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Sie stand im strömenden Regen, und ich hätte sie beinahe überfahren. Als sie hörte, dass sie es mit Mike Faraday, dem Privatdetektiv aus Los Angeles, zu tun hatte, schmolz sie dahin. Anscheinend... hatte sie Hilfe nötig.
Doch dann verschwand sie ohne Abschiedsgruß. Und zwei Schlägertypen machten mir handgreiflich klar, dass ich mich nun erst recht um das Mädchen kümmern musste...
Der Roman Unschuld im Regen des britischen Schriftstellers Basil Copper (*5. Februar 1924; † 3. April 2013) erschien erstmals im Jahr 1974; die deutsche Erstveröffentlichung folgte 1976.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
BASIL COPPER
Unschuld im Regen
Roman
Apex Crime, Band 282
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
UNSCHULD IM REGEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Sie stand im strömenden Regen, und ich hätte sie beinahe überfahren. Als sie hörte, dass sie es mit Mike Faraday, dem Privatdetektiv aus Los Angeles, zu tun hatte, schmolz sie dahin. Anscheinend... hatte sie Hilfe nötig.
Doch dann verschwand sie ohne Abschiedsgruß. Und zwei Schlägertypen machten mir handgreiflich klar, dass ich mich nun erst recht um das Mädchen kümmern musste...
Der Roman Unschuld im Regen des britischen Schriftstellers Basil Copper (*5. Februar 1924; † 3. April 2013) erschien erstmals im Jahr 1974; die deutsche Erstveröffentlichung folgte 1976.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Es regnete schon still vor sich hin, als ich in San Francisco losfuhr, und während ich mich nach einer anstrengenden Fahrt den Außenbezirken von Los Angeles näherte, sah es so aus, als würde es die nächsten drei oder vier Tage weiterregnen. Der Pazifik war eine ungemütliche, graue Fläche, gesäumt vom karminroten Rand der Abenddämmerung, und die weißen Gischtflecken weit draußen bildeten einen melancholischen Abglanz der Lichterkette entlang der Küste.
Ich bog schließlich von der Schnellstraße ab und jagte meinen fünf Jahre alten Buick über eine kurvenreiche Straße zweiter Ordnung, die sich durch die Hügel in Richtung auf die Stadt wandt. Los Angeles selbst lag hinter dem Regenvorhang und seinem Smog verborgen, aber die Lichter seines tausend Meilen langen Straßennetzes spiegelten sich am Himmel - ein rosafarbenes Glühen, als seien die Regenwolken an ihrer Unterkante entzündet. Ich schaltete die Scheinwerfer ein. Die Reifen des Buick zischten auf dem nassen Asphalt, und das Wasser, das in Fontänen zur Seite spritzte, passte als Hintergrundgeräusch zu meinen wenig erfreulichen Gedanken. Das Hundewetter entsprach genau meiner augenblicklichen Stimmung.
Vielleicht war ich nur müde, und der Regen und die Monotonie der Fahrgeräusche hatten meine Reflexe weitgehend eingeschläfert. Jedenfalls wurde mir erst nach ein paar Sekunden klar, dass ich beinahe mit irgendetwas zusammengestoßen wäre. Rechts von mir leuchtete es hell auf, als sei eine Gestalt auf die Straße gesprungen. Ich riss das Lenkrad nach links, doch die Reifen wollten das Manöver nicht mitmachen. Einen Augenblick lang kam der Buick ins Schlingern. Der Gummi meiner Profile haftete nicht fest genug auf dem nassen Untergrund. Erst jetzt begann ich gegenzusteuern, und der Wagen richtete sich wieder gerade, hielt seine Spur.
Ich trat auf die Bremse. Im Rückspiegel sah ich eine Gestalt, die mir zuwinkte. Sie näherte sich meinem Wagen, während ich versuchte, auf den Randstreifen auszuscheren. Zwei oder drei Fahrzeuge kamen mir von hinten bedrohlich nahe. Sie blinkten wie wild und veranstalteten ein wahres Hupkonzert. Dann hörte ich das Klappern von hohen Stöckeln auf dem Asphalt.
