Umgang mit Rechtsextremismus - Dierk Borstel - E-Book

Umgang mit Rechtsextremismus E-Book

Dierk Borstel

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Beschreibung

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern begegnen in ihrem Berufsalltag immer wieder Menschen, die offen rechtsextreme Positionen vertreten. Dieses Buch zeigt, wie in der Praxis der Sozialen Arbeit auf rechtsextreme Herausforderungen reagiert werden kann. Dafür wird das Phänomen zunächst dargestellt, Definitionen geklärt und die Ursachen erläutert. Im Hauptteil stellt der Autor anhand konkreter Fallbeispiele aus seiner eigenen langjährigen Praxis Handlungsoptionen für alle Settings der Sozialen Arbeit vor: von der Gemeinwesenarbeit über Gruppenarbeit bis hin zur Einzelfallberatung in Prävention, Intervention und in der Elternarbeit. Das Buch richtet sich an Studierende und am Thema interessierte Fachkräfte der Sozialen Arbeit und enthält im Serviceteil neben grundlegender Literatur eine Sammlung der wichtigsten Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, die sie in ihrer Arbeit unterstützen können.

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Inhalt

Cover

Titelei

Einleitung

1 Theoretische Grundlagen

1.1 Definitionen

1.1.1 Rechtsextremismus

1.1.2 Rechtspopulismus und autoritärer Nationalradikalismus

1.1.3 Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

1.1.4 Demokratie und Bürger*innengesellschaft

1.2 Anwendungsbezogene Theorien

1.2.1 Theorien der Integration und Desintegration

1.2.2 Raumordnungskonzeptionen

1.2.3 Eskalationstheorie

1.2.4 Theorie des Autoritarismus

1.3 Rechtsextreme Ideologie – Einführung in Kernbegriffe

2 Einblicke in rechtsextreme und rechtspopulistische Realtäten

2.1 Beispiele für einen verstehen-wollenden Ansatz der Differenzierung

2.2 Frauenrollen in den rechtextremen Szenen

2.3 Rechtspopulismus und Soziale Arbeit

2.3.1 Gesellschaftliche Folgen und Diagnosen

2.3.2 Folgen für die Soziale Arbeit

3 Kontexte der Arbeit – ein praxisorientierter Check

3.1 Kontexte der Sozialen Arbeit

3.2 Eine kleine Sammlung der Irrtümer

4 Ansätze der Sozialen Arbeit im Umgang mit Rechtsextremismus

4.1 Professionelle Haltung und Soziale Arbeit

4.2 Arbeitsfelder – Was sich aus aktuellen Entwicklungen lernen lässt

4.3 Einzelfallhilfen

4.3.1 Opferperspektive und Opferberatung

4.3.2 Konzepte der Jugendarbeit

4.3.3 Deradikalisierung und Ausstiegsarbeit

4.3.4 Eltern – und Umfeldberatung

4.3.5 Voraussetzungen der Sozialen Arbeit

4.4 Soziale Arbeit und Demokratiequalität

4.4.1 Dialogorientierte Ansätze

4.4.2 Demokratiearbeit in großstädtischen, sozialen Brennpunkten

4.4.3 Community Coaching

4.4.4 Verwandte Ansätze – Kommunale Konfliktbearbeitung und mobile Beratung

4.4.5 Bundesebene

4.5 Demokratieketten statt Projektemarkt

4.5.1 Von der Bildungs- zur Demokratiekette

4.5.2 Schule der Demokratie durch Schulöffnung

4.5.3 Peer Leader Education

4.5.4 Politische Bildung – Möglichkeiten und Grenzen

4.5.5 Aufsuchende politische Bildung – Suche nach neuen Formaten

4.5.6 Kampagnen und mit den Mitteln des Humors

4.6 Beste Prävention (neben der Schule) – Eine kreative Jugendarbeit

5 Leitfaden für den Umgang mit Rechtsextremismus in der Sozialen Arbeit – ein Reproduktionsmodell

Fazit

Serviceteil

Literaturverzeichnis

Der Autor

Dr. Dierk Borstel ist Professor für praxisorientierte Politikwissenschaften an der FH Dortmund. Sein Arbeitsschwerpunkt sind die Gefährdungen der demokratischen Kultur. Zuletzt veröffentlichte er Studien zur Wohnungslosigkeit und zum Druck rechtspopulistischer Netzwerke auf die demokratische Zivilgesellschaft. Hinzu kam ein Lehrbuch zum politischen Grundwissen für die Soziale Arbeit gemeinsam mit Ute Fischer.

Dierk Borstel

Umgang mit Rechtsextremismus

Leitfaden für die Praxis der Sozialen Arbeit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-036696-1

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-036697-8epub: ISBN 978-3-17-036698-5

Einleitung

Wie schreibt man ein Lehrbuch für Sozialarbeiter*innen zum Umgang mit Rechtsextremismus? Eigentlich gibt es zwei Zugänge: aus der Forschung heraus oder aus der Praxis. Jene Lehrbücher, die aus der Forschungsperspektive heraus geschrieben wurden, leiden oft unter einem verblüffenden Mangel an Praxisbezügen. Die theoretischen Herleitungen gedeihen dann zwar oft vortrefflich, die Fußnotenvielfalt führt zur Ehrfurcht der Leser*innen – doch wenn es dann konkret wird, bleiben die Lehrbücher nicht selten seltsam abstrakt und für die Praktiker*innen wenig hilfreich. Soziale Arbeit ist immer nah am Menschen und damit oft konfrontiert mit Graubereichen, Unübersichtlichkeiten des Lebens, Paradoxien der Humanitas und individuellen Wegen. Theorien sind in der Praxis hilfreich zum besseren Verstehen und Interpretieren dieser Lebenswelten, doch die Handlungen, die folgen müssen, sind immer konkret. Theorien sind auch wichtig, um Professionalität zu begründen und zu übertragen. Sie müssen jedoch in der Praxis immer wieder angepasst, in Frage gestellt und auch erweitert und erneuert werden.

Reine Praxiszugänge schaffen andererseits auch nicht unbedingt gute Lehrbücher. Eine Sammlung von Episoden, Einzelfällen, individuellen Methoden und Strategien lesen sich oft anregend. Ihnen fehlt aber oft ein analytisches Fundament, das die Übertragung von einem Fall auf andere erleichtert und begründet.

Gute Lehrbücher müssen somit – zumindest in meinem Verständnis – drei Aspekte verbinden: theoretische Grundlagen, empirische Erfahrungen sowie konkrete Handlungsempfehlungen und Methoden, die theoretisch fundiert sind und sich in der empirischen Praxis bewährt haben.

