Überlebensmechanismen in feindlicher Umgebung - Olivia Rosenthal - E-Book

Überlebensmechanismen in feindlicher Umgebung E-Book

Olivia Rosenthal

0,0

Beschreibung

Verstecken gilt nicht, nicht in diesem Leben. Atemlos und unentwegt auf der panischen Suche nach einem sicheren Unterschlupf schlägt sich die Erzählerin in dieser bodenlosen Erzählung durch feindliches Gebiet. Sie verwischt ihre Spuren, zieht sich zurück, und doch ist der Tod immer schon da. Er scheint in einem verlassenen Haus zu lauern, das ihr im Traum immer wieder begegnet und in dem sie auf sich gestellt bis zur Erschöpfung gegen Schatten und Gespenster kämpft, die ihrer eigenen Vergangenheit entwachsen sind. Sie trägt eine Schuld, doch sich dieser zu stellen und ihr Schweigen zu brechen, kommt nicht infrage. In einem letzten Versuch, die sie jagenden Geister zu vertreiben, kehrt sie im wachen Zustand zur Kulisse ihrer Alpträume zurück. Erbarmungslos beunruhigend und auf vielen falschen Fährten führt uns Olivia Rosenthal in unwirtliche Gefilde, die wir nie betreten wollten und die dennoch einen unwiderstehlichen Sog ausüben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 189

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Olivia Rosenthal

Überlebensmechanismen in feindlicher Umgebung

Aus dem Französischen von Nicola Denis

Ereignisse geschehen nicht einfach, sie kehren wieder. Ob man sie hinnimmt oder nicht, sie sind beharrlicher und starrsinniger als die Tricks, die man sich ausdenkt, um sich ihnen zu entziehen. Das Schreiben ist einer dieser Tricks. Wir glauben, dass wir die Wirklichkeit beherrschen, einteilen, organisieren und unter Kontrolle haben, und sind doch meistens von ihr überfordert. Wir gehen blind der Auflösung entgegen, um in letzter Minute zu entdecken, dass wir mit der Fiktionalisierung der Welt nur versucht haben, das Vorgefallene und Vergessene wieder aufzudecken.

1. Die Flucht

Ich habe sie einfach am Straßenrand gelassen, ich konnte in keinem Fall mehr bei ihr bleiben, es wurde zu gefährlich. Ich ließ sie an einer windgeschützten Stelle zurück, in einer Furche, hinter einer buschigen Hecke, einem Gestrüpp aus Wurzeln und dornigen Pflanzen, feindlich wie Stacheldraht. Ich dachte, sie könnte dort bleiben, ohne gesehen zu werden, und, falls Verbündete die Straße entlangkommen sollten, auf sie aufmerksam werden und sich bemerkbar machen. Ich stopfte ein paar Vorräte in einen Stoffbeutel und schob ihn ihr unter den Arm. Sie stöhnte, öffnete die Augen, ich flüsterte ihr nur Ich gehe ins Ohr. Dann machte ich mich wieder auf den Weg. Ich folgte der Furche ein paar Hundert Meter, danach kam ein weites freies Gelände, ich wollte lieber die Nacht abwarten, obwohl ich weiß, dass die Nacht keine Hilfe ist. Wir dürfen uns nachts nicht von der Stelle bewegen. Ich tat es trotzdem. Ich wartete, bis die Sonne unterging. Ich schaute lange auf das kahle Plateau, spähte nach den geringsten Bewegungen und Lichtveränderungen, versuchte, die Gegenwart unsichtbarer Angreifer auszumachen. Ich wagte den ersten Schritt nicht, fragte mich, ob ich nicht besser umkehren und zurückgehen sollte. Hinter mir war ein Geräusch zu hören, wie ein Knistern. Womöglich nur ein Vogel, der sich einen Weg zwischen den Zweigen suchte, aber ich hatte eine solche Angst, dass ich ohne zu überlegen losstürzte. Ich rannte so schnell wie möglich geradeaus und dachte die ganze Zeit daran, dass mich plötzlich eine Kugel treffen könnte. Statt mich zu lähmen, verdoppelte diese Mutmaßung meine Kräfte. Ich konzentrierte mich ausschließlich auf meine Atmung, die wirksamste Art, die Luft zu spalten. Die Angst ist eine Methode, sich selbst zu verkennen und folglich zu erhalten.

