein paar kleine Schildkröten in einem blauen Plastikbecken, das wie der Korpus einer Gitarre geformt war, durch das flache Wasser krochen. In der Mitte des künstlichen Miniatursees erhob sich eine Sandinsel, auf der eine Kunststoffpalme stand. Früher hatten Richard und ich auch mal solche Wasserschildkröten gehabt. Sie starben nach ein paar Wochen, trieben mit dem Bauch nach oben in dem kleinen stinkenden Becken, das mit seiner Insel und der Palme ganz ähnlich ausgesehen hatte. Mein Bruder hatte sich nie um die Schildkröten gekümmert. Am Ende war ich es, der sie im Klo entsorgen musste. Ich warf sie alle auf einmal rein, kippte einfach das ganze Becken in die Schüssel und zog an der Spülkette. Keine Ahnung, ob das die richtige Vorgehensweise gewesen war.

Als Richard dann mitten im Laden und wie aus dem Nichts erklärte, dass er einen Hund haben wollte, dass ihn nichts auf der Welt glücklicher machen und er ihm seine »gesamte Liebe« schenken würde, lachte ich so heftig los, dass ich mir den Bauch halten musste. Richard zögerte nicht eine Sekunde lang, nicht einmal um nachzudenken, sondern stürzte mit zwei langen Schritten in meine Richtung und verpasste mir einen Faustschlag auf den linken Oberarm. Ich taumelte ein paar Meter nach rechts und wäre fast auf den Boden gestürzt. Es dauerte nur wenige Minuten, und auf meinem Bizeps prangte ein grau gefärbter Bluterguss in Keksgröße, den alle Welt sehen konnte, weil ich ein kurzärmeliges Hemd trug.

»Wie heißt er denn überhaupt?«, fragte ich. Während ich mir, möglicherweise etwas theatralisch, den Arm rieb, taten meine Eltern so, als hätte es den Faustschlag nie gegeben. Weh tat es trotzdem.

»Clochard«, antwortete die Frau von Mis Canarios.

»Clochard?«, fragte ich ungläubig.

Die Verkäuferin nickte, wobei ihr Gesicht so ausdruckslos wirkte, dass es praktisch alles hätte bedeuten können.

»Kann man den Namen ändern?«, fragte ich. »Die Leute denken doch sonst, dass wir Franzosen sind oder noch was viel Schlimmeres.«

»Besser nicht. Er ist schon ziemlich lange hier und hat sich an den Namen gewöhnt. Wenn ihr ihn ändert, wird ihn das verwirren.«

Ich sah zu dem Welpen, der sich nun mit voller Wucht in den eigenen Schwanz biss.

»Wir nehmen ihn«, verkündete mein Vater. Um seinen Kopf schwebte eine Wolke Aqua Velva, in seiner Hand qualmte eine Chester, die er sich gerade angesteckt hatte. Er trug ein granatfarbenes Polyesterhemd mit kurzen Ärmeln, das bis zum vierten Knopf offen war und den Blick auf ein fein gearbeitetes Goldkreuz an einer Kette freigab.

»Fetzt tierisch!«, rief Richard. Als die beiden dann noch mit einem High Five abklatschten, hätte ich am liebsten in den Laden gekotzt.

»Der Hund hat Agoraphobie, Papa«, sagte ich. Aber wir standen schon am Tresen, und mein Vater hatte bereits sein Lederportemonnaie aus der Gesäßtasche hervorgezogen. »Das bedeutet, dass man nicht mit ihm rausgehen kann. Und einen neuen Namen können wir ihm auch nicht geben! Er heißt Clochard!«

»Wüsste nicht, was dich das angeht, du Hohlbirne!«, schrie Richard. Der Schädel meines Bruders schob sich hinter dem Rücken meines Vaters hervor, wodurch dieser wie ein doppelköpfiges Monster aussah. »Du wirst sowieso nicht mit ihm rausgehen. Es ist nämlich mein Hund! Kapiert? Halt bloß Abstand von ihm, du Flachzange.«

Seit wir den Hund vor zwei Jahren gekauft und mit nach Hause genommen haben, ist niemand aus meiner Familie, niemand außer mir, jemals mit Clochard rausgegangen. Mein Bruder ganz bestimmt nicht. Dabei mag ich Tiere nicht mal. Aber gut, sagen wir einfach, ich habe meine Gründe, warum ich mit Clochard rausgehe, genauso wie ich Gründe für andere Sachen habe, die ich mache.

