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Die moderne Naturwissenschaft beginnt nicht nur im Florenz Galileis, sondern auch im Prag Rudolfs II. Der katholische Kaiser zog den dänischen Astronomen Tycho Brahe und den deutschen Johannes Kepler an seinen Hof: Zwei Protestanten, zwei Vertriebene, die in Prag Zuflucht fanden. Es war eine glückhafte Begegnung, die kaum ein Jahr dauerte und mit Brahes rätselhaftem Tod endete. Die genauen Beobachtungen und Berechnungen Brahes bildeten die Grundlage für Keplers Werk über die Planetenbahnen, das bis heute unser Weltbild bestimmt. Max Brod bietet in seinem ersten und bekanntesten historischen Roman von 1915, den er seinem Freund Franz Kafka widmete, ein großartiges Panorama der Zeit um 1600 und eine intensive Darstellung der beiden unterschiedlichen Charaktere. Vorbild für die Figur des Johannes Kepler war Albert Einstein, den Max Brod kennenlernte, als er an der Prager Universität lehrte.
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Seitenzahl: 418
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Max BrodAusgewählte Werke
Herausgegeben von Hans-Gerd Kochund Hans Dieter Zimmermannin Zusammenarbeit mit Barbora Šramkováund Norbert Miller
Roman
Mit einem Vorwortvon Stefan Zweig
Gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung Köln und unterstützt vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds sowie dem deutschen Auswärtigen Amt
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2013www.wallstein-verlag.deVom Verlag gesetzt aus Aldus RomanUmschlaggestaltung: Susanne Gerhards, DüsseldorfDruck und Verarbeitung: Hubert & Co, GöttingenISBN (Print) 978-3-8353-1334-7ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2450-3ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2451-0
Vorwort(Stefan Zweig)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Nachwort(Roland Reuß)
Editorische Notiz
Über den Autor
Es wäre verlockend, einmal das Bildnis all jener Dichter zu zeichnen, deren Kraft erst allmählich aus einer anfänglichen Zartheit gewachsen ist. Denn noch erscheint der Irrtum verbreitet, Jugend sei bei jedem Künstler gewalttätige Zeit, Mut, der in Übermut hinüberschießt, strömendes und frech aufpochendes Selbstvertrauen, der Bakkalaureus im Faust. Aber ist in Wahrheit nicht jene andere Jugend der Dichter unendlich häufiger, die in wunderbarer Scheu vor den Dingen beginnt, mit zarter Melancholie, mit einem süßen und sehr befangenen Erschrecken vor der Vielfalt der Aufgaben und einer Zagheit gegen die eigene, noch ungeprobte Kunst? Vielleicht ist in Dichtern dieser verhaltenen Art die Kraft nicht minder gegenwärtig schon als in den andern, die laut und stürmisch sich gebärden: nur der Mut ist in ihnen noch nicht reif, die Dinge zu bestehen und ihnen erhobener Stirn entgegenzutreten. So war Rainer Maria Rilkes Beginn, eine Zagheit zuerst, ein unendliches Leisesein und Sichniederneigen zum Kleinen, ein Sichbescheiden in der Demut allen Anfangs. Und so hat sein Landsmann, Max Brod (1884 zu Prag geboren), im Schatten der gleichen Häuser, im Schatten derselben Demut ein Jahrzehnt später sein stark aufsteigendes Werk begonnen. Noch sehe ich ihn, wie ich ihn das erstemal sah, einen Zwanzigjährigen, klein, schmächtig und von unendlicher Bescheidenheit. Ich sehe ihn in seiner beglückten Freude, Prag, die geliebte und bezaubernde Stadt, einem Fremden erstmalig zeigen zu dürfen und von all seiner strömenden Liebe zu heroisch vergangener Welt zu erzählen. Seine schmalen mädchenhaften Hände, sie gehen weich über ein Klavier: er erzählt von Musik, von den tschechischen Künstlern, von Smetana und Janacek, den er für die Welt entdeckte, immer aber von andern, niemals von sich und seinen selbstgeschaffenen Liedern und Sonaten. Man fragt ihn nach seinem Werke: statt aller Antwort rühmt er einen völlig unbekannten Franz Kafka als den wirklichen Meister neuzeitlicher Prosa und Psychologie. Man spricht von seinen Versen, aber er wehrt ab: auf der Schulbank säße einer, der Franz Werfel heiße, dieser sei einer der größten lyrischen Dichter unserer Zeit. So war er damals, dieser junge Dichter, vollkommen hingegeben an alles, was ihm groß schien, an das Fremde, Erhabene und Wunderbare in jeder Form und Gestalt, im Vergangenen wie erst im ungewiß sich Entformenden.
Um ihn stand eine uralte Stadt, gefüllt mit Geschichte und Geheimnis, die Riesenburg des Hradschin, in der einst Kaiser über Europa geboten, und scheu sieht der junge Mensch zu dem Gewaltigen auf: wie dürfte man wagen, diese Vergangenheit zu bewältigen, wie gegen ein so Hoheitsvolles und Weiträumiges mit seinen kleinen Kräften bestehen? Nein, das ist zu groß: so wendet sich der Beginnende zunächst an das Kleine. Mit jener wunderbaren Zartheit, die ihm eigen ist, gleichsam mit einer Tuschfeder zeichnet er zunächst nur winzige Ausschnitte seiner Umwelt hin: das Schicksal eines tschechischen Dienstmädchens, die Näherinnen in einer kleinen Schneiderei, ein Stück Landaufenthalt, ein paar Verse, sordiniert hingesprochen in einen leisen Raum, ganz persönliche Sprache voll Reinheit des Klangs und des Herzens. Alles dies schon mit vollendetem Kunstsinn, intime zärtliche Gebilde ganz besonderer neuartiger, ja schon expressionistischer Eigenform; nur der entschlossene Vorsprung fehlt noch darin, über das Detail hinweg in die Zusammenhänge, aus dem Täglichen hinüber ins Heroische, aus dem Linden und Leisen des Bekennens sich in die Leidenschaft der Forderung, der moralischen Postulate hinüberzuwagen. Nein, nur nicht zu stark Anteil nehmen, es risse einen sonst mit, und man hat dazu noch kein Recht. Dieser »Indifferentismus«, dies Sichwehren gegen das mächtig Mitreißende bezeichnet auch seinen ersten großen Roman »Schloß Nornepygge«, der voll ist von bezaubernden Impressionen, ein erster deutscher Pointillismus der Psychologie. Auch in der Gefühlswelt versucht er sich vorerst im kleinen, im Detail, im Nicht-zu-weit-Ausschwingenden zu bewähren, und so gilt Max Brod uns allen lange Jahre als einer der erlesensten Kleinkünstler deutscher Sprache: seine Essays wie seine Novellen, seine Gedichte wie seine Musik, alle haben sie gleiche Helligkeit des Geistes bei gleicher Verhaltenheit des Gefühls. Alle haben sie, eben durch dies Neuartige des Tonfalls, durch die seelische Offenheit, auf seine Generation gewirkt, auf Werfel vor allem, und manches, das später den Expressionisten als Entdeckung zugeschrieben wurde, war hier in Keim und edel enthüllter Blüte vorbildliche Form geworden. Schon ist die Kühnheit da, aber sie bekennt sich nur zu sich selbst, sie hebt noch nicht die Stimme entschlossen und selbstgewiß in die Welt.