Entsprechend dieses Grundgedankens ist das vorliegende Lehrbuch aufgebaut. Es beginnt mit zentralen Begriffen und grundlegenden Theorien (▶ Kap. 1), die später zur Interpretation konkreter örtlicher Situationen und zur Begründung konkreter Handlungsansätze wichtig werden. Im zweiten Kapitel folgen Hinweise und Beschreibungen aus rechtsextremen und rechtspopulistischen Lebenswelten, Typen und Geschlechterrollen (▶ Kap. 2). Diese haben weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf unbedingte Aktualität. Sie stehen vielmehr beispielhaft für spezifische Personenkonstellationen, Situationen und örtliche Kontexte, in denen Soziale Arbeit sich bewegen muss und aus denen heraus unterschiedliche Handlungsschritte entwickelt werden müssen. Den dritten Schwerpunkt legt das Lehrbuch auf die praxisnahe Beschreibung konkreter Handlungsansätze und Methoden der Sozialen Arbeit (▶ Kap. 3; ▶ Kap. 4).

Didaktisch arbeitet das Lehrbuch immer wieder mit kleineren Übungsaufgaben, die gesondert markiert sind durch das Piktogramm eines Stiftes. Sie dienen den Leser*innen dazu, sich einzelne Inhalte selbst und damit viel intensiver zu erarbeiten. Hinzu kommen zahlreiche Beispiele aus der Praxis. Diese Beispiele basieren auf den Erfahrungen des Autors im Handlungsfeld während des vergangenen Vierteljahrhunderts. Sie sind nicht vollständig, bewusst verfremdet und auf den jeweils wichtigen Punkt gebracht. Sie dienen als Kasuistik, als Lernhilfe und entsprechen keinen empirisch exakten Wiedergaben. Wer diese sucht, muss zur soziologischen, empirischen Rechtsextremismusforschung greifen.

Das Lehrbuch richtet sich primär an Studierende der Sozialen Arbeit sowie an Menschen aus angrenzenden Arbeitsbereichen, die sich einführend mit dem Thema vertraut machen wollen. Fachexpert*innen zum Thema aus Wissenschaft und Praxis werden mit diesem Buch wenig Freude haben und vielleicht auch kritisieren, dass ihr jeweiliger Handlungsansatz oder ihr wissenschaftliches Ergebnis nicht den Platz und Umfang erhalten hat, den er und es vielleicht verdient hätten. Betonen möchte ich damit den einführenden Übersichtscharakter des Lehrbuches. Zusätzlich mündet es auch in einen Leitfaden für die Praxis der Sozialen Arbeit (▶ Kap. 5), in dem verschiedene Handlungsansätze und Praktiken verknüpft werden. Die Handlungsansätze werden hier nur einführend vorgestellt – eine vertiefte Auseinandersetzung kann dann mit der angegebenen weiterführenden Literatur geschehen.

Da ein Lehrbuch dazu dient, gemeinsam zu lernen, erlaube ich mir auch, Sie an einzelnen Stellen gezielt anzusprechen und auf neutrale Umschreibungen zu verzichten. Die Forschung zum Thema ist erfreulicherweise umfangreich, aber auch unübersichtlich. Das Lehrbuch erhebt keinen Anspruch, alle wichtigen Autor*innen, Titel, Thesen und Theorien zu verarbeiten – im Gegenteil: es wird Vieles radikal verkürzt, auf den Punkt gebracht und hoffentlich auch gut verständlich beschrieben. Jedes Kapitel schließt mit weiterführenden Literaturhinweisen. Auch diese erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern dienen interessierten Leser*innen dazu, das jeweilige Kapitel noch gesondert zu vertiefen.

Lohnt sich überhaupt eine Beschäftigung oder gibt es nicht wichtigere Themen?

Krisendiagnosen zu stellen, ist eine beliebte und erfolgreiche Methode von Sachbuchtautor*innen, um Aufmerksamkeit zu generieren. Kaum ein gesellschaftlicher Bereich blieb in den letzten Jahren davon verschont: Krise der Gesellschaft, Krise der Bildung, Krise der Wirtschaft, Krise des sozialen Zusammenhalts und natürlich auch die Krise der Demokratie. Die westliche Idee der liberalen Demokratie stehe massiv unter Druck, der sowohl von außen als auch von innen komme.

Ganz falsch ist diese Diagnose nicht. Noch um die Wendejahre 1989 gab es eine prominente Vorstellung in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit, dass nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatenmodells die westliche Idee der Demokratie in Verbindung mit einer mehr oder weniger sozial gebändigten Form des Kapitalismus der »Sieger der Geschichte« sei und somit für die Zukunft nur noch abzuwarten sei, wie sie sich Stück für Stück weltweit durchsetzen werde. Daraus wurde bekanntlich global nichts. Einerseits zeigt das chinesische Modell, dass eine hoch effiziente und innovative Marktwirtschaft auch abgekoppelt von politischen Freiheitsrechten möglich ist. Andererseits verloren die westlichen Staaten viel von ihrer Glaubwürdigkeit u. a. durch Berichte über Folter und andere völkerrechtswidrige Eingriffe. Es bildeten sich international neue terroristische Herausforderungen. Außerdem formierten sich auch in vielen westlichen Staaten Parteien, Diskurse und Netzwerke, die von innen heraus die demokratischen Grundregeln in Frage stellen und überwinden wollen. Die Wahl Donald Trumps zeigte dann ausgerechnet im früheren Flaggschiff des Liberalismus und der freiheitlichen Demokratie, den USA, dass autoritäre, rassistische und sexistische Positionen und Personen auch dort mehrheitsfähig sein können. Seine Präsidentschaft hinterließ den Scherbenhaufen einer sozial und kulturell zutiefst gespaltenen, radikalisierten und gewalttätig aufgeheizten amerikanischen Gesellschaft, in der bisher selbstverständliche Grundregeln verloren gingen, z. B. dass politische Entscheidungen auf wahren Fakten und nicht auf erfundenen Lügen fußen dürfen. Das Beispiel bestätigte leider eindrücklich, dass liberale Demokratien niemals sicher und endgültig sind, sondern immer wieder neu verteidigt, ausgefüllt und weiterentwickelt werden müssen, um bestehen zu bleiben.

Tatsächlich gibt es noch einen gewaltigeren Druck auf die demokratischen Ideen und mit der Jugendbewegung »Fridays for Future« eine große Gruppe, die von der berechtigten Sorge getrieben wird, ob mit den bisherigen politischen Mitteln und Systemen die globalen Herausforderungen des Klimawandels und des Artensterbens tatsächlich noch gemeistert werden können. Tatsächlich droht die derzeitige Generation der politischen Entscheidungsträger*innen ihren eigenen Kindern und Enkel*innen eine Welt zu hinterlassen, in der die Auswirkungen des Klimawandels und des parallel verlaufenden Zusammenbruchs verschiedener Ökosysteme menschliches Leben, wie wir es bisher kannten, in bisher für Menschen bewohnbaren Regionen erschweren oder auch verunmöglichen wird.

