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»Das ist die Türkei, hier ist alles möglich« – so lautete die Prämisse, unter der sich Jürgen Gottschlich, seit mehr als 20 Jahren Korrespondent in Istanbul, seinem Gastland immer genähert hat. Doch er wurde wie alle Beobachter vom gescheiterten Putschversuch des Militärs im Juli 2016 überrascht. Weniger verwunderlich war für ihn die nachfolgende Säuberungsaktion des Militärs, der Schulen, Universitäten, Verwaltungen und Medien von Erdogan-Kritikern. Schließlich bestimmen harte innenpolitische Auseinandersetzungen schön länger den Kurs des Landes.
Jürgen Gottschlich beschreibt kenntnisreich Erdogans Griff nach der Alleinherrschaft, die mehr und mehr islamische Ausrichtung des Staates, den Konflikt mit der kurdischen Minderheit, aber auch den Alltag des Landes sowie seine Kultur und Lebensformen.
Die 2. Auflage des E-Books erscheint mit einem aktuellen Vorwort vom Juli 2017.
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Seitenzahl: 311
Jürgen Gottschlich
Türkei
Jürgen Gottschlich
Erdoğans Griff nach der Alleinherrschaft
Ein politisches Länderporträt
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
2. Auflage als E-Book, August 2017
entspricht der 1. Druckauflage vom September 2016 mit einem aktuellen Vorwort vom Juli 2017
(basiert in Teilen auf der früheren Publikation des Autors »Türkei – Ein Land jenseits der Klischees« von 2008)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; [email protected]
Cover: Stephanie Raubach, Ch. Links Verlag unter Verwendung eines Fotos von Demonstranten vor einem Bild von Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 17. Juli 2016 auf dem Kızılay-Platz in Ankara, © Getty / Chris McGrath
Karte: Peter Palm, Berlin
Lektorat: Günther Wessel, Berlin
eISBN 978-3-86284-355-8
Vorwort (2017)
Konturen
Das Bild der Türkei in Deutschland
Drei Länder in einem
Die Türkei und der Islam
Das Militär
Der Alltag
Die »neue Türkei«
Der unaufhaltsame Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan
Die Reformphase
Die Kampfphase
Die Machtphase
Der Kampf innerhalb des konservativ-islamischen Lagers
Porträt: Fethullah Gülen und seine Bewegung
Vom politischen Führer zum neuen Sultan
Der Putschversuch
Porträt: Recep Tayyip Erdoğan – der Mann und seine Idee
Wer wählt Erdoğan? Und warum?
Die Kurden
Das kurdische Erwachen
Die innere Entwicklung der PKK
Die staatliche Politik gegenüber den Kurden
Die Zeit relativer Entspannung
Das Scheitern der Verhandlungen
Die Rückkehr des Krieges
Porträt: Abdullah Öcalan – Staatsfeind Nummer 1
Land und Leute
Klima
Landschaft und Kultur
Politisches System
Wirtschaft
Türken und Europa, Türken und Deutsche
Gemeinsamkeiten in der Geschichte
Das Osmanische Reich
Die Jungtürken und die deutsche Karte
Die Deutschen und die Armenische Frage im Osmanischen Reich
Die Republik
Deutsche Migranten in der Türkei
Die moderne Türkei und der Westen
Einwanderer – Irrwege deutscher Integrationspolitik
Christen in der Türkei
Nichts geht über die Familie
Frauen, Familie, Schule, Universität
Die 10 000-Dollar-Barriere
Kinder als Reichtum der Gesellschaft
Die Schule
Fast jeder will an die Universität
Arbeit, Gesundheit, Rente
Arbeitsbedingungen wie im Frühkapitalismus
Die türkische Gewerkschaftsbewegung
Soziale Absicherung
Kranksein in der Türkei
Türkisches Freizeitvergnügen
Picknick und Geselligkeit
Vom Basar zum Shoppingcenter
Leben für den Fußball
Autoliebe
Die Meyhane – Wo Politik und Essen zusammenfallen
Geheimnisse der türkischen Küche
Medien und Kultur
Zensur bei Zeitungen und Fernsehen
Der Buchmarkt und die Literatur
Film
Musik
Malerei, Museen, Galerien
Deutsche Archäologen und das kulturelle Erbe
Anhang
Nützliche Informationen
Karte
Basisdaten
Über den Autor
Der Text für die erste Auflage des vorliegenden Buches war gerade fertiggestellt, als am 15. Juli 2016 der dramatische Putschversuch geschah. Obwohl in dem Jahr seitdem viel passiert ist, sind die im Buch dargestellten Entwicklungen und Strukturen der Türkei nach wie vor aktuell. Nur sind eben einige Entwicklungen hinzugekommen, die in dem Buch erst prognostiziert waren. Sie sollen hier komprimiert dargestellt werden.
Recep Tayyip Erdoğan, der Präsident der Türkei, greift nicht mehr nach der Alleinherrschaft, sondern er hat seine Ein-Mann-Herrschaft mittlerweile etabliert. Mit der gewonnenen Volksabstimmung über eine neue Verfassung im April 2017, die nun ein Präsidialsystem anstelle der bisherigen parlamentarischen Demokratie vorsieht, hat Erdoğan seine Alleinherrschaft institutionell abgesichert.
Ein Jahr nach dem Putsch ist der Teil der türkischen Bevölkerung, der gegen den Umbau des Staates durch Erdoğan ankämpft, entsetzt und teilweise auch verzweifelt. Viele Menschen wähnen sich in einem Albtraum, sprechen über Auswanderung und innere Emigration, über den Verlust ihres Landes. Seit dem Putschversuch in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 vergeht in der Türkei kein Tag ohne Verhaftungen. Ein Jahr danach sitzen mehr als 50 000 Menschen als angebliche Putschisten, Putschbefürworter oder Terroristen im Gefängnis, gegen rund 160 000 Personen laufen Ermittlungsverfahren, rund 150 000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes wurden entlassen. Und Präsident Erdoğan hat anlässlich der Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag des verhinderten Putsches klargemacht, dass damit das Ende der »Säuberungen« noch lange nicht erreicht ist. Neben Soldaten, Polizisten und Geheimdienstmitarbeitern sind es Lehrer, Dozenten und Professoren, die ihre Arbeit verloren oder ins Gefängnis gesteckt wurden. Die Bildungseinrichtungen der Türkei stehen vor dem Kollaps.