So beginnt dieser Dichter: mit Zartheit, mit Demut, gleichsam mit immer gesenktem Haupt. Seine Augenlider sind noch geblendet von jedem überstarken Licht, und scheu beugt er sie nieder: man kann ihm lange darum nicht bis ganz hinab in die Seele sehen. Es fehlt ihm eines zu seinem vielfältigen Können – es ist der edelste Mangel dieser Art Jugend: Mut zur Entscheidung, Mut zur Vehemenz gegen die Welt. Und plötzlich ist auch dieser ihm gegeben. Denn der Krieg stößt mit seiner ganzen Gewalt gerade auf diese Generation, der wir angehören, und mitten hinein in unser Leben und weckt in uns etwas auf, das noch nicht ganz in uns zur Besinnung gekommen: das Gefühl der Verantwortung. Ein Reich stürzt ein, das ein Jahrtausend bestanden, Geschichte, sie ist plötzlich nah mit schmetterndem Flügelschlag, entscheidendes Geschehnis füllt jede Stunde bis zum Rand. Und man empfindet sofort: gegen dieses Ungeheure wäre alles Spielen mit kleinen Dingen zynisch und unentschuldbar. Hier sind endlich Probleme gegeben, Probleme, denen man nicht ausweichen darf, und zu denen man Stellung aus seinem eigenen Blut, mit seinem eigenen Geist finden muß. Jedweder Indifferentismus, das empfindet Max Brod sofort, wie immer man ihn bislang betrieben, wäre nun eine Feigheit der Seele, und mit endlich entschlossenem Mut stellt er sich kühn, Blick in Blick gegen die Gegenwart und geradeaus zu all seinen Vergangenheiten. Die große Güte, die in ihm immer lag, die aber gewissermaßen nur privat hilfreich war, nun erst strömt sie füllig ein in sein Werk, um ihm wieder zu entströmen. Mit sicherer Kraft drängt nun sein Sinn dem Gewaltigen zu. Schon die Jahre vor dem Kriege hatten ein Männliches in ihm bestärkt: nun tritt es vor in den geistigen Kampf. Die Stadt, durch die er bislang scheu ging, ohne Mut, sie zu deuten und sie künstlerisch mit einem Griff zu fassen, ihr setzt er jetzt ein Denkmal in seinem damals schon fertig gestalteten »Tycho de Brahe« und im »Reubeni«: das Mittelalter, diese Wolke von Vergangenheit über der kleineren Gegenwart, nun zerstreut er sie, indem er mit schöpferischem Blitz sie durchlichtet. Das Problem des eigenen Bluts wird großartig gestaltet in seinem Roman »Reubeni«, aus Liebelei formt sich der Roman einer wirklich leidenschaftlichen Liebe in dem »Leben mit einer Göttin«, und die ganze Einstellung zu Welt und Zeit formuliert sich in dem zweibändigen Gedankenwerke »Christentum, Judentum und Heidentum«. Aus lässig zärtlicher Betrachtung wird überall leidenschaftliches Bekenntnis, aus dem bloßen Dabeisein und Danebenstehen schöpferisches Innensein. Mit einem Ruck hat sich der Kleinkünstler in das Große gestoßen, und der wie ein scheu erschreckter Knabe vor dem Wunderbaren stand, als einem Jenseitigen und einem Unerreichbaren, nun sieht er das Magische allerorts und überall mitten im Leben und der Vergangenheit als das »Diesseitswunder«, bereit, jedem gläubig sich hinzugeben und von jedem kräftig sich steigern zu lassen, willige Beute jeder Leidenschaft, frommer und kühn aussagender Zeuge seines eigenen strömenden Gefühls.
Diese starke, weit ausholende, kräftige Linie, dieser Wurf und Schwung weiten Zielen entgegen, ihn hat Max Brod im wesentlichen erst seit dem Kriege gelernt. Aber der Künstler in ihm hat darum das Frühere nicht vergessen, die zarte Bindung im seelischen Bezug, die Liebe zum schaffenden und leuchtenden Detail, das Spitzenwerk der zarten und belebenden Einfälle. So sind seine Romane gleichzeitig weit und gefüllt, sie haben Leben von innen und außen, von der Zeit und vom ewigen Licht, und alle leben sie vom geistigen Widerspiel einzelner Menschen, der dann ins Historische und Heroische riesige Schatten wirft. Tycho de Brahe, der Kaiser, der Papst, Kepler, Aretino, Rabbi Löw, Reubeni und der Märtyrer Molcho bedeuten nicht nur zufällige Figuren, sondern symbolische Typen der Weltbetrachtung, sie sind von kosmischem Geiste durchdrungen und mit ihren Schicksalen ans Metaphysische gebunden. Nichts ist bloß Einfall, dekoratives Detail in diesen Romanen, zufällig aufgelesener, aus Büchern gelesener Stoff, der koloristisch verlockt, sondern aus einer Notwendigkeit der Aussage und des Bekennens stellt nun der Dichter seine Gestalten gegen die Welt, um sich selbst in ihnen und sich die Welt durch sie zu erklären. Und nur in diesem Sinn haben historische Romane für uns noch seelische Gültigkeit, wenn längst vergangene Gestalt Symbol wird für zeitloses Gefühl und ihre Probleme einmünden in das Dauernde und Gültige. Wenige Werke haben so durchaus den Geist, das Gefühl des Mittelalters uns vermittelt als der »Tycho de Brahe« und »Reubeni«. Geheimnisvolle Räume des Gefühls und der Gedanken sind durch sie erlichtet, Gestalten von den Schatten sinnlich beschworen, und doch gehören ihre geistigen Gegensätze unserem innern Leben noch als ein Lebendiges zu: an nichts vermag ja auch der phantasievollste Sinn tätig teilzunehmen, was nicht nostra res, unsere eigenste Sache abwandelte. So wären zu unrecht solche Romane Max Brods in die Formel des historischen Romans beschränkt, denn sie sind ebenso Darstellung eines religiös und moralisch Gegenwärtigen, als einer zeitentfernten Kultur: der Stoff in ihnen mag transponiert sein in sinnlich und farbig eindringlichere Epochen, als die unsern uns erscheinen, ihr Pneuma aber, ihr zeitlicher Atem ist ein und derselbe und wie immer der einzig fruchtbare: strömende, anteilnehmende Liebe am Geringen wie am Gewaltigen, Gläubigkeit ohne starre Form, aber in jeder Form sich belebend. Daß Zeit nur ein Flüchtiges darstellt, Gewandung, die das Wesentliche nicht wandelt, wird man eben an der Zweiheit seiner Darstellung gewahr, für die alles Zeitliche nur Vorwand ist, das Ewige und Verehrungswerte in ihr zu entdecken. Wer in diesem Wege so weit vor und schon so nahe an das Herz aller Leidenschaft herangedrungen, vermag nie mehr innezuhalten: und so kann die für vieles schon dankbare Empfindung nur mit innigstem Vertrauen einen solchen Dichter begleiten, der seit Jahren alle eigenen Maße immer wieder erfüllt und immer höherer Spannung großartig erweitert.
Stefan Zweig
Meinem Freunde
»Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte einbrach. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Er aber antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob.
Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft, und bist obgelegen.
Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragest du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.
