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Warum sollten die Schriften der Freunde Kafkas nicht wieder eine grössere Rolle spielen? Max Brod und Felix Welsch, die doch über 20 Jahre mit Franz Kafka zusammen gelebt und gearbeitet haben, fühlten sich zeitlebens aufgerufen, auf einen Kafka hinzuweisen, wie sie ihn 'erlebt' haben. Sicherlich war Max Brod dabei nicht immer eines 'Geschmacks' mit Kafka. In den wesentlichen Punkten vermögen seine Schriften aber auf jahrzehntelang gepflegte Zerrbilder der Kafka-Rezeption hinzuweisen.
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Seitenzahl: 187
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Max Brod
Franz Kafkas Glauben und Lehre
Kafka und Tolstoi Eine Studie
Mit einem Text von Felix Weltsch „Religiöser Humor bei Franz Kafka“
onomato
Impressum
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der
Rechteinhaberin Frau Eva Hoffe.
© onomato Verlag 2014
Satz und editorische Bearbeitung: Silke Kramer
Register: Katharina Müller
ISBN 978-3-944891-32-3
www.onomato.de
„Franz Kafkas Glauben und Lehre‘‘ von Max Brod
Einleitung (11)
I. Kein System Kafkas, aber wachsende Klärung seiner Ansichten in seiner letzten Lebenszeit (17), Kafka und Tolstoi (17), Weltbedeutung der Lehre Kafkas (17), Notwendige Mängel der systematischen Darstellung (18), Das beispielhafte Leben Kafkas (21), Uneitelkeit (21), Intensität der Arbeit (23), Ein Bild Voltaires (23), „Flickarbeit“ (24), Das Streben nach dem Vollkommenen (24), Flauberts „Gueuloir“ (26)
II. Der zentrale Satz der Lehre Kafkas: die These vom „Unzerstörbaren“ (29), Es gibt nur das Ziel; Weg ist Ausrede (30), Dennoch: der Kampf um den richtigen Weg (30), Blick auf die Gemeinschaft, „die beispiellos untrennbare Verbindung der Menschen“ (37)
III. Kafka weder dem Individualismus, noch dem Kollektiv verfallen: Er steht an dem Punkt, wo die Scheinbarkeit dieses Gegensatzes aufleuchtet (38), Das „Junggesellentum“ als Symbol alles Negativen (39), „Beamtenlaster“ (39), „Une confluence du Judaisme et du Christianisme“, Zurückweisung dieser Auffassung Klossowskis (40), Den Tod widerlegen (42), Der Würgegriff der Kausalität (42), „Hinausspringen aus der Totschlägerreihe“ (43), Der Messias (44)
IV. Begegnung mit der Gemeinschaft (45), Westjudentum, Ostjudentum bei Kafka (45), Interpretation des Satzes „Keine Hoffnung für uns“ (46), Der Vater (46), Im Widerstreit gegen den Vater festere Bindung an die jüdische Gemeinschaft (47), Tolstoi und das russische Volk (48), Parallele bei Kafka (und das Unterscheidende) (49), Josefine, die Sängerin (51), Das Mäusevolk (51), Die „Verwandlung“ und der Typus Raban (54), Sondere dich nicht von der Gemeinschaft ab (54), „Der Prozeß“ (56), Die tatsächliche Schuld des Josef K. (56), Das sich steigernde Schuldgefühl in den drei Romanen (56), Ein Kommentator, der Josef K. zuredet, dieses Schuldgefühl als bloß neurotische Einbildung zu betrachten (60), Widerstand gegen die versittlichende Wirkung der Schriften Kafkas (61)
V. Monotheismus in seiner reinsten Form (62), Das Motiv des Richterlichen bei Kafka und Ibsen (63)
VI. (Intermezzo) Einige Kommentatoren Kafkas (67)