Für uns ausländische Journalisten, aber auch für die türkischen Kollegen, kamen die Ereignisse in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 so überraschend wie ein Erdbeben. Es gab keine Vorwarnung, keine Gerüchte, nichts – im Gegenteil. Fast alle, mich eingeschlossen, hielten es für ausgeschlossen, dass das türkische Militär noch einmal putschen könnte.
Ungläubig schauten wir auf die Fernsehbilder: Panzer fuhren auf die Bosporus-Brücken, Bomben fielen auf das Parlament, Erdoğan war mit einer Handy-Liveschaltung von einem geheimen Ort auf CNN-Türk zu sehen und forderte die Bürger des Landes auf, sich den Putschisten entgegenzustellen. Schließlich verkündete er in den frühen Morgenstunden vor seinen Anhängern am Istanbuler Flughafen den Sieg über die aufständischen Militärs.
Was in dieser Nacht und den Tagen davor im Geflecht zwischen Militär, Geheimdienst, Polizei und Regierung wirklich passiert ist, wissen wir bis heute nicht. Wer steckte hinter dem Putsch? Ist es wirklich die islamische Gülen-Sekte und ihr Scheich Fethullah Gülen, mit denen sich Erdoğan 2013 überworfen hat und die seitdem von der Regierung bis aufs Messer bekämpft werden? Wer im Militär hat aus welchen Gründen mitgemacht und wer nicht? Seit wann wussten Erdoğan und sein Machtzirkel von dem bevorstehenden Coup? Kamen die ersten Gerüchte tatsächlich erst am Nachmittag des 15. Juli auf oder war der Präsident zu dem Zeitpunkt längst informiert?
In der Türkei gehen alle Parteien, also auch die sozialdemokratisch-kemalistische CHP und die kurdisch-linke HDP davon aus, dass der Putschversuch wesentlich von Mitgliedern der Gülen-Sekte im Militär ausgeführt wurde. Zu viele Indizien sprechen dafür. Einige der führenden Putsch-Offiziere haben ihre Verbundenheit mit Gülen gestanden – wenn auch unter massivem Druck während der Vernehmungen – und die Anwesenheit ziviler Imame der Gülen-Sekte im Hauptquartier der Putschisten ist nachgewiesen. Trotzdem ist der genaue Ablauf des Putsches immer noch unklar, nicht zuletzt, weil die Parlaments-Untersuchungskommission, die die Hintergründe aufklären sollte, von der AKP und MHP massiv behindert wurde. Unter anderem deshalb spricht der Vorsitzende der CHP, Oppositionsführer Kemal Kilicdaroğlu, heute von einem »gelenkten Putsch«. Das heißt, die Opposition glaubt, der Putsch hätte verhindert werden können, wenn die Regierung frühzeitig eingegriffen hätte.
Dass Erdoğan den Putschversuch entscheidend zum Ausbau seiner Macht nutzte, erscheint im Nachhinein wie eine Bestätigung der These der Opposition. Seit der Niederschlagung des Gezi-Aufstandes im Herbst 2013 und den darauffolgenden Korruptionsvorwürfen, die Gülen-nahe Richter und Staatsanwälte gegen Erdoğans Familie und Geschäftsfreunde im Dezember 2013 erhoben, war die Repression gegen Kritiker kontinuierlich gestiegen. Doch es gab Widerspruch, die Gesellschaft diskutierte, Erdoğan verlor im Juni 2015 sogar eine Wahl, was er im November desselben Jahres nur mühsam korrigieren konnte. Seit er im August 2014 zum Präsidenten gewählt worden war, wollte er die Verfassung ändern und ein Präsidialsystem einführen, doch das Projekt kam, nicht zuletzt wegen großer Widerstände in der eigenen Partei, nicht voran. (Siehe dazu vor allem die Kapitel »Die neue Türkei« und »Die Kurden«)
Mit all dem war es im Morgengrauen des 16. Juli 2016 vorbei. Noch in der Nacht wurden 3000 Richter und Staatsanwälte, die offenbar schon länger auf der Abschussliste standen, verhaftet oder entlassen. Am Flughafen in Istanbul sagte Erdoğan den berüchtigten Satz vom Putschversuch als »Geschenk Gottes, das es ermöglicht, die Armee zu säubern«.
Erdoğan säuberte nicht nur die Armee. In den folgenden Monaten wurden systematisch Institution für Institution und die Lager der politischen Gegner eines nach dem anderen »gesäubert«. Am 20. Juli, vier Tage nach dem niedergeschlagenen Putsch, wurde der Ausnahmezustand verhängt. Seitdem regiert Erdoğan per Dekret. »Den zivilen Putsch vom 20. Juli« nennt Oppositionsführer Kemal Kilicdaroğlu die Selbstermächtigung des Präsidenten, die seitdem alle drei Monate verlängert wird.
So sehr sich die Ereignisse nach dem 20. Juli 2016 überstürzten, es lässt sich durchaus ein Muster der Säuberungswellen erkennen: Zunächst ging es um unmittelbar am Putsch beteiligte Militärs und Polizisten und mögliche oder tatsächliche Gülen-Anhänger im ganzen Land. Während die Fernsehsender Bilder zeigten, wie Militärs andere Militärs jagten, wurden rund 80 Journalisten festgenommen, die für Gülen-nahe Zeitungen gearbeitet hatten oder mit der Bewegung sympathisiert haben sollen.
Dann wurden hunderte Schulen und Privatuniversitäten geschlossen, die zum Gülen-Imperium gehören sollen. Dozenten wurden festgenommen oder entlassen, Studenten sollten sich an anderen Unis einen Platz suchen. Gegen alle Universitätsangestellten im ganzen Land wurde zeitweilig eine Ausreisesperre verhängt, sie durften das Land nicht verlassen, etlichen wurde der Pass abgenommen. Im Fernsehen wurden angebliche Putschisten vorgeführt, denen man deutlich ansah, dass sie in der Haft misshandelt worden waren.
