Umkämpfte Bilder - Annika Bach - E-Book

Umkämpfte Bilder E-Book

Annika Bach

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Beschreibung

Der Krieg in Afghanistan ist in den USA meist nur medial vermittelt erfahrbar. Der journalistische Diskurs trägt dabei dazu bei, ein Bild dieses Krieges zu erzeugen, welches den Krieg als ein unblutiges und kontrolliertes Unternehmen vorstellt. Verunsichert wird dieses journalistische Bild allerdings durch Bilder exzessiver Gewalt, die in sozialen Netzwerken oder in fiktiven Medienformaten zu sehen sind. Annika Bach untersucht mittels einer Foucaultschen Diskursanalyse die Regeln, welche den journalistischen Diskurs der USA über den Afghanistankrieg strukturieren und zeigt auf, wie besonders die Bilder dieses Krieges selbst ein umkämpftes Krisengebiet sind.

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Annika Bach

Umkämpfte Bilder

Der journalistische Diskurs über den Afghanistankrieg in den USA

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Der Krieg in Afghanistan ist in den USA meist nur medial vermittelt erfahrbar. Der journalistische Diskurs trägt dabei dazu bei, ein Bild dieses Krieges zu erzeugen, welches den Krieg als ein unblutiges und kontrolliertes Unternehmen vorstellt. Verunsichert wird dieses journalistische Bild allerdings durch Bilder exzessiver Gewalt, die in sozialen Netzwerken oder in fiktiven Medienformaten zu sehen sind. Annika Bach untersucht mittels einer Foucaultschen Diskursanalyse die Regeln, welche den journalistischen Diskurs der USA über den Afghanistankrieg strukturieren und zeigt auf, wie besonders die Bilder dieses Krieges selbst ein umkämpftes Krisengebiet sind.

Vita

Annika Bach, Dr. phil., war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FU Berlin und forschte 2010/11 an der Columbia University, New York. Sie arbeitet heute als Lektorin und lebt in Leipzig.

Inhalt

Einleitung: Umkämpfte Bilder – Journalismus und Krieg

I.Was kann Journalismus heute leisten? Die diskursive Autorität des Journalismus

1.1Verlust gesellschaftlicher Relevanz: Journalismus heute

1.2Wie wahr ist das, was der Journalismus berichtet? Journalismus und Wirklichkeit

1.3Mit Foucault: Journalismus als Diskurs

II.Medial vermittelter Krieg in der amerikanischen Öffentlichkeit

2.1Krieg als »diffused war« in der Medienöffentlichkeit

2.2Zum Forschungsstand: Medien und Krieg

2.3Die zentralen Bezugspunkte der diskursiven Autorität des Journalismus in Kriegszeiten

2.3.1Die amerikanische Verfassung

2.3.2Der journalistische Berufsstand

2.3.3Die militärpolitische Kontrolle

2.3.4Die kommunikationswissenschaftliche Diskussion

2.4Die Konstitution des Afghanistankrieges in der amerikanischen Medienöffentlichkeit

2.4.1Mangelndes Interesse an (der Berichterstattung über) Afghanistan

2.4.2Studien zur amerikanischen Berichterstattung über den Afghanistankrieg

2.5Andere mediale Verfahren der Berichterstattung über Krieg

2.5.1Real: Krieg in Blockbustern, Videospielen und anderen Fiktionen

2.5.2Authentisch: Krieg in den sozialen Netzwerken

2.6Diskontinuität im journalistischen Diskurs: Die Abu Ghraib-Bilder in der amerikanischen Berichterstattung

2.6.1In welchem Verhältnis stehen Macht und Journalismus? – Framinganalysen

2.6.2In welchem Verhältnis stehen Macht und Bilder? – Judith Butlers »Frames of war«

2.7Diskontinuität in der Berichterstattung über Afghanistan: Trophäenbilder, Journalismus, diskursive Autorität – die Forschungsfragen

III.Methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen

3.1Zum Einsatz diskursanalytischer Instrumente

3.1.1Foucaults Methodik und ihre Übertragbarkeit auf die Journalismusforschung

3.1.2»Aussage«, »Äußerung« und »Streuung«

3.2Der Prozess der Datenerhebung

3.2.1Die Ausgangspunkte der Datenerhebung

3.2.2Mehrmethodendesign: »Knowledge discovery in data bases« und leitfadengestützte, offene Interviews

Phase A: Explorative Sichtung

Phase B: Dokumentierende Erhebung

Phase C: Experteninterviews mit Journalisten

Phase X: Nachrecherche und theoretische Sättigung

IV.Drei Muster der Streuung: Darstellung des erhobenen Materials

4.1Regelmäßigkeit

4.2Momentaufnahmen

4.3Explosion (Regelgeleitete Auswahl)

V.Macht/Wissen-Komplexe im journalistischen Diskurs über den Krieg in Afghanistan

5.1Die Bilder der Kriegsverbrechen

5.1.1Weltweite Erstveröffentlichung: Die Spiegel-Bilder

5.1.2Erste Veröffentlichung im amerikanischen Diskurs: Die Bilder auf The Gawker

5.1.3Zusätzliche Bilder im amerikanischen Diskurs: Die Rolling Stone-Bilder

5.1.4Ein Schauprozess: Die journalistische Verweisstruktur auf die Bilder

5.1.4.aNüchterne Bestandsaufnahme, umsichtige Reflektion

5.1.4.bSchreckliche Bilder

5.1.4.c»Worse than Abu Ghraib«

5.2Das journalistische Erkenntnisschema über den Krieg in Afghanistan

5.2.1Das Positiv: Der gefallene Soldat

5.2.1.aDer Henker

5.2.1.bDas Böse

5.2.1.cDer tragische Held

5.2.1.dDer Novize

5.2.2Das Negativ: Afghanistan

5.2.2.aDer Präsident und ein aufgebrachter Mob

5.2.2.bEin Land der Wilden und der Taliban

5.3Lokale Herde des Machtwissens journalistischer Medien und ihre diskursive Autorität

5.3.1Das Kräftefeld des journalistischen Diskurses

VI.Die Bilder vom Krieg, das Wissen vom Krieg: Was leistet Journalismus zu Kriegszeiten?

Bibliografie

Dank

Einleitung: Umkämpfte Bilder – Journalismus und Krieg

Für die Stadt New York beginnt das 21. Jahrhundert mit terroristischen Anschlägen. Für den Rest der Welt beginnt das 21. Jahrhundert mit den Bildern dieser Anschläge. Als Reaktion auf die Anschläge vom 9. September 2001 und auf die Bilder, die sie auf den Bildschirmen erzeugt haben, entscheidet sich die amerikanische Regierung unter George W. Bush für einen militärischen Einsatz. In einem so genannten »Krieg gegen den Terror« wird das terroristische Netzwerk Al-Qaida auf dem Territorium Afghanistans von einer amerikanisch geführten Allianz angegriffen. Zwei Jahre später bombardiert eine Allianz aus USA und Großbritannien den Irak. Dies führt zu einem auch im Jahr 2016 noch andauernden Krieg der USA in Südasien und zu einem achtjährigen Einsatz in dem Golfstaat.

Im Jahr 2008 während seines ersten Wahlkampfes bezeichnet der demokratische Kandidat Barack Obama den in seinen Augen legitimen und mit einem völkerrechtlichen Mandat ausgestatteten Kriegseinsatz der US-Streitkräfte in Afghanistan wiederholt als einen ›guten‹ und sinnvollen Krieg. Gut sei dieser Krieg, das macht er in seiner Kampagne verschiedentlich klar, vor allem im Vergleich zum Krieg im Irak, der unter dem Vortäuschen falscher Tatsachen und mit Hilfe von Manipulation der internationalen Gemeinschaft von der Bush-Regierung begonnen wurde.1 Diese Unterscheidung ist eine zentrale Botschaft seiner geplanten außenpolitischen Linie. Während einer Rede an dem Forschungszentrum Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, D.C. kündigt der demokratische Kandidat an:

»When I am President, we will wage the war that has to be won, with a comprehensive strategy with five elements: getting out of Iraq and on to the right battlefield in Afghanistan and Pakistan; developing the capabilities and partnerships we need to take out the terrorists and the world’s most deadly weapons; engaging the world to dry up support for terror and extremism; restoring our values; and securing a more resilient homeland.

The first step must be getting off the wrong battlefield in Iraq, and taking the fight to the terrorists in Afghanistan and Pakistan.«2

Nach dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama im Januar 2009 erfährt der Krieg in Afghanistan tatsächlich neue Aufmerksamkeit von der US-Administration. Wie es Obama versprochen hat, erweitert seine Regierung den außenpolitischen Fokus in Südasien auf Afghanistan gemeinsam mit dem angrenzenden Pakistan. Dieses Vorgehen wird von der Administration als »AfPak-Strategie« bezeichnet. Da sich in den Grenzregionen beider Länder sowohl die Taliban als auch der internationale Terrorismus weiterhin erfolgreich organisieren, sollen fortan »Afghanistan und Pakistan als zwei Länder, aber eine Herausforderung behandelt werden« (van Raemdonck 2009: 204). Am 27. März 2009 erläutert der US-Präsident das Ziel dieser neuen Außenpolitik und ihre Pläne zur Umsetzung. Im Vordergrund steht die Zerstörung von Al-Qaida sowie ihrer Unterstützer und ihrer Rückzugsgebiete (ebd.).