Ich weiß nicht, wie lange ich gerannt bin. Plötzlich war ich unter den Bäumen. Ich blieb stehen, als ich kaum noch Luft bekam. Ich schaute mich um. Noch war die Straße im Hintergrund zu erahnen, die lange struppige Hecke, an der ich sie zurückgelassen hatte. Etwas in mir sträubte sich weiterzugehen. Lange blieb ich dort am Waldrand stehen, mit klopfendem Herzen, als würde ihre Silhouette plötzlich auf dem Plateau auftauchen und auf mich zukommen. Doch nichts dergleichen geschah. Später, ich weiß nicht wie, war ich wieder in den Wald gelangt. Ich stieß gegen umgestürzte Stämme, tastete mich durchs Dunkel. Wind war aufgekommen. Es war kühler geworden.

Ich schlief mit kurzen Unterbrechungen, an einen Baum gelehnt. Ich aß nichts. Da ich mich nicht mehr an das genaue Datum meines Aufbruchs erinnerte, fasste ich den Vorsatz, vom nächsten Tag an die Tage zu zählen. Ich glaubte, so die Zeit messen zu können, die mich von ihr trennte und unweigerlich von ihr entfernte. Ich glaubte, die Anzahl der Tage würde weiter und weiter wachsen und irgendwann so groß werden, dass ich nichts mehr dagegen tun könnte. Die Zahlen würden meinen Kopf füllen, ihn besänftigen und undurchdringlich machen. Ich wollte in die Undurchdringlichkeit der Zahlen eintauchen.

Der nächste Tag war der erste. Es gelang mir, in einiger Entfernung den ehemaligen Eisenbahnschienen zu folgen. Ich wollte den Patrouillen ausweichen.

Am fünften Tag kam ich in ein Dorf. Ich postierte mich ein paar Dutzend Meter weiter weg und wartete. Ich befürchtete, dass sich eine Gruppe dort niedergelassen hatte. Ich atmete die Luft ein, kein verdächtiger Geruch drang an meine Nasenlöcher. Ich scharrte im Boden, um sicherzugehen, dass keine unterirdischen Stollen gegraben worden waren. Ich presste mein Ohr direkt auf die Erde und horchte. Nichts. Alles blieb ruhig. Ich wartete noch eine Weile. Einen ganzen Tag und eine Nacht lang blieb ich in der Nähe des Dorfes, ohne es zu betreten. Am sechsten Tag wagte ich es, mir die Häuser anzuschauen. Das Dorf war verlassen. Vor dem Aufbruch hatten die Bewohner alles verbrannt, was sie hätte identifizieren können. Ich suchte alles ab, fand einen brauchbaren Unterschlupf, meine Kräfte begannen zu schwinden, ich blieb.

Am Anfang fiel es mir schwer, mit niemandem zu sprechen. Ich bedauerte, sie zurückgelassen zu haben. Ich litt darunter. Ich sagte mir, dass ich sie womöglich hätte retten können, wenn wir dieses Dorf gemeinsam erreicht hätten. Doch der Gedanke daran zermürbte mich, und so ließ ich diesen Gedanken fallen. Ich konzentrierte mich auf die Organisation meines Überlebens und beschloss, dieses Überleben zu formulieren, die Wörter auszusprechen. Ich hatte Angst, sie sonst zu vergessen. Meine Stimme klang merkwürdig in meinen Ohren. Ich sagte Ich werde mich verstecken, ich sagte Ich werde mir die Häuser zur Mittagsstunde anschauen, ich werde einen sicheren Ort finden, einen Ort ganz für mich alleine, um von allen Blicken abgeschirmt im Trockenen, im Warmen zu schlafen. Es gibt Wörter, die ich unwillkürlich verwendete. Zum Beispiel Mittagsstunde, ich sagte es, weil ich Gefallen daran fand, weil ich etwas Uraltes und Verborgenes wieder hervorholen wollte, und es zu sagen tat mir gut.