Es war ein Mädchen. Ein Mädchen in einem weißen Regenmantel. Ihr blondes Haar hing in langen Strähnen bis auf die Schultern und klebte an ihrer Stirn. Sie hatte ein blasses, verängstigtes Gesicht, und ich nahm an, dass sie über mein gewagtes Manöver zu Tode erschrocken war.
»Wissen Sie, dass ich Sie beinahe überfahren hätte?«, sagte ich durch das einen Spaltbreit geöffnete Fenster auf der Beifahrerseite. Ich war ziemlich wütend, aber es hatte wenig Sinn, sie nun auch noch anzubrüllen. »Von der Gefahr, in die Sie mich gebracht haben, ganz zu schweigen.«
Das Mädchen gab keine Antwort. Schwer atmend öffnete sie einfach die Tür auf der Beifahrerseite und ließ sich in die Polster sinken. Dann zog sie die Tür schnell zu.
»Tut mir leid«, sagte sie mit leiser, wohlklingender Stimme. »Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nach Los Angeles mitnehmen könnten.«
Sie warf rasch einen Blick über die Schulter, als habe sie etwas da draußen im Regen zurückgelassen.
»Ein scheußlicher Abend«, erklärte ich. »Wenn Sie wollen, nehme ich Sie gern mit.«
»Fahren Sie los, zum Teufel«, drängte sie. »Ich habe es eilig.«
»Sie sind nicht nur lebensmüde, sondern auch noch unverschämt«, bemerkte ich trocken.
Das Mädchen starrte mich erschreckt an, sagte jedoch kein Wort. Ich legte den ersten Gang ein und fuhr wieder hinaus auf die Fahrbahn. Meine Beifahrerin warf immer wieder einen kurzen Blick durch das Rückfenster, und erst nach ein paar Meilen fand sie ihre Sprache wieder. Sie hatte inzwischen ihr Taschentuch in der Hand und trocknete sich damit das Gesicht ab. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu, als ein entgegenkommender Wagen ihr Gesicht erhellte.
Sie hatte eine hohe, breite Stirn und dichtes, goldblondes Haar. Ihre vollen Lippen waren rot geschminkt. Mit den hohen Backenknochen würde sie wohl auch noch in zehn Jahren recht gut aussehen. Ich fand, sie wirkte irgendwie nordisch, vielleicht skandinavisch, obwohl sie völlig akzentfrei sprach.
»Sie halten mich sicher für sehr unhöflich«, begann sie schließlich.
»Entweder unhöflich - oder sehr verängstigt«, sagte ich.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nur so eine Vermutung«, erklärte ich. »Ich hätte Sie beinahe überfahren, aber das ist bestimmt nicht der Grund für Ihre panische Angst.«
Sie hatte sich inzwischen den Regenmantel von den Schultern gezogen und wischte sich den Hals trocken.
»Und Sie denken vermutlich an etwas ganz Bestimmtes, wenn Sie immer nach hinten schauen.«
Sie lächelte scheu.
»Mein Wagen hatte eine Panne«, erklärte sie. »Ich gebe zu, dass ich mich sehr sonderbar betragen habe. Natürlich bin ich Ihnen dankbar, dass Sie mich mitnehmen. Ich habe mich verfahren und musste durch den Wald zurücklaufen zur Straße. Als ich die Lichter Ihres Wagens sah, war ich völlig fertig.«
»Na schön«, sagte ich. »Nun regen Sie sich erst mal ab. Mir ist die Sache auch ganz schön an die Nieren gegangen.«
Allmählich begann sie sich zu beruhigen. »Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen«, meinte sie. »Mein Name ist Myra Cernik.«
»Und ich heiße Mike Faraday. Entschuldigen Sie, wenn ich momentan auf das Händeschütteln verzichte.«
Wieder lächelte sie. »Es ist mir auch lieber, wenn Sie die Hände am Lenkrad lassen. Ist es unhöflich, wenn ich Sie nach Ihrem Beruf frage?«
»Ich bin Privatdetektiv«, erklärte ich. »Manche Leute verwenden eine andere Bezeichnung für meinen Beruf, die längst nicht so schön und romantisch klingt.«
»Haben Sie was dagegen, wenn ich rauche?«
»Bedienen Sie sich. Am Armaturenbrett ist ein Anzünder.«
Sie zündete zwei Zigaretten an; eine für mich und eine für sich. Meine steckte sie mir zwischen die Lippen. Als sie sich mir näherte, witterte ich den Duft eines unaufdringlichen, guten Parfüms. Es war sehr angenehm.