Auch renommierte Klimaforscher*innen fragen vor diesem Hintergrund, ob nicht eine Konzentration aller politischen, sozialen und intellektuellen Anstrengungen auf diese Menschheitsgefährdungen nötig sei. Sehr bildlich formuliert dies der Potsdamer Klimaforscher Schellnhuber. Er vergleicht die aktuelle

»Situation mit einem leckgeschlagenen Schiff auf hoher See (...). Natürlich gibt es auch neben dieser Havarie Probleme: Das Essen in der dritten Klasse ist miserabel, die Matrosen werden ausgebeutet, die Musikkapelle spielt deutsche Schlager, aber wenn das Schiff untergeht, ist all das irrelevant. Wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen, wenn wir das Schiff nicht über Wasser halten können, brauchen wir über Einkommensverteilung, Rassismus und guten Geschmack nicht mehr nachzudenken.« (Süddeutsche Zeitung vom 15. 5. 2018: 11).

Das stimmt natürlich, und ist doch zu kurz gedacht. Das Bild fragt nämlich nicht danach, welche politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen nötig sind, um das Boot über Wasser zu halten. Klimawandel und Artensterben sind globale Herausforderungen, deren Lösung und Steuerung sich nationaler Lösungen entziehen. Oder anders ausgedrückt: Die CO2-Einsparung in einem Land führt nicht zum erwünschten Ziel, wenn das Nachbarland die gleiche Menge zusätzlich freisetzt. Es braucht somit ein global abgestimmtes und vor allem solidarisches Vorgehen der Staaten und Völker über Grenzen hinweg. Rechtsextremist*innen ist ein solches Handeln fremd. Sie zielen konsequent auf den nationalen Eigennutz, ohne jede Rücksicht auf die Verluste anderer, verweigern sich solidarischen Lösungen und leugnen oft sogar die Gefahren an sich. Ob es demokratische Strukturen braucht, um den Klimawandel und das Artensterben noch in den Griff zu bekommen, ist tatsächlich offen. Ganz sicher ist jedoch, dass rechtsextreme Egoman*innen und ihre Politik keine produktiven Lösungen bieten, sondern sogar die Probleme noch deutlich vertiefen und verschärfen. Überlässt man ihnen politischen oder gesellschaftlichen Spielraum, verschärfen sich die realen Krisen der Menschheit, vor allem aber verkümmert der politische Handlungsspielraum, um den dramatischen Problemen endlich adäquat zu begegnen.

Rechtsextremismus – das deutet sich in diesem Abschnitt schon an – ist dabei kein nationales oder gar ›deutsches‹ Phänomen. Natürlich gibt es in Deutschland mit dem historischen Nationalsozialismus und dessen Herrschaftszeit von 1933 bis 1945 einen besonderen Bezugsrahmen. Zwar gab es auch in der damaligen Zeit ähnliche faschistische Bestrebungen in anderen Ländern, in keinem Land zeigte sie sich jedoch so konsequent kriegerisch und mörderisch wie im »Dritten Reich«. Besonders der Holocaust ragt aus allen Verbrechen heraus und ist bis heute konstitutiv für die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Bestrebungen in der Moderne. Dennoch wäre es ein verkürzter und ungenügender Blick, den heutigen Rechtsextremismus als Fortsatz der Vergangenheit oder ›nur‹ als Produkt z. B. einer nicht genügenden Vergangenheitsbewältigung zu begreifen. Der heutige Rechtsextremismus bezieht sich zwar in vielen gedanklichen und ästhetischen Facetten auf seinen Vorgänger, ist aber vor allem als modernes Phänomen zu begreifen. Seine Ursachen liegen in den Verwerfungen moderner Gesellschaften begründet, und der Rechtsextremismus ist eine Gegenströmung zu den Werten des Westens. Rechtsextremen Vertreter*innen schwebt eine völlig andere Gesellschaft auf einer anderen gedanklichen Basis und gesellschaftlichen Grundlage vor. Rechtsextremismus ist trotz des nationalen Bezugsrahmens längst ein internationales Projekt. Er ist auch das Ergebnis einer globalisierten Weltgesellschaft und bekämpft trotzdem deren Grundideen der Freiheit, Freizügigkeit, des Austausches und der Kooperation über Ländergrenzen hinweg. Ist er aber auch eine Herausforderung für die Soziale Arbeit und deren Bemühungen um Professionalisierung? Oder reicht nicht vielleicht eine politische Antwort oder schlichte strafrechtliche Verfolgung durch Polizei und Justiz? Um diese Fragen zu beantworten, braucht es eine Auseinandersetzung mit den Grundprämissen und Aufträgen der Sozialen Arbeit.

Professionsgedanken der Sozialen Arbeit

Fragt man angehende Studierende der Sozialen Arbeit nach ihrer Motivation für ihre Studienwahl, erhält man häufig Antworten wie: »Ich möchte anderen Menschen helfen« oder »ich möchte Menschen in schwierigen Lagen retten«. Solche Motivationen sind eine gute Voraussetzung für die Soziale Arbeit und auch lobenswerte Einstellungen – sie sind aber auch ein Problem, wenn es um die Professionalität in der Sozialen Arbeit geht. Im Kern gehen die zitierten Beweggründe nämlich von einem Machtungleichgewicht aus: »Gute Menschen retten arme Menschen«. Sie verkennen aber auch, dass sich viele Adressat*innengruppen gar nicht unbedingt helfen, geschweige denn ›retten‹ lassen wollen. Sie wünschen sich vielmehr Respekt, Anerkennung und vielleicht auch Unterstützung in einer konkreten Angelegenheit – nicht aber unbedingt ein ›Rundumrettungspaket‹, geschnürt und vorgedacht von der Fachkraft der Sozialen Arbeit.

Es lohnt sich somit zunächst ein Blick in den Professionalisierungsdiskurs der Sozialen Arbeit. Hilfreich ist der Blick auf das Grundverständnis. Der Deutsche Berufsverband der Sozialen Arbeit definiert Soziale Arbeit dabei wie folgt:

»Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit. Dabei stützt sie sich auf Theorien der Sozialen Arbeit, der Human- und Sozialwissenschaften und auf indigenes Wissen. Soziale Arbeit befähigt und ermutigt Menschen so, dass sie die Herausforderungen des Lebens bewältigen und das Wohlergehen verbessern, dabei bindet sie Strukturen ein« (https://www.dbsh.de/profession/definition-der-sozialen-arbeit/deutsche-fassung.html, zuletzt eingesehen am 11. 03. 2021).

Soziale Arbeit ist Arbeit für und mit Menschen. Der Mensch mit seinen unveräußerlichen Rechten steht im Mittelpunkt des Handelns und nicht eine Ideologie, Religion, Moralvorstellung oder sonstige Idee von Politik und Gesellschaft. Der Sozialarbeitswissenschaftler Wendt (Wendt 2017: 26 ff) konkretisiert diesen Grundgedanken in Richtung eines Professionsdiskurses und formuliert einige Grundbestimmungen für das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit. Dazu gehören:

·

das sogenannte Problemlösen. Aufgabe der Sozialen Arbeit sei es, bei der Problemlösung in der Lebenswelt der Adressat*innengruppe zu unterstützen. Das bedeutet, dass Soziale Arbeit eine begleitende Rolle in einem Prozess einnimmt, aber nicht den Anspruch formulieren kann, alle Probleme ihrer Adressat*innen tatsächlich zu lösen.