VII. Kafka als Repräsentant einer jüdischen Religionserneuerung (71), Christliche Auffassung dieses Faktums (74), Hinweis auf Aldous Huxley (75), Kafkas Skepsis gegen alle Theorien (78), Er stellt sich in die Gemeinschaft ein. Dokumente für diese Behauptung (81), Kafkas positive Haltung zum Zionismus (82), Seine Ablehnung der deutsch-jüdischen Assimilation, auch in der Literatur (84), Seine Haltung in diesem Punkt radikaler als die meine (86), Seine Stellung zu Karl Kraus (88)
VIII. Einstellung zu den Werten des Lebens und zur christlichen Negation dieser Werte (97), Über Askese (99), Das Schöne. Plotin (100), Geometrisches Radien-Gleichnis (102), Kafkas „Traurigkeit“ (104), Ehe und Volksgemeinschaft (106), Novalis über die Ehe (107), Der haarfeine Unterschied zwischen der Haltung Kafkas und der Verneinung der sinnlichen Welt (108), Für sich selbst stellt Kafka eine ungünstige Prognose (108), Dennoch positiver Bezug zu allem Guten der Menschheitsentwicklung (110), Kabbala und Zionismus (113), „So ist doch was Gefährliches in mir.“ (114), Anekdoten (118), Das Wort der Liebe (121), Sozialistische Pläne (122), Der sogenannte alltägliche Mensch (123)
„Religiöser Humor bei Franz Kafka“ von Felix Weltsch
I. Die Kafka-Welt (126)
II. Die Frage der Deutung (129)
III. Die religiöse Thematik (132)
IV. Hoffnungslose Verzweiflung (137)
V. Die Hoffnung auf das Vollkommene ist nicht sinnlos (140)
VI. Die Ungeduld (142)
VII. Religiöser Humor (145)
VIII. Die Mittel des Kafka’schen Humors (146)
Anhang
Editorische Notiz (153)
Personenregister (155)
Sachregister (156)
Werkverzeichnis (159)
Der Grundgedanke meiner hier folgenden Schrift geht dahin, daß eine richtige Deutung Kafkas nicht möglich ist, solange man nicht zwei Strömungen in seinem Werk unterscheidet: 1. die Aphorismen und 2. die erzählenden Schriften (Romane, Novellen, Fragmente).
1. Der Kafka der Aphorismen hat das ,,Unzerstörbare“ im Menschen erkannt, er hat zu dem metaphysischen Kern der Welt ein positives gläubiges Verhältnis. Er ist ein religiöser Held vom Rang eines Propheten, der um seinen Glauben unter tausend Anfechtungen ringt, wobei er aber des Himmels, des Transzendenten im Wesentlichen gewiß ist.
2. Der Kafka der Romane und Novellen zeigt den irrenden Menschen in all seinem Schrecken, seiner Verlassenheit, den Menschen, der den Zusammenhang mit eben jenem „Unzerstörbaren“, von dem die Aphorismen und oft auch die Tagebücher melden, verloren hat, den Menschen, der im Glauben unsicher geworden gestört ist, den halt- und ratlosen Menschen, zu dem hin jener Urglaube nur noch von ferne, fast unerreichbar, fast unverständlich, wie eine dunkle Ahnung erklingt. (Aber trotz allem: doch noch irgendwie erklingt.)
Diese beiden Strömungen sind Gegensätze. Sie mischen sich in mancher Schöpfung Kafkas, gradweise gestuft. In anderen treten sie mit polarer Scheidung hervor. Man kann aber Kafka niemals verstehen, wenn man nicht beide Strömungen in ihm erkennt und berücksichtigt. In den Aphorismen gibt Kafka (in großen Umrissen gesehen) das positive Wort, das er der Menschheit zu sagen hat, einen Glauben, eine strenge Aufforderung, das persönliche Leben jedes Einzelnen zu ändern – mit der Lehre Tolstois eng verwandt. In den Romanen und Erzählungen schildert er die grauenhaften Strafsanktionen, die eintreten, wenn man das Wort nicht hört, den rechten Weg verläßt. Das negative Wort ertönt hier, das Urteil, das Gericht.