»Ich möchte der Polizei meinen Dank aussprechen, denn nur dem Einsatz unserer Beamten ist es geschuldet, dass ich noch lebe!«, sage ich mitten beim Abendessen. Dabei führe ich die Hände wie beim Gebet zusammen und tue so, als würde ich in die Mikrofonattrappen vor mir schluchzen – ein paar im Halbkreis angeordnete Gläser und die fast leere Ketchupflasche von Todo-Todo mit dem angetrockneten Tomatenrest am Deckel, die das große Mikro von TVE darstellt. »Danke sehr. Ja, vielen Dank.«

Es fehlte nicht mehr viel, und sie hätten sich gestritten. Mit jedem Satz waren die Stimmen meiner Eltern lauter geworden, aber jetzt lacht meine Mutter, beide Backen vollgestopft mit dem Nachtisch, einer formlosen Masse, die sie »Crêpes« getauft hat. Meine Imitation des Presseauftritts von Julio Iglesias senior hat ihr ganz offenbar gefallen. Die ETA hatte den Vater des Sängers entführt, vor Kurzem ist er wieder freigekommen. Sein Sohn hat das Lösegeld bezahlt. So haben sie’s zumindest gestern im Telediario gebracht. Ein paar Millionen Peseten sollen es gewesen sein.

Mein Vater wendet den Blick von meinem Bruder ab, den er eben noch so angesehen hat, als würde er ihm am liebsten eine Backpfeife verpassen, und lacht gemeinsam mit meiner Mutter. Sie lachen über mich, lachen mit mir, und plötzlich achtet er nicht mehr darauf, wie ich mir zwischen den Happen die Hände reibe, wie ich sie dann beschnüffele, wie ich mir die Fingerspitzen an die Nase halte und nach Gerüchen absuche, verfault oder wohlriechend, ganz egal, und zwar wie besessen, unfähig, mich zurückzuhalten.

Es hat funktioniert. Manchmal geht die Nummer nach hinten los, aber heute hat es geklappt.

»Sag mal, und das hier? Das sollen jetzt tatsächlich Crêpes sein, oder wie?«, sagt mein Vater mit einem fiesen Grinsen und hält einen auf seiner Gabel aufgespießten Klumpen in die Höhe. Die Gabel zeigt zur Decke, und auf ihrer Spitze sitzt dieses … undefinierbare Etwas. Die Farbe des Tisches, der an ihm sitzenden Personen, der uns umgebenden Luft hat sich verändert, von einem dunklen Grün zu einem leichten Gelb, und alles wegen mir. Mein Vater und mein Bruder sitzen vor dem größten Möbelstück im Esszimmer; ihre Körper werden eingerahmt von einem pompösen Regal aus den Siebzigern, das in zwei Farben, Elfenbein und Braun, gehalten ist. Ich blicke auf die Buchrücken in einem der Fächer und beginne, fast ohne es selbst zu bemerken, die Titel zu lesen. Überlebt. Die Anden-Passion; Judith in Madrid; Reise der Verdammten; Das Bermudadreieck; irgendetwas von Anaïs Nin; Antología del disparate 1; Der Pirat von Harold Robbins. Daneben steht ein ziemlich großes Modell von R2-D2 und ein Briefbeschwerer von meinem Vater – eine Art Trophäe, die er entweder bei seiner Arbeit, der Einrichtung und Renovierung von Küchen und Bädern, oder für das Abschneiden bei einer Hallenfußball-Liga seiner Berufsinnung oder sonst irgendetwas in dieser Richtung bekommen hat.