Ihre militärische Umsetzung (im Vergleich zur diplomatischen, wirtschaftlichen etc.) findet die AfPak-Strategie des Präsidenten Obama in der »counterinsurgency«-Strategie. Die Zivilbevölkerung wird von der US-amerikanischen Seite verstärkt in die Militäroperationen einbezogen, um den Taliban den Einfluss auf sie zu erschweren oder ganz zu verhindern. Als »clearing, holding and building areas that had been under insurgent control«, wird diese neue Strategie (Celso 2010: 185) beschrieben. Der Kommandeur der ISAF und der U.S. Forces Afghanistan der Jahre 2009 und 2010, General Stanley McChrystal, führt die Strategie in Afghanistan ein, General Petraeus übernimmt diese Aufgabe im Jahr 2010.3 Im Vergleich zu vorherigen Maßnahmen sollen hier erstens weniger die Aufständischen aufgespürt und getötet werden, dafür soll der Schutz der Zivilbevölkerung absolute Priorität haben. Zweitens sollen von den Taliban befreite Gebiete unter maßgeblichem Einsatz der afghanischen Sicherheitskräfte, der Afghan National Security Forces, gehalten werden (Fair 2010: 115). Ziel ist es, den Taliban die Kontrolle über Dörfer und kleine Regionen abzuringen und dort unter militärischem beziehungsweise polizeilichem Schutz staatliche Strukturen aufzubauen und vor allem zu verstetigen. Die afghanische Zivilbevölkerung soll die Veränderung als schnelle Verbesserung ihrer Situation wahrnehmen. Es sollen sowohl ›die Herzen und die Köpfe‹ (›the hearts and minds‹) der afghanischen Zivilbevölkerung gewonnen werden, als die Strategie gleichzeitig zum Zweck hat, den kriegerischen Einsatz gegenüber der amerikanischen Bevölkerung zu legitimieren (vgl. Koehler 2008: 7). Es ist ein zentrales Anliegen der Administration Obama, den Krieg in der amerikanischen Öffentlichkeit trotz aller Unbill als einen Krieg bewertet zu sehen, den es lohnt zu kämpfen. Wie Dimitriu festhält: »[S]uccess in the application of force depends less on the outcome of tactical operations on the battlefields but more on how the war’s purpose, course and conduct is viewed by public opinion at home as well as within the theatre of operations.« (Dimitriu 2012: 196) Und so erklärt auch der leitende General Stanley McChrystal zu Beginn der Mission am 30. August 2009 in Kabul, dass ein essentieller Teil dieser Strategie zur Delegitimierung der gegnerischen Kräfte in Afghanistan darin bestehe, dass die afghanische ebenso wie die amerikanische und die internationale Öffentlichkeit von dem Erfolg der Mission überzeugt werden könne (vgl. ebd.: 203; Egnell 2010).

Klassischer Weise übernehmen die journalistischen Medien die Aufgabe, der amerikanischen Öffentlichkeit von Kriegen zu berichten. Meist spielen sich diese Kriege dabei nicht einmal auf amerikanischem Territorium ab: Seit dem amerikanischen Bürgerkrieg stellt einzig der japanische Angriff auf den hawaiianischen Hafen Pearl Habour ein Kriegsereignis dar, welches auf amerikanischem Territorium stattfand. Ansonsten erlebt die amerikanische Öffentlichkeit Kriege als medial vermittelt. Im ersten und zweiten Weltkrieg, im Korea-, Vietnam- und im Golfkrieg sowie während der kürzeren Kriegseinsätze auf Grenada oder in Somalia waren es stets die journalistischen Medien, die die amerikanische Öffentlichkeit mit Informationen von der weit entfernten Front versorgten. Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es nicht mehr allein der Journalismus, der vom Krieg berichtet. Andere Medienakteure sind hinzugekommen und in den USA haben sich die »New Media« zum integralen Bestandteil kommunikativer Prozesse des alltäglichen Lebens entwickelt. Die digitalen Medien, ihre multilateralen Kommunikationswege, Infrastrukturen und Technologien bilden nunmehr einen wichtigen Teil der zeitgenössischen Medienlandschaft. So hat der Journalismus durch die neuartigen partizipativen Technologien, die in Form von weblogs, videologs, sozialen Netzwerken und frei zugänglichen Diensten wie Twitter genutzt werden, in seinen Kernkompetenzen der öffentlichen Informationsvermittlung und Themensetzung starke Konkurrenz bekommen. Bilder und Filme können überall und von jedem, der über eine digitale Kamera und einen Internetzugang verfügt, publiziert werden. Aufnahmen des Krieges werden beispielsweise von in Afghanistan oder im Irak stationierten Soldatinnen und Soldaten produziert und auf Youtube veröffentlicht, Zivilisten bloggen aus Bagdad, Wikileaks lädt Videos und Dokumente des Krieges auf frei zugängliche Webseiten. Und damit sind noch nicht einmal alle Akteure genannt. Darüber hinaus ist die Unterhaltungsindustrie aktiv, mit großen Blockbuster-Produktionen, kostspielig produzierten TV-Serien und Videospielen täuschend echte Fiktionen des Krieges auf den Bildschirmen des US-amerikanischen Publikums zu erzeugen. Der Film »Zero Dark Thirty« über die Suche nach Osama bin Laden kann hier beispielhaft genannt werden, ebenso die HBO-Serie »Generation Kill« über die ersten Wochen des Irakeinsatzes 2003 oder die populären Kriegsvideospiele »Medal of Honor« und »Call of Duty – Modern Warfare«. Die Formate sind zahlreich, die außerhalb der journalistischen Medien Informationen des so genannten »Kriegs gegen den Terror« medial erscheinen und in Konkurrenz zur klassisch journalistischen Berichterstattung von der Front treten lassen.

Bei näherer Betrachtung des medial vermittelten Krieges in der amerikanischen Öffentlichkeit wird ein Aspekt besonders deutlich: Es sind hier vor allem Bilder des Krieges, die eindrucksvoll zirkulieren und die sich gleichzeitig stark voneinander unterscheiden. Denn es ist zu beobachten, dass im Journalismus Bilder des Krieges ausgespart werden, die explizite Gewalt und Chaos zeigen, während dagegen viele Bilder, die auf nicht-professionellen digitalen Portalen erscheinen, explizite Kriegsgewalt gerade ausstellen. Diese Diskrepanz lässt sich an einem weltweit bekannt gewordenen Beispiel verdeutlichen. Als der Fernsehsender CBS im März 2004 Fotografien aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib ausstrahlte, wurden Bilder brutaler Folter öffentlich, die amerikanische Soldatinnen und Soldaten ausgeübt und selbst fotografiert hatten. Dieses Ereignis erzeugte auf zwei Weisen einen Schock in der amerikanischen Öffentlichkeit. Einmal schockierten diese Bilder, weil sie bewiesen, dass Angehörige der amerikanischen Streitkräfte gegen die Genfer Konventionen verstoßen hatten. Gleichzeitig erschütterten diese Bilder aber auch die amerikanische Öffentlichkeit, weil die journalistischen Medien bis zu diesem Zeitpunkt ein ganz anderes Bild vom Krieg im Irak und von den amerikanischen Militärs erzeugt hatten. In dem krassen Kontrast zu diesen Bildern der Folter wurde nun umso deutlicher, dass die journalistischen Medien bis dato ein Bild des Krieges im Irak kolportiert hatten, das kontrollierter, heroischer, nicht brutal war und das die amerikanischen Militärs als Kämpfer für das ethisch Gute empfohlen hatte.

Die Afghanistanberichterstattung weist strukturelle Ähnlichkeiten zur Berichterstattung über den Irakkrieg auf. In der Tendenz wird auch hier ein Bild von den amerikanischen Streitkräften im Einsatz präsentiert, das positiv besetzt ist und den Krieg als ein kaum mit Gewalt verbundenes, kontrolliertes Unternehmen darstellt. Allerdings hat es auch hier Fälle gegeben, bei denen Bilder das bis dato journalistisch erzeugte Bild des Krieges frappant in Frage stellten. Einer davon, die schockierenden Fotos eines selbst ernannten »Kill Teams« aus amerikanischen Soldaten, ist ein besonders markanter Fall und steht im Mittelpunkt dieser Studie. Das deutsche Magazin der Spiegel machte im März 2011 Fotos öffentlich, die amerikanische Soldaten zeigten, wie sie mit der Leiche eines jungen Afghanen posierten. Es war zu erfahren: Die Soldaten hatten sowohl einen minderjährigen Jungen als auch zwei geistliche Zivilisten als Teil eines Mordkomplotts getötet. Die Trophäenbilder ihrer Tat gelangten zunächst über den Nachrichtengenerator The Gawker in die amerikanische Öffentlichkeit, zwei Wochen später veröffentlichte das Magazin Rolling Stone auf seiner Homepage weitere Fotos der Kriegsverbrechen. Die Folge war eine breite journalistische Aufmerksamkeit in den USA.

Journalismus wird in diesem Buch mit Rückgriff auf die Arbeiten Michel Foucaults als ein Diskurs definiert, der es vermag, Wissensordnungen über den Krieg in einem Bereich zu formatieren, welcher als wahr akzeptiert wird. Wer sich für Regeln interessiert, muss ihre Brüche in Augenschein nehmen oder, wie es Foucault formuliert, man solle, »[d]ie Veränderungen aufspüren, die die diskursiven Formationen als solche bestimmen« (2001a: 865, Hervorhebung im Original). So wird mit den Trophäenbildern des selbst ernannten »Kill Teams« eine Störung des journalistisch erzeugten Bildes des Afghanistankrieges in den Mittelpunkt der Forschung gestellt. Diese Störung bietet einen Anhaltspunkt, von dem aus die Regeln der amerikanischen Berichterstattung über den Krieg überhaupt erst sichtbar werden und kommunikationswissenschaftlich untersucht werden können. Zu diesem Zweck wird in einem neu entwickelten empirischen Verfahren der journalistische Diskurs der amerikanischen Medien über die Bilder von Kriegsverbrechen US-amerikanischer Soldaten in seiner Quantität und Qualität dokumentiert und analysiert.

Um das Vorhaben umzusetzen, geht die Arbeit in folgenden Schritten vor: In dem ersten Kapitel wird ausgewählte kommunikationswissenschaftliche Forschungsliteratur zu der Frage erörtert, wie der Journalismus als ein mediales Verfahren von anderen, welche ebenfalls Öffentlichkeit herstellen, abgegrenzt werden kann. Journalismus wird zu diesem Zweck mit den Schriften Michel Foucaults diskurstheoretisch definiert, wobei konzeptionell neue Erkenntnisse für die deutsche Journalismusforschung erarbeitet werden. Im zweiten Kapitel wird der aktuelle kommunikationswissenschaftliche Forschungsstand zum Thema »Medien und Krieg« im Lichte der Überlegungen aus dem ersten Kapitel reflektiert. Außerdem werden diejenigen kommunikationswissenschaftlichen Studien erörtert, welche die Auseinandersetzung der journalistischen Medien in den USA mit den Bildern aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib untersucht haben. Diese Diskussion macht besonders das Forschungsdesiderat offensichtlich, die Verknüpfung von Bildern und Macht im Journalismus mit diskursanalytischen Begrifflichkeiten neu zu untersuchen. Am Ende des Kapitels werden die forschungsleitenden Fragen in Bezug auf das empirische Material formuliert. Das dritte Kapitel leistet definitorische Grundlagenarbeit für die empirische Journalismusforschung, wobei sich die Foucault’schen Begriffe »Aussage« und »Äußerung« sowie »Streuung« für den diskursanalytischen Forschungsprozess als äußerst dienlich erweisen. Kapitel IV stellt das Material in seiner Komplexität und Fülle dar, indem drei »Muster der Streuung« im journalistischen Diskurs identifiziert werden. Das fünfte Kapitel legt mittels diskursanalytischer Instrumente dar, wie die Veröffentlichung der brutalen Trophäenbilder den journalistischen Diskurs verändert und ein Wissen über den Afghanistankrieg in einem Positiv/Negativ-Schema formatiert wird. Die Theorie Foucaults leistet damit für die Journalismusforschung einen wichtigen Beitrag, um das Verhältnis von Medien, Öffentlichkeit und Krieg zu verstehen.