Diese beiden Massen in Kafkas Werk, die Aphorismen und das erzählende Werk, gehören zusammen und ergänzen einander, wie eine Farbe und ihre Komplementärfarbe zueinander gehören. –
Der große Ruhm, der Kafka jetzt posthum zuteil wird, steht in seltsamem Mißverhältnis zu dem Minimum an echter Wirkung, das seiner reinen Gestalt vorläufig beschieden ward. Um hierin Wandlung zu schaffen, um ein richtigeres Verständnis dieser reinen Gestalt anzubahnen, ist die folgende Studie geschrieben und als Ergänzung zu meiner Kafka-Biographie gedacht. Sie richtet sich vor allem gegen die nihilistische Auffassung Kafkas, die heute das große Wort führt. Es ist einfach absurd und nichts als ein Zeichen für die geistige Verworrenheit unserer Zeit, wenn man einen Denker und Gestalter, der tief wie kaum ein anderer im Metaphysischen verwurzelt war, heute in die Linie des französischen Existenzialismus (Sartre) einreihen will, der nach dem Vorbild Heideggers die Welt ihrer metaphysischen Valenz zu entleeren sucht, der also geradezu die Gegenlinie Kafkas ist. Eine weitere Mißdeutung, allerdings keine so grobe, liegt in der katholischen Interpretation. Die Grenzlinie ist hier eine zartere, sie erscheint in äußerst komplizierten Formen. Ich habe mich bemüht, sie im folgenden da und dort aufzuzeigen. Die katholische Interpretation wird im allgemeinen wohl dem metaphysischen Gehalt, nicht aber den von Kafka im sublimsten Sinn verehrten positiven Diesseitskräften gerecht, deren Reinheit Kafka bei all seiner scharfen Lebenskritik nie aus dem Blick verliert (vgl. vor allem seine Einstellung zur Ehe oder zur aufbauenden Arbeit des Alltags).
Zusammengefaßt also: Die nihilistische Deutung möchte Kafka seiner Verwurzelung im Transzendenten entkleiden. Die katholische (und überhaupt radikal christliche) Deutung will ihn auf das Transzendente allein reduzieren. Beides ist unrichtig. – Doch unter den unrichtigen Deutungen Kafkas, die ja Legion sind, nehmen sich diese beiden noch anständig aus. Daneben, welch eine Galerie bizarrer Irrtümer! So, wenn eine kommunistische Revue in Frankreich eine Rundfrage veranstaltet: „Soll man Kafkas Schriften verbrennen?“ Und wenn dann unter denen, die antworten, kein einziger darauf hinweist, daß in Kafkas Weltschau (wiederum ähnlich wie bei Tolstoi) so starke Verbindungsfäden zu einer im menschlichsten und persönlichsten Sinne gemeinten sozialen Befreiung hinleiten. – Es haben sich auch Autoren gefunden, die Kafka auf einige neurotische Symptome, die er mit Millionen teilt, festlegen wollen; als sei dies Natural-Selbstverständliche sein eigentliches Geheimnis. An diesen und manchen anderen mit dem Blick vorbeizugehen, den Dante von Vergil gelernt hat (Inferno III 51), schiene mir das Angemessenste und Ratsamste, hätte ich nicht gerade von Kafka den anderen Blick, an nichts achtlos vorbeizugehen, ein Leben lang zu lernen Gelegenheit gehabt.
In der „Biographie“ habe ich den Lebenslauf meines Freundes erzählt, wobei ich selbstverständlich bei einigen Gelegenheiten darstellen mußte, wie er selbst über sein Werk dachte und wie es unter Zugrundelegung der Intentionen des Autors gedeutet werden muß. – In dem Band, den ich jetzt vorlege, steht Deutung und Bedeutung des Werkes von Franz Kafka an erster Stelle, wobei aber doch auch wieder auf bisher unbekannte Tatsachen seines Lebens Bezug genommen wird. So sind die beiden Bücher über Kafka als ein zusammenhängendes Ganzes aufzufassen, dessen Teile einander wechselseitig erhellen sollen, sofern meine Absicht gelungen ist.
In dem beträchtlichen Zeitraum zwischen den Erscheinungsdaten meiner zwei Bücher ist Kafkas Name weltberühmt geworden. Das hat eine Unzahl von Fehldeutungen auf den Plan gerufen. Einige, die mir typisch schienen, habe ich hier zurückgewiesen, doch durchaus nicht alle. Das ist auch gar nicht nötig, da sie mit der Zeit, als Modeerscheinungen erkannt, verschwinden werden, während Kafkas Werk bleibt und an Gewicht noch zunehmen wird. Zu den vielen psychoanalytischen Transkriptionen, die unter den Kommentatoren im Schwange sind, bemerke ich hier noch, daß sie meist nur das Selbstverständliche sagen, wenn sie den Schatten hervorheben, den Kafkas respektabler und elementarisch schöpferischer Vater, ohne es zu wollen, über das Leben des empfindungsreichen Sohnes warf. Damit aber, daß man diesen Schatten sieht, wie Kafka selbst es tat (und ich mit ihm, noch zu seinen Lebzeiten wie auch nachher), ist noch gar nichts von der besonderen Genialität Kafkas erklärt, nichts auch von den individuellen Reaktionen und geistigen Ergebnissen, zu denen Kafka im Kampf mit dem lastenden Schatten emporwuchs. Das Allgemeine dieser Entwicklung, das, was Kafkas Lebenslauf mit den Lebensläufen von Millionen Söhnen gemeinsam hat, gehört der Psychoanalyse an; doch erst dort, wo dieses Allgemeine überwunden ist und Kafkas spezielle Lebenssituation sich formt, beginnt das geistig Relevante und Einzige des Dichters sich abzuzeichnen.