»Ich geh ein bisschen Brot und Käse holen«, sagt meine Mutter, die neben mir sitzt, und schiebt ihren Stuhl mit dem Gesäß nach hinten. Wir blicken starr auf unsere Teller, um nicht mitansehen zu müssen, wie sie hinausgeht. Damit sie nicht sieht, dass wir sie sehen.

Mein Vater pfeift, wie er es immer macht, wenn er sich für etwas schämt, aber nicht den Mumm hat, sich damit auseinanderzusetzen. Es ist nicht mal eine richtige Melodie. Dann krault er Clochard das Kinn, der sich sofort hinlegt und vor lauter Freude derart außer sich ist, dass er auf den Boden pinkelt. Die Pfütze ist hell und transparent. Auf den beigefarbenen Fliesen sieht die Flüssigkeit aus wie Wasser.

»Lai-la-lai-lai-lara«, singt meine Mutter. Es klingt allerdings eher flach, und es ist auch kein richtiges Lied, nur irgendwelche Töne, herausgepresst von einem Muskel, der sich keine Mühe gibt.

Als sie die Küche wieder verlässt, singt sie immer noch. Ich sehe sie kommen, sehe, wie sie sich bewegt, mit diesem ihr eigenen Gang. Die Polster ihres Hinterns haben sich derart ausgedehnt, dass sie ihr bis zur Mitte des Rückens hinaufreichen. Bei jedem Schritt wippen ihre Schulterblätter auf und ab, weil sie durch die aufsteigenden Massen hochgedrückt werden.

»Los, mach noch mal, Curro!«, blafft mein Bruder und verpasst mir über den Tisch hinweg einen Klaps auf die rechte Wange, bei dem fast die Siphonflasche umfällt. Dann schaut er wieder zu meinem Vater. »Haste gesehen, Papa? Genau wie der Vater von Julio Iglesias! Der Hammer, oder?«

»Ja, er soll’s noch mal machen«, sagt mein Vater, ohne mich anzusehen.

»Ich möchte der Polizei meinen Dank aussprechen …«, sage ich erneut. Dann stehe ich auf, reibe mir die Hände, beschnüffele meine Fingerspitzen und kneife ein paar Mal die Augen zusammen. »Darf ich in mein Zimmer gehen?«

»Ach, Curro … wenn du das mit den Augen machst, dann wirkst du richtig labil«, sagt meine Mutter, die gerade zum Tisch zurückgekehrt ist und niemals das andere Wort benutzt. »Na los, schwirr ab.«

»Du bist eine Säuferin und als Mutter nicht zu gebrauchen. Bei der nächstbesten Gelegenheit lass ich dich in die Klapse einweisen. Ist besser so für uns alle.«

Ich drehe meinen Kopf nach rechts, um besser zuhören zu können. Es läuft gerade Dallas. Die Worte meiner Eltern schwirren über den Dialogen der Fernsehserie. Ich kann nichts verstehen, aber die Stimmen der beiden gehen hoch und runter, verändern die Tonhöhe, attackieren und ziehen sich zurück wie zwei Armeen. Mit moderner Technik ließen sich die Kurven und Spitzen ihrer Streitereien bestimmt gut darstellen; die Wechsel in der Betonung, die Anspielungen und die Worte, die eine Grenze überschreiten.

Ich liege im Bett. Es ist sehr warm im Zimmer, denn ich habe den Sol-Thermic angeschaltet. Die vom Heizstrahler gewärmte Luft riecht nach feuchtem Metall, aber auch nach verbranntem Plastik. Letzteres kommt von einer widerspenstigen Playmobilfigur, deren Gesicht wir zur Bestrafung mal gegen die Heizplatte gedrückt haben. Den Fleck sieht man immer noch.

»Hast du das gehört? Das war doch J.R., oder?«, sage ich zu meinem Bruder, der in der oberen Etage unseres Doppelstockbetts liegt. Keine Antwort. Wahrscheinlich ist er aufs Klo gegangen.