Anfangs hatten etliche Vertreter der säkularen Türkei noch die Hoffnung, dass sich die Säuberungen auf das islamische Lager, also auf die tatsächlichen oder vermeintlichen Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, beschränken würden. Zu dieser Hoffnung passte, dass CHP-Chef Kilicdaroğlu sich damals noch bei Erdoğans großer Siegesfeier am 9. August 2016 vor einer Million AKP-Anhänger auf die Bühne stellte und von einem Sieg der Demokratie sprach.
Doch nur wenige Tage später wurde die nächste Phase der Säuberungen eingeleitet. Die Polizei besetzte die pro-kurdische Tageszeitung Özgür Gündem, nahm Redakteure fest und verhaftete vermeintliche Unterstützer wie die Schriftstellerin Aslı Erdoğan. Mit dieser Razzia begann die zweite Phase: Jetzt sollte auch die kurdische Autonomiebewegung zerschlagen werden. Anfang September 2016 wurden in Diyarbakır 12 000 Lehrer an einem Tag entlassen. Das neue Schuljahr, das Mitte September begann, fiel für viele kurdische Schülerinnen und Schüler aus. Wie um Erdoğan zu bestätigen, zündete die kurdische Arbeiterpartei PKK im August ihre ersten Bomben seit dem Putschversuch. Den Anstoß für den folgenden türkischen Einmarsch in Syrien gab allerdings ein Terroranschlag des IS auf eine kurdische Hochzeitsgesellschaft in Gaziantep. Erdoğan verkündete daraufhin, die Grenze auf der syrischen Seite vom IS säubern zu wollen. Damit begann allerdings auch die Militäraktion gegen die syrisch-kurdische Militärorganisation YPG, die mit Unterstützung der USA kämpft.
In den türkischen Kurdengebieten wurden immer mehr Bürgermeister abgesetzt oder verhaftet, meistens Angehörige der kurdisch-linken HDP-Partei. Der Höhepunkt der Säuberungen gegen die Kurden war der 4. November 2016: die HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ wurden verhaftet. Mehr als sechs Millionen Bürger hatten die Partei bei den beiden Parlamentswahlen ein Jahr zuvor gewählt. Jetzt gelten viele Parteimitglieder als Terroristen.
Mit der Verfolgung von Gülenisten und aktiven Kurden waren Erdoğans Säuberungswellen noch nicht vorbei. Ende Oktober 2016 traf es die Stimme der säkularen Türkei. Die Polizei stürmte die Redaktion der Zeitung Cumhuriyet und verhaftete 12 Redakteure und kaufmännische Mitarbeiter, darunter den Chefredakteur und den Geschäftsführer. Spätestens jetzt wussten auch Kilicdaroğlu und die CHP, dass sie nicht verschont würden.
Cumhuriyet gilt seit 1924 als die Stimme der Republik. Für die CHP, die Republikanische Volkspartei und alle säkularen Anhänger der Republik, war der Angriff auf die Zeitung ein Schock. Mahnwachen wurden organisiert, Tausende Leser schützten die Redaktion, indem sie einen Ring um das Gebäude bildeten. Das Blatt erscheint zwar auch ein Jahr nach dem Putsch noch, doch die verhafteten Kollegen sitzen momentan noch im Gefängnis und warten auf ihre Prozesse. Am Ende des auf den Putsch folgenden Jahres sind insgesamt rund 150 Journalisten in Haft. Immer mehr Journalisten verlassen das Land und suchen in Deutschland und anderen europäischen Ländern Asyl.
Noch im November fand in Istanbul dagegen eine Buchmesse statt, die scheinbar normale Verhältnisse suggerierte. Praktisch alle Verlage waren vertreten und Deutschland war das Gastland auf der Messe. Es gab sogar einen kleinen Solidaritätsstand für die Schriftstellerin Aslı Erdoğan und andere Autoren, die im Zuge der Verfolgung pro-kurdischer Publikationen angeklagt worden waren und teilweise in U-Haft saßen. Unter anderen war auch der kleine linke »Belge-Verlag« mit einem Stand auf der Messe, doch hier zeigte sich schon, wie brüchig die liberale Fassade war. Der Verleger von Belge, Ragıp Zarakolu, (siehe dazu im Buch Seite 210/211) war schon ins Ausland geflohen, weil gegen ihn bereits Verfahren wegen Unterstützung einer »Terroristischen Vereinigung«, sprich PKK, liefen. Sein Sohn saß in U-Haft, wegen desselben Vorwurfes.
Im Frühjahr 2017 wurde der Verlag dann von der Polizei heimgesucht. Mehrere Razzien fanden statt, etliche Bücher wurden beschlagnahmt. Auch andere Verlage geraten seitdem zunehmend unter Druck. Obwohl das Verlagswesen auch ein Jahr nach dem Putsch immer noch etwas freier ist, als Zeitungen, TV-Anstalten und Radiosender, überlegt sich doch jeder Verleger genau, welches Buch er noch drucken kann und welche Manuskripte er lieber liegen lässt.
Im Januar 2017 begann der politische Transformationsprozess. Der Chef der nationalistischen MHP-Partei, Devlet Bahçeli, hatte nach dem Putschversuch seinen Widerstand gegen ein Präsidialsystem aufgegeben. Gemeinsam mit der MHP hatte die AKP deshalb jetzt im Parlament eine genügend große Mehrheit, um über eine geänderte Verfassung eine Volksabstimmung durchführen zu lassen. Innerhalb von drei Wochen wurde die neue Verfassung durchs Parlament gepeitscht, und Erdoğan musste sie nur noch unterschreiben, damit dann nach sechs Wochen eine Volksabstimmung stattfinden konnte. Doch er zögerte, weil Umfragen zeigten, dass eine Mehrheit unsicher war. Nach mehr als drei Wochen einigte sich die Regierung dann auf den 16. April für den Tag der Volksabstimmung.