Hier und da warf man mir ein, ich hätte Kafkas großen Brief an den Vater nur deshalb stückweise, mit Auslassungen und nicht in extenso in meiner Biographie veröffentlicht, weil ich die psychoanalytisch deutbaren Tatsachen seines Daseins verdunkeln wollte. Nichts lag mir ferner. Ich habe in meiner Kafka-Biographie diese Tatsachen selbst ausführlich dargelegt, ihre Bedeutung nie bestritten, nur ihre im Letzten entscheidende Kraft für die Formung von Kafkas Leben und Werk in Abrede gestellt. Sämtliche Fortlassungen aus dem Brief hatten den einen Grund: das Gefühl lebender Personen, insbesondere der Schwestern Kafkas, nicht zu verletzen. Leider ist dieser Grund weggefallen. Alle drei Schwestern sind Opfer der Nazis geworden. Der erwähnte Brief an den Vater wird nun mehr im Wesentlichen ungekürzt in der Gesamtausgabe seinen Platz finden.
Öfters las ich die Aufforderung, meine Kafka-Biographie als Vorarbeit zu betrachten und nun das eigentliche Werk einer systematischen Evokation zu unternehmen. Diesen Erwartungen einiger Leser kann ich aus mancherlei Gründen nicht entsprechen. Ich betrachte meine beiden Bücher als eine Darstellung, die, im Rahmen meiner Kraft, und natürlich erst dann, wenn man sie mit dem Werk Kafkas, insbesondere mit seinen Briefen und Tagebüchern, sowie mit meinen Nachworten und Anmerkungen zu seinen Büchern zusammennimmt, jenen Einblick in die Organisation dieses außerordentlichen Lebens und Schaffens gewährt, die es dem befähigt Mitschauenden und Mitdenkenden gestattet, an den Bemühungen Kafkas aktiv teilzunehmen und sein eigen Seelenheil wie den Frieden der Welt mit verstärkter Kraft anzustreben. Und darauf allein kommt es wesentlich an – wobei ich nicht übersehen will, daß der systematischen Sichtung und Ordnung des biographischen und autobiographischen Materials sowie der Erschließung neuer Daten noch manche Aufgabe in der Zukunft gestellt sein mag.
„Hauptsächlich tut es not, zu wissen, daß, wenn in mir Nicht-Liebe ist, ich schon deshalb, weil diese Nicht-Liebe in mir ist, schuldig bin.“ (Leo Tolstoi, Tagebuch, November 1896)
Eine systematische Darstellung seiner Philosophie und seiner religiösen Weltanschauung hat Kafka nie gegeben. Dennoch lassen sich aus seinem Werk, speziell aus den Aphorismen, aber auch aus den Dichtungen, Briefen, Tagebüchern, ferner aus der Art seiner Lebensführung (vor allem aus dieser) ziemlich deutliche Grundlagen ableiten, die einem Kafkas Stellungnahme zu den Grundphänomenen des Menschseins erschließen.