»Ich glaube, ich habe schon von Ihnen gehört«, sagte sie. »Vielleicht können Sie mir helfen.«
»Das gehört zu meinem Beruf.«
Sie rauchte und schwieg die nächsten paar Meilen wieder. Während ich den Buick um ein paar gefährliche Haarnadelkurven steuerte, begann sie zu sprechen.
»Haben Sie es fürchterlich eilig, Mr. Faraday?«
»Keineswegs«, erwiderte ich. »Ich habe weder Frau noch Kinder, die zu Hause auf mich warten, wenn Sie das meinen.«
Ich weiß nicht, warum ich es sagte, aber es schien sie sichtlich zu beruhigen.
»Könnten wir nicht irgendwo anhalten und eine Tasse Kaffee trinken?«, fragte sie. »Dann könnte ich mich ein bisschen zurechtmachen und Ihnen das Nötigste erklären.«
»Warum nicht? Dort oben, ein paar Meilen weiter, gibt es meines Wissens ein Restaurant.«
Sie sagte nichts mehr, bis wir aus dem Wagen stiegen, aber mir war aufgefallen, dass sie immer noch hier und da verstohlen einen Blick durch das Rückfenster warf. Eine Meile weit fuhr ein Wagen hinter uns her, und das gelbe Licht seiner Scheinwerfer ließ die Wassertropfen auf dem Rückfenster funkeln. Meine Beifahrerin rutschte so tief hinunter, dass ihr Kopf von hinten nicht mehr zu sehen war. Dann schließlich bog der hinter uns fahrende Wagen in eine Seitenstraße ab. Ich kurvte ein Stück weiter nach oben, bis uns die Neonreklame von Spinellis Restaurant durch den Nebel und Regen entgegenleuchtete.
Ich bog von der Straße ab und fuhr auf den Parkplatz. Ich bemerkte, wie das Mädchen die ungefähr zwei Dutzend Fahrzeuge sehr aufmerksam beobachtete, während wir langsam auf den Eingang des Restaurants Zufuhren. Ich parkte neben einem hellbraunen Maverick und schaltete den Motor ab. Dicke Regentropfen fielen wie kleine Pfeile schräg vom Himmel und platschten in die Pfützen. Das Wasser trommelte auf das Dach des Buick, und ich hörte, wie der Wind durch die Bäume pfiff, die den Parkplatz säumten.
Wir blieben einen Augenblick im Wagen sitzen und betrachteten die Scheinwerfer der Wagen, die draußen auf der Straße vorüberfuhren. Dann zog sich das Mädchen den durchnässten Regenmantel wieder über die Schultern und stieg aus. Ich trat ebenfalls hinaus auf den Parkplatz und sperrte den Wagen sorgfältig ab. Bis ich damit fertig war, näherte sie sich bereits dem Eingang des Restaurants, wobei sie im Zickzack lief, um den größten Pfützen auszuweichen. Erst dicht vor der Treppe hatte ich sie eingeholt. Ich öffnete die Flügeltür, die in das Foyer von Spinellis Restaurant führte, und ein Schwall warmer, trockener Luft kam uns entgegen. Durch die Glastür vor mir blickte ich in einen weiträumigen Speisesaal. Ich zog gerade meinen Regenmantel aus, als meine Beifahrerin wieder zu sprechen begann.
»Es dauert nicht lange«, sagte sie. »Ich will mich nur ein bisschen trockenlegen.«
Dabei deutete sie nach rechts, auf eine Treppe in den ersten Stock. Garderobe stand auf einem Schild.