Anfang Februar kam Kanzlerin Angela Merkel zu ihrem vorerst letzten Besuch nach Ankara. Im deutschen Wahljahr 2017 wollte sie sicherstellen, dass sich die Türkei trotz allem an den Flüchtlingsdeal hält und nicht erneut tausende Syrer von der Türkei aus in die EU drängen. Der Preis dafür war, dass sie zu den Vorgängen in der Türkei selbst weitgehend schwieg und Erdoğan damit praktisch Rückendeckung für die Volksabstimmung im April gab. Umso mehr war Erdoğan verärgert, als dann im März unter dem Druck der öffentlichen Meinung Wahlkampfauftritte türkischer Politiker von Kommunen und Landesbehörden in Deutschland verhindert wurden. Der Ton wurde schrill, Erdoğan warf der Bundesregierung und Merkel persönlich »Nazi-Methoden« vor.
Die Ablehnung, die den türkischen Wahlkämpfern in Deutschland entgegenschlug, war auch eine Reaktion auf einen bislang nicht erlebten Tabubruch. Am 13. Februar wurde der Welt-Korrespondent Deniz Yücel in Istanbul festgenommen, 13 Tage später verhängte ein Haftrichter Untersuchungshaft auf unabsehbare Zeit. Die Empörung in Deutschland war und ist riesig, doch es nutzt nichts: Statt einzulenken bezichtigte Erdoğan Yücel, ein deutscher Agent und Unterstützer der kurdischen PKK-Guerilla zu sein. Doch Deniz Yücel blieb nicht der einzige Deutsche, der nach dem Putschversuch verhaftet wurde. Im Juli 2017 saßen insgesamt zehn deutsche Staatsbürger im Gefängnis, denen eine Unterstützung der Putschisten oder einer »Terrororganisation« vorgeworfen wird.
Unmittelbar vor dem Referendum bestätigten Umfragen der Opposition, dass sie die Volksabstimmung durchaus gewinnen könne. Trotz massiver Behinderung konnte die Opposition viele Menschen mobilisieren. Gut 85 Prozent der Wahlberechtigten gingen wählen. Am Ende wurde es ein knapper Sieg für Erdoğan, was die Opposition auf Wahlfälschungen zurückführt. Tatsächlich waren rund 2,5 Millionen Wahlscheine aufgetaucht, die nicht den offiziellen Stempel der Wahlkommission aufwiesen, also erst nachträglich, als der Wahlgang schon lief, in verschiedene Wahllokale eingeschmuggelt worden waren. Doch die Wahlkommission erklärte im Nachhinein, entgegen geltendem Recht, die Wahlzettel für gültig. Trotzdem wurde jeder Versuch der Opposition, die Wahlen vor Gericht anzufechten, abgewiesen. Mit zum knappen Sieg Erdoğans beigetragen hatten auch die Stimmen der Auslandstürken, die in einem Verhältnis von 2/3 zu 1/3 für Erdoğan stimmten. Die Folgen davon sind nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland zu spüren. Viele Deutsche sehen die Stimmen für Erdoğan als Beweis für die mangelnde Integration eines großen Teils der türkischen Gemeinde in Deutschland.
Der frisch inaugurierte US-Präsident Donald Trump gratulierte Erdoğan als erster westlicher Staatsmann zum gewonnenen Referendum, auch Russlands Präsident Wladimir Putin rief an. Erdoğan hatte es geschafft. Sein Präsidialsystem, für das er jahrelang gekämpft hatte, war durch. Nun konnte er den Umbau der Gesellschaft, vor allem an Schulen und Universitäten, zügig in Angriff nehmen.
Oppositionsführer Kemal Kilicdaroğlu ist es gegenwärtig, der den Leuten wieder Mut macht. Im Juni 2017 startete er einen »Marsch für Gerechtigkeit«, um gegen die massenhaften oft sehr willkürlichen Festnahmen und Entlassungen zu protestieren. Er marschierte 26 Tage von Ankara nach Istanbul. Am Ende waren es mehr als eine Million Menschen, die sich ihm angeschlossen hatten.
Eine Woche später, am 15. Juli 2017, setzte die Regierung mit ihren Feierlichkeiten zum Jahrestag des Putschversuches einen Massenaufmarsch ihrer Anhänger dagegen, an dem sich ebenfalls mehr als eine Million Menschen beteiligten. Das Bemerkenswerteste an den beiden Großdemonstrationen war, dass so gut wie niemand sowohl zur einen als auch zur anderen Veranstaltung ging. Ein Jahr nach dem Putsch dominiert in der Türkei endgültig das Denken nach »Wir« und »Ihr«. Die Gesellschaft ist traumatisiert und zutiefst gespalten. Es wird wohl noch eine Zeitlang dauern, bis in der Türkei wieder so etwas wie Normalität herrscht. Ob Erdoğans neue Türkei, wenn schon nicht Mitglied der EU, so doch wenigstens in enger Verbundenheit zur EU und Nato Teil des politischen Westens bleibt, oder aber die Brücken nach Europa abbricht und sich ganz auf die islamische Welt, China und Russland konzentriert, ist ein Jahr nach dem Putsch noch nicht entschieden. Allerdings gibt es viele Hinweise, dass die Türkei sich vom Westen abwendet. Wohl wissend, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe das endgültige Ende des türkischen Beitrittsprozesses zur EU wäre, hat Erdoğan dennoch immer wieder, zuletzt bei den Feierlichkeiten zum Jahrestag des vereitelten Putsches, seine Bereitschaft bekundet, die Todesstrafe für Putschisten zu unterstützen. Auch eine Volksabstimmung zur Wiedereinführung der Todesstrafe hätte seine Billigung. Noch sind keine konkreten Schritte dazu eingeleitet worden, doch das kann jederzeit passieren.
Auch innerhalb der Nato wachsen die Spannungen zwischen der Türkei und wichtigen Partnern in der Allianz. Präsident Erdoğan wirft den USA vor, im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat in Syrien mit den bewaffneten Milizen der syrischen Kurden zusammenzuarbeiten, also Milizen, die eng mit der türkisch-kurdischen PKK Guerilla kooperieren und sich seit 1984 heftige Kämpfe mit dem türkischen Militär liefern.
Vor allem aber zwischen Deutschland und der Türkei verschlechterten sich die Beziehungen im ersten Halbjahr 2017 fast im Monatsrhythmus. Als Reaktion auf die Auftrittsverbote türkischer Politiker in Deutschland untersagte die Türkei Abgeordneten des Bundestages Besuche bei deutschen Soldaten, die in der Türkei stationiert waren. Die Bundesregierung zog daraufhin die deutschen Flugzeuge, die vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus die Anti-IS Operationen unterstützten, ab. Ein beispielloser Vorgang zwischen zwei Nato-Partnern.