I.Was kann Journalismus heute leisten? Die diskursive Autorität des Journalismus

In Anbetracht der heutigen Überfülle medialer Angebote in den USA stellen sich der Journalimusforschung immer wieder die Fragen: Was leistet der amerikanische Journalismus angesichts des medialen Wandels der letzten zwei Jahrzehnte eigentlich? Welche gesellschaftliche Relevanz können seine Leistungen noch haben? Im Folgenden interessiere ich mich zunächst allgemein für die Rolle des amerikanischen Journalismus zur Konstituierung von gesellschaftlicher Öffentlichkeit in den USA. Dieser Frage wird in vier Schritten nachgegangen. Einmal diskutiere ich in diesem Kapitel den Journalismus als einen Teil der zeitgenössischen medialisierten Gesellschaft und frage nach seinem aktuellen Potential, gesellschaftliche Öffentlichkeit zu ermöglichen. Hier soll vor allem diejenige Forschungsliteratur beachtet werden, welche den Wandel von Journalismus in der medialisierten Gesellschaft untersucht. An dem in der Kommunikationswissenschaft breit erörterten Begriff der Objektivität wird deutlich, dass der Frage nach der Rolle von Journalismus in der Gesellschaft auch die Frage zugrunde liegt, ob und wie Wirklichkeit überhaupt journalistisch repräsentiert werden kann. Im nächsten Schritt werde ich von dieser Diskussion die Definition von Journalismus als einem Diskurs ableiten. Unter Rückgriff auf ausgewählte Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault argumentiere ich, dass Journalismus die Wirklichkeit weder im Sinne eines Abbildes oder einer Darstellung repräsentiert noch mediale Bedeutungen von der Wirklichkeit produziert, sondern Wirklichkeit in Form von Wissensordnungen erzeugt. Ich möchte zeigen, dass der Journalismus, indem er von einem Gegenstand handelt, diesen Gegenstand in der Öffentlichkeit konstituiert. So sollen über die hier angeführten Schritte Begrifflichkeiten hergeleitet werden, die für die Diskussion der Forschungsliteratur zur Berichterstattung über Krieg relevant sind. Erst das folgende Kapitel II wird dann spezifischer auf die Konstella-tion von Journalismus und Krieg eingehen und den kommunikationswissenschaftlichen Forschungsstand zur Rolle von Kriegsberichterstattung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erörtern.

1.1Verlust gesellschaftlicher Relevanz: Journalismus heute

Michael Schudson wurde im Jahr 2009 gebeten, zum Anlass des zehnjährigen Bestehens der wissenschaftlichen Zeitschrift Journalism eine Prognose abzugeben, wie Journalismus wohl im Jahr 2019 aussehen würde (Schudson 2009: 368f.). Er beginnt seine Antwort mit der Aufzählung einiger Neuerungen und Veränderungen, die allein in der Zeit nach 1999 in den USA auf den Plan getreten seien und von denen bei Gründung der Fachzeitschrift Journalism noch nichts abzusehen gewesen sei: Wikipedia, The Huffington Post, Politico.com, Facebook oder Youtube. Neben diesen Innovationen in der amerikanischen Medienlandschaft nennt Schudson auch wichtige Änderungen in den Besitzverhältnissen amerikanischer Medienhäuser und hebt die drastischen Kürzungswellen in den amerikanischen Redaktionen der Nullerjahre hervor. Der Journalismus, und besonders der politische Journalismus, habe Konkurrenz bekommen, bringt er die Veränderungen auf einen Nenner: Blogs, von Augenzeugen aufgenommene digitale Bilder, aber auch Think Tanks in Washington, deren Publika durch die digitalen Möglichkeiten frappant gewachsen seien, hätten den Journalismus in einen harten Wettbewerb gestellt (ebd.). Schudson beschreibt, wie sich die einstige Dominanz des Journalismus über Medien in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr aufgelöst hat. Es sind längst nicht mehr einzig die Zeitungsunternehmen, Radiosender oder Fernsehanstalten, die auf Medien als »Maschinen gesellschaftlicher Vernetzung« (Winkler 2008: 11) zugreifen können. Es sind nicht mehr einzig die Zeitungen, das Radio oder das Fernsehen, die es ermöglichen, Inhalte an eine Vielzahl von Menschen zu kommunizieren und somit eine Öffentlichkeit herzustellen. Die Zeiten, in denen das Wort »Medien« synonym für »Journalismus« benutzt werden konnte, sind vergangen. Im Journalismus werden Themen recherchiert, ausgesucht und präsentiert, die neu, faktenbezogen und relevant sind (vgl. Meier 2011: 13). Dazu bedient sich der Journalismus der Medien. Doch sind darüber hinaus Medien in den USA – und den anderen industrialisierten Gesellschaften – so weit verbreitet, dass ihre Vernetzungs- und Vermittlungsleistungen weit über die journalistische Produktion hinausgehen. Die mediale Kommunikation ist ein derart allgegenwärtiger und selbstverständlicher Teil des alltäglichen Lebens geworden, dass von der ›medialisierten Gesellschaft‹ oder der ›Mediengesellschaft‹ gesprochen wird. Wo Schudson den Journalismus durch die Medialisierung in einen harten Wettbewerb gestellt sieht, wählen andere Kommunikationswissenschaftler eine drastischere Formulierung und sprechen von einer Krise des amerikanischen Journalismus – einer »crisis of journalism« (beispielsweise Blumler 2010: 439).

Die wachsende Integration medialer Kommunikation in die unterschiedlichen Bereiche des Lebens wird von Winfried Schulz’ Konzept der »Medialisierung«4 (2004) hilfreich systematisiert. Es soll kurz wiedergegeben werden, um in der anschließenden Diskussion die Konsequenzen dieser Medialisierung für den Journalismus besser darstellen zu können. Schulz definiert die Medialisierung der Gesellschaft mit den vier Eigenschaften: Ausdehnung (»extension«), Ersetzung (»substitution«), Verschmelzung (»amalgamation«) und Anpassung (»accommodation«)5 (Schulz 2004: 88f.). Diese vier Eigenschaften seien, wie Schulz es beschreibt, als ineinander greifende und sich ergänzende Komponenten eines komplexen Wandlungsprozesses medialer Kommunikation zu verstehen. Schulz argumentiert, dass die Entwicklung der Medien als ein beständiges Streben verstanden werden müsse, die räumlichen, zeitlichen und modalen Kommunikationsmöglichkeiten von Menschen zu erweitern. Zum besseren Verständnis vergleicht er diese beständige Erweiterung medialer Kommunikation mit der Evolutionsbiologie (ohne ein biologistisches Argument daraus zu machen): »Hence, the phylogeny of the media has to be understood as a continuous effort to extend these limits.« (Schulz 2004: 88) Daraus ergibt sich der erste Begriff der Ausdehnung, der ersichtlich macht, dass die mediale Kommunikation sich immer weiter verbreitet und immer mehr Platz in vielen Bereichen des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens einnimmt. So würden die Menschen durch die mediale Kommunikation befähigt, ihre Begrenzungen im Verständnis und der Wahrnehmung der Welt zu verringern (ebd.). Zweitens, so systematisiert Schulz, werden im Zuge der Medialisierung bisherige Formen persönlicher Kommunikation zwischen Menschen oder auch von Menschen mit Institutionen durch Medien ersetzt. Mit dem Begriff der Ersetzung beschreibt Schulz folglich den Austausch von persönlicher Kommunikation mit der Kommunikation unter zu Hilfenahme eines Mediums. Die Beispiele sind zahlreich, mag es das Telefonat sein, die Möglichkeit, einen Geldtransfer online zu erledigen, per Brief zu wählen oder ein Fußballturnier nicht mit Freunden auf dem Spielfeld, sondern am Computer zu spielen (ebd.: 88f.). Als dritte Eigenschaft der Medialisierung sieht Schulz, wie mediale Kommunikation sich nicht nur ausweitet und Formen der persönlichen Kommunikation ersetzt, sondern wie mediales und nicht-mediales Handeln auch miteinander verschmelzen. Beide werden in ihrer Verbindung integraler Bestandteil des täglichen Lebens. Der Autor schreibt: »Media use is woven into the fabric of everyday life; […] As media use becomes an integral part of private and social life, the media’s definition of reality amalgamates with the social definition of reality.« (Ebd.: 89) Schulz benutzt zur Verdeutlichung dieser – wie er es nennt – Verschmelzung von sozialer und medialer Wirklichkeit folgende Beispiele: eine Verabredung im Kino, das laufende Radio während der Autofahrt oder die Fernsehsendung zum Abendessen. Inzwischen (sein Artikel stammt aus dem Jahr 2004) veranschaulichen digitale Netzwerke sogar noch weitaus stärker, wie die soziale und die mediale Realität in den letzten Jahren verschmolzen ist: eine Einladung wird über Facebook ausgesprochen, Menschen lernen sich auf der Party kennen, Fotos werden später hochgeladen, kommentiert und der Kontakt weitergepflegt. Diese Handlungen passieren als selbstverständliche Verbindung von medialer und nicht-medialer Kommunikation. Schließlich charakterisiert Schulz, viertens, den Prozess der Medialisierung als Anpassung. So wie Menschen den medialen Wandel vorantreiben würden, passten sie sich auch den wandelnden Erfordernissen der medialen Kommunikation an. Schulz’ Beispiel ist hier das Verhältnis zwischen Politik und Fernsehberichterstattung. Er verweist auf zahlreiche Studien, die bereits vor einigen Jahren nachgewiesen haben, was inzwischen als allgemeines politisches Tagesgeschäft gilt, nämlich, dass sich Politiker und ihr strategischer Beraterstab auf die Produktionsbedingungen und Formate von Fernsehnachrichten einlassen, um sich Sendezeit und Publizität zu sichern (ebd.). Ein anderes Beispiel sind die 140 Zeichen einer über den Kurznachrichtendienst Twitter gesendeten Botschaft. Die Nutzerinnen und Nutzer passen sich diesem knappen Raum für Nachrichten an, indem sie sich kurz fassen, Abkürzungen erfinden oder ihr Ansinnen über Bildsymbole, Fotografien, Videos oder weiterführende Links verdeutlichen.