»Ich werde uns inzwischen etwas bestellen«, erklärte ich. »Worauf haben Sie denn Lust?«
»Ach, für mich bitte nur ein Sandwich und eine Tasse Kaffee«, sagte das Mädchen. »Wenn Sie sich zehn Minuten gedulden wollen.«
Im hellen Licht und aus der Nähe sah sie noch attraktiver aus, als ich vermutet hatte. Sie zog sich den Regenmantel aus und lächelte mich an, als hätte sie meine Gedanken erraten. Ich ging quer durch die Eingangshalle und öffnete die Tür zum Restaurant.
Im selben Augenblick baute sich ein hübsches, langbeiniges Mädchen neben mir auf. Sie schenkte mir ein Plastiklächeln, das sie offenbar auf Kommando ein- und ausschalten konnte. Und sie reichte mir eine Speisekarte, die so umfangreich war wie ein mittleres Kontobuch.
»Willkommen im Spinelli,Sir«, sagte sie.
Sie hatte sich bereits umgedreht und ging mir voraus auf eine Nische am entgegengesetzten Ende des Restaurants zu. Offenbar waren die Bedienungen in diesem Restaurant hervorragend trainiert. Ich konnte gerade noch erkennen, dass die meine auf ihrem rechten Busen die Zahl fünf auf den engen Pullover gestickt hatte, als sie mir auch schon einen Stuhl zurechtrückte.
»Ich fange mal mit einem Whisky an«, sagte ich. »Ich bin in Begleitung. Den Rest bestelle ich erst, wenn die Dame hier ist.«
Das große Mädchen mit den langen Beinen warf mir einen bedauernden Blick zu, dann verschwand sie in Richtung Bar. Ich legte meinen Regenmantel auf die Bank neben mir und studierte die Speisekarte. Der Regen trommelte gegen die Fenster.
Ich schaute hinaus. Von meinem Platz hatte ich einen guten Ausblick auf den Parkplatz und die Straße.
Ich blätterte in der Speisekarte und versuchte, mich darauf zu konzentrieren. Ein kleines Orchester spielte Tea for Two. Ziemlich unpassend, dachte ich. Dann schaute ich quer durch das Lokal zu der Glastür, die in die Vorhalle führte. Das Lokal war wirklich überdimensional, und die Einrichtung kam mir vor wie der Fiebertraum eines Hollywood-Produzenten vom zweiten Empire. Kostspielig aussehende Kristalllüster hingen an massiven Messingketten von der Decke herunter; das übertriebene Dekor des Raumes sollte wohl die Gäste beeindrucken.
Etwa vierzig von ihnen saßen an den Tischen, aber es wäre genügend Platz für hundert gewesen. Auf der Längsseite gegenüber meiner Nische war eine Bar mit einem Barkeeper, dessen Züge eingefroren zu sein schienen. Ein Servierwagen mit Sonnendach bog sich unter dem Gewicht unzähliger Kuchen und Sahnekremtorten.
Meine Bedienung näherte sich mir mit ausladenden Hüftbewegungen. Sie hatte ein Tablett mit dem Whiskyglas in der einen und einen goldgefassten Notizblock in der anderen Hand. Ich bestellte Suppe, Sandwiches und zwei Portionen Kaffee.
»Ein scheußlicher Abend«, sagte sie.
Sie wollte noch mehr sagen, doch plötzlich schloss sie den bereits offenen Mund. Ich sah, warum. Myra Cernik kam durch die Vorhalle auf die Glastür zu.
Die langbeinige Bedienung grinste mich noch einmal an, dann verschwand sie irgendwo im hinteren Teil des Raumes. Myra Cernik ließ sich mir gegenüber auf die Bank sinken. Sie hatte ihren durchnässten Regenmantel über dem Arm. Das Wildlederkostüm, das sie darunter trug, kam jetzt vorzüglich zur Geltung. Um den Hals hatte sie einen roten Schal, und wenn sie sich bewegte, funkelten ihre kleinen, silbernen Ohrringe. Ihr Haar war einigermaßen trocken und hübsch frisiert. Außerdem trug sie ein rotes Seidenband um die Stirn, das genau zu ihrem Schal passte. So einfach ihre Aufmachung auch sein mochte - an ihr sah es teuer und ausgesprochen schick aus. Ich muss sie sehr auffällig gemustert haben, denn sie sagte: »Ich sehe nicht immer wie eine ertrunkene Ratte aus, Mr. Faraday.«
Ich teilte ihr mit, was ich bestellt hatte, und sie verfiel wieder in ihr wohlbekanntes Schweigen, bis die Bedienung mit dem Essen kam. Als sie uns serviert hatte, beugte sie sich zu Myra Cerniks Regenmantel hinunter. »Ich kann Ihren Mantel in der Küche trocknen lassen, wenn Sie wollen.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Myra Cernik. Sie kramte in den Taschen ihres Mantels herum und nahm eine schwarze Geldbörse und ein Paar Handschuhe heraus.