Besonders empörten aber in Deutschland politisch motivierte Festnahmen deutscher Staatsbürger, denen Unterstützung von terroristischen Organisationen, gemeint sind die Gülen-Bewegung oder die PKK, vorgeworfen wurde. Außer den Journalisten Deniz Yücel und Meşale Tolu und dem Mitarbeiter von Amnesty International Peter Steudtner saßen Ende Juli sieben weitere, namentliche nicht bekannte Deutsche in türkischer Untersuchungshaft.
Die Bundesregierung erklärte daraufhin, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung sei nicht mehr möglich. Bei Drucklegung dieses Buches ist der weitere Ausgang offen. Allerdings spricht wenig dafür, dass sich die Beziehungen der Türkei zu Deutschland und der EU insgesamt in naher Zukunft wieder verbessern könnten.
İstanbul, Juli 2017
Jürgen Gottschlich
Erdoğan, Erdoğan, immer wieder Recep Tayyip Erdoğan. Es gibt in den deutschen Medien kaum einen Beitrag über die Türkei, in dem der türkische Präsident und Langzeitherrscher nicht auftaucht. Und das in zunehmend düsteren Farben. Galt er lange Zeit als Reformer und Garant für ein stabiles Wirtschaftswachstum, nähert er sich mittlerweile in der veröffentlichten Meinung in Deutschland den negativen Sympathiewerten seines russischen Kollegen Wladimir Putin an. Seit dem repressiven Vorgehen in der Folge des Putschversuches vom 15. Juli 2016 scheint Erdoğan der meistgehasste ausländische Staatschef überhaupt – vielleicht nicht ganz so gefürchtet wie Putin, schließlich ist die Türkei keine atomar bewaffnete Großmacht, aber mindestens genauso negativ wahrgenommen. Dafür gibt es gute Gründe, doch es schafft auch ein Problem: Die Türkei wird mehr und mehr mit Erdoğan gleichgesetzt. Das stimmt so natürlich nicht. Rund die Hälfte der Türkinnen und Türken lehnen Erdoğan vehement ab. Sie wollen für seine Politik nicht in Haftung genommen werden und erwarten eher, im Kampf um Demokratie von Europa unterstützt zu werden.
Kommt Erdoğan in der Wahrnehmung der Türkei an erster Stelle, folgen zumeist, quasi als Antipoden, die Kurden. Die größte ethnische Minderheit des Landes kämpft seit Jahrzehnten um mehr Anerkennung und Eigenständigkeit und wird deshalb zu Recht eher mit Sympathie als mit Ablehnung bedacht. Doch auch der langjährige Konflikt zwischen dem Staat und der kurdischen Minderheit ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit.
Weniger eifrige Konsumenten von politischen Nachrichten denken bei der Türkei wahrscheinlich immer noch als Erstes an herrliche Strände und bezahlbare Hotels oder an İstanbul, der einzigartigen Metropole am Bosporus, die mit ihrer langen Geschichte und ihrer spannenden kulturellen Mischung eine große Faszination ausübt. İstanbul ist zweifellos eine besondere Stadt, in der allerdings auch, wie in einem Brennglas, die Probleme des Landes fokussiert sind.
Nicht zuletzt zählen zum Wahrnehmungshorizont der Türkei auch die Türken von nebenan. Über viele Jahrzehnte waren die türkischen Einwanderer ja sogar prägend für das deutsche Bild von der Türkei, doch die Gleichsetzung mit den »deutschen Türken« nimmt erkennbar ab. Vermutlich weil die türkischen Einwanderer mittlerweile doch als etablierter Teil der deutschen Gesellschaft wahrgenommen werden, vor allem angesichts der vielen neuen Einwanderungsgruppen, die andere Integrationsprobleme aufwerfen, als es die eingedeutschten Türken noch tun. Trotzdem drohen innenpolitische Konflikte der Türkei immer wieder auch innerhalb der türkischen Diaspora in Deutschland zu schweren Konflikten zu führen. Das zeigte sich, als Erdoğan im Herbst 2015 die Militärkampagne gegen die PKK wiederaufnahm, und das zeigte sich noch deutlicher nach dem gescheiterten Putschversuch, als emotional aufgepeitschte türkische Bürger auf vermeintliche Putschisten in Deutschland losgehen wollten.
Nun ist Recep Tayyip Erdoğan, langjähriger Ministerpräsident und seit August 2014 auch Präsident des Landes, sicher eine eminent wichtige Figur. Seit dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hat kein anderer Politiker das Land so stark geprägt wie Erdoğan. So wie Atatürk maßgebend für die Entstehung und Gestaltung der türkischen Republik nach dem Ende des Osmanischen Reiches war, ist Erdoğan nun der Begründer und Gestalter einer »neuen Türkei«, wie er selbst sagt, einer Türkei, die die bisherige Republik wieder näher an die osmanische Geschichte anschließen und in eine angeblich moderne »islamische Republik« transformieren soll.
Doch Erdoğan ist nicht alles, und die zunehmend um sich greifende Haltung bei politisch interessierten Deutschen, die Türkei zu meiden, solange Erdoğan regiert, ist schlecht: Sie wird dem Land und seinen Bewohnern nicht gerecht und schadet auch den Beziehungen zwischen beiden Ländern. Gerade diejenigen, die sich gegen den zunehmenden Autoritarismus des Erdoğan-Regimes zur Wehr setzen, sind auf Unterstützung aus Europa angewiesen. Was könnte da besser sein, als sich vor Ort, im persönlichen Kontakt, zu informieren und sich mit den Menschen, die nach wie vor für Meinungsfreiheit, individuelle Menschenrechte und die Gleichberechtigung aller Ethnien einsetzen, persönlich zu solidarisieren? Doch auch ein ganz unpolitischer Badeurlaub sollte nicht als indirekte Unterstützung einer autoritären Regierung gewertet werden. Der Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes. Das Auskommen von Millionen Menschen hängt davon ab. Wenn die ihren Job verlieren, hilft das der Demokratisierung des Landes sicher nicht. Denn die Idee, dass aus dem Leid der Massen der Fortschritt entspringt, hat sich bislang noch immer als Irrtum erwiesen. Und auch wenn die Türkei immer mehr zu einem letzten europäischen Außenposten an der Nahtstelle zum nahöstlichen Krisenbogen wird, ist das Land nicht gefährlicher als andere europäische Länder. Terroranschläge gibt es leider überall in Europa.