Und Jakob hieß die Stätte Pniel; denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen.«
1. Mos. 32.
Mit immer dringenderen Briefen hatte der große Tycho Brahe, sobald er nur selbst am Prager Hofe bei Kaiser Rudolf II. festen Stand fühlte, den jungen Astronomen Johann Kepler zu sich eingeladen. Die Korrespondenz wurde schon einige Jahre lang geführt. Kaum war nämlich Keplers Name mit seinem ersten kosmographischen Werk, dem bescheiden so genannten »Prodromus«, in der Sphäre gelehrter Bestrebungen aufgetaucht, so fühlte sich Tycho, der verbannte, vielumhergetriebene, alternde Mensch, sofort von tiefer Hingezogenheit zu dem neuen Forschergeist bewegt; es war ihm, als habe er nun von dorther allein Bestätigung und Widerlegung, Verständnis und Kampf zu erwarten, als müsse er von diesem frischen Kopf das Schicksal seines weiteren Lebens empfangen. Von Anbeginn beobachtete er daher Kepler so, wie etwa der müde Vater auf den heranwachsenden Sohn sieht, voll Angst und froher Erwartung zugleich. Jede Zeile, die aus Graz kam, war ihm bedeutungsvoll, und obwohl die Erlebnisse seiner letzten Jahre, die ihm oft als eine ununterbrochene Kette von Fehlschlägen erschienen, ihn reizbar, mißtrauisch, heftig gemacht und ein angeborenes hochfahrendes Wesen verstärkt hatten, war sein Benehmen gegen den jungen Gelehrten von seltsamer Sanftheit, ja Demut. Oft mußte er über sich selbst lächeln und sich fragen, ob er nicht bezaubert oder verblendet sei, daß er einem Anfänger, den er nie von Aug’ zu Aug’ gesehen hatte, von dem er eigentlich nur wenig wußte, gar so höflich entgegenkomme. Nach solchen Zweifeln aber gab sich in ihm verstärkt und deutlicher, als er sie je gehört hatte, eine innere Stimme kund: – Mein ganzes Leben war einsam, ich habe Nachbeter und blinde Schüler, Untertanen, Sklaven gehabt. Muß ich mich nicht freuen, wenn mir ein liebender Stern zu guter Letzt nun einen Ebenbürtigen, einen Helfer, einen Erben meiner Kunst heraufführen will, muß nicht jedes Bedenken der gelehrten Sitte, all dieser Unfug von Meisterei und Anfängerei zu Pulver zerstauben vor dem einzigen großen Gefühl: Ein Freund! Ein erster würdiger Genosse und Bruder! – Und indem er sich so aus einer Welt irdischer Rangordnungen und Hemmnisse, an der er genugsam litt, in ein Dasein rückhaltloser Geistesherrschaft emporzündete, fühlte er sich ganz durchdrungen von Kepler, hatte teil an ihm, entzückte sich so feurig an dem bloßen Vorhandensein des großen, ihn und den Freund umschlingenden Weltgenius, daß ihm seine eigenen begeisterten Briefe, in denen er Keplers elegante scharfe Dialektik, seine Gelehrsamkeit, seine ingeniose Spekulation, seinen runden Stil pries, nur noch als ein matter Abklatsch dieser Hingabe erscheinen mußten. Er war ja entschlossen, ganz aufrichtig zu sein, nach so vielen halben, unerquicklichen, nur eben zweckentsprechenden Beziehungen in diesem neu sich anknüpfenden Verhältnis nichts Falsches und Vorsichtiges zu dulden; und so hielt er auch damit nicht zurück, daß er die Lobesworte Keplers auf das Kopernikanische Weltsystem bedaure, daß er aber hoffe, ihn einmal noch zur eigenen, zur Tychonischen Konstellation zu bringen. Dies schrieb er gleich im ersten Brief; standen nicht an, sofort das Vertraulichste zu äußern. »Nur komme«, hieß es in einem andern Schreiben, in dem durch das Latein erlaubten kollegialen Du-Tone, »komme, Du wirst in mir einen Freund finden, der Dir auch in bösen Läuften mit Rat und Hilfe nicht fehlen wird. Ich wünschte aber, daß Dich nicht Deine ungünstige Lage zu mir heranzwänge, sondern Dein eigenes freies Urteil und zu unserer gemeinsamen Wissenschaft die Liebe und Überschwenglichkeit.«
Kepler befand sich damals wirklich in ungünstiger Lage. Sein Amt eines Universitätsprofessors und »Landschaftsmathematikers der Steiermark« war bedroht, ja sein bloßer Aufenthalt im Lande brachte Gefahr; denn Kepler war Protestant, und der Erzherzog Ferdinand hatte unlängst bei einer Wallfahrt gelobt, alle Ketzer in seinen Gebieten auszurotten, ging auch ernstlich daran, dieses Versprechen durch Ausweisungen und Haftbefehle wahrzumachen. Kepler mußte seine junge Frau in Graz zurücklassen und nach Ungarn fliehen. Einige Jesuiten, die sein wissenschaftliches Wirken mit Interesse verfolgten und ihn schließlich noch zum Katholiken zu machen hofften, setzten seine Rückberufung durch. Kaum aber war er in der Stadt, so begannen die Anfeindungen von neuem. Vergebens bemühte er sich um eine Anstellung in seiner württembergischen Heimat. So blieb ihm nichts übrig, als seine Blicke nach Prag zu richten. Und Tycho rief unermüdlich in seinen herzlichen Briefen: »Nicht als Gast, als erwünschtesten Freund will ich Dich halten und als liebsten Genossen meiner himmlischen Kontemplationen, so weit eben die Instrumente ausreichen, die ich gegenwärtig zur Hand habe. Und wenn Du bald kommst, so finden wir wohl auch eine Stellung, in der für Dich und die Deinen für alle Zukunft besser als bisher gesorgt sein wird.« – So schrieb denn Kepler, Tychos Ansturm mit Gemessenheit beantwortend, zunächst an einige gut Bekannte in Prag, an Johann Homelius, an seine Gönner, den Geheimen Rat Baron Hofmann und andere, und als alle ihm zurieten, sich in Prag zu zeigen und bei Kaiser Rudolf eine dauernde Anstellung anzustreben, wagte er die große Reise. Weib und Stieftochter ließ er in Graz zurück.
In Prag traf er Tycho nicht mehr, denn diesem war durch des Kaisers Gunst eben das Schloß Benatek an der Iser zum Wohnsitz und zur Einrichtung einer Sternwarte überlassen worden. Auch der Kaiser war nach Pilsen abgereist; ein unerwartetes Ereignis, das mehrfache unsichere Deutung erfuhr. So meldete sich denn Kepler von Prag aus bei Tycho an, der ihm sofort seinen westfälischen Gehilfen, den Junker Franz Tengnagel, mit einem guten großen Reisewagen entgegenschickte. –
Dieser Wagen stand an einem trüben Februarmorgen des Jahres 1600 vor dem Gasthof »Beim goldenen Greif« auf dem Hradschin, wo Kepler logierte, zur Abreise bereit, als ein älterer schlanker Mann, vom Schloß heraneilend, sichtbar wurde. Es war des Kaisers Leibarzt, Thaddäus Hagecius, in der Landessprache Hajek geheißen, der den beiden Reisefertigen lebhaft Zeichen machte. Beide erkannten ihn denn auch, begrüßten ihn freundlich, und als er die Absicht äußerte, mit ihnen nach Benatek zu fahren, luden sie ihn gern ein, sofort einzusteigen. Namentlich Tengnagel freute sich, einen so munteren Plaudermenschen für die sechsstündige Fahrt gewonnen zu haben, denn aus dem schweigsamen Kepler war wenig herauszubringen. Tengnagel, der in dem neuen Schüler einen sehr gefährlichen Nebenbuhler in Tychos Gunst witterte, mochte ihn überhaupt von Anfang an nicht leiden.
»Ich muß doch einmal sehen«, schwatzte Hagecius gleich los, »wie die Landluft dem malefizischen Blasenleiden des alten Herrn anschlägt. Und mich an die aulam Caesaris nach Pilsen zu begeben, würde ich gar nicht wagen, ohne die neuesten Referenda über des Tychonis Wohlbefinden mitzubringen. Also mächtig ist dieser berühmte Mann in den favorem unseres Herrn gekommen, das mögt ihr mir fest glauben, und keiner Sache begehret der Kaiser schärfer, denn daß dem Tychoni zur Exerzierung seines studii und artis astronomicae alles auf das bequemste zur Hand sei und eingerichtet werde.«
Unter solchen Reden fuhr der Wagen die steile Hauptstraße der Kleinseite hinab, rollte über die lange Steinerne Brücke und dann in die Alte Stadt hinein, deren Häuser, recht anders als die in der Umgebung der Burg auf dem Hradschin und der Kleinseite, nur aus Holz und Lehm erbaut waren. Manche Wände schienen nur aus den eben gefällten Baumstämmen, noch mit der Rinde, in Eile zusammengeschlagen. In den engen schmutzigen Straßen herrschte ein fürchterlicher Gestank, aber glücklicherweise war man bald am Festungswall angelangt. Die Wache am Tor wollte nicht gleich passieren lassen, und Hagecius mußte erst seinen Kopf, der stadtbekannt war, zum Fenster hinausstecken, ehe man die Kutsche freigab.