So sind Medien aus dem Alltag der post-industriellen Informationsgesellschaften nicht mehr wegzudenken. Ohne Medien würde ein großer Teil unserer Kommunikation unmöglich, der Journalismus macht dabei nur einen Teil der medialen Kommunikation in der medialisierten Gesellschaft aus. Die vier Eigenschaften in Schulz’ Konzept der medialisierten Gesellschaft machen eines besonders deutlich: Journalismus ist nicht die Zeitung, auf der er gedruckt steht oder der Sender, der um 12 Uhr Nachrichten sendet. Journalismus kann nicht als Printmedium, als audiovisuelles oder digitales Medium betrachtet werden. Journalismus – so soll er vorläufig definiert werden – ist ein mediales Verfahren, dessen Leistung darin besteht, Inhalte herzustellen, die aktuell, faktisch und relevant sind und diese in regelmäßigen Abständen an eine Öffentlichkeit zu kommunizieren. Dieses mediale Verfahren produziert und publiziert Informationen, die der Selbstverständigung der Gesellschaft dienen, weil sie einerseits dem gesellschaftlichen Leben beobachtend entnommen sind und andererseits gemeinsame Wirklichkeiten konstruieren (vgl. auch Meier 2011: 13). Allerdings – und hierin ist das krisenhafte Moment des Wandels zu sehen – ist der Journalismus nicht mehr allein fähig, diese Leistungen zu erbringen. Der Journalismus hat in den USA seine ehemals zentrale Position, in der demokratischen Öffentlichkeit für Meinungs- und Informationspluralität zu sorgen, eingebüßt. Die ehemals exklusive Funktion, Informationen zur Selbstverständigung der Gesellschaft zu vermitteln, können mittlerweile auch durch weitere Formen der medialen Kommunikation geleistet werden (vgl. Lünenborg 2012: 448). Lünenborg führt zur Systematisierung drei Verfahren der medialen Kommunikation an, die die gesellschaftliche Auseinandersetzung und Diskussion ebenso ermöglichen, und dabei keiner journalistischen Organisation entstammen: das sind die Öffentlichkeitsarbeit, die Unterhaltungsindustrie und die für jeden frei zugänglichen digitalen Dienste wie Blogs, Twitter, Youtube oder Facebook (vgl. auch Lünenborg 2004; Lünenborg 2012: 448). Die Kommunikationsabteilungen von Parteien, NGOs, Unternehmen oder Verbänden sind darauf spezialisiert, Informationen öffentlich zu machen, die vielleicht nur in seltenen Fällen eine breite Öffentlichkeit erreichen, aber mit den interessierten Teilöffentlichkeiten eine umso direktere Verbindung eingehen können. So entfalten die publizierten Informationen von beispielsweise republikanischen oder demokratischen »support groups«, oder von Vereinen wie Greenpeace und Amnesty International, von Konzernen der Pharmaindustrie oder von Berufsverbänden Relevanz, weil sie an die jeweilige Zielgruppe gerichtet kommuniziert werden können. Neu ist diese interessensgebundene mediale Kommunikation in den USA sicher nicht, Agenturen für Public Relations gibt es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Allerdings ist neu, dass die einzelnen Interessensverbände inzwischen selbstständig über digitale Medien eine Öffentlichkeit erreichen können und zur Verbreitung ihrer Inhalte nicht mehr ausschließlich auf die journalistische Berichterstattung angewiesen sind (vgl. van Ruler/Heath 2008). Daneben sind die Beispiele zahlreich, die deutlich machen, wie die Unterhaltungsbranche mediale Inhalte liefert, die sich zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit allen möglichen Bereichen des zeitgenössischen Lebens eignen. Seien es die unzähligen Formate des Reality TV, in denen Fragen der Erziehung, der Ernährung, der Gesundheit, der Karriere und des gesellschaftlichen Auf- oder Abstiegs verhandelt werden (vgl. Beck u.a. 2012). Seien es fiktionale Serien, wie etwa »24«, »The West Wing« oder »Homeland«, die die Frage der Terrorismusbedrohung in den USA bearbeiten, oder, mehr noch, sich mit den gesellschaftlichen Konsequenzen der beständig wachsenden Sicherheitsvorkehrungen nach 9/11 auseinandersetzen (vgl. Stockwell 2011). Seien es populäre Kinofilme, zum Beispiel »Schindler’s List« (Regie Steven Spielberg) aus dem Jahr 1993, der seit seinem Erscheinen im amerikanischen Geschichtsunterricht als Lehrmittel eingesetzt wird, um Schülerinnen und Schüler über den Massenmord an Juden während des Nationalsozialismus zu informieren (vgl. Rapaport 2002). Die frei zugänglichen, kollaborativen und nicht-professionellen digitalen Plattformen, auf denen es jedem (der über die technische Ausrüstung verfügt) möglich ist, Texte, Bilder, Videos zu verbreiten, stellen die dritte Form der medialen Kommunikation an eine Öffentlichkeit dar, in die das mediale Verfahren Journalismus nicht eingebunden ist. Ihre Nutzungsformen und die besprochenen Themengebiete sind unbegrenzt und werden von ganz unterschiedlichen Akteuren betrieben. Der amerikanische Präsident Barack Obama zum Beispiel erreicht mit seinem offiziellen Twitter-Account 63 Millionen Menschen6 ohne dass ein einziger Journalist in den Kommunikationsprozess eingebunden wäre. Wichtig für die amerikanische Öffentlichkeit werden Blogs oder andere digitale Plattformen beispielsweise im Zusammenhang mit Naturkatastrophen. Von Einwohnern der Stadt New Orleans betriebene Blogs, die während und nach dem Wirbelsturm »Katrina« im Jahr 2005 unmittelbar von der Katastrophe berichteten, lieferten hier ein eindrückliches Beispiel.7 Die Betroffenen bloggten von Orten in der überschwemmten Stadt, an die Journalisten nicht herankamen. Sie veröffentlichten Texte über die aktuelle Lage, nahmen Videos und Fotos der Zerstörungen auf, vermittelten Hilfe und organisierten die Suche nach Vermissten (vgl. Macias u.a. 2009). Die Beispiele zu diesen drei Kommunikationsleistungen machen deutlich: nicht alle Medien sind journalistische, aber Journalismus ist immer medial. Es ist darüber hinaus Teil der Komplexität unserer medialisierten Gesellschaft, dass der Journalismus diese anderen Kommunikationsleistungen gleichzeitig auch in sein mediales Verfahren integriert. Informationen, die der Öffentlichkeitsarbeit unterschiedlicher Interessensgruppen entstammen, ebenso wie die unendliche Fülle an Blogs, Twitter-Feeds, Youtube-Videos usw. werden vom Journalismus als Ressource für Recherchen genutzt. Daneben dienen die sozialen Netzwerke der Rückbindung an die Leser und Zuschauer.

So lässt sich feststellen, dass im Zuge des rasanten medialen Wandels neue und zahlreiche Möglichkeiten der Informationsproduktion hervorgebracht werden, die wie der Journalismus für sich in Anspruch nehmen können, Wirklichkeiten medial zu gestalten, die der Selbstverständigung der Gesellschaft dienen. Die gegenwärtige Krise des Journalismus begründet sich auch darin, dass heutzutage viele weitere mediale Verfahren gleichermaßen Inhalte produzieren, die, wie Meier (2011: 13) verdeutlicht, einerseits dem gesellschaftlichen Leben beobachtend entnommen sind und andererseits gemeinsame Wirklichkeiten konstruieren. Konstruieren bedeutet hier, dass mediale Darstellungen der Wirklichkeit entworfen werden. So gibt es viele mediale Verfahren, die den Gegenstand, von dem sie handeln, für eine Öffentlichkeit darstellen. Die ehemals nahezu exklusive Funktion, Informationen zur Selbstverständigung der Gesellschaft zu vermitteln, können folglich auch durch weitere Formen der medialen Kommunikation geleistet werden (vgl. Lünenborg 2012: 448). Es entstehen Öffentlichkeiten oder Teilöffentlichkeiten, an denen die journalistischen Medien keinen oder nur einen geringen Anteil haben. Diese Entwicklung muss hingegen nicht unbedingt als Problem verstanden werden, denn für die Öffentlichkeit stellt sich dieser Wandel doch auch als ein enormer Zuwachs an und somit als ein Gewinn von Informationen dar.