Das gilt zuallererst für İstanbul und die Ferienregionen am Mittelmeer. Allen Terrordrohungen und Islamisierungsversuchen zum Trotz, ist İstanbul die lebendige, quirlige Metropole geblieben, die sie seit Jahrzehnten ist. Zwar haben sich die Gegensätze im persönlichen Lebensstil verschärft, ist die Abgrenzung zwischen eher säkularen und eher religiösen, konservativen Stadtteilen deutlicher geworden, doch nach wie vor sind alle Lebensstile vorhanden und die wechselseitige friedliche Duldung funktioniert im Alltag trotz aller politischer Polarisierung weiterhin erstaunlich gut. İstanbul ist nach wie vor der Schmelztiegel der Türkei, die Metropole, in der Menschen aus allen Teilen des Landes mit den unterschiedlichsten religiösen Bekenntnissen und politischen Haltungen zusammenleben. Daran haben auch die heftigen Auseinandersetzungen im Jahr 2013 um den Gezi-Park im Zentrum der Stadt nichts geändert. Zwar hat die Erdoğan-Regierung die Massenproteste damals niederschlagen können, aber die Menschen, die sie getragen haben, sind noch da und ihr Widerspruchsgeist ist nach wie vor lebendig.
So wenig es der kemalistischen Partei Atatürks in den ersten 80 Jahren der türkischen Republik gelungen ist, aus der Türkei eine durchformierte säkular-nationalistische Gesellschaft zu machen, so wenig wird es Erdoğan und seiner islamischen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) gelingen, die Türkei durchgängig nach ihrem Bilde zu formen. Denn so wenig es den Kemalisten gelingen konnte, jahrhundertealte religiöse Traditionen auf Dauer zu unterdrücken, so wenig wird es der AKP in ihrem gesellschaftlichen Rollback nun gelingen, 80 Jahre laizistischer Weltanschauung und der dazugehörigen Orientierung an Europa vergessen zu machen. Ich bin mir sicher: Aus der Türkei ist kein orientalischer Staat mehr zu machen.
Das liegt nicht zuletzt auch an den großen geografischen, kulturellen und materiellen Unterschieden, die das Land prägen. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist nach zehn Jahren Wirtschaftswachstum zwar von jährlich rund 4000 Dollar auf rund 10 000 Dollar gestiegen, doch der Reichtum ist nach wie vor extrem ungleich verteilt. In İstanbul gibt es mehr Dollar-Milliardäre als in Hamburg oder München und gleichzeitig leben von den 15 Millionen Einwohnern mindestens ein Drittel in bitterer Armut. İstanbul ist darin ein getreuer Spiegel des Landes.
Ein Großteil des gesellschaftlichen und privaten Reichtums konzentriert sich auf den Westen des Landes. In İstanbul und der Marmara-Region bis hin zur südlich des Marmarameeres gelegenen ersten Hauptstadt des Osmanischen Reiches, Bursa, werden allein 50 Prozent des Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Danach folgt der Großraum İzmir, ebenfalls ganz im Westen des Landes. Während der Westen boomte und die Mitte des Landes wenigstens einige ökonomische Leuchttürme vorweisen kann, stagnierte der Osten auch in den letzten zehn Jahren weitgehend.
Bis heute ist es eine verblüffende Erfahrung, sich in İstanbul in einen der gängigen Überlandbusse zu setzen und das Land von Westen nach Osten zu durchqueren. Wenn man in Van, nach 2500 Kilometern kurz vor der iranischen Grenze ankommt, hat man das Gefühl, nicht ein, sondern drei Länder durchquert zu haben. Es beginnt ganz komfortabel in İstanbul. Ist man erst einmal den Dauerstaus der Megametropole entronnen, fängt eine moderne, allen westeuropäischen Maßstäben standhaltende Autobahn nach Ankara an. Die Straße ist gesäumt von properen Autobahnraststätten und modernen Industrieparks. Doch ab Ankara ändert sich das Bild. Zwar ist in den letzten Jahren auch von Ankara aus in Richtung Osten viel Geld in die Infrastruktur geflossen, doch jenseits der Straßen entfaltet sich wie seit Jahrhunderten scheinbar unverändert das karge anatolische Hochland. Die Besiedlungsdichte nimmt stark ab, die Dörfer jenseits der großen Transportwege sind arm wie eh und je und haben zusätzlich damit zu kämpfen, dass die jungen Leute längst nach İstanbul, Ankara oder İzmir abgewandert sind. Trotz der Bemühungen der AKP-Regierung, die Städte in Zentralanatolien wirtschaftlich zu stärken, ist dies nur an wenigen Plätzen gelungen. Ein Beispiel für eine erfolgreiche wirtschaftliche Modernisierung ist Kayseri, die alte Römerstadt östlich von Kappadokien, die sich zu einem Zentrum der Möbel und Textilindustrie entwickelt hat.
Das andere Positivbeispiel, Gaziantep, noch weiter im Südosten, ist nach einer längeren Aufschwungphase aufgrund der Nähe zum syrischen Kriegsschauplatz wieder in Schwierigkeiten geraten. Die für Gaziantep wichtigen Märkte in Syrien und im Irak sind weitgehend zusammengebrochen, stattdessen beherbergt die Stadt bei einer Million Einwohnern jetzt zusätzlich 400 000 syrische Flüchtlinge, von denen die meisten wohl auf Dauer dableiben werden.