Seine Stellungnahme war selbstverständlich in verschiedenen Perioden seines Lebens verschieden. Zeiten jugendlichen Spiels, gefolgt von solchen äußerster Skepsis und voll von Verzweiflung, wechseln mit Epochen einer Art von Verankerung im Glauben. Die konflikthaften Situationen, in die er sich gestellt sieht, die Kriegsgreuel seit 1914, die schreckliche Krankheit – das alles übt fallweise und nachwirkend seinen Einfluß. Auch ist seine Entwicklung in manchen Punkten nicht als abgeschlossen anzusehen. – Wenn man aber erkannt hat, daß seine letzten Lebensjahre (etwa von 1917 angefangen) die weltanschaulich entscheidenden waren, zeigt sich doch eine innere Klärung, ein Resultat seiner Leiden, seines gewaltigen und schmerzlichen Ringens um einen festen Halt. Die Ansicht dieser letzten Lebensjahre bietet ein zusammenhängendes, geschlossenes Bild. Die Tiefe, in die dieses Bild mit all seinen Hintergründen hinweist, kann heute noch gar nicht ermessen werden – sie gibt künftigen Generationen eine Aufgabe, nicht etwa bloß des Erkennens, sondern der Verwirklichung. Würde die Menschheit Kafkas Lehre annehmen, so würde dies das Antlitz der ganzen Erde verändern – und zwar etwa in der selben Richtung, in die Tolstoi hinweist. Gerade die Verwandtschaft Kafkas mit Tolstoi ist bisher zu wenig bemerkt worden. Sie liegt etwa im Wort Kafkas: „Nicht jeder kann die Wahrheit sehn, aber (jeder kann sie) sein.“ Ein wahrhaft tröstliches, ein befreiendes Wort – hier öffnet sich der Weg zu einer echteren Demokratie als der, die heute zum zweideutigen Schlagwort geworden ist.
Es bedarf keiner langen Erörterung, um zu erkennen, daß eine Darstellung der Lehre Kafkas keinerlei Äquivalent für seine Schriften bietet und vernünftigerweise auch gar nicht zu bieten beabsichtigen kann. Die Schriften seien dem wiederholten Studium der Leser empfohlen. Wenn die Darstellung der Lehre dabei eine noch so geringe Hilfe bietet, hat sie ihren Zweck erfüllt.
Der systematischen Darstellung werden stets die besonderen Valeurs der Schriften Kafkas fehlen, seine Ironie, sein Humor, seine mit einer gewissen Verschlagenheit des Scharfsinns fast unbegreiflich eng gepaarte Einfachheit. An Nuancen und Unterscheidungen, an überraschenden Ausblicken und Neben-episoden ist er reich, obwohl er sich oft den Anschein gibt, in schlichter Erzählung nur den Tatsachen zu folgen, und obwohl er sich wirklich von ihnen in einem einzigen großen Zuge hinreißen läßt. Das Subjektive bleibt gegenüber der objektiven Logik der Geschehnisse manchmal so versteckt wie bei Mérimée, nie aber so absichtlich versteckt wie bei diesem. – Die Vorzüge des Erzählers Kafka, die lyrischen Schönheiten jener Stellen, an denen der Erzähler mit dunkel sinnendem Auge zu verweilen scheint, die Intensität des Aphoristikers, seine unbedingte Wahrheit in der Erforschung seiner geheimsten Gemütsregungen, der besondere Fall und Rhythmus seiner Prosa – das alles sei also hier ein für allemal vorausgesetzt, ohne im folgenden immer wieder erwähnt zu werden. Auch mit diesem Vorbehalt wird die theoretische Darlegung zum Original sich etwa so verhalten wie der bloße Operntext zum wirklichen Opernwerk, das den Text durch die Musik steigert, erleuchtet, verlebendigt, ihm erst Sinn und eigentliche Inhaltsfülle gibt. Wäre die Musik glatt ablösbar von der Struktur der Oper, so könnte ja der Text für sich allein bestehen. Läßt man sich auf solch einen Versuch ein, so merkt man bald, daß mit der Musik mehr als die Musik zum Text hinzugetreten ist. Eine Theorie der Weltanschauung Kafkas ist beinahe nicht viel mehr als solch ein Operntext ohne Musik.
Aber wenn man das weiß und sich stets vor Augen hält, dann kann auch die Theorie einige gute Arbeit leisten, zumindest manches Mißverständnis aus dem Weg wälzen helfen.
Es ist nie soviel Einkehr und Umkehr gepredigt worden wie heute – es ist selten so wenig Ernst bewiesen worden wie heute, bei sich selbst (und des gleichen im Zusammenleben der Völker) mit Einkehr und Umkehr den Anfang zu machen.