Das Problem ist einmal auf der Ebene der Repräsentation zu verorten. Denn es stellt sich die Frage, wie diese enorm vielfältigen Informationen gestaltet sind, das heißt, welche Repräsentationen der Wirklichkeit hier zu gemeinsam geteilten Wirklichkeiten gemacht werden und welche Formen der Darstellung auf diese Weise für die Öffentlichkeiten und Teilöffentlichkeiten erscheinen. Gleichzeitig ist das Problem auf der Ebene der Produktion zu verorten. Hier fragt sich, wie diese vielen Repräsentationen von Wirklichkeit erzeugt werden. Damit ist gemeint, auf welche Art und Weise sie eigentlich entstehen und wer sie wie herstellt. Somit ist sowohl die Gestaltung der medialen Repräsentationen in der Öffentlichkeit als auch deren Produktionsbedingungen zur Analyse von Journalismus als einem medialen Verfahren von mehreren von Relevanz. Diese Fragestellung eröffnet zwei Perspektiven: Einmal könnten diejenigen medialen Verfahren untersucht werden, welche außerhalb des Journalismus Öffentlichkeiten erreichen. Hier würde sich die Frage stellen, wie beispielsweise gebloggte Informationen gestaltet sind oder wie die so genannten »news releases« unterschiedlicher Organisationen entstehen. Auch wäre zu fragen, welche gesellschaftlichen Konsequenzen es hat, wenn Informationen dem Blickwinkel einer Bloggerin entspringen, wenn sie von den Facebook-Seiten der Freunde, aus den Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit oder aus einem Dokudrama stammen. Andererseits – und dieser Aspekt ist für diese Arbeit entscheidend – richtet diese Entwicklung den Blick noch einmal konzentrierter auf das mediale Verfahren des Journalismus, der nunmehr in Konkurrenz mit den und in Integration der anderen medialen Verfahren Informationen für die Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Gerade der Wandel macht es erforderlich, auch in Bezug auf den Journalismus zu untersuchen, wie und welche Informationen an die Öffentlichkeit kommuniziert werden. Es stellt sich dadurch auch/erneut/immer noch mit Blick auf den Journalismus die Frage, anhand welcher Repräsentationen der Wirklichkeit hier Öffentlichkeit hergestellt wird und welche gesellschaftlichen Konsequenzen dies impliziert. Für die Analyse dieser zweiten Perspektive ist zunächst noch einmal eine sehr grundlegende Frage zu stellen. Es steht besonders im Unterschied von Journalismus als einem medialen Verfahren zu anderen medialen Verfahren zur Diskussion, wie im Journalismus die Repräsentationen der Welt als wahr anerkannt und zu einer in der Öffentlichkeit geteilten Wirklichkeit werden. Um Journalismus nicht als ein mediales Verfahren unter anderen verschwinden zu lassen, bedarf es offensichtlich weiterer Kriterien für seine nähere Bestimmung in der medialisierten Gesellschaft. Ich möchte zu diesem Zweck, die ehemals als exklusiv bezeichnete Kommunikationsleistung des Journalismus noch einmal genau untersuchen, und werde dafür auf den nächsten Seiten darlegen, dass diese nunmehr am besten über ihre Eigenschaft der »diskursiven Autorität« beschreibbar wird.

1.2Wie wahr ist das, was der Journalismus berichtet? Journalismus und Wirklichkeit

In der Journalismusforschung wird die Frage nach der journalistischen Repräsentation von Wirklichkeit anhand des Begriffs Objektivität diskutiert. Mit diesem Begriff wird das Potential von Journalismus beleuchtet, Ereignisse der Wirklichkeit als richtig und wahr wiederzugeben (vgl. Neuberger 2005: 325). Im Folgenden werde ich deshalb ausgewählte Arbeiten der Kommunikationswissenschaft diskutieren, welche die Objektivität in der journalistischen Berichterstattung erörtern.8 Ich werde zunächst eine konstruktivistische-narrationstheoretische Position des Medienwissenschaftlers Knut Hickethier vorstellen. Anschließend wird mit dem Konzept der »journalistic practices« (Zelizer 2004: 42) das journalistische Handeln bei der Produktion von Inhalten näher betrachtet. Hier tritt die Verquickung von journalistischer Handlung und Darstellung in den Fokus. Mit dem auf die Geschichte des Journalismus spezialisierten Historiker Marcel Broersma (2010: 28f.)wird der Begriff der »diskursiven Strategien« hinzugezogen, um so Journalismus als einen Diskurs zu analysieren. Hieran schließt sich dann die Diskussion von Journalismus als einer diskursivierten Ordnung der Wirklichkeit im Lichte ausgesuchter Arbeiten des Philosophen Michel Foucault an. Im Fortgang dieser Diskussion möchte ich für Objektivität alternativ den Begriff der »diskursiven Autorität« vorschlagen, den ich von Allan und Zelizer (2004: 5) übernehme, ihn für die Zwecke meiner Untersuchung jedoch deutlich ausweite. Ich werde argumentieren, dass sich der Begriff der diskursiven Autorität besser eignet als derjenige der Objektivität, um das Verhältnis von Journalismus zur Wirklichkeit zu beschreiben.

Im Jahr 1997 begegnet Hickethier der Frage nach Objektivität im Journalismus mit einem Text, der den programmatischen Titel »Das Erzählen der Welt in den Fernsehnachrichten« trägt. Mit Erkenntnissen aus der literaturwissenschaftlichen Narrationstheorie entwickelt er die These, dass in den Nachrichten weniger Realität abgebildet werde, als dass es vielmehr einen spezifischen »Vermittlungsmodus« gäbe, für den der Erzähler konstitutiv sei (Hickethier 1997: 6). Die Wirklichkeit würde nicht neutral und objektiv abgefilmt, sondern der Autor sieht TV-Journalismus als eine audiovisuelle Erzählung von der Wirklichkeit. Damit erklärt er den Journalismus nicht zur Fiktion, macht aber darauf aufmerksam, dass Nachrichten – wie andere Textsorten – vermittelt würden, dramaturgisch arrangiert seien, eine Perspektive einnähmen und somit auch immer Ordnungen herstellten (ebd.). Journalismus bediene sich eines spezifischen Erzählverfahrens. Hickethier hebt besonders auf die Figur des Nachrichtensprechers ab, welche, wie der Erzähler in einem Roman, die wesentlichen Aspekte des Geschehens in eine Reihenfolge bringe und darstelle (ebd.: 7). Darüber vergisst diese Interpretation zwar nicht, dass hinter dem Nachrichtensprecher Redaktionen stehen, welche die Ereignisse des Tages in Nachrichten verarbeiten, aber sie zielt vor allem auf die konstruierte Darstellung des journalistischen Inhalts ab. Alle journalistischen Inhalte, welche täglich zu sehen, hören, lesen sind, stellen in Hickethiers Verständnis eine Lesart von Ereignissen dar. Diese würden in Stil und Genre von dem jeweiligen Umfeld geprägt, in dem sie erscheinen würden. In einem amerikanischen Kontext bedeutet das, dass die New York Post als Boulevardzeitung das Geschehen »der vormedialen Realität« (ebd.: 18) anders darstellt als die Qualitätszeitung New York Times, ebenso präsentiert eine Late Night Talkshow ein Thema anders als das morgendliche Frühstücksfernsehen. Hickethier betont, für ein besseres Verständnis von der Objektivität im Journalismus müsse stärker nach dem Wie als nach dem Was der Erzählung gefragt werden, um so den »Inszenierungsrahmen« (ebd.), in dem die Nachrichten erscheinen, überhaupt erkennen zu können. Auf diese Weise würde deutlich, dass Nachrichten immer Teil eines größeren Programmkontextes seien. Sie würden in erster Linie als Informationen über die Wirklichkeit verstanden, weil es beispielsweise Sonntagabend 19 Uhr ist, der Sender CBS eingeschaltet und die Erkennungsmelodie von »60 Minutes« ertönt.9 Auch wenn die Inhalte stetig wechseln, ist mit leichten Modernisierungen über die letzten vier Jahrzehnte die Aufmachung dieser Sendung gleich geblieben und stellt für die amerikanische Öffentlichkeit so von Woche zu Woche eine verlässliche Informationsquelle dar. Objektivität wird in diesem konstruktivistischen Verständnis umgedeutet zu der »Glaubwürdigkeit von Nachrichtenerzählungen« (ebd.: 17), die sich vor allem in ihrer Form begründe. Eine Form, welche aufgrund des journalistischen Erzählverfahrens zustande gekommen sei und welche wiederum das Format liefere, in der die Nachrichten produziert würden. Fakten werden hier als referentielle Aussagen gesehen, die ihren Bezug zur Realität in der journalistischen Form darstellerisch entwerfen. Journalismus ist dieser Sichtweise zufolge eine stark konventionalisierte Erzählform, die in je unterschiedlicher Form darauf besteht, einen relevanten Teil der sozialen Wirklichkeit darzustellen. Es werden den Rezipienten auf diese Weise Informationen in Form von Narrativen angeboten, auf die sie sich als glaubwürdig verlassen sollen und die sie gegebenenfalls als Grundlage weiterer Handlungen nutzen möchten.

Hickethier überträgt zwar literaturwissenschaftliche Begrifflichkeiten, aber er behauptet damit nicht, Nachrichten seien frei erfunden, also fiktiv, einzig aus der Vorstellungskraft geboren. Allerdings konzentriert er sich analytisch auf die Form der Darstellung von Nachrichten und deren Regelhaftigkeit. So sind die Überlegungen hilfreich, um im Journalismus ein mediales Verfahren zu erkennen, das Fakten – die als reale Ereignisse eines sozialen Lebens verstanden werden – in seiner eigenen formalen Logik darstellt. Was man dennoch kritisieren könnte, ist, dass dieses Verständnis die Form überbetont, ganz so als sei Journalismus lediglich eine Formel. Der analytische Blick wird zu stark auf das Altbekannte und die formalen Wiedererkennungseffekte in der journalistischen Erzählung gelegt, so dass beispielsweise kaum Veränderungen in Erscheinung treten können. Ende des 19. Jahrhunderts entwarf der Verleger Adolph Ochs den Werbeslogan der New York Times »All the news that’s fit to print«, mit dem gemeint ist: Alle Nachrichten, die es wert sind, gedruckt zu werden. Würde man Hickethiers Position weiter auf die Spitze treiben, könnte sich der Slogan ergeben: Alle Nachrichten, die passend gemacht wurden. Doch – um Journalismus und seine erzählende Präsentation von Wirklichkeit nicht als Formel abzutun – lassen sich die Arbeiten einiger amerikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinzuziehen, die Journalismus aus einer soziologischen Perspektive untersucht haben. Diese knüpfen an die konstruktivistisch-narratologischen Überlegungen an, sind aber zugleich stark darum bemüht, die sozialen Entstehungsbedingungen der journalistischen Formgebung mit einzubeziehen.