Gaziantep gehört schon nicht mehr zur Zentralanatolischen Hochebene, liegt aber noch westlich des Euphrat. Hinter dem Euphrat-Strom beginnt dann das eigentliche Ostanatolien. Das Quellgebiet des Euphrats liegt nördlich von Erzincan, fast schon am Schwarzen Meer und der Fluss trennt damit nahezu über die gesamte Nord-Süd-Achse die Osttürkei von den übrigen Landesteilen ab. Bis in die 1950er Jahre gab es noch nicht einmal eine Brücke über den Fluss, der wenige Verkehr zwischen dem Osten und dem Rest des Landes wurde über kleine Fähren und Flöße abgewickelt. Ganz so abgetrennt ist Ostanatolien heute nicht mehr, aber das Gebiet, fast so groß wie die alte Bundesrepublik, ist auch heute ein Land für sich. Im Südosten, entlang der syrischen und irakischen Grenze, lebt die kurdische Minderheit, im Nordosten, entlang der iranischen, armenischen und georgischen Grenze, dominiert ein Gemisch aus Türken, Lazen, Kurden und Resten der uralten armenischen Kultur.
Auch wenn die AKP hier ebenfalls in Straßen investiert hat und Städte wie Diyarbakır und Urfa mittlerweile auch Einkaufszentren und moderne Neubauviertel vorweisen können, ist der Osten doch immer noch das Armenhaus des Landes. Der jahrzehntelange Krieg gegen die kurdische PKK-Guerilla hat noch dazu beigetragen, dass in der Region praktisch kaum eine wirtschaftliche Entwicklung stattgefunden hat. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt höchstens ein Drittel vom dem, über das die Einwohner im Westen verfügen.
Es bleibt der Eindruck eines dreigeteilten Landes: der reiche Westen, mit den touristisch erschlossenen Küsten an der Ägäis und dem Mittelmeer, das karge und von aller Welt vergessene, bäuerlich-konservative Zentralanatolien, und der kurdisch besiedelte wilde Osten.
Viele Schauplätze, über die in den Medien aus der Türkei berichtet wird, befinden sich hier, im wilden Osten. Der kurdische Osten ist Frontstaat zum Irak und zu Syrien, Länder die seit Anfang der 1990er Jahre von Kriegen und Krisen erschüttert werden. Das türkische Kurdistan grenzt an die autonome kurdische Region im Nordirak und an die kurdisch bewohnte Region in Syrien, wo es den Kurden im Zuge des Bürgerkrieges ebenfalls gelang, eine provisorische Selbstverwaltung zu etablieren. Seit 1984 kämpft die PKK in der Türkei für einen eigenständigen kurdischen Staat, beziehungsweise für eine eigene, autonome Zone, wie im Irak und Syrien. Die Auseinandersetzungen zwischen den militanten Kurden und der türkischen Armee machen einen großen Teil der Türkeiberichterstattung aus. Auch international berühmte Bücher türkischer Autoren wie Yaşar Kemals Memed mein Falke und Orhan Pamuks Schnee spielen im Osten, so dass schon der Eindruck entstehen kann, die Türkei bestehe hauptsächlich aus Krisen und Kämpfen, wie sie sich im Osten abspielen. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass auch viele türkische Einwanderer nach Deutschland aus dem Osten des Landes kommen, versteht man, dass häufig dieses Konfliktgebiet mit dem Ganzen verwechselt wird.
Seit dem Aufstieg Erdoğans und der von ihm dominierten AKP ist neben den Konflikten mit den Kurden das Verhältnis des Landes zum Islam, die Re-Islamisierung der Türkei, das zweite große Thema geworden. Viele Besucher wundern sich mittlerweile schon, dass nicht der Freitag, sondern immer noch der Sonntag der Feiertag der Woche ist, wo doch in den islamischen Ländern der Freitag der freie Tag für das Gebet sei. Doch die Türkei ist seit Abschaffung des Kalifats in den 1920er Jahren des letzten Jahrhunderts eine säkulare Republik und hat seitdem auch die Zeitrechnung und die Wochentage an Europa angeglichen.
Tatsächlich hat der Islam seit dem Regierungsantritt der AKP Ende 2002 in der türkischen Öffentlichkeit jedoch kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Es begann mit dem Kampf gegen das bis dahin geltende Kopftuchverbot an Universitäten, Schulen und in der Justiz, setzte sich fort über die Durchsetzung der Fastenregeln während des jährlichen vierwöchigen Ramadan und hat heute ein Stadium erreicht, in dem eine öffentliche Ablehnung des Islams zwar nicht verboten, aber für Menschen, die in dem Land etwas werden wollen, doch höchst unziemlich ist. Trotzdem ist die Türkei immer noch eine säkulare Republik, in der Religionsfreiheit herrscht und der Staat sich theoretisch zu allen Glaubensbekenntnissen in derselben Distanziertheit verhalten soll. So wie in Deutschland das christliche Glaubensbekenntnis gegenüber anderen Religionen privilegiert ist, ist es in der Türkei der sunnitische Islam. Und während in der kemalistischen Zeit der Republik, vor allem in der ersten Phase nach der Republiksgründung, die laizistische Haltung besonders hervorgehoben wurde, ist es jetzt genau umgekehrt. Die religiöse Haltung wird betont, der säkulare Teil der Gesellschaft steht zunehmend unter Druck.
Nach Gründung der Republik 1923 entschieden sich die damals dominierenden Militärs und Intellektuellen um Mustafa Kemal Atatürk, einen radikalen Bruch mit den Traditionen des Osmanischen Reiches zu vollziehen. Viele dieser Männer und Frauen stammten aus den westlichen Bezirken des Osmanischen Reiches oder hatten lange Zeit im westeuropäischen Exil gelebt. Aus ihrer Sicht hatte die starke Rolle des Islams im Osmanischen Reich entscheidend dazu beigetragen, dass das einstige Imperium den Anschluss an die moderne Zivilisation verloren hatte. Das neue Vorbild wurde das streng laizistische Frankreich. Als Erstes wurden das Kalifat und die Scharia als Quelle des Rechts abgeschafft und ein europäisch-modernes Zivil- und Strafrecht an ihre Stelle gesetzt. Der Islam wurde zur Privatsache, und die führenden Kemalisten machten keinen Hehl mehr daraus, dass Religiosität ihrer Ansicht nach vor allem ein Zeichen mangelnder Bildung sei.