In den ersten Tagen hatte ich Angst, eine Gruppe könnte auftauchen. Fänden sie mich, dann wäre ich verloren, sie würden mich auf grausame Weise bestrafen. Ich hatte sie schon einmal dabei beobachtet. Und auch ich selbst hatte es schon getan. In einem der Häuser fand ich ein Versteck und beschloss, mich vorübergehend dort niederzulassen, bis ich wieder zu Kräften gekommen wäre und mir Waffen gebastelt hätte. Am achten Tag sagte ich Ich werde mir Waffen bauen. Ich stellte fest, dass ich in der Zukunft sprach, dass es also etwas Bevorstehendes zu erkunden gab. Ich nahm mir vor, es später zu erkunden, wenn ich mir etwas Ruhe gegönnt hätte. Ich schlief zusammengekauert in meinem Versteck, das kaum breiter war als eine Schublade. Ich wachte mehrmals auf, ohne zu wissen, wie spät es war. Schon seit Langem konnte ich die Stunden nicht mehr zählen. Ich beschloss, dass ich es zumindest ungefähr tun müsste, denn würden auch noch die Stunden verschwinden, wäre es unmöglich, die Tage zu zählen, und die Tage wollte ich unbedingt zählen. Vorsichtig wagte ich mich aus meinem Unterschlupf und stieß die Klappe auf, hinter der ich mich versteckte, gleißendes Licht. Widerstrebend ging ich auf den Hauseingang zu. Ich wäre lieber in meiner Höhle geblieben und endgültig in Schlaf versunken. Ich sah die Sonne senkrecht stehen, Mittag, sagte ich mir, die Zenitstunde. Ich dachte, dass es eine Parallele, einen Unterschied und eine Parallele zwischen Mittagsstunde und Zenitstunde gab. Ich hatte die Bestätigung, dass die Wörter Realitäten der Welt beschreiben, dass sie Dauer fixieren. Das freute mich für einen Moment, doch dann vergaß ich die Freude. Ich fühlte mich exponiert, dort, vor dem Haus, weithin sichtbar. Ich hatte den Eindruck, beobachtet zu werden, kletterte schnellstmöglich in mein Versteck zurück und zitterte, ich zitterte, in der Hand eine jener rudimentären Waffen, die ich zu bauen begonnen hatte.

Später begriff ich, dass ich nicht gesehen worden war. Bis auf Weiteres war ich alleine. Das beruhigte mich zwar nicht völlig, aber wenigstens blieb mir so, wie ich dachte, genug Zeit zum Überlegen, wie es weitergehen sollte. Ich sagte mir Mach dir Gedanken, wie es weitergehen soll, doch die Befehle an mich selbst hatten nicht die gewünschte Wirkung. Ich machte mir keine Gedanken. Ich blieb in mein Versteck gekauert. Ich hatte Hunger. Durst. Ich ging wieder hinaus, um festzustellen, dass es Nacht geworden war. Demnach konnte ich einen Tag verbuchen, einen weiteren Tag, seitdem ich meine Gefährtin an der Straße im Stich gelassen hatte.

Ich begann, mich an meine Bleibe zu gewöhnen, in meiner Wachsamkeit nachzulassen. Wenn sie bisher nicht gekommen waren, würden sie nicht mehr kommen. Ich begann, etwas häufiger hinauszugehen, vor allem tagsüber. Zunächst eine Stunde, um die Umgebung zu inspizieren, dann zwei Stunden, schließlich den ganzen Nachmittag. Die Tage vergingen, der Abstand zwischen ihr und mir wurde undurchdringlicher. Gleichzeitig war der Raum, der uns trennte, noch immer derselbe. Das erschwerte meinen Aufbruch. Würde ich regelmäßig gehen und genau denselben Weg wie auf dem Hinweg nehmen, konnte ich nach meinen Berechnungen hoffen, in sechs Tagen bei ihr zu sein. Doch ich hatte sie schon vor elf Tagen verlassen. Eine Patrouille musste sie mitgenommen haben. Ich sagte laut vor mich hin Ich bilde mir das ein, es gibt keine Patrouille. Ich verübelte es mir, so zu sprechen und so zu denken. Gleichzeitig waren immer alle auf der Flucht, ich war wie alle.