Bücher, die zu solcher Wandlung auffordern, halte ich dabei durchaus nicht etwa für überflüssig. Sie können in manchen Fällen den Weg weisen, dem Willigen über Schwierigkeiten hinweghelfen. Wichtiger aber, freilich auch unvergleichlich schwieriger ist das Beispiel des gelebten Lebens. Von einem Lebensbeispiel her kann, in zunächst wenig merklichen Anfängen, eine Veränderung der menschlichen Haltung vieler, vielleicht eine innerste Revolution der Weltordnung ihren Anfang nehmen – wie es in den Tagen des Franciscus von Assisi oder der Begründer der chassidischen Bewegung oder Tolstois Ansätze hierzu gegeben hat (in gewissem Sinne heute auch durch Kierkegaard, obwohl – ja weil er niemandes Lehrer sein wollte). Den Weg des Verzichtes gehen, indem man die angeborenen Raubtierkrallen nicht gebraucht, soweit es menschenmöglich ist und etwa noch einen Schritt darüber hinaus, niemandem ein Weh zufügen, es sei denn, um Böses zu verhindern (was allerdings zu den bekannten Widersprüchen führt), sein eigenes Sein zu einem brennenden und dabei ruhigen Herzen der Liebe und nur der Liebe machen, in diesem Bestreben sich dem Geistigen aufschließen, das unendlich ist, und in der Freiheit (als dem Glück der Unendlichkeit solch geistiger Welt) den materiellen Hemmungen sich immer weiter entrückt wissen, wiewohl man die materielle wie die geistige Notlage der Menschheit nie aus den Augen verliert und Abhilfe zu schaffen sucht –: Es kann nur sehr unzureichend und fast nur in Paradoxen gesagt, es kann uns aber in unparadoxer Schlichtheit exemplarisch vorgelebt werden.
Kafka hat in unseren Tagen ein solches Exemplum gegeben. Darin liegt seine Bedeutung, darin reicht sie weit über die Tatsache hinaus, daß er außerdem auch ein exzellenter und origineller Schriftsteller war. Es soll erkannt werden, daß in der Tiefe seiner Persönlichkeit das Vorzügliche seiner dichterischen Leistung mit dem Vorzüglichen seiner ethisch-religiösen Natur zusammenhängt. Es kann gar nicht getrennt werden, höchstens den Worten nach, da es ja eine Tiefe der Persönlichkeit gibt (wenige erreichen diese Tiefenschicht mit ihrem Sein wie mit ihrer Erkenntnis), in der alles mit allem zusammenhängt, in der alle Eigenschaften eines bestimmten Individuums zur Einheit zusammenfließen – und an diesem Punkt sind sie auch reif, mit dem unendlich schöpferischen Sein der Welt eins zu werden. In Erscheinung aber treten in der Regel nur die oberen Schichten einer Person. So hat Kafkas Werk zuerst nur durch eine gewisse Bizarrerie (die er gar nie gewollt hat) Eindruck gemacht. Von da wurden Einzelne zu seinem Kern geführt. Heute kann man zum Glück sagen, daß das große Ansehen, das Kafkas Werk überall genießt, nicht rein literarisch ist. Ich werde auf die weniger erfreulichen Seiten dieses Erfolgs später zu sprechen kommen, auf den ,,Kafka-Boom“, wie man manchmal zu sagen versucht wäre.1 Da und dort ist der viele Lärm um Kafka heute aber doch auch von der Ahnung begleitet, daß hier ein beispielhaftes Leben – zumindest versucht, jedenfalls aufs ernsteste gewollt worden ist. Der Versuch wurde unter den denkbar ungünstigsten Umständen unternommen, er führte auch, zumindest äußerlich, zu keiner endgültigen Realisierung. Das aber tut seiner Valenz keinen entscheidenden Abbruch. Das Beispiel ist eben doch gegeben, der halsbrecherisch kühne Versuch gemacht worden. Und damit wird die Möglichkeit einer Nachfolge (die niemals eine Nachahmung sein wird) für jeden von uns brennend aktuell. „Entscheide dich“, ist das Wort Kafkas. Und wie von der antiken Statue in einem Gedicht Rilkes geht auch hier der Befehl aus: „Du mußt dein Leben ändern.“
Nicht-Eitelkeit ist die erste Vorbedingung, wenn man im Sinne Kafkas Ernst zu machen gedenkt. Daher sagt er: „Vor dem Betreten des Allerheiligsten mußt du die Schuhe ausziehen, aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleid und Gepäck, und darunter die Nacktheit, und alles, was unter der Nacktheit ist, und alles, was sich unter dieser verbirgt, und dann den Kern und den Kern des Kerns, dann das übrige und dann den Rest und dann noch den Schein des unvergänglichen Feuers. Erst das Feuer selbst wird vom Allerheiligsten aufgesogen und läßt sich von ihm aufsaugen, keines von beiden kann dem widerstehen.“