Statt Moscheen wurden Schulen gebaut, das arabische wurde durch das europäische lateinische Alphabet ersetzt und die osmanische Sprache, ein Gemisch aus türkisch-arabischen und persischen Wörtern, nach und nach durch ein modernes Türkisch ersetzt. Die Regierung führte die Schulpflicht ein, nicht nur für Jungen, sondern auch für Mädchen, das Land wurde in weiten Teilen alphabetisiert.
Dieser radikale Bruch mit den Traditionen und dem Denken der Vorväter führte zu massiven Abwehrreaktionen, die in mehreren bewaffneten, religiösen Aufständen gipfelten. Die Aufstände wurden militärisch niedergeschlagen, und der Laizismus wurde zu einer wichtigen Säule des öffentlichen Lebens erklärt. Doch trotz aller Bildungsanstrengungen blieben die religiösen Vorurteile und Traditionen vor allem auf dem Land lebendig. Während in den Städten im Westen die Modernisierung gelang, blieben Zentralanatolien und der Osten in einem vormodernen, religiösen und patriarchalischen Denken gefangen. Selbst massive Repressionen bis hin zum Militärputsch gegenüber Regierungen, die den Laizismus aufweichen wollten, konnten daran nichts ändern.
Dass jetzt schon seit eineinhalb Jahrzehnten die islamische AKP das Land regiert, hat neben vielen anderen Gründen damit zu tun, dass sich das Land-Stadt-Verhältnis in den letzten 30 Jahren massiv verändert hat. Lebten bis in die 1970er Jahre sieben von zehn Türken auf dem Land und nur drei in der Stadt, hat sich dieses Verhältnis mittlerweile umgedreht. Heute leben nur noch 30 Prozent der Türken auf dem Land und 70 Prozent in der Stadt. İstanbul hatte Mitte der 1960er Jahre 1,5 Millionen Einwohner. Heute sind es durch die enorme Binnenmigration der letzten Jahrzehnte 15 Millionen.
Etliche dieser Binnenmigranten leben bis heute in Stadtvierteln, die dominiert sind von anderen Einwanderern aus derselben Region. Das Dorf wurde quasi in die Stadt verlegt, die Traditionen des Landes blieben lebendig. Viele Einwohner İstanbuls fühlen sich noch heute nicht in erster Linie als İstanbuler, sondern als Menschen aus Tokat, Sivas, Erzurum oder von wo sonst ihre Familie in die Bosporusmetropole eingewandert ist. Viele dieser Familien gehen jeden Sommer über Monate in ihr Dorf zurück, sie leben zwischen zwei Welten und halten zäh an ihren Traditionen und Glaubensbekenntnissen fest. Die meisten gehören auch in der zweiten oder dritten Generation in der Stadt noch zur ökonomischen Unterschicht, sie fühlen sich oft unterdrückt und als Menschen zweiter Klasse behandelt.
Aus genau dieser soziologischen Gruppe besteht die Wählerschaft der AKP. Recep Tayyip Erdoğan und die meisten anderen führenden AKP-Politiker kommen aus Familien, die in die großen Städte eingewandert sind, kulturell aber noch im Dorf verhaftet sind. So kommt Erdoğans Familie aus dem östlichen Schwarzmeergebiet.
Erdoğan ist das Idol dieser Binnenmigranten. Da diese mittlerweile die größte Gruppe innerhalb der türkischen Bevölkerung stellen, ist die Wählerschaft der AKP sehr stabil. Das wird sich wohl erst dann ändern, wenn sich diese Gruppe durch die Aufstiegsmöglichkeiten, die ihnen die AKP-Regierung jetzt bietet, selbst wieder so weit ausdifferenziert hat, dass die gemeinsamen Interessen brüchig werden und verschwinden. Noch ist der Islam, die zumindest nach außen zur Schau getragene Frömmigkeit, der Kitt, der diese Gruppe zusammenhält. Doch auch unter den jetzigen, für die AKP immer noch sehr günstigen Bedingungen zeigt sich, dass rund die Hälfte der Bevölkerung die Versuche der Re-Islamisierung vehement ablehnen.
Traditionell war das Militär bis in die jüngste Vergangenheit in der Türkei ein entscheidender Machtfaktor. Das hatte historische Gründe: Führende Männer der frühen Republik wie Mustafa Kemal Atatürk und İsmet İnönü waren Militärs, bevor sie in die Politik gingen. Die Symbiose zwischen der herrschenden Republikanischen Volkspartei und dem Militär war so stark, dass Letzteres jederzeit bereitstand, die Politik der Einheitspartei notfalls auch gewaltsam durchzusetzen. Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als in der Türkei, nicht zuletzt auf Druck aus den USA, das Mehrparteiensystem eingeführt wurde und bei den ersten freien Wahlen eine in Opposition zur Republikanischen Volkspartei stehende, konservative Gruppierung die Wahlen gewann. Fortan verstand das Militär sich als der eigentliche Hüter des Vermächtnisses von Atatürk und trat immer dann auf den Plan, wenn es dieses in Gefahr sah.
Insgesamt drei Mal putschte das türkische Militär in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegen eine gewählte Regierung. Doch anders als in Spanien, Portugal oder Griechenland wurden daraus keine langjährigen Militärdiktaturen. Stets zog das Militär sich in die Kasernen zurück, wenn es glaubte, die notwendige »Kurskorrektur« vollzogen zu haben. So übernahmen zwar immer wieder zivile Politiker die Regierung, doch die Drohung mit dem nächsten Putsch blieb permanent präsent. Die wichtigsten Entscheidungen fielen daher in einem dem jeweiligen Kabinett übergeordneten Gremium, in dem die Militärs dem Regierungschef und den wichtigsten Ministern sagte, wo es langgehen sollte.
Als die kurdische Arbeiterpartei PKK 1984 ihren bewaffneten Kampf für einen eigenen kurdischen Staat begann und damit über Jahre die politische Agenda des Landes bestimmte, wurde der Einfluss des Militärs sehr groß. Schließlich wurde es täglich gebraucht. So war denn auch die Verhaftung von PKK-Führer Abdullah Öcalan 1999 und der damit verbundene Rückgang der Kämpfe im Südosten des Landes eine Voraussetzung dafür, dass Erdoğan ab 2003 die Macht der Militärs Schritt für Schritt beschränken konnte.