Ich widme mich wieder meinem Comicheft, Clever & Smart. Ich schlage die nächste Seite auf und versuche so zu tun, als würde mich auf der ganzen Welt nichts mehr interessieren als diese bunten Zeichnungen. Gleichzeitig lausche ich und höre die Sätze, die aus dem Esszimmer an meine Ohren dringen, aber keinen Sinn ergeben. Und ich kann nicht anders, als sie mit den bekannten Bildern in meinem Kopf zu verknüpfen, denn ich habe das alles schon mal erlebt.

Wahrscheinlich brütet meine Mutter gerade über der Haushaltskasse und sitzt mit einem orangefarbenen Bic-Kuli und einem mandelbraunen Taschenrechner an unserem runden Esszimmertisch, dem man jeden Tag aufs Neue ein gefaltetes Stück Papier unters Tischbein schieben muss, damit er nicht wackelt. An der Wand hinter ihr hängt das mit groben und dick aufgetragenen Pinselstrichen gemalte Stillleben mit dem schäbigen Weidenkorb, den Wassermelonen und den verschrumpelten Feigen. Tote Natur, traurig anzusehen. Meine Mutter direkt davor, sodass dieses triste Bild ihr Gesicht einrahmt. Wahrscheinlich knabbert sie etwas, Lupinenkerne oder Erdnüsse, deren Schalen sie aufknackt und auf einem kleinen Haufen sammelt. In unregelmäßigen Abständen bittet sie meinen Vater – schließlich hat er studiert und versteht was von Zahlen –, ihr mit den Ausgaben und Einnahmen zu helfen, um doch noch einen Weg zu finden, damit das Geld bis zum Monatsende reicht. Aber mein Vater hockt nur auf seinem kunstlederbezogenen Sessel und brummt vor sich hin. Eigentlich murmelt er nur zu sich selbst, spricht die Worte aber so aus, dass sie einwandfrei verständlich sind. »Dann such dir halt ’ne Arbeit, verdammt nochmal!« Über kurz oder lang wird meine Mutter ihm mit einem Mund voller Erdnüsse antworten: »Und die Kinder? Kümmerst du dich dann um die Kinder?« Die Grammatik des Elends.

Im Esszimmer erklingt die Abspannmusik von Dallas. Eine unbeständige Stille stellt sich ein. Sie wird nur von einem Geräusch unterbrochen: dem Scharren der Stuhlbeine, wenn meine Mutter hin und wieder aufsteht und in die Küche geht. Ich schüttele den Kopf, als würde ich meinem Gehirn auf diese Weise noch einmal den bereits erteilten Befehl zum Lesen klarmachen können, und mein Blick kehrt zu Clever & Smart zurück. Es ist eins meiner Lieblingshefte, aber ich weiß nicht mehr, an welcher Stelle ich war. Es vergehen ein paar Minuten, bis ich wieder in die Geschichte eintauche, aber dann dauert es nicht lange, und ich nehme mir einen anderen Comic vor, wieder Clever & Smart, wieder ein Heft, das mir ziemlich gut gefällt.

»Bist du denn verrückt geworden, jetzt noch laufen zu gehen?«

Es ist meine Mutter. Sie steht auf der anderen Seite der Tür zu unserem Zimmer, im Flur, und schreit ziemlich laut. Ich werfe einen Blick auf den trapezförmigen und unheimlich laut tickenden Wecker, der unter der Nachttischlampe mit dem durch die Hitze verformten Sockel steht. Es ist halb zwölf.

»Das kann dir doch egal sein!«, sagt mein Vater, ebenfalls mit lauter Stimme. »Ich bin in Form, und joggen tut mir gut.«

»Joggen tut dir gut? Seit wann das denn bitte schön?«, kontert meine Mutter. »Du hast dein ganzes Leben über keinen Sport gemacht, sondern dich immer nur mit Modellbausätzen beschäftigt.«

»Na und?«

»Du hast Sport gehasst, und jetzt auf einmal machst du nichts anderes mehr als Laufen, Liegestütze und was weiß ich noch alles! Findest du das etwa normal?«

»Von Zeit zu Zeit muss ein Mann eben sein Hobby wechseln«, antwortet mein Vater. Seine Stimme klingt ernst, aber seine Worte wirken aufgesetzt.