»Wenn Sie den Mantel nachher wieder haben wollen, brauchen Sie es mir nur zu sagen«, erklärte die Bedienung und verschwand.
Miss Cernik betrachtete nachdenklich den Suppenlöffel. »Das war sehr aufmerksam, nicht wahr?«
»Und dabei sieht das Mädchen auch noch prächtig aus«, fügte ich hinzu.
Myra Cernik grinste. »Sie ist bestimmt keine von denen, die ihre Reize verbergen.«
»Weil wir schon von Verbergen sprechen: Sie sehen mir allerdings aus wie ein Mädchen, das einiges verbirgt. Zum Beispiel Angst. Warum?«
Sie ließ den Suppenlöffel fallen. Er klapperte gegen den Tellerrand. Und dann starrte mich Myra Cernik wieder wortlos an.
»Darüber wollte ich ja mit Ihnen sprechen, Mr. Faraday«, sagte sie nach einer langen, lastenden Minute. »Aber ich möchte warten, bis wir beide gegessen haben. Ich bin nämlich müde und habe fürchterlichen Hunger.«
»Einverstanden«, entgegnete ich. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
Erst als wir beim Kaffee angelangt waren, begann sie wieder zu sprechen. Sie zündete erst zwei Zigaretten an und gab mir eine davon. Eine nette Geste, fand ich. Sie sah jetzt nicht mehr so angespannt und nervös aus wie vorhin im Wagen.
»Das hat mir gutgetan«, sagte sie. »Ich kann Ihnen nicht genug danken.«
»Es war mir ein Vergnügen, Miss Cernik. Wollen wir jetzt zu Ihrem Problem kommen?«
Sie schaute rasch auf ihre Geldbörse, als wollte sie sich vergewissern, dass sie noch auf dem Tisch lag.
»Wohnen Sie in Los Angeles?«, fragte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen.
Sie nickte.
»Ich gebe Ihnen nachher eine Adresse, unter der Sie mich erreichen können.«
»Sie reisen mit ziemlich leichtem Gepäck«, stellte ich fest. »Hoffentlich haben Sie wenigstens genügend Geld bei sich. Oder kann ich Ihnen aushelfen?«
Sie schaute mich überrascht an.
»Nicht nötig. Aber ich bin Ihnen trotzdem dankbar für Ihr Angebot. Wissen Sie, ich stecke ziemlich in der Klemme. Ich kann Ihnen das heute Abend nicht alles im Einzelnen erklären.«
Sie brach plötzlich ab und schaute mit seltsamem Blick durch das Fenster hinaus auf den Parkplatz. Ich blickte ebenfalls hinaus, sah aber nichts als Regen, Dunkelheit und das Licht der vorbeifahrenden Wagen.
»Sie stecken in der Klemme?«, fragte ich.
»Ich musste meinen Wagen zurücklassen«, sagte sie schnell. »Und ich hatte meine Gründe dafür. Erstens hatte ich eine Panne. Und zweitens fürchte ich, dass man meine Autonummer bereits kennt. Ich habe vielleicht einen Vorsprung von ein, zwei Stunden, aber ich kann mich natürlich nicht darauf verlassen. Aber seit ich bei Ihnen bin, fühle ich mich sicherer.«
»Fangen wir mal ganz von vorne an«, ermunterte ich sie.