Schudson beispielsweise hat als ein der Soziologie sowie der Kulturgeschichte stark verpflichteter Autor die Narrativität im Journalismus untersucht. Er schreibt:

»[T]he power of the media lies not only (and not even primarily) in its power to declare things to be true, but in its power to provide the forms in which the declaration appears. News in a newspaper or on television has a relationship to the ›real world‹, not only in content but in form; that is, in the way the world is incorporated into unquestioned and unnoticed conventions of narration.« (Schudson 1982: 98)

Berichte über politische Zusammenhänge oder wirtschaftliche Entwicklungen, O-Töne von Akteurinnen und Akteuren, das Wetter, sogar die Kino-Charts können auch so verstanden werden: soziale Ereignisse werden durch die journalistische Darstellungsform zu Fakten, weil ihnen eine gewohnte Form verliehen wird (vgl. auch Schudson 2003). Ebenso wie Hickethier sieht Schudson, dass der Journalismus seine Überzeugungskraft aus einer ihm eigentümlichen Darstellungsweise bezieht, mit der er den Leserinnen und Zuschauern Sachverhalte auf bekannte Weise als glaubwürdig, als sinnhaft und wahr darstellen kann. So betont auch Schudson die Konventionalität journalistischer Erzählungen, aufgrund derer Ereignisse an sich für die Rezipierenden als solche erst erkennbar würden. Allerdings verfolgt Schudson dieses Verständnis von Journalismus mit einer anders gelagerten Herangehensweise, die ihren Anfang in den wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen der amerikanischen Gesellschaft sucht und fragt, wie diese journalistischen Konventionen überhaupt entstanden seien (Schudson 1978: 9f.). Der Autor bettet das Verständnis von journalistischem Inhalt als einer Geschichte, einer Erzählung, einer Story in den Produktionsalltag von Journalisten ein und betrachtet sie als Produkt ihres journalistischen Handelns, wozu ihm das Konzept von Journalismus als »set of journalistic practices« (Zelizer 2004: 42) dient. Dieses Konzept nimmt in der US-amerikanischen Forschung der 1970er Jahre seinen Anfang. Mit starkem soziologischem Bewusstsein werden zu dieser Zeit Studien publiziert, die Journalismus als eine Praxis verstehen. Diese Arbeiten interessieren sich für die Entstehungsprozesse journalistischer Handlungsweisen und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und setzen sich im Kern mit der Frage auseinander, wie Journalismus Deutungshoheit in der Öffentlichkeit erlangt. Als ein Beispiel kann Gans (2004, im Original 1979) gelten, der, aufgrund seiner Untersuchung der Handlungen von Journalisten, ihren Quellen, von Redakteuren und Chefredakteuren10, zeigt wie die Nachrichten in einem kollektiven und regelgeleiteten Prozess konstruiert werden. Er beschreibt in seiner Arbeit, die auf einem großen Materialkorpus basiert, journalistisches Handeln als einen komplexen Entscheidungsprozess entlang der Frage, welche Themen auf welche Weise zu Nachrichten gemacht würden. Weitere Studien im Anschluss an Gans’ Arbeit, die sich mit qualitativen, häufig ethnografischen Erhebungsmethoden ihrem Forschungsgegenstand nähern, machen auf zwei Dimensionen der journalistischen Produktion aufmerksam. Einmal wird der Frage nachgegangen, anhand welcher Tätigkeiten, Arbeitszusammenhänge und redaktionellen Entscheidungen, Ereignisse zu Nachrichten produziert werden. Gleichzeitig wird in diesem kollektiven Schaffen auch eine gesellschaftliche Dimension gesehen, die über die reinen Einzelhandlungen hinausgeht. Denn wenn sich im Laufe der Zeit beispielsweise der Faktencheck durch einen dafür angestellten Redakteur als eine erprobte Praxis der Informationssicherung durchsetzt, so sagt diese Praxis auch etwas über den Konsens, wie Nachrichten Glaubwürdigkeit zugesprochen wird (vgl. ebenso Schudson 1978; Tuchman 1978; Gitlin 1980: 249–282; die gesammelten Aufsätze von Schudson 1995a; Schudson 2001; Robinson 2011). Das Verständnis von »journalism as a set of practices« (Zelizer 2004: 42) eröffnet eine Perspektive auf Journalismus, welche sowohl das alltägliche Handeln des Journalismus als routinierte und institutionalisierte Praxis betrachtet, als sie auch die daraus entstehende symbolische Dimension der erzeugten Produktion anerkennt. Denn das Handlungsrepertoire des Journalismus wird nicht einzig in seiner praktischen Ausprägung gesehen, sondern es impliziert auch immer die Dimension gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion. So zeitigt dieses Handlungsrepertoire nicht nur einzelne Effekte, indem es etwa bestimmte Information prominent darstellt, andere dafür aber vernachlässigt und damit die Nachrichtenagenda bestimmt. Da das Handlungsrepertoire bewährte Routinen und Normen zur Verfügung stellt, mit denen immer wieder agiert wird, besitzt es, laut Schudson, auf einer Metaebene auch Aussagekraft darüber, wie gesellschaftlicher Konsens produziert und reproduziert wird (vgl. Schudson 1995a). Auf diese Weise entsteht ein Verständnis von Journalismus als einem medialen Verfahren, das sich nicht auf seine Form konzentriert, sondern Verfahren und Form zusammen konzipiert. Dieses Verständnis von Journalismus teilt die Idee der journalistischen Erzählung, welche aber nicht von einer einzelnen Autorin im stillen Kämmerlein gestaltet wird, sondern in hohem Maße Produkt einer sowohl organisational-redaktionellen als auch gesellschaftlichen Aushandlung ist. Im Vergleich zu Hickethiers diskutierter Definition wird damit weniger das Formelhafte der journalistischen Darstellung betont, sondern ebenso in Anschlag gebracht, dass die journalistischen Inhalte durch die sozial eingebetteten Handlungen der Journalistinnen und Journalisten erzeugt und damit bis zu einem gewissen Grad in Bewegung gehalten werden. Wie bei Hickethier besteht die Idee, dass der journalistische Inhalt narrative Momente enthält, um Fakten sinnhaft zu gestalten, aber es gibt nicht den einen Erzähler der Welt in Figur des wohlbekannten Nachrichtensprechers oder Autors, der für die Glaubwürdigkeit des Berichtes bürgt. Die Wirklichkeit des journalistischen Produkts wird in diesem zweiten Verständnis von Journalismus in einem arbeitsteiligen Prozess aus kleinen Schritten und konventionalisierten Handlungen erzeugt. Der Bezug von Journalismus zur Wirklichkeit ist insofern gegeben, als dass er eine Version von der Wirklichkeit präsentiert, welche stark regelgeleitet und in Aushandlung eines gesellschaftlichen Konsens zustande gekommen ist. Diese bis hier angeführten Autoren vereint, dass sie in dem journalistischen Produktionsprozess Bedeutungsstrukturen veranschlagen, die zwischen sozialer und medialer Realität vermitteln.11

Stuart Hall gibt bereits im Jahr 1975 in einem Vorwort zu einer empirischen Untersuchung britischer Zeitungen der Jahre 1935 bis 1965 mit Namen »Paper Voices. The Popular Press and Social Change« eine Definition von Journalismus, die diese Bedeutungsstruktur betrachtet und die bis hierin getroffen Überlegungen in Bezug auf die Form des journalistischen Produktes konkretisiert:

»[W]e approached the newspaper as a structure of meanings, rather than as a channel for the transmission and reception of news. Our study, therefore, treated newspapers as texts: literary and visual constructs, employing symbolic means, shaped by rules, conventions and traditions intrinsic to the use of language in its widest sense. On the other hand, we isolated this ›moment‹ in the analysis expressly in order to make, from the heart of the linguistic/stylistic analysis of the text, social and historical inferences and interpretations.

Newspapers are not simply noisy channels which connect one end of an information exchange with another. They employ verbal, visual and typographic means for ›making events and people in the news signify‹ for their readers. Every newspaper is a structure of meanings in linguistic and visual form. It is a discourse.« (1975: 17f., Hervorhebung im Original)

Halls semiotisch begründetet Definition verläuft in zwei Schritten. Zunächst liefert sie ein erweitertes Verständnis von Text, indem nicht nur die gedruckte Sprache auf dem Zeitungspapier gemeint ist. Hall veranschlagt die »Texte« der Zeitung, also eines journalistischen Mediums, einerseits als »literarische und visuelle Konstruktionen, die über symbolischen Gehalt verfügen und von Regeln, Konventionen und Traditionen geformt werden« (ebd.). Das journalistische Produkt wird in diesem Verständnis aus Sprache und Bildern konstruiert, einem Prozess, so Hall, dem eine starke Regelhaftigkeit zugrunde liege.12 Darüber hinaus wird dieses sprachlich-visuelle Produkt des Journalismus explizit in einem gesellschaftlichen Zusammenhang verankert. Hall verfolgt die Annahme, dass durch die Analyse von Zeitungen aus der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg auch Aussagen über die sozialen und politischen Umstände und den Wandel der britischen Gesellschaft gemacht werden können. So findet Hall in einem zweiten Schritt den Begriff »Diskurs« als eine andere Bezeichnung für dieses erweiterte Verständnis von Text. In Form eines Diskurses, das heißt eines gesellschaftlichen Produktes aus Sprache und Bild, das regelgeleitet zustande gekommen ist, werden »in den Nachrichten Ereignisse und Personen für den Leser ersichtlich gemacht« (ebd.). Halls Verständnis von Journalismus nimmt die Idee des »set of journalistic practices« auf und konkretisiert in seinen Überlegungen die Gestalt des journalistischen Produktes. Neben der gesellschaftlichen Einbettung der journalistischen Produktion ist die strukturelle Gleichbehandlung der sprachlichen und visuellen Elemente in der Ausgestaltung des Hall’schen Diskurses bemerkenswert. Journalismus ist hier sowohl mit sprachlichen als auch mit visuellen Mitteln gestaltet (Renger 2000: 367f.). Dieses Verständnis lässt sich gut mit den bereits angeführten Studien von Tuchman und Gans vereinbaren, die in ihren offenen Datenerhebungen jeweils gleichermaßen Fernseh- und Printjournalismus untersucht haben. Damit gehen sie nicht von medienspezifischen Unterschieden in der journalistischen Tätigkeit aus, sondern betonen das allgemeine Repertoire an professionalisierten Handlungen (die Tätigkeiten des Recherchierens, Aufbereitens und Verbreitens von Informationen) des Journalismus. Ein Repertoire, das, wie bereits diskutiert, in gesellschaftlicher Aushandlung entsteht, wie es auch in dem erzeugten Produkt gesellschaftliche Bedeutung herstellt. Hall präzisiert mit dem Begriff Diskurs das »journalistic set of practices« als ein Handlungsrepertoire, welches das journalistische Produkt aus sprachlichen und visuellen Mitteln erzeugt. In diesem Verständnis wird nicht die Sprache privilegiert. Sprache und Bild werden auch nicht gleichgemacht, sondern als strukturell gleichwertige Elemente des Diskurses verstanden. Wie hier knapp angemerkt werden soll, ist der Begriff Diskurs in den kulturorientierten Arbeiten zur Journalismusforschung selbstverständlich präsent (vgl. Renger 2000: 363f.). In dem heterogenen Forschungsprojekt der Cultural Studies ist »Diskurs« ein wichtiger Begriff zur Analyse medialer Produktion. Auch John Hartley und John Fiske benutzen »Diskurs« in ihren Arbeiten und beschreiben damit einen Medientext, der aus visuellen und sprachlichen Elementen konstruiert wird und aus einem sozialen Umfeld erwächst (vgl. Krotz 2009; Mikos 2009; Renger 2009). Im Abschluss dieses Kapitels wird zu diesem Hall’schen Diskursbegriff allerdings eine Differenzierung gemacht werden.