»Die Posten haben strenges Reskript erhalten«, erläuterte Hagecius, sobald man auf der offenen Landstraße war, »niemanden ohne Testimonium passieren zu lassen. Ist nämlich durch Hofastrologen eine große Pest über die Stadt Prag vorausgesagt worden. Ja, manche wollen durch ihre spectationes coeli geradezu wahrgenommen haben, daß diese erschreckliche Pestilenz schon in der Stadt sich extendiere. Weshalb auch der Kaiser sich nach Pilsen begeben hat und ich auf dem Weg ebendahin bin. Es solle aber zur Vermeidung einer größeren Perturbation der Gemüter nicht publice davon gesprochen werden.« Die faltigen Augenlider des lustigen Gesichtes fielen bei diesen Worten blinzelnd über die Augen nieder, aber das Lächeln seiner Mundwinkel konnte er nicht beherrschen. »Des Kaisers Majestät haben nicht gern diese Interruption aller Gewohnheiten auf sich genommen, dermaßen sie auch nicht glauben, daß die Pfeile solcher Krankheit auf ihr Haupt gerichtet seien. Es ist solches nämlich gleichfalls horoskopiert worden …«
»Dieses Horoskop hat mein Lehrer Tycho selbst gestellt«, unterbrach Tengnagel gewichtig die skeptische Rede des Arztes, »daß Rudolfus Secundus durch keinerlei Krankheit sterben, sondern wie Heinrich III. von Frankreich von einem Mönch würde ermordet werden. Und die Wahrheit davon wird sich zeigen.«
»Was haltet Ihr, Professor, von der Sterndeutekunst?« wandte sich in diesem Augenblick Hagecius mit einem Ruck an Kepler, der bisher stumm, in seinen grauen Mantel gehüllt, dagesessen war, und gab damit einer Frage Ausdruck, die alle Gemüter jener Zeit, die wissenschaftlichen wie die der Laien, aufs innigste beschäftigte.
Kepler schwieg noch eine Weile und es schien, als habe er die Frage gar nicht gehört. Als aber der Wagen an einer Biegung scharf ausschüttelte, brach es aus seiner Ecke hervor: »Lauter Lug und Trug! Schade, die Luft mit dergleichen Worten zu erschüttern und die Zeit dabei müßig auszugeben. Ich erachte das Astrologieren für nichts denn eine Epidemiam, welche nicht bloß einzelne, sondern den größten Teil des Menschengeschlechtes erfaßt hat. Mit ihren Triangulis, mit ihren Häusern und Örtern des Firmamenti, mit ihren qualitatibus und dignitatibus der Sterne, als da sind: Wärme, Feuchtigkeit, Kälte der Planeten und deren Einfluß auf Krieg, Hungersnot, Dürre, und mit allen Dingen solcher Gestalt haben unsere wohlfeilen Prophetlein jedesmal nur eine einzige zutreffende Vorhersagung machen können: daß man ihre nichtigen einbildnerischen Traktätchen in Massen kaufen werde. Denn das ist ihnen jedesmal eingetroffen.« Er lachte hart auf und warf seinen Rücken an die Kutschwand zurück, noch lange nachher riß er ärgerlich an seinem Schnurrbart.
Tengnagel sah ihn erstaunt und feindselig an; eine solch entschiedene Rede über einen strittigen wissenschaftlichen Gegenstand hatte er noch nie gehört, denn Tycho pflegte selten eine scharf abgegrenzte Meinung zu äußern und behandelte namentlich Dinge, die mit dem Zeitgeschmack verknüpft waren, nur äußerst vorsichtig. Aber auch dem witzigen Arzt kam so viel Offenheit sichtlich ungelegen. Er gehörte zu jenen unruhigen Köpfen, die alles anzweifeln, die aber ebensowenig wie eine starre Lehre die endgültige Verneinung gelten lassen wollen, da sie eben nur in dem ewigen Belächeln und unernsten Achselzucken die rechte Lust ihres Verstandes finden. So bemühte er sich denn sofort, Keplers schlichte Worte zu verwässern und zu verstricken. Alle opera der Astrologie dürfe man solchen Narrenspossen denn doch nicht gleichhalten, man müsse unterscheiden zwischen den elenden Destillierern, Wettermachern, hermetischen Künstlern, fahrenden Adepten, wie sie der Hof Rudolfs leider in viel zu reichen Mengen herberge, und etwa jenen ersten Weisen, die vorzeiten auf der tabula smaragdina ihre gewiß tiefen Kenntnisse niedergelegt hätten. So habe doch auch Tycho Brahe selbst den Tod des großen Sultans Soleiman seinerzeit richtig vorhergesagt. – Kepler schüttelte den Kopf. – »Und doch war es so«, fuhr ihn Tengnagel jetzt schon wütend an und faßte unwillkürlich mit der Hand ans Degengehenk.
Hagecius aber glaubte nun wieder dem Kepler etwas mehr recht geben zu müssen, um die Wage gleichzuhalten; daher legte er dem Tengnagel die Hand begütigend auf die Schulter und erinnerte ihn an die beiden englischen Schwindler, Dee und Kelley, die am Hofe, der eine mit seinem heiligen Kristallstein, der andere mit seinem trinkbaren Gold und Lebenselixier, so viel Aufsehens gemacht und jeder gar als ein neuer Hermes Trismegistos gepriesen worden seien, worauf sie doch zum Schluß, ihrer Laborationen überwiesen, ein klägliches Ende gefunden hätten. – Der alte ironische Herr war nun in seinem eigentlichen Bereich, indem er Hofklatschgeschichten bissig preisgab, auch seiner selbst am wenigsten schonte als eines, der in den alchymistischen Küchen gläubig mitgearbeitet und gar eine »Prager Zeitschrift der Magier« herausgegeben habe. Hierbei wandte er sich vornehmlich an Kepler, denn er hielt es für seine angenehme Pflicht, den Fremden über die Verhältnisse, in denen er sich nun zu bewegen haben würde, aufzuklären. Über kurz oder lang werde er ja gewiß auch in Audienz beim Kaiser erscheinen. Der Kaiser, der Kaiser! … Hagecius lächelte zweideutig bei diesem Ausruf und seine Miene, die schon bei kleineren Anlässen sich wichtigtuerisch genug zusammenfaltete, wurde nun vollends geheimnisvoll und zerknittert wie ein altes Pergament: der Kaiser, ja das sei ein schwieriges Kapitulum. Die einen hielten ihn gar für krank im Geist, insania captum, das müsse man aber wohl durchaus als Ausstreuung der spanischen und katholischen Partei ansehen, die darauf sinne, dem Kinderlosen (er habe freilich sechs uneheliche Kinder) schon bei Lebzeiten einen päpstlich gesinnten successorem und coadjutorem zu ernennen. Für etwas seltsam aber dürfe wohl auch der Getreue dem Herrn es anrechnen (hier fuhr wieder ein Lächeln über die grauen Wangen und man wußte nicht, sollte es zeremoniösen Respekt ausdrücken oder eine Bosheit), daß der Kaiser so unverbrüchlich ruhig und zurückgezogen lebe und nun gar auch in seinem Garten gedeckte Gänge habe aufführen lassen, um bei seinen kargen Spaziergängen nur ja von niemandem erblickt zu werden. Monatelang habe man ihn bitten müssen, zur Huldigung der Landstände nach Mähren zu reisen. Und in letzter Zeit verlasse er das Schloß überhaupt kaum mehr. Kein Reiten, kein Ballspiel. Hier und da ließe er sich noch die herrlichen spanischen und italienischen Rosse, Geschenke des Königs von Spanien, unter den Fenstern vorbeiführen und freue sich an ihrem schön bewegten Anblick; aber das sei auch alles. Zumal in rebus politicis lasse er alle Dinge laufen und nur sehr unregelmäßig und mit äußerster Unlust wohne er einer Sitzung seines Geheimen Rates bei; weshalb denn auch die Wirren mit dem Türken und Siebenbürger, ja mit dem eigenen Bruder Mathias zu keinem Ende kämen … »Nun, Ihr werdet ja solcherlei Unbilden noch genugsam am eigenen Leibe spüren«, schloß er und sah dabei Kepler mit einem recht zufriedenen Blick an.