·

Soziale Arbeit hat einen Emanzipationsanspruch. Ihre Adressat*innen sollen ›empowert‹ bzw. ›ermächtigt‹ werden, ein Leben in größtmöglicher Freiheit und Würde zu führen.

·

Soziale Arbeit will die subjektiven Menschenrechte stärken und den Menschen ermöglichen, diese Rechte anzunehmen. Sie strebt dabei eine sozial gerechte Gesellschaft an, die auf der Idee der Menschenrechte basiert. Da, wo Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit verletzt werden, steht die Soziale Arbeit an der Seite derjenigen, denen diese Rechtsansprüche verwehrt werden bzw. die von sozialer Ungerechtigkeit betroffen sind.

·

Soziale Arbeit agiert fast immer im Verbund mit anderen Professionen und damit in Netzwerken.

·

Soziale Arbeit kann Leistungen »nur im direkten Kontakt mit ihren Zielgruppen« (ebenda: 28) erbringen.

·

Soziale Arbeit braucht zumeist öffentliche Förderungen und verfügt deshalb über ein doppeltes bzw. dreifaches Mandat. Oft muss sie in einem Zwiespalt aus staatlichem Auftrag (u. a. Kontrollauftrag) und den Wünschen und Interessen ihrer Adressat*innen agieren, die sich nicht immer, doch oft auch widersprechen. Die Idee der Menschenrechtsprofession kann dabei ein Kompass für das eigene Handeln darstellen. Driften das erste und zweite Mandat auseinander, kann der Menschenrechtsgedanke hilfreich sein, um sich für das erste oder zweite oder auch gegen beide zu unterscheiden.

·

Nur in Ausnahmefällen kann die Soziale Arbeit sich selbst ermächtigen, für andere zu sprechen oder zu agieren. Dies betrifft z. B. Menschen, deren akute Lebenslage bzw. Lebenswelt es nicht zulässt, dass sie für ihre eigenen Rechte und ihre Würde einstehen können.

Für dieses Lehrbuch werden aus dieser Liste vor allem zwei Punkte immer wieder in besonderer Weise auftauchen: das Verständnis als Menschenrechtsprofession sowie ein Grundverständnis davon, Arbeit direkt mit Menschen zu leisten.

Warum ein Buch zum Umgang mit Rechtsextremismus für die Soziale Arbeit?

Was hat das Thema Rechtsextremismus nun konkret mit Sozialer Arbeit zu tun? Staub-Bernasconi begreift sie, wie eben bereits erwähnt, als Handlungswissenschaft und Profession für Menschenrechte und Soziale Gerechtigkeit. Rechtsextremist*innen negieren die Menschenrechte und bekämpfen sie offensiv. Sie säen Hass statt Gerechtigkeit, grenzen aus, statt zu integrieren, schüren Krieg statt Frieden im Inneren wie zwischen den Ländern. Sie handeln national egoistisch statt international solidarisch. Soziale Arbeit hat hier einen bedeutenden Gegner und andererseits auch eine Aufgabe: den Opfern rechtsextremer Gewalt zu helfen, Strategien der Demokratieentwicklung als Antwort auf diktatorische Staatsvorstellungen mit voranzutreiben und auch direkt mit Klient*innen aus dem Bereich zu arbeiten – vor allem dann, wenn sie noch jung sind. Soziale Arbeit hat aber auch Grenzen. Sie kann immer nur ein Mosaikteil einer gesellschaftlichen Gesamtstrategie der Auseinandersetzung sein – nie aber die alleinige Lösung. Die Soziale Arbeit darf somit nicht die alleinige Antwort auf rechtsextreme Herausforderungen sein. Oft genug gab es in der Vergangenheit Beispiele, dass Bürgermeister*innen bei Problemen mit örtlichen Rechtsextremisten glaubten, mit einem*r Streetworker*in ließen sich diese sicherlich in kurzer Zeit lösen. Eine solche Aufgabe kann die Soziale Arbeit aber nicht erfüllen und es ist auch nicht ihr Anspruch. Professionelle Soziale Arbeit findet immer in einem Netzwerk unterschiedlicher Akteure, Angebote und Professionen statt. Im Verbund kann sie ihren eigenen Kern gewinnbringend zur Verfügung stellen. Allein ist sie überfordert.

Ihre Menschenrechtsorientierung ist dabei auch professionsintern nicht unumstritten. Einige Autor*innen befürchten vor allem eine Überforderung der Beteiligten und eine Überfrachtung der Erwartungen an die Soziale Arbeit, die nur zum Schiffbruch führen könne. Diese Argumente überzeugen einerseits und führen in diesem konkreten Themenfeld dennoch in eine Sackgasse. Schließlich kann es hier nicht darum gehen, allein und isoliert mit der Flagge der Menschenrechte in der Hand in eine schwierige Schlacht gegen die Feinde der Menschlichkeit zu ziehen. Die Verteidigung und Entwicklung der Menschenrechte können nicht das Werk nur einer Profession sein. Es geht nur im Verbund und Netzwerk der Akteure, darin kann Soziale Arbeit als eine Facette ihres Handelns an menschenrechtliches Handeln erinnern, entsprechende Prinzipien einfordern und selbst entsprechend handeln. Damit leistet sie dann zusätzlich zum Praxishandwerk auch einen grundsätzlichen Beitrag zur Stärkung der Menschlichkeit und der Menschenrechte.

Was zunächst banal klingt, erweist sich später in der Praxis überraschend kontrovers. Bei weiten nicht in allen Projekten, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, werden die Menschenrechte konsequent als Kompass der Sozialen Arbeit angewandt. Menschenrechte gelten bekanntlich für alle und somit auch für die, die Menschenrechte und Fragen sozialer Gerechtigkeit verachten und bekämpfen. Sie gelten somit unbedingt auch für Rechtsextremist*innen. Immer wieder geraten Sozialarbeiter*innen vor Ort auch in schwierige Situationen mit einem Teil der Gegner*innen der Sozialen Arbeit. Wer Steine auf Rechtsextremist*innen schmeißt, sie überfällt und gewalttätig jenseits einer Notfallsituation angreift, steht mit den Menschenrechten auf Kriegsfuß und kann auch dann kein*e Partner*in der Sozialen Arbeit sein, wenn sich deren Engagement eindrucksvoll gegen Rechtsextremist*innen wendet. Was das in der Praxis bedeutet, wird im Verlauf des Buches noch wiederholt diskutiert werden.