Am dreizehnten Tag entdeckte ich in einem ehemaligen Gemüsegarten einen Bach. Ich trank und wusch mich. Ich musste mich wieder auf den Weg machen, aber ich konnte es nicht, ich konnte mich nicht mehr bewegen, eine unbestimmte Taubheit breitete sich in mir aus, ich wähnte mich in Sicherheit. Mein Gedächtnis begann sich zu trüben, ich deutete es als gutes Zeichen, dass ich im Begriff war, sie aufzugeben. Ich sagte Ich verlasse dich. Ich sagte Ich kann nicht anders. Ich sagte Wir wären beide gestorben. Ich sagte Es ist besser, wenn eine von beiden überlebt. Ich schwieg. Ich war erschöpft. Das Sprechen verlangte mir eine ungeheure Anstrengung ab, eine größere Anstrengung als das Essen, Verstecken, Warten oder Aufpassen. Am nächsten Tag blieb ich in meinem Versteck, ich hatte Fieber.

In dieser Zeit kamen mir Bilder, Empfindungen und Träume, zunächst undeutlich, dann klarer, so klar, dass sie zu schmerzen begannen. Am fünfzehnten Tag gewannen die Bilder an Kontur. Weil ich Fieber hatte, gelang es mir nicht, sie zu verscheuchen.

Die sogenannte Nahtoderfahrung (NTE) oder Near Death Experience bezeichnet die Gesamtheit der Phänomene, die auf den klinischen Tod oder ein fortgeschrittenes Koma folgen. Die anschließend unter die Lebenden zurückkehrenden Patienten beschreiben alle ähnliche Symptome. Sie sehen einen Tunnel, einen schmalen Schlauch, den ihre Silhouette betritt und langsam durchmisst. Am Ende des Tunnels erblicken sie ein Licht. In dieser letzten Vision sind sie auf einen einfachen Umriss reduziert, eine undifferenzierte schwarze Form, ein Schatten. Sie sind lang und glatt, sie bewegen sich langsam wie Automatenmenschen. Sie versuchen, herauszukommen, den Lichtschein am Ende des Tunnels zu erreichen. Wenn es ihnen gelingt, taucht ihre Silhouette dort ein und löst sich auf. Doch diejenigen, die zurückgekommen sind, erreichen ihn nicht. Sie verharren auf der Schwelle, eine unbekannte Kraft hindert sie am Weitergehen. Wenn die Empfindung abflaut, sich die Öffnung im Hintergrund wieder entfernt, sind sie enttäuscht, möglicherweise zu Unrecht. Denn ginge ihre Silhouette durch die Tür und verschwände in dem strahlenden Glanz, wären sie tot.

Am siebzehnten Tag war mein Fieber leicht zurückgegangen. Ich konnte den Horizont beobachten. Das Wetter war klar. Ich sah nichts Beunruhigendes. Ich kehrte zum Fluss zurück und tauchte ganz in ihn ein, um das Fieber zu senken. Meine Kleider klebten an der Haut. Ich zog sie aus. In eine Decke gehüllt, die ich in einem der Häuser gefunden hatte, wartete ich, bis sie trocken waren. Es lag etwas in der Luft, das mich drängte wegzugehen. Als es dunkel geworden war, stieg ohne einen besonderen Grund die Angst wieder in mir auf.

Am achtzehnten Tag war jemand im Haus. Ich wusste es sofort, glaube sogar, dass mich das Geräusch von zertretenem Gras aus dem Schlaf riss. Es war kurz vor Sonnenaufgang. In meinen Unterschlupf drang ein wenig Licht, draußen waren Geräusche zu hören. Schritte rings um das Haus, Türen, die geöffnet werden, jemand, der hereinkommt. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, schnellstmöglich zu überlegen, was ich tun würde, falls sie die Klappe aufstoßen würden. Ich sah keine Lösung. Ich saß in der Falle. Ich dachte an die Spuren, die ich hinterlassen hatte – hatte ich Spuren hinterlassen? Ich verübelte es mir, sie nicht systematisch beseitigt zu haben. Die Schritte kamen näher. Das Nachdenken fiel mir immer schwerer. Mein Körper wurde kraftlos, meine Muskeln erschlafften. Ich fühlte mich unendlich schwach. Der bevorstehende Tod animierte mich nicht zu kämpfen, ganz im Gegenteil. Ich wünschte, ich wäre schon auf der anderen Seite, müsste mich nicht erst mit meinem eigenen Ableben auseinandersetzen. Ich dachte, dass sich die Opfer in aussichtslosen Situationen verflüssigen und entleeren. Ich versuchte, mich nicht zu verflüssigen. Mein Herz begann zu rasen, fast wäre ich ohnmächtig geworden. Ich tastete suchend nach den Waffen, die ich mir gebaut hatte, meine Hand zitterte, ich war mir nicht sicher, mich verteidigen zu können. Wie viele waren es? Ich versuchte mich auf die Geräusche zu konzentrieren, auf die Gerüche. Sofort war das Fieber wieder da. Ich wartete, wartete dass sie kämen, sie kamen nicht. Die Schritte entfernten sich, noch ein Scheuern, als schleiften sie etwas über den Boden, dann nichts mehr.