Kafka war fast völlig uneitel. Wo er Spuren von Eitelkeit an sich merkte, z. B. einmal bei Erscheinen einer Novelle in einer Zeitschrift, brannte er sie entschlossen, ja grausam aus (vgl. „Aus den Oktavheften“ – im 8. Band der Gesamtausgabe). Wenn etwas Gutes und Richtiges geschah oder geschaffen wurde, so war es ihm von Natur aus – und vermöge der scharfen Selbstkontrolle, die er ausübte, um diese natürliche Anlage zu verstärken – völlig einerlei, ob es durch ihn oder durch andere geschah. Seine Freude war dabei die gleiche – sofern er sich dabei nur nicht etwa einer Pflichtverletzung anzuklagen hatte. Die Pflicht einem andern zuzuschieben: Das wäre ihm natürlich erbärmlich erschienen. Aber zu eigenem Ruhme strebte er nichts an. Er drängte das, was er schrieb, nie auf. Man mußte es ihm fast mit Gewalt, jedenfalls mit viel Überredung zu entreißen suchen. Seine Hauptwerke wurden zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt. Es gab Perioden, in denen er sie überhaupt nicht veröffentlicht wünschte, wenn ich auch Grund habe anzunehmen, daß das nicht sein letztes Wort war. (Ich habe das andernorts ausgeführt – in meiner Kafka-Biographie und im Nachwort zum „Prozeß“ – auch die Gründe, die mich veranlaßten, sein ausdrückliches Verbot pro non scripto anzusehen.) Er hat vieles nicht vollendet, vieles selbst vernichtet, um das Schicksal seiner Manuskripte hat er sich ebensowenig gekümmert wie etwa Schubert. Nach seinem Tode tauchten da und dort Manuskripte auf, viele davon in allerschlimmstem Zustand. Mosaikartig mußten einige seiner besten nachgelassenen Erzählungen (z. B. „Der Jäger Gracchus“) aus zerstreuten Notizen zusammengefügt werden. Teile sind in einer Stenographie geschrieben, die allen Regeln widerspricht und, wie ich glaube, kaum von jemand anderem als mir entziffert werden kann. Aber viele Fragmente sind über Blätter, die aus Heften herausgefetzt sind, so hingesplittert, daß ihre richtige Zusammensetzung mir bis heute trotz vieler Mühe nicht gelungen ist. Auch fehlt ja vieles. Es ist wie ein aufregendes Puzzle-Spiel, in das ich mich eingelassen habe. Ich habe es der Mithilfe von Hans Joachim Schoeps, später von Heinz Politzer, jetzt von Frau Ester Hoffe zu danken, wenn die Arbeit zuzeiten keinen ganz hoffnungslosen Eindruck macht.
Die ausschließliche Liebe zum Vollkommenen bewirkte es, daß Kafka alle seine Intensität in die Arbeit selbst einströmen ließ. Die Ergebnisse dieser Arbeit, die seiner Meinung nach (von wenigen Ausnahmen, z. B. der Novelle „Das Urteil“ abgesehen) unter dem Niveau dieser Vollkommenheit lagen, interessierten ihn nicht mehr. Seiner Meinung nach schadeten sie ihm sogar. Die Intensität der Arbeit selbst ging ihm jedenfalls über alles. Ich erinnere mich an unseren Besuch im Pariser „Musée Carnavalet“, das Erinnerungen an die große Revolution und ihre Vorgeschichte zeigt. (Es gibt keinen Ort in Paris, den ich häufiger besucht hätte als diesen.) Kafka blieb vor einem alten Stich stehen, der eine Episode aus dem Leben Voltaires zeigt; von dieser Darstellung konnte er sich nicht losreißen, auch später sprach er oft von ihr. Man sieht Voltaire, der eben aus dem Bett aufgesprungen ist, er hat noch die Nachtmütze auf dem Kopf – und, die eine Hand befehlend ausgestreckt, während er mit der andern die Hose hält, in die er schlüpft, beginnt er schon blitzenden Auges seinem Diener, der seitwärts an einem Tischchen sitzt, etwas zu diktieren. Ich verstand wohl, was Kafka an dem Stich (er dürfte überdies noch heute in diesem Museum zu finden sein) so sehr bezauberte: das Feuer des Geistes, die direkt in Geist umgesetzte ungemeine Vitalität eines auserkorenen Menschen.
„Nur so