📖

Weiterführende und verwendete Literatur

Walter Eberlei/Katja Neuhoff/Klaus Riekenbrauk (2018): Menschenrechte – Kompass für die Soziale Arbeit, Stuttgart

Silvia Staub-Bernasconi (2003): Soziale Arbeit als eine »Menschenrechtsprofession«, in: Richard Sorg (Hrsg.): Soziale Arbeit zwischen Politik und Wissenschaft. Ein Projekt des Fachbereichs Sozialpädagogik der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Sozialpädagogik/Sozialarbeit im Sozialstaat (Bd. 18), Münster/Hamburg/London, S. 17 – 54

Peter Ulrich Wendt (2017): Lehrbuch Methoden der Sozialen Arbeit, 2. Auflage, Weinheim/Basel

Michael Galuske (2013): Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung, 10. Auflage, Weinheim/Basel

Beispiele für empirische Rechtsextremismusforschung

Matthias Quent/Peter Schulz (2015): Rechtsextremismus in lokalen Kontexten. Vier vergleichende Fallstudien, Wiesbaden

Dierk Borstel (2011): »Braun gehört zu bunt dazu!«. Rechtsextremismus und Demokratie am Beispiel Ostvorpommern, Münster

Beispiele für übergeordnete Analysen zum Zustand der liberalen Demokratie

Yascha Mounk (2018): Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, München

Masha Gessen (2020): Autokratie überwinden, Berlin

1 Theoretische Grundlagen

Theoretische Grundlagen – muss das wirklich sein? Ließe sich nicht viel Lesezeit sparen und bei den vermutlich viel spannenderen Anwendungen und Praxismethoden weiterlesen? In diesem Fall wäre eine solche Entscheidung wenig empfehlenswert. Viele Anwendungen fußen auf theoretischen Grundlagen und/oder integrieren diese. Sie sind somit ohne Theorien nicht zu verstehen und auch nicht anzuwenden. Neben diesem sehr praktischen Argument lohnt sich aber vorab ein grundlegenderer Gedanke:

Übungsaufgabe

Bitte überlegen Sie sich Antworten für drei aufeinander aufbauende Fragen:Was sind eigentlich Theorien?Was unterscheidet viele sozial- von naturwissenschaftlichen Theorien?Und: Wozu brauche ich Theorien in der Praxis oder brauche ich die später doch nicht?Nehmen Sie sich ruhig ein paar Minuten Zeit dafür.

Theorien sind zunächst Zusammenhänge, die Realitäten beschreiben sollen und können. Sie sind auch eine Denkleistung, weil sie Sinnzusammenhänge gedanklich miteinander verbinden und gleichzeitig erklären können. Das klingt komplizierter als es ist, weil Theorien überall in unserem Alltag lauern: Wer stark betrunken Auto fährt, erhöht die Gefahr von Unfällen. Sollten Sie nicht zur Gruppe derjenigen gehören, die mehrfach und abwechselnd betrunken und nicht-betrunken Auto fahren und dabei Unfälle gebaut und somit aus Erfahrung gelernt haben, und trotzdem der obigen Aussagen zustimmen, so argumentieren Sie nicht aus Ihrer Praxiserfahrung heraus, sondern mit einer Theorie, die kurz zusammengefasst auch »betrunken + Autofahren = erhöhte Unfallgefahr« lauten könnte. In der Praxis der Sozialen Arbeit werden wir täglich mit Realitäten konfrontiert, die wir selbst nicht erlebt haben. Erklären können wir sie z. T. mittels Theorien. Sie geben uns Hinweise, wie die Situation zu erklären ist, wie sie sich weiterentwickeln könnte und damit oft auch, wie die Situation verändert und im Idealfall auch verbessert werden kann.

Natur- und sozialwissenschaftliche Theorien unterscheiden sich dabei oft durch den unberechenbaren »Faktor Mensch«. Wenn eine Katze eine Schüssel vom Tisch schubst, wird diese herunterfallen und dieser Fall wird unter unveränderten Bedingungen (z. B. Wind, Höhe des Tisches, Druck der Katze u. a.) immer gleich schnell und damit wiederholbar ablaufen. Bei Theorien zur Erklärung menschlichen Verhaltens, wie sie in den Sozialwissenschaften dominieren, können sich Menschen bewusst oder unbewusst entscheiden und in gleichen Situationen mal so und mal anders agieren. Die Theorien gelten somit selten für alle an sich vergleichbaren Fälle und haben oft viel mehr Ausnahmen als in den naturwissenschaftlichen Feldern. Auch hierfür wieder ein Beispiel: Wer in der Kindheit alltägliche Erfahrungen mit Drogen und Gewalt im Elternhaus macht, wiederholt das Gelernte oft, wenn er*sie selbst erwachsen ist und Kinder hat. Eine Zwangsläufigkeit gibt es aber nicht: Die Person kann auch aus den Erfahrungen lernen oder sich unbewusst anders entscheiden, an sich arbeiten und ihre Kinder ohne Drogen und Gewalt aufziehen. In diesem Fall entspricht die Realität nicht der theoretischen Wahrscheinlichkeit. Trotzdem ist auch hier das theoretische Wissen nicht nutzlos. Schließlich zeigt sie eine Gefahr mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auf und hilft somit bei der eigenen Entscheidung und Orientierung.

Was bedeutet das nun für dieses Lehrbuch? Die Theorien sind in vielerlei Hinsicht wichtig. Sie erklären Sinnzusammenhänge und Realitäten, beschreiben Wahrscheinlichkeiten und helfen somit beim Verstehen dessen, womit sich die Soziale Arbeit im Feld beschäftigt. Wer die Welt um sich versteht, kann sich auch selbst sicherer in ihr bewegen und reflektieren, was darin die eigene Rolle sein könnte und was nicht. Sie geben darüber hinaus auch Hinweise zu möglichen Handlungsansätzen, Praktiken und konkreten Interventionsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit. Kurzum: Ohne Theorien gibt es keine professionelle Soziale Arbeit. Sie sind unerlässlich – und das möge ermutigen – sie müssen gar nicht abstrakt, kompliziert und unverständlich sein.

1.1 Definitionen

Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis unserer Grundbegriffe. Sie werden gleich feststellen: Das ist schwieriger als gedacht. Ich mache Ihnen dabei keine Vorgaben, für welche Definition Sie sich entscheiden sollen und stelle Ihnen die jeweiligen Vor- und Nachteile vor. Nur: entscheiden werden Sie sich müssen. Sonst reden wir aneinander vorbei. Beginnen wir mit dem Rechtsextremismus.

1.1.1 Rechtsextremismus

Übungsaufgabe

Bitte nehmen Sie sich einige Minuten Zeit und schreiben Sie alle Begriffe, Aspekte und Bilder auf, die Sie mit dem Begriff »Rechtsextremismus« verbinden. Wenn Sie dieses Wort hören – woran denken Sie?Wenn Sie damit fertig sind: Können Sie Kategorien oder Oberbegriffe bilden und einzelne Punkte zuordnen? Z. B. in Gruppen, Parteien, Ästhetik, Einstellungen oder auch Anderes?