Mehrere Tage vergingen, wohl zwei oder drei. Ich harrte mit der Waffe in der Hand aus, ohne zu essen oder zu trinken, musste eingenickt sein. Mitten am Nachmittag kam ich wieder zu Bewusstsein, denn es war plötzlich sehr warm in meinem Versteck und die Luft hatte sich verdünnt. Ich stieß die Klappe auf, kletterte irgendwie heraus. Das Tageslicht blendete mich, ich sah nichts, meine steifen Glieder schmerzten. Ich schleppte mich bis zum Ausgang, ohne zu bedenken, dass ich gesehen werden könnte. Als ich die Augen wieder öffnen konnte, merkte ich sofort, dass mein Sehvermögen abgenommen hatte. Doch ich sah noch, das allein zählte. Ich sah und hörte und fühlte. Die Landschaft vor mir hatte sich in eine wüstenähnliche, verbrannte, graue und einförmige weite Fläche verwandelt. Ganz hinten am Horizont schien ein grelles Licht, auf das ich zuzugehen beschloss.

Manche Neurowissenschaftler erklären die Nahtoderfahrungen mit den Erschütterungen, die im Augenblick des Todes im Gehirn vor sich gehen. Eine von Forschern der University of Michigan veröffentlichte Studie zeigte zum Beispiel, dass ein Rattengehirn nach dem Herzstillstand von einer außergewöhnlichen Sauerstoffzufuhr profitiert. Für ganz kurze Zeit, etwa dreißig Sekunden lang, steht das Herz still, während das Gehirn weiterarbeitet und in einem ebenso erstaunlichen wie übertriebenen Ausmaß seine neuronalen Interaktionen verstärkt. Wendet man die Ergebnisse dieser Studie auf das menschliche Gehirn an, müsste sich das Entstehen wiederkehrender mentaler Bilder – Tunnel und weißes Licht – eigentlich erklären lassen. Zu erforschen bliebe noch, weshalb es so unterschiedliche Variationen dieser Visionen gibt. Nicht alle sind identisch und austauschbar. Statt durch einen Tunnel zu laufen, hocken manche Patienten reglos in einem Loch, in dem sie das Gefühl haben, unausweichlich zu fallen. Andere sind nicht allein, sondern werden von einer, manchmal auch mehreren Silhouetten begleitet, die ihnen etwas ins Ohr flüstern. Diese Variationen gehen vermutlich auf individuelle Spuren zurück, die das frühere Leben der Patienten in den unterschiedlichen Hirnregionen hinterlassen hat. Sie hängen möglicherweise auch mit den Berichten zusammen, die sie über Nahtoderfahrungen gehört oder gelesen haben, bevor sie ihnen selbst zum Opfer fielen; Berichte, die sich kraft ihrer Vermittlungen, Wiederholungen, Abwandlungen und Interpretationen schließlich in ihrem Kopf eingenistet und die im Voraus künftige Begebenheiten ihres Daseins geprägt haben.

Am zwanzigsten Tag, nach meinen Berechnungen musste es der zwanzigste sein, bereitete ich meinen Aufbruch vor. Den ganzen Tag lang hielt ich mich in Bewegung, suchte nach Lebensmitteln, packte ein paar Kleidungsstücke zusammen und legte einen Stapel mit lebensnotwendigen Dingen an. Mir blieb noch der ganze Tag, um zu entscheiden, was ich mitnehmen und was ich zurücklassen wollte. Die Entscheidung fiel mir unendlich schwer. Sie zwang mich, mir die Zukunft auszumalen, eine Fortdauer ins Auge zu fassen. Diese Fortdauer glich einer ewigen Flucht nach vorn, einer Abfolge von Tagen, in denen es galt, sich zu verstecken, unliebsame Begegnungen zu vermeiden, sich wieder zu verstecken – und wo sollte ich überhaupt hin, was sollte ich tun, was würde aus mir werden? Es hatte keinen Sinn, aufzubrechen. Auch keinen Sinn, zu bleiben. Aber wenn ich schon sterben musste, dann lieber im Gehen, unterwegs.