Um mit dem Verständnis von Journalismus als einem »set of journalistic practices« den Begriff der Objektivität fortfahrend zu untersuchen, sei eine weitere frühe Studie von Tuchman zitiert. Die Autorin identifiziert in ihrem einflussreichen Aufsatz (vgl. Zelizer 2004: 60; Neuberger 2005: 327) von 1972 die »Objektivität als [das] strategische Ritual« (Tuchman 1972), an welchem sich die regelgeleiteten Handlungen der Journalisten ausrichteten. In diesem Text macht sie deutlich, dass die Objektivität der Teil des medialen Verfahrens Journalismus ist, welcher den Bezug zwischen journalistischem Produkt und journalistischer Produktion herstellt und damit zwischen Darstellung und sozialer Wirklichkeit. Die Autorin schreibt: »Newspapermen must be able to invoke some concept of objectivity in order to process facts about social reality.« (Ebd.: 661) Dieses Konzept von Objektivität kann Tuchman im Zuge ihrer soziologischen Forschung in einer Zeitungsredaktion13 darstellen. Es gestaltet sich, wie die Autorin beobachtet hat, für Journalisten in fünf Aspekten: indem sie die Geschichte von mehr als einer Perspektive beleuchten; indem sie zusätzliches Material recherchieren, um eine Aussage zu stützen; indem sie Zitate benutzen, um die Aussagen im Artikel von dem eigenen Standpunkt abzugrenzen; indem diejenigen Tatsachen mit den meisten Beweisen am Anfang der Geschichte erscheinen und indem im journalistischen Medium deutlich zwischen Nachricht und Kommentar getrennt wird (vgl. ebd.: 676). Das journalistische Handeln funktioniere, so Tuchman, wie ein strategisches Ritual, in dem Objektivität (in Form der beobachteten Handlungen) immer wieder ausgeführt werden soll. Allerdings, so kann Tuchmann zeigen, weist der redaktionelle Alltag der Journalisten eine deutliche Diskrepanz auf zwischen den Bestrebungen, diese Richtlinien der Objektivität zu befolgen und den begrenzten zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen. Als ein strategisches Ritual bezeichnet Tuchman die Arbeit der Journalisten auch deshalb, weil diese vor allem bestrebt seien, sie immer gleich als routinierte Prozedur auszuführen, diese ritualisierten Handlungen jedoch wenig Auswirkung auf das Resultat hätten (vgl. ebd.: 661). Tatsächlich wären die fünf beobachteten Aspekte zwar darauf ausgerichtet, Objektivität in der Berichterstattung zu produzieren, begünstigten aber häufig etwas anderes. Die fünf beobachteten Aspekte, welche als journalistische Handlungen der Sicherung der Objektivität dienen sollen, führt die Autorin einer anderen Interpretation zu: Tuchman sieht in der Praktik, Nachrichten aus mehreren Perspektiven zu betrachten, die Einladung zur Selektion. Indem viel Material zur Unterstützung einer Meinung recherchiert würde, werde suggeriert, dass diese Tatsachen nicht mehr zu hinterfragen seien. In der Zitationspraxis entdeckt sie die Möglichkeit für die Journalisten, die zitierten Sprecher anzuzweifeln oder die eigene Meinung einfließen zu lassen. Tuchman argumentiert außerdem, dass es immer von der redaktionellen Linie eines journalistischen Mediums abhinge, welche Fakten einer Geschichte prominent präsentiert würden. Und schließlich sieht Tuchman in der Trennung von Nachricht und Kommentar vor allem die Möglichkeit, die Informationen auf den Nachrichtenseiten als besonders sicher und endgültig erscheinen zu lassen (ebd.: 676). Sie schlussfolgert, dass die Journalisten diese ritualisierten Tätigkeiten hauptsächlich gegenüber der Öffentlichkeit anführen würden, um ihre Berichterstattung als objektiv abzusichern. In der Praxis, so verdeutlicht sie anhand ihres ethnografischen Materials, diene das Konzept der Objektivität den Journalisten als Strategie, um sich vor Kritik und Verleumdungsklagen zu schützen (vgl. Neuberger 2005: 327). Schudson schreibt zu Tuchmans Arbeit: »In this view, objectivity is a set of concrete conventions which persist because they reduce the extent to which reporters themselves can be held responsible for the words they write.« (Schudson 1978: 186). Damit macht Tuchman darauf aufmerksam, dass die routinierten Handlungen der Journalisten zwar der Prämisse der objektiven Berichterstattung folgen und dafür Praktiken angewandt werden, welche diese sichern sollen. Es aber dennoch eine Abweichung gibt, von dem, was sich im journalistischen Produktionsprozess abgespielt hat, und dem, wie es sich in dem Produkt der Zeitung oder einem anderen journalistischen Medium darstellt. Für die Leserinnen oder Zuschauer ist diese Abweichung allerdings nicht ersichtlich und so wird die Objektivität im Sinne Tuchmans von den Journalisten als eine Strategie im journalistischen Produkt angeführt, um die Richtigkeit der produzierten Informationen für die Öffentlichkeit überzeugend abzusichern.

Das Verhältnis von Journalismus zur Wirklichkeit ist zunächst, so kann bis zu diesem Punkt resümiert werden, als Repräsentation, im Sinne eines naturgetreuen Abbildes zurückgewiesen worden. Dagegen wurde anfangs der journalistische Bericht über Ereignisse des »Vormedialen« (Hickethier 1997: 18) als eine Erzählung diskutiert. Eine Erzählung, die aufgrund ihrer formalen Gestaltung Objektivität im Sinne von Glaubwürdigkeit erzeugt. Hier wurden die formalen Charakteristika einer journalistischen Darstellung als Kennzeichen definiert, welche eingesetzt werden, um Schilderungen von Ereignissen der Wirklichkeit als glaubwürdig erscheinen zu lassen. Sodann ist der Journalismus als ein sprachliches und visuelles Produkt verstanden worden, das im Zuge eines arbeitsteiligen und regelgeleiteten Prozesses entsteht. Hall hat für dieses journalistische Produkt den Begriff Diskurs benutzt und damit eine anhand von Regeln erzeugte Struktur aus Bedeutungen definiert. Dieses Verständnis von Journalismus geht von einer sozialen und einer medialen Wirklichkeit aus, welche im journalistischen Produktionsprozess verknüpft werden. Er macht deutlich, dass eine objektive Berichterstattung durch spezifische Techniken im geregelten Arbeitsprozess erzeugt wird, im journalistischen Produkt dargestellt wird und eine gesellschaftliche Bedeutung erlangt. Tuchmans wichtige Forschung hat in diesen spezifischen Techniken ritualisierte Strategien erkannt, die den Journalisten in der Darstellung des journalistischen Produktes dienen, ihre Berichterstattung der Öffentlichkeit gegenüber abzusichern. Hier wird Objektivität als eine Art Kalkül verstanden, welches vor allem im journalistischen Produkt selbst zum Zuge kommt und in Bezug auf die Öffentlichkeit Relevanz entfaltet. Die objektive Berichterstattung dient damit besonders dazu, zwischen Journalist und Öffentlichkeit zu vermitteln.

Die Idee einer Vermittlung anhand des Konzeptes der Objektivität kann mit der Arbeit des niederländischen Historikers Marcel Broersma weitergedacht werden. Er nimmt das Verständnis von Journalismus als einem »set of journalistic practices« auf und untersucht es in Bezug auf die Frage nach Objektivität weiter, indem er Journalismus als einen »performativen Diskurs« (Broersma 2010: 26) definiert. Der Autor forscht zur Entstehung und Entwicklung des Journalismus in Europa und den USA und vertritt die These, dass der zeitgenössische amerikanische Journalismus in seinem Anspruch, die Wahrheit wiederzugeben, seine Berechtigung begründet (ebd.: 24). Auch Broersma knüpft, genauso wie die anderen bereits zitierten Autoren, die nähere Bestimmung von Journalismus an dessen Fähigkeit, Wirklichkeit darzustellen. Er definiert:

»[W]e should not approach journalism as a descriptive but as a performative discourse designed to persuade readers that what it describes is real, which, by successfully doing so, transforms an interpretation into truth – into a reality the public can act upon.« (Ebd.: 26)

Der Journalismus, so schreibt Broersma, stelle sein Verhältnis zur Wirklichkeit nicht einzig darüber her, dass er sie beschreibe. Sondern eher noch, indem er darüber hinaus darauf beharre, dass das, was er beschreibe auch wahr sei. Und wenn der Journalismus seine Beschreibung der Welt erfolgreich als wahr vermittelt habe, so entstehe aus der journalistischen Beschreibung der Welt auch Wahrheit. Es wird eine in der Öffentlichkeit geteilte Wahrheit erzeugt. Der von Broersma angeführte Begriff Performanz14 ist aus zwei Gründen aufschlussreich. Einerseits, weil er verdeutlichen kann, dass es sich um einen stetig im Werden befindlichen Prozess handelt. Das Wort Performanz fasst sowohl die Ausführung als auch die Aufführung. Er verdeutlicht einerseits, wie Journalismus gemacht wird, worin auch das bereits dargestellte journalistische Handlungsrepertoire enthalten ist. Gleichzeitig unterstreicht der Begriff performativ den inszenierten Charakter des journalistischen Produktes. Weniger indem das journalistische Produkt Begebenheiten beschreibend nachvollzieht, erlangt es den Status des Wahren, sondern mehr noch indem es die ihm eigenen Möglichkeiten der Verifizierung ausagiert. Das heißt, mit diesem Begriff werden die journalistischen Routinen und ihre regelgeleiteten Darstellungsformen noch forcierter interpretiert, indem sie nicht mehr nur routinierte Handlungen von Journalisten sind, sondern im journalistischen Diskurs aus- und aufgeführt werden.