Legen Sie Ihren Zettel nicht zu weit weg – wir kommen gleich auf ihn zurück! Rechtsextremismus wird in der Wissenschaft und Praxis staatlicher Stellen oft völlig unterschiedlich definiert. Es gibt verschiedene Denkrichtungen, die sich z. T. erbittert bekämpfen. Umso wichtiger ist es, dass wir in unserer Kommunikation diesbezüglich klar und eindeutig sind. Die wohl wichtigste Richtung für staatliche Stellen ist die sogenannte Extremismustheorie von Backes und Jesse:

Extremismustheorie nach Jesse und Backes

Wenn Innenminister*innen oder Polizeichef*innen von »Rechtsextremismus« sprechen, beziehen sie sich fast immer auf die sogenannte Extremismustheorie. Backes und Jesse sind zwei liberal-konservative Politikwissenschaftler aus Dresden und Chemnitz, die diesen Ansatz seit den 1980er Jahren auch in der Wissenschaft offensiv vertreten. Sie beziehen sich auf antike Vorstellungen von Aristoteles, der in seiner Gesellschaftsanalyse von einer »Mitte« und »extremen Rändern« sprach. Jesse und Backes beziehen sich – vereinfacht ausgedrückt – auf folgendes »Hufeisen-Bild« (▶ Abb. 1).

Abb. 1:»Hufeisenmodell« nach Backes und Jesse

Nach diesem Bild gibt es eine große, breite gesellschaftliche Mitte, die den größten Teil des Hufeisens ausmache, und zwei extremistische Ränder, rechts und links, die sich auch aufeinander zubewegen oder zumindest parallel laufen. Die Mitte wird hier definiert durch die freiheitlich demokratische Grundordnung. Dies ist ein Begriff, den Sie so nicht im Grundgesetz finden, der sich aber trotzdem aufs Grundgesetz bezieht. Er wurde vom Bundesverfassungsgericht in früheren Parteiverbotsurteilen geprägt und meint zentrale Grundelemente des Grundgesetzes. Insbesondere umfasst der Begriff folgende Facetten:

·

Das Recht des Staatsvolkes, die Staatsgewalt in allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen und Abstimmungen zu bestimmen und diese Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, z. B. Parlamente, ausführende Organe wie Regierungen und Verwaltung auszuüben und eine unabhängige Rechtsprechung zuzulassen.

·

Die Existenz eines Rechtsstaates, der auf Gesetzen und Verordnungen beruht, die für alle gelten.

·

Das Recht und den Schutz einer Opposition gegen die regierende Mehrheit.

·

Die Möglichkeit, eine Regierung abzuwählen.

·

Die Umsetzung der im Grundgesetz verankerten Menschenrechte.

Die Extremismustheorie geht davon aus, dass diese Aspekte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in der demokratischen Mitte Konsens sind. Innerhalb dieses Rahmens dürfe politisch gestritten werden. Es gebe dabei auch eher linke und eher rechte Ideen – aber alle teilten die Werte der freiheitlich demokratischen Grundordnung.

Extremist*innen hingegen bekämpfen nach diesem Verständnis die freiheitlich demokratische Grundordnung. Sie stellen sich somit gegen die Grundwerte und -ideen des Grundgesetzes und sind damit bildlich am äußersten Rand des Hufeisens angesiedelt. Diese Kämpfe der Extremist*innen geschehen in der Theorie nicht passiv und still – sondern explizit in aktiv kämpferischer Art und Weise. Dazu im Folgenden ein Gedankenspiel.

Übungsaufgabe

Stellen Sie sich einen einsamen Mann in seiner Einzimmerwohnung vor. Er hat dort Hitlerplakate aufgehängt, hört über seinen Kopfhörer Nazi-Märsche, leugnet den Holocaust, hasst Ausländer und wünscht sich einen Führer, der Deutschland von allen Juden befreit. Sein Zimmer darf keiner betreten. Draußen ist er still und redet mit niemanden. Er postet nichts im Netz, ist kein Mitglied in irgendeiner Gruppe, wendet keine Gewalt an. Ist er in Ihren Augen ein Rechtsextremist? Und ist er es im Sinne der Extremismustheorie?

Möglicherweise entspricht der Mann sogar einem Idealbild eines überzeugten Rechtsextremisten. Ist er aber auch aktiv kämpferisch im Sinne der Extremismustheorie? Er behält seine ›Welt‹ für sich, ist nicht engagiert, lässt niemandem teilhaben, rekrutiert nicht und tritt öffentlich nicht auf. Im engeren Sinne der Extremismustheorie dürfte er kaum als Rechtsextremist bezeichnet werden, weil angesichts fehlender Handlungen ein entscheidendes Element der Definition, nämlich die aktiv kämpferische Haltung fehlt.

Strittig ist somit: Was bedeutet »in aktiv kämpferischer Art und Weise«? Zumeist werden damit Gewaltbereitschaft und/oder die Mitgliedschaft in entsprechenden Netzwerken, Gruppen oder Parteien verbunden.

Links- und Rechtsextremismus werden innerhalb dieser Theorie nicht gleichgesetzt, auch wenn viele Kritiker*innen dies immer wieder behaupten. Sie werden aber miteinander in Bezug gesetzt. Beide seien nicht mit dem Grundgesetz kompatibel, bekämpften dessen Werte und verfolgten dabei doch unterschiedliche Ziele und Idealvorstellungen von einer zukünftigen Gesellschaft. Rechtsextremist*innen fordern autoritäre Staaten mit starken Führern (gerne männlich) an ihrer Spitze, ethnisch homogene Gesellschaften zumeist auf rassistischer Basis und klare Nationalstaaten mit möglichst wenigen Einbindungen in internationale politische oder auch ökonomische Netzwerke. Unter Linksextremist*innen werden – das sei nur am Rande notiert – hier sehr unterschiedliche politische Strömungen zusammengefasst. Dazu gehören z. B. Anarchist*innen, die von der Auflösung jeder Staatlichkeit träumen, Stalinist*innen, die sich positiv auf Systeme wie das der DDR vor allem in ihrer Anfangszeit oder die Sowjetunion unter Stalin beziehen, und Kommunist*innen, die im Sinne von Karl Marx und Friedrich Engels über den Zwischenschritt der Diktatur des Proletariats von einer klassenlosen Gesellschaft träumen. Die Extremismustheorie fasst diese politischen Strömungen in einem Sammelbegriff zusammen, obwohl sie sich historisch oft feindlich gegenüberstanden.

Überzeugt Sie diese Definition? Vielleicht hängt Ihre Antwort stark vom eigenen politischen Standpunkt ab. Für staatliche Stellen ist diese Definition auf jeden Fall sehr vorteilhaft. Das hat mehrere Gründe:

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Der Staat steht hier im Mittelpunkt des Denkens. Wer ihn beseitigen will und das aktiv kämpferisch anstellt, ist demnach extremistisch.

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Die Theorie lenkt damit den Blick auf politische Ränder und spricht gleichzeitig die gesellschaftliche Mitte generell frei von jeder Verantwortung und/oder Verbindung mit ›dem‹ Extremismus

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Hier gibt es klare Gruppen, die sich nach ›gut‹ und ›böse‹ sortieren lassen.

In relevanten Teilen der Rechtsextremismusforschung wird diese Definition scharf kritisiert. Dabei werden vor allem folgende Argumente genannt bzw. Fragen gestellt.

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In dieser Definition wird die »Mitte der Gesellschaft« pauschal von jeder Verantwortung freigesprochen. Gibt es dort aber keinen Rassismus, keinen Antisemitismus? Sind solche Einstellungen tatsächlich ein Privileg extremer Ränder oder sind sie auch in der Mitte der Gesellschaft verbreitet?