Gegen Ende des zwanzigsten Tages und vor Einbruch der Dunkelheit verbrannte ich alles, was ich nicht mitnehmen würde, und als es dunkel war, verstreute ich die Asche und vergrub das, was nicht verbrannt war. Für meine letzte Nacht an diesem Ort kehrte ich in mein Versteck zurück, zwanzig Tage nachdem ich sie unterwegs im Stich gelassen hatte. Ich konnte keinen Schlaf finden. Ich überdachte, was passiert war. Versuchte sogar, mir den Zustand ihres Körpers vorzustellen, ihren Hals, ihren Nacken, ihre Arme und ihren Atem. Und ich begriff, dass ich auch damit aufhören musste, wollte ich die Möglichkeit und den Wunsch zu überleben haben.

Am einundzwanzigsten Tag fand ich in einigen Kilometern Entfernung von den letzten Häusern einen alten Pfad; ich zögerte ihn einzuschlagen und hielt auf dem Boden nach Abdrücken Ausschau, aber da weder Spuren noch Hinweise zu sehen waren, beschloss ich, die Schienen zu verlassen und ihm zu folgen. Ich dachte, dass ich mich in der Landschaft verlaufen würde, das brachte mich zum Lachen und ich sagte: Ich verlaufe mich in der Landschaft. Der Weg führte durch ein sich verengendes kesselförmigeres Tal, ich hörte meine Stimme von den gegenüberliegenden Steilfelsen widerhallen, ich zuckte zusammen, gewöhnte mich dann aber an die Echos, sie leisteten mir für ein paar Stunden Gesellschaft, ich gewann meine Kräfte zurück, hatte fast Spaß am Gehen, empfand ein Gefühl von Freiheit, versuchte, um dem Spaß und der Freiheit ein Ende zu machen, meine Vergangenheit zurückzuholen; sie kehrte zurück, die Traurigkeit war auf einen Schlag wieder da, ich war beruhigt.

Patienten, die in einem tiefen Koma liegen, sind schwer erreichbar. Es ist nahezu unmöglich, genau zu wissen, was sie empfinden. Es ist gut denkbar, dass sie Kälte und Wärme spüren, dass ihre ausgetrocknete und vom Einführen aller möglicher Röhren zusammengedrückte Zunge schmerzt. Tony R. erzählt, dass er während der langen Zeit seiner Abwesenheit geträumt habe, er müsse zu einer Quelle auf einen sehr hohen Berg klettern. Entlang des steilen Abhangs fand er ein bisschen Wasser und trank, ein zugleich köstliches und frustrierendes Gefühl, denn sein Durst blieb unstillbar. Jedes Mal, wenn seine Lippen die kostbare Substanz berührten, dachte er an das Vergnügen zu trinken, er freute sich seines Lebens, das Wasser rann direkt in seine Kehle. In seinem Traum fand er diese Empfindung ausgesprochen angenehm. Doch diese Erfahrung war allzu schnell wieder vorbei, er musste nach einer anderen Quelle suchen, erneut trinken und sich erneut auf den Weg machen, nie hatte er genug Wasser. So kletterte er von Quelle zu Quelle immer weiter den Berg hinauf. Schließlich erreichte er den Gipfel und stellte fest, dass die Knappheit anhielt, es fehlte immer noch an Wasser. Es war unerträglich, und musste doch ertragen werden. Tony R. träumte, dass er trank, dass er trinken würde, dass er trinken wollte oder nicht genug zu trinken hatte. Doch letztlich war das, was er als Traum bezeichnete, nichts anderes als die Realität. Tony R. hatte in seiner Situation als bettlägriger und bewusstloser Mensch schlicht und einfach Durst.