»Wir Musenjünger haben indes zu einer Lamentation keinen Grund«, erwiderte der Junker. »Für uns nennt man es nicht mit Unrecht ein goldenes Zeitalter. Die Kaiserliche Majestät gewährt uns benevolenter alles, dessen unsere Wissenschaften not haben. Ihr werdet Eure Augen groß machen, Meister Hagecius, wenn Ihr seht, wie wir das Jagdschloß Benatek schon zu einer Hohen Schule der Urania, zu einem zweiten Uranienburg umgerüffelt haben. Es wird allda auch bereits observieret, einen großmächtigen Sextanten haben wir aufgestellt.« Lebhaft fiel Hagecius ein und stellte sofort einige Fragen, aus denen man sah, daß die Neugierde, Tychos neue Einrichtungen und Erfindungen zu sehen, ihn nicht minder als die Sorge um dessen Befinden auf diese Reise getrieben hatte. Der Junker antwortete mit Behagen, seine Schilderungen steigerten sich in ihrer Großartigkeit, und nachdem er Tychos Ruhm, Einsicht und unbegreifliche Arbeitskraft verherrlicht hatte, vergaß er auch nicht, sich selbst ins protzigste Licht zu stellen, indem er schließlich andeutete, daß Tycho auch in weltlichen Dingen, wie bekannt, stets einen guten Griff bewiesen und so auch zu allerletzt einen wackeren Schwiegersohn sich ausgewählt habe: Herrn Franz Tengnagel. – »Was! Was! Ausgezeichnet!« rief Hagecius und beglückwünschte, vom Sitz emporhüpfend und durch den Gang des Wagens wieder zurückgeworfen, den jungen Bräutigam, der mit selbstgefälligem und sichtlich schon oft wiederholtem Witz vorbrachte, daß er in letzter Zeit vom Spekulieren auf den Martem und Jovem sich habe entbinden lassen und nur mehr um seine irdische Venus, genannte Elisabeth Brahe de Knudstrup, sich beschäftige. Sodann setzte er seine prahlerischen Schilderungen fort und konnte gar nicht genug über den Glanz und die Macht der Tychonischen Familie sagen, in die er natürlich sich selbst schon mit einbezog. Aufgeblasen und rot im dicken Gesicht saß er steif da, die Hand auf den Degenknauf zwischen den Knien gestemmt; wie es aber beschränkten Menschen seiner Art geht, daß sie manchmal genau das Gegenteil dessen beweisen, worauf sie ausgegangen sind, so machte sich Tengnagel plötzlich daran, wie im Schwung der durch die Erzählung aufgestauten hohen Bedeutung und Kraft, einen gewissen Kaspar von Mühlstein zu beschimpfen, den Brandeiser Hauptmann, dem auch das Schloß Benatek unterstehe. Diese böhmische Bestie hatte sich unterfangen, trotz eines Briefes von Geheimsekretär Barvitius, dem Tycho sein kaiserlich versprochenes Gehalt nicht auszuzahlen, mit der Begründung, daß er keinen Befehl vom Kaiser und von den Ständen besitze. Wegen jedes Stubenumbaus, wegen jedes Ofens, wegen jeder Fuhre Holz müsse man mit dem Menschen auf das erbittertste verhandeln, und neulich habe er dem Tycho ins Gesicht geschrien: die Rentkassen seien leer, und wären sie gefüllt, so wüßte er das Geld auch eher zur Verbesserung der Deiche und zum Einkauf von Pferden und Kühen anzuwenden.
»Da habt Ihr Euer goldenes Zeitalter«, sprang Hagecius listig ein. »Die Schatzkammer ist leer, und ganz Europa rüstet wider uns. Heißt es nicht, daß der französische Heinrich, eben erst Katholik geworden, mit der deutschen evangelischen Fürstenschaft einen eidlichen und bellicosen contractum wider uns gemacht hat? So sind uns die Lutherischen wie die Römischen gram, und Prag selbst halten die aufrührerischen Stände, die Calviner, die Brüderunität, die Ultraquisten, die alten Hussiten und malkontentes Volk jeden generis wie im Kriegszustand. Da darf man sich denn nicht wundern, wenn ein braver kaiserlicher Offizier gegen einen hergereisten Doktor, und sei er noch so groß, den Mund aufreißt.«
Scheinbar vermittelnd wandte sich Hagecius an den Junker, aber man fühlte, daß es ihm nicht um eine gerechte Ausgleichung zu tun war, vielmehr darum, wie zuvor dem Bilde des Kaisers so nunmehr dem eben durch Tengnagel verherrlichten Tycho eine recht andere Schilderung anzuhängen. Einen kranken, gebrechlichen, müden, bedauernswerten Pilger nannte er ihn, einen schweren Mann, der mit seiner sechsköpfigen Familie, mit Begleitung von Studenten, Dienerschaft, Hausgeistlichen, mit seinen riesigen kostbaren Instrumenten und Sammlungen, die man nirgends aufstellen könne, mit seiner Bibliothek, ja mit seiner eigenen Druckerpresse sogar sich durch Europa wälze und nirgends Ruhe finde, überall anstoße und in seinen natürlichen Ansprüchen auf ein fürstlich großzügiges Leben allen Plackern und Quälgeistern nur tausend Angriffspunkte biete, welche überdies auch seine cholerische Affektion, seine Zanksucht und Ungeduld nur vermehre.