Den Begriff Diskurs definiert Broersma anhand von »diskursiven Strategien« (ebd.: 28f.), die direkt an Tuchmans Verständnis von Objektivität als einem strategischem Ritual anschließen und es weiterdenken. Broersma schreibt: »Journalism uses a twofold discursive strategy simultaneously observing professional routines and concealing their shortcoming.« (Ebd.: 28) Der Journalismus bediene sich also immer einer doppelten Strategie, um die von ihm produzierten Informationen so überzeugend wie möglich zu gestalten. Einmal würden routinierte Handlungen in der journalistischen Produktion verfolgt, um die Präsentation der Informationen glaubhaft zu gestalten. Gleichzeitig dienten diese Routinen aber auch dazu, tatsächliche Unzulänglichkeiten in der Wirklichkeitsfindung des journalistischen Inhalts zu verbergen. Um diese Definition zu verdeutlichen, führt Broersma vier dieser Strategien als Beispiele an. Dazu gehöre das Zitieren von Beteiligten, Experten, Quellen und Dokumenten. Durch die Zitate würden die recherchierten Daten zum Sprechen gebracht und versicherten dem Leser beziehungsweise der Zuschauerin, dass sowohl die Beteiligten befragt als auch zusätzliches Beweismaterial herangezogen wurde. Eine andere diskursive Strategie sieht Broersma in jener journalistischen Praxis, welche sich darum bemühe, beide Seiten einer Geschichte zu erzählen. Bei dieser Strategie handelte es sich nicht schlicht um einen Allgemeinplatz des journalistischen Handwerks, sondern es ginge hier um durch den Journalismus gezielt aufgebaute Positionen, die dem Leser, der Hörerin oder Zuschauerin bedeuteten, dass die Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet würde (ebd.: 28f.). Die diskursive Strategie besteht darin, durch die Recherche aller beteiligten Akteure eine Pluralität der Perspektiven herzustellen und sie zielt somit auf einen Rezipienten ab, der sich über die Darbietung unterschiedlicher Gesichtspunkte überzeugen lässt. Broersma führt als weiteres Beispiel an, wie der Journalismus spezifische Genres des Erzählens als diskursive Strategien entwickelt habe, um unterschiedliche Sachverhalte als wahr darzustellen (ebd.). So erscheine ein Nachrichtenartikel, indem zunächst die zentralen Fakten (das Beantworten der W-Fragen zu Beginn eines Textes) genannt werden, womit eine nüchterne und am Sachverhalt orientierte Präsentation der Ereignisse vermittelt werden solle. Hingegen suche das Interview eher eine reale Gesprächssituation nachzuahmen und mit dem Hin und Her aus Fragen und Antworten einen Dialog nachzustellen (vgl. auch Broersma 2008). Besonders deutlich wird Broersmas Idee der diskursiven Strategie an einem Negativbeispiel aus der Auslandsredaktion eines Fernsehsenders. Wir wissen, dass es keine Seltenheit ist, dass ein beispielsweise in Karatschi/Pakistan stationierter Korrespondent auch die Berichterstattung für ganz Afghanistan zu verantworten hat (vgl. Ricchiardi 2008). Angesichts dieser riesigen Gebiete, für die einzelne Korrespondenten zuständig sind, ist es nicht immer möglich, von dem Ort der Ereignisse zu berichten, wenn beispielsweise ein Anschlag in Kabul stattgefunden hat. Doch selbst wenn zwischen der afghanischen Hauptstadt und der pakistanischen Stadt am indischen Ozean 1400 Kilometer liegen mögen, so präsentiert sich der Korrespondent vor der Kamera trotzdem so als sei er sehr nahe am Ort des Geschehens. Broersma spricht hier von der diskursiven Strategie der »Augenzeugenschaft« (Broersma 2010: 28), die im Journalismus mehr eine Darbietung, eine Performanz sein könne, die sich im journalistischen Produkt präsentiert, als dass der Korrespondent tatsächlich in Kabul gefilmt werde (vgl. auch Zelizer 2007). Das strategische Moment der diskursiven Strategien liegt folglich darin, dass sie alle über routinierte Handlungen und deren Präsentation im journalistischen Produkt darauf abzielen, die Leserinnen und Zuschauer zu überzeugen, dass hier ›Wahres‹ gesagt wird. Broersma formuliert es folgendermaßen: »The aim of all these discursive strategies is to persuade readers familiar with journalistic routines that reporters have done all they can to reveal the truth.« (Broersma 2010: 28) So ist dem journalistischen Diskurs eine performative Qualität eigen, die Überzeugungskraft aufzubauen sucht, dass das, was berichtet wird, wahr ist.

Nach diesen von Broersma angeführten Beispielen der diskursiven Strategien mag der Unterschied seiner Interpretation im Vergleich zu den »journalistic practices« noch nicht ganz trennscharf hervorgetreten sein, weshalb das Beispiel des Interviews genauer betrachtet werden soll. In einer Arbeit Schudsons (1995b) wird anhand von historischem Quellenmaterial nachgezeichnet, wie sich das Interview in den USA als eine journalistische Technik etabliert hat. Schudson datiert dessen Entstehung auf den Beginn des 19. Jahrhunderts. In den 1820er Jahren sei das Interview eine Technik zur Informationsbeschaffung geworden und Journalisten begannen, ihre Kontakte zu Politikern und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, dem gesellschaftlichen und religiösen Leben zu pflegen und regelmäßig zu konsultieren. Allerdings dauerte es weitere 60 Jahre bis das wörtliche Zitat seinen Weg in den journalistischen Text gefunden hatte. Zunächst wurden die durch Befragungen erzielten Informationen von den Journalisten umschrieben, später in der indirekten Rede wiedergegeben und erst nach und nach fanden sich zitierte Aussprüche der Interviewten im Text (vgl. ebd.: 89ff.). Schudson schildert, dass die Technik des Interviews eine Innovation für den Berufsstand des Journalisten war, die nicht nur die handwerkliche Komponente der Einholung von Informationen beinhaltete, sondern auch die gesellschaftliche Durchsetzung von Freiheiten implizierte. Denn keinesfalls war es selbstverständlich gewesen, dass sich Personen von gesellschaftlich hohem Status und Einfluss von Reportern zu ihrer Arbeit befragen ließen. Außerdem deckt Schudsons historische Rekonstruktion auf, dass die anfänglichen Umschreibungen der Zitate den Journalisten große Anerkennung verschaffte. Wer Zugang zu wichtigen Quellen hatte und diese zu befragen vermochte, erlangte innerhalb der Produktion eine wichtige Position (Broersma 2007: xxvi). Anfangs erhielt nicht der Interviewte, sondern der Fragensteller ausführliche Darstellung im gedruckten Text der Zeitungen. Die Technik des Interviews diente damit offensichtlich auch, so Schudson, der Etablierung von journalistischer Überzeugungskraft. In dem Maße wie die Befragten allerdings nach und nach im journalistischen Text zitiert wurden, etablierte sich die wörtliche Rede als Artikulation von Überzeugungskraft im Nachrichtentext. Die Überzeugungskraft wurde nun weniger in der Figur des Fragenstellers gesucht als in den zitierten Antworten der Artikel, in der wörtlichen Rede, die den Anschein erweckte, als spräche der Abgeordnete, der Präsident oder gar der Papst selbst (Schudson 1995b: 87; Broersma 2008 folgt dieser Interpretation ebenfalls und überträgt sie auf den europäischen Journalismus).

Dieser kurze Blick in die amerikanische Geschichte des Journalismus gibt ein Beispiel dafür, wie die diskursiven Strategien die Vorstellung des »Vormedialen« (Hickethier 1997: 18) aber auch die der sozialen Einbettung journalistischer Bedeutungsproduktion ablösen zugunsten einer Beschreibung des Verhältnis von Journalismus und Wirklichkeit als einem diskursiven. Die diskursiven Strategien fassen damit mehr als eine Erzählung der Wirklichkeit, welche sich im Sinne Hickethiers als ein textuelles Verfahren darstellt. Sie fassen auch mehr als das sozial eingebundene »set of journalistic practices«, welches regelgeleitet ein Produkt hervorbringt. Besonders das implizit chronologische Moment der Vorstellung wonach zuerst die soziale Wirklichkeit besteht, in der journalistischen Tätigkeiten nachgegangen wird, und dann das journalistische Produkt erzeugt wird, wird über den Begriff der diskursiven Strategien aufgegeben. Diskursive Strategien des Journalismus entfalten sich als soziale Umstände. Sie entstehen ebenso aus ihnen wie sie diese formen, sie präsentieren Wirklichkeit im journalistischen Medium, wie sie an der Produktion von Wirklichkeit teilhaben. Journalismus stellt nicht Ereignisse aus der Wirklichkeit dar, sondern nimmt, so ist Broersmas Verständnis zu deuten, an der Produktion einer diskursivierten Wirklichkeit teil. Mit der bis hierhin geleisteten Begriffsarbeit ist allerdings noch nicht ausreichend geklärt, was die diskursive Produktion von Objektivität im Journalismus für die gesellschaftliche Öffentlichkeit impliziert, bzw. wie dieses diskursive Produkt, das aufgrund der diskursiven Strategien des Journalismus entsteht, genauer beschrieben werden kann. Wenn Journalismus ein Diskurs ist (über das Hall’sche Verständnis hinaus, der mit dem Begriff Diskurs Journalismus als eine konstruierte Bedeutungsstruktur aus sowohl Sprache als auch Visualität fasst), so muss nun über die bisher zitierten Arbeiten hinausgegangen werden, um das durch die diskursiven Strategien produzierte Produkt näher zu definieren.

1.3Mit Foucault: Journalismus als Diskurs