Ab dem dreiundzwanzigsten Tag bemerkte ich Menschen auf dem Plateau. Gruppen. Flüchtige, Patrouillen, Horden, Meuten, unmöglich zu wissen. Ich spürte ihre Gegenwart dort oben über meinem Kopf. Ich beschloss, durch das Tal weiter in dieselbe Richtung zu gehen. Ich lief durch Schluchten, zwischen Geröll, nachts versteckte ich mich in Höhlen. Tagelang habe ich kein Feuer gemacht. Ich verbringe meine ganze Zeit damit, einen Unterschlupf zu suchen, etwas zum Trinken, Essen und Schlafen. Alles Übrige ist im Begriff zu verschwinden, ich versuche es zurückzuhalten, noch zu sprechen, doch die Wörter, die Namen, verdunkeln sich und verschwimmen ineinander, ich muss mich anstrengen, um sie zurückzuholen.

Der sechsundzwanzigste Tag, was geschah am sechsundzwanzigsten Tag?

Am siebenundzwanzigsten Tag fiel mir meine Stadt wieder ein, und mein Aufbruch, und meine erschöpfte Gefährtin, und auch

Im kritischen Moment des Übergangs vom Leben zum Tod berichten Patienten, die eine NTE hinter sich haben, dass sie aus ihrem Körper herausgetreten seien, ihn von außen wahrgenommen hätten, als wären sie über ihm gewesen. Sie sahen sich selbst, mit geschlossenen Augen und scheinbar schlafend, in Krankenhausbetten liegen. Manche von ihnen konnten sogar beobachten, wie der Chirurg mit seinen Instrumenten zum Schnitt auf ihre Organe ansetzte, sie erkannten ihren teilweise geöffneten Körper ohne den geringsten Schmerz, ohne jegliches Bedauern. Aus der Entfernung zu sich selbst haben sie sich ihrer körperlichen Hülle entledigt, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Manche Psychologen vermuten, dass die Entkörperlichung eine Reaktion auf die Todesgefahr sein könnte. Das Selbst spalte sich demnach in zwei unterschiedliche Entitäten: eine, die den Betreffenden in Alarmbereitschaft hält, und eine andere, die ihn sich selbst entfremdet. Seinem Körper von außen zuzusehen, ihn, und zwar weitgehend empfindungslos, zu betrachten, als gehörte er einem anderen, entspräche folglich einem der Mechanismen, mit denen sich die menschliche Seele geistig und körperlich vor allzu schmerzhaften Ereignissen schützt.

Am dreißigsten Tag verengte sich das Tal noch weiter, das Fortkommen wurde immer schwieriger. Ich wollte zurück auf das Plateau klettern, damit sie mich zu fassen bekamen. Ich hätte meinen Körper gerne teilnahmslos betrachtet, ihn ignoriert, mich seiner entledigt. Ich erwog auch, mich umzubringen. Aber es ist nicht so einfach, zu sterben. Ich hatte alles Nötige, um mir die Venen aufzuschneiden. Doch ich schnitt sie mir nicht auf. Ich ging weiter.

Am zweiunddreißigsten Tag begannen die alten Bilder wieder aufzuwirbeln. Ich versuchte sie zu verscheuchen, aber sie ließen mir keine Ruhe. Ich bleibe tief im Tal, klettere nicht auf das Plateau. Ich zögere die Frist weiter und weiter hinaus, hoffe, dass mich meine Erinnerungen vor der Zukunft beschützen werden, ich drehe und wende und wiederhole sie, gebe ihnen allen Raum, den sie brauchen, um mich zu beschäftigen, sie haben mich im Griff.

Es ist möglich, die bei der Nahtoderfahrung empfundene Entkörperlichung mit neurobiologischen Vorgängen zu erklären, welche die Thesen der Psychologen gewissermaßen unterstreichen, bestätigen und ergänzen. Bei den ersten chemischen Fehlfunktionen (Sauerstoffmangel, Überschuss an Endorphinen, Dopamin oder Serotonin) reagiert das Gehirn und löst zu seiner Verteidigung Inhibitionsmechanismen aus, die die aufgetretenen Phänomene bremsen sollen. Das Gehirn kann sich auf diese Weise zwar erhalten, erzeugt mit seiner inhibierenden Aktion jedoch bestimmte Nebenwirkungen. Halluzinationen und autoskopische Erfahrungen (die Sebstbetrachtung von außen) sind Dysfunktionen des rechten Temporallappens, die es zum Überleben in Kauf nimmt. Für seinen Erhalt muss das Gehirn nach einem komplizierten System von Kompensationen und ausgleichenden Effekten gewisse Opfer bringen.