Ich beugte mich vor, um die Asche meiner Zigarette abzutippen, als ich hörte, wie Miss Cernik einen unterdrückten Schrei ausstieß. Ich blickte auf und sah, wie ihr Gesicht erbleichte. Sie starrte mit weit geöffneten Augen durch das Fenster. Halb verborgen hinter der von Regentropfen blind gewordenen Scheibe, aber deutlich zu erkennen im Licht der vorüberfahrenden Autos, sah ich eine der abscheulichsten Visagen, die ich in meinem ganzen Leben erblickt hatte.
Myra Cernik starrte noch immer hinaus. Sie saß zusammengesunken auf der Bank. Ihre Hände zitterten. Der Mann vor dem Fenster war bereits wieder in der Dunkelheit verschwunden, aber ich hatte ihn mir so gut eingeprägt, dass ich ihn jederzeit wiedererkennen würde. Ein breites, affenartiges Gesicht mit einer eingedrückten Nase und weiten Nüstern. Er hatte sich den dunklen Hut tief in die Stirn gezogen, und sein dunkler Regenmantel war bis oben hin zugeknöpft.
Ich musste über das erschrockene Mädchen lächeln.
»Vor dem Gesicht am Fenster brauchen Sie doch keine Angst zu haben«, sagte ich. »Dieser Sohn von King Kong wollte wahrscheinlich nur sehen, ob das hier ein ordentliches Restaurant ist.«
Das Mädchen legte eine Hand auf meinen Arm. Sie zitterte so stark, dass ich die Vibrationen bis hinauf zu meinem Ellbogen spürte.
»Sie verstehen nicht, Mr. Faraday«, erklärte sie. »Ich kenne diesen Mann.«
»Hier drinnen haben Sie doch nichts zu befürchten«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Schon gar nicht, wenn ich bei Ihnen bin. Aber ich schlage vor, Sie sagen mir jetzt endlich, was Sie bedrückt.«
Ich wandte mich um, und die Bedienung kam auf uns zu. Ich bat um die Rechnung. Die Bedienung zog wieder ihren goldenen Notizblock aus der Schürzentasche und legte gleich danach den Zettel vor uns auf den Tisch. Myra Cernik biss sich auf die Lippen. Ich streckte meine Hand aus und berührte damit ihre zitternden Finger.
»Wir lassen uns schon was einfallen«, sagte ich. »Aber wenn Sie den Mann nicht sehen wollen, gehen wir eben woanders hin.«
»Ich muss erst meinen Regenmantel holen«, entgegnete Miss Cernik.
Sie stand auf und ging quer durch den Saal. Die Bedienung hatte sich mit meinem Geldschein und der Rechnung dezent an die Bar zurückgezogen, vermutlich, um sich das Wechselgeld geben zu lassen. Ich saß da und trank langsam meine zweite Tasse Kaffee aus. Gleich danach kam die langbeinige Bedienung wieder an meinen Tisch. Sie stellte ein Silbertablett vor mich hin. Ich ließ ein gutes Trinkgeld liegen und steckte die restlichen Münzen ein. Dann nahm das Mädchen das Tablett mit einem freundlichen Lächeln weg. Inzwischen war mir etwas eingefallen.
»Gibt es hier noch einen zweiten Ausgang, den wir benützen können?«, fragte ich sie.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich muss erst fragen. Aber zuvor muss ich mich um die neuen Gäste kümmern. Wenn Sie sich bitte einen Augenblick gedulden wollen.«
Sie ging in Richtung auf die Glastür. Ich stand vom Tisch auf und zog meinen Regenmantel an. Zehn Meter von mir entfernt standen zwei Männer und redeten auf die Bedienung ein. Einer von ihnen warf dazwischen immer wieder neugierige Blicke auf mich. Ich nahm gleich an, dass es sich bei den beiden nicht um gewöhnliche Gäste handelte. Wenn man in meinem Beruf ein paar Erfahrungen gesammelt hat, bekommt man ein Gefühl dafür. Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken, von dem aus ich die beiden Gäste besser beobachten konnte, ohne allzu sehr aufzufallen.