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Zu den Opfern rechtsextremer Gewalt müssten nach dieser auf den Staat bezogenen Definition vor allem Vertreter*innen des Staates wie Beamt*innen, Lehrer*innen oder Verwaltungsangestellte zählen. Rechtsextremist*innen gefährden aber (mit Ausnahme von Polizist*innen und engagierten Gegner*innen) zumeist eher Vertreter*innen tendenziell als schwach erkannter Gruppen, z. B. als Migrant*innen definierte Personen (unabhängig vom Pass), Jüd*innen, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung etc.

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In vielen Schriften der Vertreter*innen der Extremismustheorie stehen vor allem Parteien im Mittelpunkt der Forschung und des Interesses. Hier wird der Bezug zum Kampf um staatliche Macht sehr deutlich. Weit weniger Beachtung finden rechtsextreme Bestrebungen jenseits der Parteien, z. B. in Bewegungsformen, gewaltorientierten Kleingruppen, (Musik-)‌Netzwerken oder Onlineforen. In der politischen Praxis hat das bis heute enorme Folgen: Wenn CDU und CSU betonen, mit keiner extremistischen Partei zusammenarbeiten zu wollen, verbinden sie damit bis heute Parteien wie die NPD auf der rechten und DIE LINKE auf der anderen Seite. Sie sind für sie dann die Endpole im Hufeisenmodell.

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Rechtsextremismus und Linksextremismus werden zwar nicht gleichgesetzt, aber dennoch aufeinander bezogen. Die Extreme berühren sich hier fast. Tatsächlich waren beide Gruppen in der Vergangenheit oft unversöhnliche Gegner. Zu den ersten Opfern des historischen Nationalsozialismus zählten u. a. Kommunist*innen. Ist es dann gerecht, beide Gruppen in dieser Form in Verbindung zu setzen, obwohl sie sich oft genug in der Geschichte und Gegenwart aggressiv und tödlich bekämpften?

Zunehmend greift der Gedanke einer »Extremismusprävention« auch in Kernbereiche der Sozialen Arbeit sowie der politischen Bildung ein. Dies geschieht vor allem über Förderlogiken auf Bundes- und Landesebene: Die Projektförderung wird darin oft an die Idee der Extremismusprävention gebunden. Aus der Sozialen Arbeit und der politischen Bildung heraus wird dieser Ansatz dabei zunehmend kritisiert (vgl. z. B. Bürgin 2021): Hier würden vor allem polizeiliche Logiken auf die Soziale Arbeit übertragen, so dass deren Arbeit auf einer für sie kaum geeigneten theoretischen Basis stünde und dadurch unnötig erschwert werde.

Tatsächlich hat sich die Rechtsextremismusforschung auch schon früh ausdifferenziert und über ihre Begriffe gerungen. Auch wenn er selbst den Begriff der »Schule« offen ablehnt, setzte vor allem der Bielefelder Gewalt- und Konfliktforscher Heitmeyer einen starken Gegenakzent zur Extremismustheorie mit seinem soziologischen Verständnis von Rechtsextremismus.

Soziologische Definition nach Heitmeyer

Heitmeyer ist gelernter Pädagoge und war früh vernetzt mit verschiedenen Sozialarbeiter*innen, u. a. im Fußballfanumfeld, im Kontext rechtsextremer Skinheads und rechtsextrem orientierter Jugendkulturen in Westdeutschland. Er blickte somit nicht mit den Augen des Staates auf das Phänomen, sondern fragte mit einem sozialpädagogischen Praxisblick: Was wollen diese Gruppen eigentlich? Was ist der gemeinsame Kern Ihres Denkens und Handelns?

Dabei entdeckte er zwei zentrale Punkte:

1.

eine Ideologie der Ungleichwertigkeit,

2.

die Akzeptanz von Gewalt zur Durchsetzung eigener Interessen.

Kommen diese beiden Punkte zusammen, spricht Heitmeyer von Rechtsextremismus. Was ist damit nun genau gemeint?

In der Ideologie der Ungleichwertigkeit werden Menschen unabhängig vom Individuum in große Gruppen wahlweise nach biologischen und/oder kulturellen Merkmalen zusammengeführt und bekommen dadurch als Kollektiv gewisse Eigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben. Ein antisemitischer Beispielsatz dazu könnte lauten: »Juden sind geldgierig und eine Gefahr für Deutschland.«

In diesem Satz bekommen alle Menschen, die von außen als Jüd*innen definiert werden, negative Eigenschaften (»geldgierig«) und ein gemeinsames Ziel (»Gefahr für Deutschland«) zugeschrieben. Ob sich die dazu zugeordneten Menschen selbst als Jüd*innen definieren, sei Rechtsextremist*innen egal. Behauptet werden auch kollektive Eigenschaften (hier »geldgierig«), ganz unabhängig davon, wie die dieser Gruppe zugeordneten Menschen zum Gelderwerb stehen. Das Individuum zählt in diesem Denken immer nur als Teil des Kollektivs. Das gilt für die Feind- genauso wie für die positiv definierten Eigengruppe. Durch diese Ideologie entstehen automatisch Gruppen höherer Wertigkeit mit ›guten‹ Fähigkeiten und Gruppen minderer Wertigkeit mit eher ›negativen‹ Eigenschaften. Die Welt teilt sich somit auf in ›gute‹ und ›schlechte‹ Gruppen, Kollektive höherer Wertigkeit, die zur Führung bestimmt seien, und Kollektive minderer Wertigkeit, die wahlweise geführt, bekämpft oder gar vollständig vernichtet werden sollen.

Der zweite Aspekt meint eine Akzeptanz von Gewalt. Gewalt kann sich jedoch sehr unterschiedlich ausdrücken. Sie kann sich z. B. physisch (z. B. schlagen, morden), psychisch (z. B. Mobbing) oder auch strukturell (z. B. Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen durch den Staat) ausdrücken. Akzeptanz meint hier, dass die Person mindestens eine dieser Formen der Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ideologie akzeptiert. Sie muss sie jedoch nicht selbst anwenden. Sie kann sie auch fordern, andere dazu anleiten usw. Es geht um die Akzeptanz und nicht um das eigene, womöglich noch nach dem Strafrecht zu beurteilende Handeln. Für Heitmeyer gibt es somit keinen gewaltfreien Rechtsextremismus – Gewalt ist dem Rechtsextremismus immanent. Sehr wohl gibt es aber rechtsextreme Personen, die keine offensichtliche Gewalt selbst ausleben, nicht offen aggressiv auftreten, dafür aber Gewalt predigen, gutheißen oder auch andere anleiten und anregen, gewalttätig im Sinne der Ideologie der Ungleichwertigkeit zu handeln.

Interessant ist dabei auch, dass dieser definitorische Ansatz auch auf rechtsextreme Erscheinungen angewendet werden kann, die sich nicht auf deutschvölkische Ideen beziehen, sondern z. B. türkische, polnische, kroatische und andere Bezüge aufweisen. Leider ist die Forschung dazu in Deutschland noch unterentwickelt, obwohl die Praxis der Sozialen Arbeit seit Jahren auf entsprechende Problemstellungen in ihren Handlungsfeldern hinweist.