Tengnagel widersprach und bramarbasierte, seine Eitelkeit wollte im weitesten Umkreis keinen Mangel zugestehen; der zweiflerische Arzt stach dagegen und zerstörte. So ging es noch lange weiter. Aber alle diese Gespräche, die eigentlich gar nicht als Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern, sondern als Belehrung Keplers gedacht waren, verfehlten in seltsamer Weise ihren Zweck; denn Kepler, den sich die beiden aufgeregt und der neuen Zukunft gespannt entgegenharrend vorstellten, konnte mühelos zwischen dem Großsprecher und dem Klugredner seine würdige Ruhe bewahren: sie war von Anfang an nicht in Frage gestellt gewesen. In diesem hageren Manne mit dem kleinen, wie unreifen, unentwickelten Gesichtchen lebte eine Beharrlichkeit sondergleichen, eine ganz einfache Richtung aller angespanntesten Geisteskräfte, die ihn nach außen hin völlig absperrte, ihn unverletzlich, aber auch für alles, was nicht seine Wissenschaft betraf, aufnahmsunfähig machte. Seine ganze Begabung und, damit übereinstimmend, seine ganze Leidenschaft war nur auf ein Ziel gerichtet, auf die wissenschaftliche Bewältigung der Welt, als deren nächsten Schritt er die Erforschung der Sternengesetze so ausschließlich vor Augen hatte, daß ein Freund einmal äußeren konnte: Gäbe es von einem bestimmten Moment an keine Sterne, so werde es auch keinen Johannes Kepler mehr geben. – Wirklich war nichts imstande, ihn von dieser einzigen Richtung seines Daseins abzubringen, für die gleichsam all das unendliche Feuer, alles Große und Lebendige seiner Seele aufgespart dalag (jeder Anstoß konnte es hell auflodern lassen, wie sein Ausbruch gegen die Astrologie den Reisegenossen schon gezeigt hatte); für alle übrigen Tätigkeiten des Lebens hingegen dienten nur kärgliche Schlacken und trübe Rückstände seines Geistes, so daß er im gewöhnlichen Verkehr oft sogar kalt und nüchtern, pedantisch, kleinlich vorsichtig, streitsüchtig, ja ganz unbedeutend erscheinen konnte. Er tappte nicht etwa, wie andere geniale Naturen, mit liebenswerter Naivität und Kindlichkeit in den Alltag hinein; dazu hätte doch noch eine gewisse Frische und Munterkeit des Herzens gehört. Kepler aber verbrauchte sein ganzes Ich, Kopf wie Herz, in wissenschaftlicher Arbeit und für den menschlichen Umgang blieb nur ein grämlicher undeutlicher kleiner Schatten seines Wesens übrig. Indessen wurde diese Widernatürlichkeit dadurch beinahe ganz aufgehoben, daß er selbst sich in dieser Entstellung nicht zu mögen schien und eben nicht länger, als unbedingt nötig war, im Zustand des gewöhnlichen Lebens verblieb. Es galt ihm nur, die unumgänglichsten Bedürfnisse zu decken; im übrigen gab es für ihn nichts als Arbeit, heiße, befreiende, aufsteigende Arbeit. Dann überließ er sich mit beinahe bewußtloser Zuversicht seiner geistigen Stimme, die ihn an den Zacken der Außenwelt vorbei mit Nachtwandlersicherheit, ohne Aufregung und Anstrengung weiterführte, so daß seine ganze Nervenkraft für die großen Aufgaben frei blieb; dann, in der göttlichen Arbeit, kam alles über ihn, was ihm sonst mangelte, Feuer, Frische, Kindlichkeit, Witz, Ahnung und Herzlichkeit, der große Zug, die sorglose Hingabe. Eine solche Hingabe führte ihn nun zu Tycho, aber nicht zu dem dunklen schicksalsvollen Menschen, sondern nur zu dem originellen und staunenswert exakten Beobachter der Kometen, des neuen Sterns, der Marsbewegung. Was ging ihn der ermüdete Körper, die unsichere Vermögenslage, die Familie des Mannes an! Was scherte er sich um Böhmen und den Kaiser! Seinen eigenen äußeren Verhältnissen maß er ja aus innerster Wahrheit nicht die geringste Bedeutung zu: was sollte ihn die Lebensnot anderer Menschen kümmern! Das waren Besorgungen, die man möglichst schnell abmacht, aber keine Sorgen. Nicht dem verworrenen Manne Tycho, einer klaren Lehre und einem Arbeitsplatz reiste er getrost entgegen und hörte daher kaum, was die Gefährten sprachen. Solche Ruhe konnte von außen beinahe wie Gedankenlosigkeit, wie Gleichgültigkeit oder Leichtsinn aussehen; sie hatte ja gar nichts Überirdisch-Heiteres, Überwältigendes, Auffallendes an sich, war eben nicht mehr und nicht minder als sein natürlicher Zustand, der Ausdruck dafür, daß er wieder einmal im richtigen Geleise war und daß es in ihm arbeitete, mochte es anderen scheinen, wie es wollte. – Als ihn nun Hagecius mit seinen kritischen Befürchtungen, Tengnagel mit seinen Aufschneidereien genugsam in Wallung gebracht zu haben glaubten und endlich eine Weile schwiegen, nahm er das Wort und fragte mit seiner reinen, etwas hohen Stimme: wie lange Fahrt man noch bis Benatek habe.
Nicht ohne Erstaunen antworteten ihm die Reisenden und setzten dann etwas ärgerlich ihr Gespräch fort, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. So kam es, daß Kepler, unbeachtet, sich eine bequemere Stellung aussuchen und bald darauf, noch ermüdet von den Strapazen der kürzlich überstandenen großen Fahrt nach Prag, richtig einschlafen konnte. Im Schlaf wurde sein kleines Gesicht, mit leicht geöffneten Lippen, vollends kindlich heiter und ruhig. Sein Atem war rein und regelmäßig, kein böser Traum schien ihn anfechten zu können. Er empfing wohl in balsamischer Stille den Lohn für sein unablässiges, zuchtvoll geleitetes, arbeitsreiches Wachsein. Und wie sein Antlitz friedlich, offen, leicht zu enträtseln dalag, so breitete sich rings um die Fahrenden jetzt die liebliche Ebene des Elbeufers aus. Niemand beachtete, wie die Freundlichkeit dieser Gebüsche in der Nähe, dieser sich um die Kutsche drehenden seichten Hügel, dieser blauen und bleigrauen fernen Wälderreihen, weiß durchnebelt längs des Flusses, wie all diese Ruhe und Frische zu dem glücklichen Daliegen des zarten Menschen paßte, ja wie der gesunde Schlaf diese Dinge gleichsam traumartig aus sich heraus zu bilden, bei jeder Wegbiegung bis auf Sehweite zu verteilen und dann wieder in sich einzuziehen schien. So waren diese beiden, der schöne Schlaf und die schöne Gegend, von den Reisegenossen unbeachtet, nur füreinander da, spiegelten sich ineinander und hielten, ganz für sich und ohne eines Menschen Zustimmung, ihre stummen Formen einander entgegen.
Der Wagen war an die Elbe gelangt, wurde samt den Pferden auf eine große Fähre gesetzt und über den reißenden Strom gerudert, auf dem ein scharfer nasser Wind einherflatterte. Eben wollte das Gefährt, auf dem anderen Ufer angekommen, sich wieder in Bewegung setzen, da trat hinter einem der ersten Obstbäume an der Landstraße eine weibliche Gestalt hervor, die offenbar dort gewartet hatte, lief auf die Reisenden zu und schwang sich mit einem großen Sprung an ihre Seite, in den schon fahrenden Wagen hinein. Sofort warf sie sich auf Tengnagel, küßte ihn heftig, schrie wie wahnsinnig auf, drückte zugleich seine Hand, seinen Arm und bewies auf jede unbändige Weise, auch durch schnelles überlautes Reden, ihre Freude, ihn wiederzusehen.
»Meine Braut«, keuchte Tengnagel aus den Umarmungen auf und streckte in recht komischer Weise den Arm aus, als ziehe er einen Vorhang weg, und mache die Anwesenden erst jetzt auf das Mädchen aufmerksam.
Elisabeth schrak auf, ließ von dem Geliebten ab, schien aber wirklich erst jetzt zu bemerken, daß sie nicht allein waren. Eine edle Natürlichkeit lag in der Bewegung, mit der sie den Kopf senkte. Ihr Gesicht färbte sich blutrot, so daß die hellblonden Haare und ganz lichten Augenbrauen inmitten dieser Röte wie weißglühend erschienen.
Hagecius begann sofort ohne Verlegenheit die übliche Gratulation und ging in einen lustigen Wortschwall über. Nun lächelte Tengnagel selbstgefällig, und da die Sache wieder in Ordnung gebracht schien, wandte er sich auch dem Mädchen zu, begrüßte sie gleichsam erst jetzt. Sie aber, immer noch außer sich, sah von Tengnagel zu Hagecius, von Hagecius zu Tengnagel und stammelte, als begreife sie der beiden gleichgültiges Gerede nicht, mit leiser Klage: »Ich habe schon geglaubt, daß er nicht wieder zu mir zurückkommen wird.«
»Was sprichst du?« fuhr Tengnagel sie an.
Sie lachte ihm ins ärgerliche Gesicht und machte Miene, ihm sofort wieder um den Hals zu fallen, ohne jede Rücksicht auf die Umstände. Er aber runzelte die Stirn und wies jede Zärtlichkeit ab. Vielmehr wandte er sich wieder, als sei das Mädchen gar nicht vorhanden, mit ungezwungen gleichgültiger Miene an Hagecius und führte eine Erzählung weiter, die der Zwischenfall unterbrochen hatte.