Der Mann, der mit der Bedienung sprach, war groß und gut gekleidet. Er trug einen grauen Gabardinemantel, der von Regentropfen gesprenkelt war. Auf seinem Kopf hatte er einen braunen Hut, so dass ich seine Haarfarbe nicht erkennen konnte. Sein Gesicht war scharfgeschnitten und sah intelligent aus. Ich schätzte ihn auf runde Fünfzig. Und er schien die Bedienung in ein scharfes Verhör genommen zu haben. Dabei warf er zwischendurch immer wieder einen Blick auf mich.
Der andere war schwieriger zu beschreiben. Er hatte bis jetzt noch gar nichts gesagt, sondern stand ein paar Schritte von dem ersten entfernt. Dabei schaute er ins Leere, obgleich ich den Eindruck nicht loswurde, dass auch er mich irgendwie musterte. Er war nicht allzu groß, aber ausgesprochen breitschultrig. Und er hatte ein gebräuntes, grobschlächtiges Gesicht, das gut zu seiner Erscheinung passte. Sein graues, fast aschfarbenes Haar war kurzgeschnitten und sah aus wie Distelwolle.
Er hatte seinen Regenmantel ausgezogen und über den Arm gelegt. In der rechten Hand trug er ein braunes Paket. Das Papier war zerrissen und vom Regen durchweicht, und nur noch eine mehrfach verknotete Schnur hielt den Inhalt zusammen.
Ich weiß nicht, warum ich das alles so genau beobachtete, aber etwas am Auftreten dieser beiden Männer gefiel mir ganz und gar nicht.
Jetzt war das Palaver mit der Bedienung zu Ende, und der größere der beiden kam zu mir herüber. Er blieb etwa einen Meter vor meinem Stuhl stehen. Ich schaute nicht auf.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe«, sagte er.
Er hatte eine angenehme, kultivierte Stimme und eine freundliche Art, aber ich hatte mir bereits meine Meinung über ihn gebildet und blieb argwöhnisch. Schließlich schaute ich doch hoch. Aus der Nähe betrachtet, war sein Gesicht härter und unnachgiebiger als bei gewöhnlichen Sterblichen.
Ich sagte kein Wort, so dass der große Mann sich erst einmal überlegen musste, wie er weitermachen sollte. Er warf einen ungeduldigen Blick über die Schulter auf seinen Begleiter, doch der blickte immer noch in die Ferne. Anscheinend interessierte er sich brennend für einen der Kristalllüster. Jetzt wandte sich der Große wieder an mich.
»Sie sind doch mit einer Dame hier, nicht wahr?«, sagte er, und seine Stimme klang immer noch äußerst freundlich und zuvorkommend. Ich dachte, mach du nur ruhig erst eine Weile weiter, schnitt eine rätselhafte Grimasse und rauchte. Der Große räusperte sich. Auf seinen Wangen waren jetzt rote Flecken zu sehen. Offensichtlich hatte er einen erstaunlich niedrigen Siedepunkt.
»Ich habe Sie etwas gefragt, Sir«, sagte er.
»Aber ich bin keineswegs verpflichtet, Ihnen darauf eine Antwort zu geben«, erwiderte ich. »Schließlich habe ich Sie nicht an meinen Tisch gebeten.«
Ich provozierte ihn absichtlich, und meine Bemerkung fiel auf fruchtbaren Boden. Der Mann gab ein zischendes Geräusch von sich und kam einen halben Schritt näher. Er steckte eine Hand in die Tasche seines Regenmantels. Der andere rührte sich immer noch nicht, aber er fand jetzt zum ersten Mal Worte. Seine Stimme war leise und weich, und er hatte einen unverkennbar europäischen Akzent.
»Wir kommen nicht in böser Absicht, Sir. Was, Doktor?«
Die beiden letzten Worte klangen unmissverständlich, und der große Mann ließ zur optischen Untermalung seine Hand in der Tasche seines Regenmantels. Nach einer Sekunde zog er sie wieder heraus und hatte ein Taschentuch zwischen den Fingern. Damit wischte er sich die Regentropfen von der Stirn. Ich dachte, es war an der Zeit, die beiden nicht länger zappeln zu lassen.