Meine Mutter reagiert mit einem gezwungenen Lachen, verbittert und traurig. »Mach, was du willst, am Ende werde ich’s doch rauskriegen!«, fügt sie schreiend hinzu. »Ich kriege alles raus. Ich bin schließlich nicht blöd!«

Ich richte den Oberkörper auf, aber nur zur Hälfte, da ich mir andernfalls den Kopf am Lattenrost der oberen Stockbettetage stoßen würde. Dann lege ich die beiden Comichefte zur Seite, schiebe das Bein über den Matratzenrand und setze den nackten Fuß auf den Boden. Er fühlt sich wie gefroren an. »Eine erbarmungslose Kältewelle knechtet Europa«, haben sie im Telediario gesagt. Aber sie haben auch gesagt, dass die Iberische Halbinsel momentan noch nicht davon betroffen ist. Unser Ort scheint eine Ausnahme zu sein. Es ist wegen des Flusses. Der Fluss bringt die Kälte. Ich streiche mit dem linken Hacken über die feuchte Schicht, die sich leicht erhaben über den einzelnen Fliesen gebildet hat, und stehe auf. Dann schlüpfe ich in die Pantoffeln und gehe zur Tür – aber nicht, ohne erst mit der Fußspitze ein, zwei, drei, vier Mal auf den Boden zu stampfen, zwei Mal mit jedem Fuß, und anschließend mit den Fingern am äußeren Rand meiner Lippen entlangzufahren, um dann an meinen Fingerspitzen zu riechen.

»Rauskriegen? Was willst du denn rauskriegen?«, antwortet mein Vater, ebenfalls schreiend. »Du bist doch nicht mehr ganz dicht!«

»Ich weiß nicht, was es ist, aber früher oder später komme ich dir auf die Schliche. Nein, Hände weg. Fass mich nicht an!«

»Dann lass mich doch zufrieden, verdammt! Geh mir aus dem Weg!«, brüllt mein Vater.

Wie es sich anhört, geht sie ihm nicht aus dem Weg, denn noch hat es nicht gebrummt. Unsere Klingel ist ein wenig speziell und meldet sich jedes Mal mit einem nasalen Brummen, wenn man die Tür öffnet. Ich reibe mir erneut die Hände, verdrehe dabei das Handgelenk so weit, bis es knackt. Dann bohre ich meine Fingerknöchel ins Handgelenk, einen nach dem anderen, und beschnüffele anschließend wieder meine Fingerspitzen. Sie riechen nach Paprika.

»Du sollst zur Seite gehen, sag ich!«, schreit mein Vater. »Ich werde so oder so rausgehen!« Dann erklingt klar vernehmbar und mit einem leichten Hall das Brummen der Klingel. Die Tür ist jetzt also offen. »Verdammt, jetzt geh mir aus dem Weg, du frustrierte Zicke!«

Ich beschließe rauszugehen. Ich muss kräftig an der Tür unserer Höhle ziehen, da sie sich wegen der Feuchtigkeit immer im Rahmen verkeilt. Dann reiße ich aber etwas zu heftig an der Klinke und falle durch den Schwung fast hin. Die beiden drehen sich zu mir um. Ihre Gesichter wirken, als wären sie gerade aus einem Traum erwacht.

»Du, scher dich sofort wieder ins Bett, verdammt!«, schreit mein Vater. »Und lass die Fummelei mit den Händen. Das sieht ja aus wie bei einem Irren!«

»Geh wieder ins Bett, Curro!«, sagt meine Mutter.

»Könntet ihr jetzt vielleicht mal Ruhe geben?« Richard taucht in der Esszimmertür auf. Er hat seinen blauen Schlafanzug an, den mit den roten Ärmelbündchen und dem roten Kragen. Er hat sich die langen schwarzen Haare nach hinten gestrichen, hinter die