»Du kümmerst dich aber gar nicht um mich«, rief das Mädchen nach einer kleinen Weile. Ihr schönes rosiges Antlitz verzog sich weinerlich, doch eine sprudelnde Lebhaftigkeit darin, die immer wieder hervorbrach, milderte die Trauer in den jungen Zügen. Und die zügellose, förmlich unbewußte Offenheit, mit der sie sprach, paßte wunderlich zu diesem Aprilwettergesicht.
»Ja, junge schöne Frauen wollen immer beachtet sein«, erklärte Hagecius mit trockener Galanterie.
»Du fragst mich gar nicht, wie es mir ergangen ist, seit du weggefahren bist.«
Mit bärenhafter Stimme wußte Tengnagel nichts anderes zu erwidern, als: »Nun, wie ist es dir also ergangen?«
»Schlecht, sehr schlecht«, seufzte Elisabeth. »Ich habe immer an dich gedacht. Und du?«
»Auch, auch«, sagte Tengnagel, sah sie einen Moment lang wirklich ausdrucksvoll mit seinen großen treuen Hundeaugen an und schob sie dann weg. Sichtlich hatte er von diesem Gespräch genug, er nahm diese Dinge wohl überhaupt nicht so wichtig. Aber Elisabeth fuhr fort: »Ich hatte solche Angst vor dir. Ich dachte wirklich, du willst mich schon verlassen.«
»Ein kleiner vorehelicher Streit?« erkundigte sich jetzt Hagecius.
»Wir streiten leider sehr oft«, seufzte Elisabeth und sah mit ihren hellblauen Augen sehnsüchtig den Bräutigam an. Und auch ihre Lippen, voll und rot, schienen nach ihm zu blicken; derselbe Ausdruck der Sehnsucht lag in ihnen wie in den Augen.
»Wobei man aber wissen muß, was bei solch einem empfindlichen Weiblein schon Streit heißt. Wenn man bloß zwinkert …« Aber der tyrannische Blick, den er ihr nun zuwarf, schien ihn Lügen zu strafen.
»Es ist eben eine schwierige Sache: dieses Heiraten«, bestätigte der Arzt nach beiden Seiten hin und begann nun in derselben zweideutigen, unter dem Vorwand der Unparteilichkeit bissigen Art, wie vorhin auf den Kaiser und Tycho, ein allgemeines Lied auf die Ehe anzustimmen, von dem man nicht wußte, ob es loben oder tadeln sollte. – Da er alter Junggeselle war, hatte er über diesen Gegenstand viel nachgedacht und hatte eine Fülle von Späßchen und Exempeln in Bereitschaft. Tengnagel lachte oft derb auf, mischte sich mit gröberen Ausdrücken ein. Elisabeth widersprach ungeduldig, sie dachte sich die Ehe als eine ewige Liebe, ohne die sie nicht leben wollte und konnte, sie hätte gern mehr darüber gesagt … aber sooft sie den Mund auftat, sah Tengnagel sie mit einem eigentümlich ängstlichen, unwilligen und beherrschenden Blick an, als erwarte er etwas über seine Fassungskraft Hinausgehendes, Widerstrebendes, ihn Beschämendes zu hören. Mehrmals setzte sie ganz fröhlich ein; jedesmal wies er sie durch solche finstere Blicke oder ein geflüstertes Wort zur Ruhe, wie dies manche Männer in Gewohnheit haben, wenn sie mit ihren Frauen in Gesellschaft erscheinen. Das Lächerliche dabei war, daß Elisabeth ja immer nur Hingebungsvolles, Sanftes sagte. Er aber schien schon jede selbständige Äußerung von ihr als strafbar und gefährlich zu empfinden, zumindest als unbequeme Störung seiner Ruhe, als etwas, worauf sich einzulassen er nicht nötig hatte. Elisabeths ganzes Wesen prickelte ihn und das mußte er irgendwie abstellen. Wie einer, der mit seinem eigenen Leib und seinen vielen Kleidern eine Flamme ersticken will, schien er sich mit seinen plumpen Drohungen und Einschüchterungen über das heißblütige lebhafte Mädchen hinwälzen und ihre aufzüngelnde Feuerseele ersticken zu wollen, und wie ein solcher in Brand Geratener war auch seine Miene schmerzlich angegriffen, wütend, eifrig, die Miene eines Überfallenen, eines Beleidigten …
Der Wagen fuhr durch dichte Nadelwälder, deren schneebedeckter Boden und kaltes Grün in der Mittagsonne frostig-trüb erglänzte. – »Wer ist denn der dritte Herr hier?« rief Elisabeth plötzlich, nachdem sie, zum Schweigen verurteilt, eine Zeitlang im geräumigen Dunkel der Kutsche Umschau gehalten hatte. Ganz klein zusammengeduckt schlief Kepler in seinem Ecklein weiter.
»Niemand«, rief Tengnagel, von neuem gereizt.
»Seid Ihr aber eifersüchtig!« spottete der Arzt.
Sofort wandte sich das Mädchen ganz glücklich an ihn: »Meint Ihr wirklich, daß es Eifersucht ist? Wenn ich das glauben könnte, daß Franz eifersüchtig ist! Manchmal scheint es mir doch ganz sicher, daß er meiner schon überdrüssig ist …«
»Eifersüchtig, nein, nein«, stieß der Junker hervor und hielt sich den Kopf. »Eifersüchtig, das fehlte noch, das würde dir passen.«
»Ich glaube, mein Fräulein, er ist es.«
»Nun also, sage mir doch, wer der Herr ist. Es ist ein sehr schöner Herr, ein hübscher Mann, sicher auch ein kluger Mann«, neckte Elisabeth, ihren Vorteil lustig wahrnehmend.
»Schweig du, schweig!«
Hagecius neigte sich an ihr Ohr, doch so, daß es Tengnagel hörte: »Und wenn ich nun noch hinzufüge, daß es auch ein berühmter Mann ist, der große Astronom Johannes Kepler?«
»Ah der! Der soll ja jetzt bei uns in Benatek wohnen. Für lange Zeit, nicht wahr? O, ich freue mich!«
Ratlos sah der schwerfällige Tengnagel auf die beiden, die sich über seinen Kopf hinweg zu verständigen schienen. Er ballte die Faust, als sei Elisabeth in ihr drinnen, in Gestalt eines kleinen Vögleins etwa, das ihm davonfliegen wolle. Immer fester krallte er die Finger zu, sein Gesicht verzerrte sich in Verzweiflung. Von Anfang an hatte er ja gewußt, daß dieser hergelaufene Kepler ihm Beunruhigung und Unglück bringen werde. Als nun Elisabeth gar sich ganz weit vorneigte, um den schlummernden Fremdling aus der Nähe zu sehen, wobei sie launig verliebte Augen machte, hielt sich der Junker nicht länger zurück und schrie ihr einen kurzen Satz in dänischer Sprache zu, der sie sofort erblassen machte und in den Polster zurückwarf. Große Tränen standen in ihren Augen, von nun an sprach sie kein Wort mehr. Auch Tengnagel schwieg verstimmt und des Arztes Gewandtheit mochte gleichfalls zu Ende sein. Erst nach einer Weile schien Elisabeth die ganze Schwere der zugerufenen Worte zu fühlen, sie begann zu schluchzen, lehnte sich aber mit dem Gesicht an die Wand des Wagens, so daß man es nicht sah. Am ganzen Körper bis zu den Fußspitzen hinab zitterte sie.