Vor allem soziologisch orientierte und auch viele sozialarbeiterische Projekte beziehen sich dabei auf Variationen dieser Kerndefinition. Wissenschaftlich ist auch sie umstritten. Ein Kernargument der Kritiker*innen lautet: Diese Definition sei zu ungenau. Sie träfe auf viele Gruppen zu, die sicher nicht rechtsextrem seien. Nehmen wir z. B. Islamist*innen: Sie teilen die Welt u. a. in »Gläubige« und »Ungläubige« ein und einige, z. B. im terroristischen Spektrum der Salafist*innen, akzeptieren auch die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele. Nach der Definition von Heitmeyer wären sie aber auch rechtsextrem. Eine dritte Definition versucht deshalb, einige zusätzliche Präzisierungen einzufügen.

Politikwissenschaftliche Definition nach Richard Stöss

Der Berliner Parteienforscher Richard Stöss kritisierte die beiden, bisher vorgestellten Konzepte und gab auch zu, dass der Begriff nicht einfach und im Konsens zu definieren sei. Trotzdem versuchte er sich an einer Art Konkretisierung von Heitmeyer, indem auch er die Ideologie auf der einen Seite und Handlungen auf der anderen Seite zusammenbringt. Folgendes Bild veranschaulicht das (▶ Abb. 2).

Abb. 2:Konzept von Rechtsextremismus nach Stöss

Stöss spricht dann von Rechtsextremismus, wenn mehrere Ideologieelemente mit möglichst mehreren Handlungsoptionen zusammenfallen. Unser einsamer Mann aus dem Fallbeispiel oben wäre hiernach wieder kein Rechtsextremist. Der Vorteil dieser Definition ist jedoch die Konkretisierung beider Facetten. Ein Nachteil ist, dass unklar bleibt, wie viele Facetten denn zusammenkommen müssen, damit von Rechtsextremismus gesprochen werden kann. Wichtig ist an dieser Stelle vor allem die Unterteilung in Verhalten und Ideologie, die auch von anderen Autor*innen in immer neuen Ausformungen verwandt wurde und wird. Dazu noch eine Denkaufgabe für Sie.

Übungsaufgabe

Es gibt diverse seriöse Forschungen zur Frage: Wie viele Rechtsextremist*innen gibt es in Deutschland? Viele arbeiten im Kern mit dem Ansatz von Stöss und unterteilen ihr Verständnis von Rechtsextremismus in Ideologie und Handlungen. Trotzdem schwanken die Ergebnisse zwischen einem und etwa 30 % der Bevölkerung, obwohl alle Untersuchungen repräsentativ sind (und sauber gearbeitet haben). Wie kann das sein? Haben Sie eine Idee?

Die Lösung ist recht einfach: Die Studien unterscheiden sich in der benötigten Anzahl der Einzelpunkte von Stöss. Reicht z. B. ein Rassist, der eine entsprechende Partei wählt, wird man eine recht hohe Zahl an so definierten Rechtsextremist*innen bekommen. Wenn die Studien jedoch alle Facetten verlangen, reduziert sich die Zahl. Wer ist schließlich schon Nationalist*in, Rassist*in, Antisemit*in, positive*r Verfechter*in der Hitlerzeit und wählt entsprechend, ist Mitglied einer Gruppe, wendet Gewalt an und protestiert in diesem Sinne? Das sind dann doch deutlich weniger Menschen und entsprechend gering wird der Prozentsatz sein. Viele, die zumeist als rechtsextrem bezeichnet würden, wählen z. B. grundsätzlich nicht, weil sie sich an dem System, was sie überwinden wollen, nicht beteiligen möchten. Diese fielen dann schon einmal aus der Prozentzahl heraus.

Mit dem bisherigen Wissen lohnt sich der Blick auf Ihren Übungszettel vom Beginn des Kapitels. Finden Sie Elemente der Definition in Ihrer Sammlung wieder? In der Übung mit Studierenden war das Ergebnis oft sehr unterschiedlich. Überwiegend fanden sich in den Sammlungen jedoch Ausdrucksformen von rechtsextremen Handlungen, Organisationen oder Elemente der rechtsextremen (Jugend-)‌Kultur. Dies ist deshalb interessant, weil auch viele Angebote zum Umgang mit Rechtsextremismus sich auf diese Bereiche konzentrieren, indem sie sich z. B. intensiv mit den örtlichen rechtsextremen Parteien, mit der Vielfalt rechtsextremer Musik, Internetstrategien etc. beschäftigen. Nichts davon muss auch falsch sein. Den Kern des Problems treffen diese Angebote jedoch nicht, wenn Sie dem soziologischen Verständnis von Rechtsextremismus folgen. Denn dann brauchen Sie auch ein Wissen über Ideologien und Menschenbilder im Rechtsextremismus, was an späterer Stelle im Lehrbuch präsentiert werden wird.

Halten wir an dieser Stelle fest: Es gibt kein einheitliches Verständnis in Wissenschaft und Praxis zur Frage, was unter Rechtsextremismus zu verstehen ist. Alle vorgestellten Definitionen haben ihre Vor- und Nachteile. Urteilen Sie somit selbst: Welche Definition überzeugt Sie am meisten? Welche ist für die Soziale Arbeit geeignet und welche eher weniger? Sie sind frei in Ihrem Urteil, wichtig ist nur, sich selbst zu vergewissern, was Sie darunter verstehen. Und prüfen Sie bei Studien und Stellungnahmen bitte auch, mit welchem Begriffsverständnis dort gearbeitet wurde. Das vermeidet Missverständnisse und ermöglicht überhaupt erst Kommunikation.

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Weiterführende und verwendete Literatur

Uwe Backes/Eckhard Jesse (1993): Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung)

Julika Bürgin (2021): Extremismusprävention als polizeiliche Ordnung. Zur Politik der Demokratiebildung, Weinheim/Basel

Wilhelm Heitmeyer u. a. (1992): Die Bielefelder Rechtsextremismusstudie, Weinheim

Eckhard Jesse/Tom Mannewitz (2018): Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Bonn

Richard Stöss (2005): Rechtsextremismus im Wandel, Berlin

1.1.2 Rechtspopulismus und autoritärer Nationalradikalismus

Ein zweiter Kernbegriff ist der des Rechtspopulismus. Dieser ist in mehrfacher Hinsicht umstritten und wird perspektivisch vielleicht auch abgelöst werden. Erste Autor*innen sprechen stattdessen bereits vom autoritären Nationalradikalismus.

Im Begriff Rechtspopulismus ist das Wort »populus« enthalten. Übersetzt heißt es in etwa »volkstümlich« oder »volksnah«. Populismus ist dabei kein Privileg der Rechten, sondern es gibt ihn von links, in der Mitte der Gesellschaft und eben auch von rechts. Populismus ist somit zunächst eine Kommunikationsform, die der De