Glücklicherweise war man bald am Schloß angelangt. Man fuhr schon an einzelnen Gehöften der Herrschaft vorbei, dann durch Weingärten einen Hügel empor, zwischen zwei langen Mauern, und endlich ins mächtige Hoftor ein. Der Wagen hielt. Schlaftrunken taumelte Kepler aus dem Sitz. Obwohl man ihn schon geweckt hatte, sobald das Schloß in Sicht kam, hatte er ohne jedes Zeichen von Neugierde friedlich weitergeduselt. So kam es, daß er beim Aussteigen beinahe über den vor ihm stehenden Tengnagel hinuntergestolpert wäre und sich an dessen Schulter festhielt. Der aber, händelsüchtig von Natur aus, nun gar noch durch den Zank mit seiner Braut aufgebracht, war nicht geneigt, die Entschuldigungen des ungeschickten, noch halb verschlafenen Gelehrten anzuhören. Er schüttelte ihn ab, brüllte auf und warf sich mit drohenden Fäusten über Kepler, hätte auch sofort zugehauen, wäre nicht in demselben Augenblick ein junger starker Bursche, vom Rollen des Wagens angelockt, aus dem Hause gelaufen, der den Bedrohten sofort an sich riß. Es war Tychos älterer Sohn. Freundlich begrüßte er die beiden Gäste und lud sie ein, mit ihm zu kommen. Dem Tengnagel warf er nur ein paar leise, verächtliche Worte hin und ließ ihn im Hof stehen, wo eine Schar von Frauen mit allen Zeichen des Schreckens um ihn und die weinende Elisabeth sich ansammelte.
Ob es nun diese unerwartete Szene gleich beim Eintritt war oder ob ihn die Erwartung des großen Tycho doch aufregte: jedenfalls zitterte Kepler ein wenig, als er die große Holztreppe mit ihren alten Stufen emporstieg. Sie führte nach ländlicher Art frei an der Außenseite des Schloßgebäudes empor und endete als eine geräumige, verandaartig überdachte Plattform in der Höhe des einzigen Stockwerks. Von hier aus durchschritten die Gäste mehrere Zimmer, in denen eifrige Tischlerei am Werke war. Drehbänke schnurrten, Hobel klangen scharf auf, der Geruch frischgeschnittenen Holzes, wie man ihn auf sonnigen Waldrodungen einatmet, durchdrang das ganze Haus und ein dichter Pelz von weißen gekräuselten Sägespänen lag überall in den kahlen halbfertigen Räumen. Es folgte ein Laboratorium, dessen eine Hälfte von einem Ofner in Besitz genommen war, der daselbst seine Gerätschaften und Kacheln zum Aufbau eines chemischen Herdes ausgebreitet hatte, während an der Fensterwand ein junger Mann über einem provisorischen offenen Feuer schon an der Arbeit schien und mit seinen Glasröhren so vertieft umging, als sei ringsumher alles in bester Ordnung. Tychos Sohn führte durch eine geräumige ganz leere Halle weiter, öffnete die Türe zum nächsten Zimmer, nachdem er angeklopft hatte, und wich dann zur Seite aus. Hagecius trat ein, ihm folgte Kepler, während der Jüngling sich entfernte.
In dem durch Vorhänge etwas verdunkelten Zimmer hob sich über Stöße von Büchern und Schriften wie über Mauerzinnen empor ein kahlgeschorener Kopf, darunter ein dickes, mit Backenknochen und Stirnknollen hervortretendes Gesicht, das vom Schnurrbart bis über den Mund hinweg graublond bewachsen war. Es war Tycho, der sofort lebhaft aufsprang und den kaiserlichen Leibarzt begrüßte.
»Dies ist –« wollte Hagecius, mit einer Handbewegung auf Kepler weisend, sagen; aber Tycho unterbrach ihn sofort: »Das braucht mir niemand zu melden. Dies ist der junge Hipparch, mein Benjamin, auf den ich lange genug gewartet habe.« Und ohne einen Laut des erstaunten Kepler abzuwarten, warf sich Tycho mit seinem ganzen großen stämmigen Greisenkörper über den um vieles kleineren Gast, dreimal schlug er seine Arme um ihn, dreimal zog er ihn an seine Brust und küßte ihn dabei jedesmal auf den Mund, indem er ausrief: »Gesegnet, gesegnet diese Stunde!«
»Ich begrüße in aller Verehrung den Phönix der Astronomie«, erwiderte Kepler, indem er ehrerbietig zurückwich.
»Phönix magst du mich wohl nennen, Kepler«, rief Tycho, »denn verbrannt und vernichtet hat man mich und alles, was mein ist. Ob ich mich aber aus meiner Asche je wieder emporschwingen werde, wie die Dichter von jenem wunderbaren Vogel sagen, das wird erst das eben begonnene Jahr zeigen, das freilich mit einer noch nie gesehenen Konjunktion zweier heller Sterne eröffnet wird.« Dabei zog er Keplers Hand wieder in die seine und an sein Herz. »O nein, wir sind einander heute nicht zum erstenmal nahe, mein großer Freund! Wie ich es einmal an meinen Gutgesellen Pratensis schrieb: Am glänzenden Himmel begegneten sich unsere Blicke, die sich auf Erden nicht begegnen konnten.« Tychos Augen glänzten auf, er begann mit dröhnender Stimme einige lateinische Distichen, die er vor Jahren diesem Freunde gewidmet hatte, zu zitieren: »Wenn meine Augen denselben Stern beobachten, dem du gerade deine Aufmerksamkeit zuwendest, dann verbindet uns das Himmelsgewölbe, uns, deren körperliche Verbindung die Erde nicht leidet.« Noch während er deklamierte und mit der linken Hand in großen Bogenschwingungen sich selbst den Takt gab, schob er in gebückter Haltung mit der Rechten einen Sessel zu Kepler hin. Dann verstummte er eine Weile, sah dem Ankömmling entzückt ins Gesicht, als bemerke er ihn so richtig erst jetzt, nahm ihm die Mütze aus der Hand, legte sie vorsichtig auf einen Bücherhaufen, stand wieder vor Kepler und stampfte auf, als könnte er seine Freude nicht zügeln. »Dies ist mein erster glücklicher Augenblick seit Monaten, seit vielen Jahren«, rief er aus und wandte sich an Hagecius, in dessen Arm er sich heftig aufstützte. So zurückgelehnt betrachtete er aus der Ferne den nicht ohne Verlegenheit dasitzenden Kepler und seine Miene, sein auffallendes, gleichsam heißes Schweigen, sein Augenzwinkern, sein beinahe kokettes Lächeln schien zu sagen: »Nun, ist er nicht lieblich, mein Benjamin?«
Während Tychos lebendiges und sonderbares Gehaben auch weiter den ganzen Raum ausfüllte, blieb nicht nur Kepler, auch der sonst weltläufige Hagecius befangen. Letzter sogar etwas enttäuscht; hatte er doch, nach der zierlichen Hipparch- und Phönix-Begrüßung ein sauberes mythologisches Gespräch, wie es unter Gelehrten üblich war, erhofft, – statt dessen vernachlässigte Tycho, dessen natürliche Leidenschaft ausbrach, sogar die unter Gebildeten unerläßlichen lateinischen Einflickungen und seine Rede strudelte wie die eines Taglöhners gewaltsam und ohne Aufputz hin, in einer Reinheit und Einfachheit, die dem Hofmann barbarisch erschien. Tycho aber bemerkte nichts von dem Erstaunen, das er um sich verbreitete. In einem förmlich kindischen Übermut, ein Bein vorstellend, den mächtigen Bauch herausgestoßen, das Gesicht aufgeworfen, beide Hände an seinem dichten Schnurrbart, dessen schräge Enden er noch tiefer herabzog: so schien er schon mit seinem gewaltigen Leibe der ganzen Welt Trotz zu bieten, und was er sprach, waren nun auch höhnische Beschimpfungen seiner Feinde, namentlich des Schotten Craig und des Hofmathematikers Raymarus Ursus, den er ein unreines dithymarschisches Tier nannte. »Jetzt mögen sie aber alle kommen, mit meinem Kepler vereint bin ich unbesiegbar.«