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Die besten Geschichten schreibt immer noch das Leben selbst! Für dieses Buch haben Senioren einen Blick in die Vergangenheit geworfen und ihre Erlebnisse beigesteuert: schwungvolle Erinnerungen an Rock ‚n‘ Roll und Hula-Hoop, an die erste Urlaubsfahrt in den Süden, unvergessliche Begeisterungsstürme bei der legendären Fußball-WM von 1954 und und und … Hier sind sie also: Die schönsten Geschichten und Erlebnisse rund um die 1950er-Jahre – zum Vorlesen und Aktivieren in der Betreuungsarbeit mit älteren Menschen. Jede Geschichte natürlich mit einem Quäntchen Hintergrundwissen (damit auch junge Vorleser mitreden können) plus Ratespaß und Gesprächsimpulse! Mit diesem Buch haben Betreuungskräfte eine ideale Vorlage für die Einzel- oder Gruppenarbeit mit Senioren. Das heitere 50er-Jahre-Kaleidoskop bietet garantiert für jedes Interesse die passende Geschichte! Das ist positive Erinnerungspflege für zwischendurch.
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Seitenzahl: 131
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Uli Zeller
Uli Zeller
Unsere 50er-Jahre
Heitere Vorlesegeschichten für Senioren
Der Autor
Uli Zeller ist Theologe und arbeitet in der Sozialen Betreuung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-89993-988-0 (Print)
ISBN 978-3-8426-8959-6 (PDF)
ISBN 978-3-8426-8960-2 (EPUB)
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© 2018 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover
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Umschlaggestaltung:
Kerker + Baum, Büro für Gestaltung GbR, Hannover
Titelbilder:
iStock.com/simonidadjordjevic
Vorwort
Zeitgeschehen
Die Steinschleuder
Aktivierungen
Henry und der Aufstand
Aktivierungen
Flucht mit Gurken
Aktivierungen
Mit der Straßenbahn zum Abitur
Aktivierungen
Post vom Bau
Aktivierungen
Der fehlende Zopf
Aktivierungen
Der Kerzenschein
Aktivierungen
Endlich zu Hause
Aktivierungen
Unterhaltung
Thomas und der Saxophonist
Aktivierungen
Ein Programmheft für Gabriele
Aktivierungen
Puschenkino oder Public Viewing?
Aktivierungen
Don Camillo & Peppone
Aktivierungen
Neulich auf der Gartenbank
Kaffeekränzchen bei Hannelore
Aktivierungen
Mobilität
Mein Mann, mein Führerschein und ich
Aktivierungen
Barbara macht das Rennen
Aktivierungen
Europareise im kleinen Auto
Aktivierungen
Bahngleise & Strafzettel
Aktivierungen
Heinz Erhardt & ich
Aktivierungen
Freizeit & Urlaub
Helden im Zug
Aktivierungen
Unser erster Urlaub
Aktivierungen
Auf zu Onkel Peter
Aktivierungen
Franco aus Italien
Aktivierungen
Hula-Hoop in bunten Kleidern
Aktivierungen
Jukebox in der Milchbar
Aktivierungen
Gesellschaft & Kultur
Schweben, stolpern und schwatzen
Aktivierungen
Milchhäuschen
Aktivierungen
Klatsch & Tratsch in der Kirchgasse
Aktivierungen
Reparieren statt wegwerfen
Aktivierungen
Der Geruch der 50er
Aktivierungen
Alltag & Haushalt
Am Küchentisch
Aktivierungen
Besser essen
Aktivierungen
Drei Goldstücke
Aktivierungen
Bequem bezahlt
Aktivierungen
Literatur
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Zeitgeschichte weckt Erinnerungen. Auch bei Menschen mit Demenz. Das wusste ich und hatte es bereits vielfach praktisch in der Betreuung von Menschen mit Demenz angewendet. Auf das Thema der 1950er-Jahre lenkte meinen Blick ein Anruf der Programmleiterin der Schlüterschen Verlagsgesellschaft: »Können Sie sich vorstellen, Menschen über ihre Erlebnisse in den 50ern zu befragen – und daraus ein Buch mit Geschichten zu machen?«, lautete die Frage an mich.
Zuvor hatte ich vor allem Erfahrungen mit erfundenen Geschichten gemacht, die ich für Menschen mit Demenz aufbereitet hatte. Daraus entstanden Bücher wie »Frau Janzen geht tanzen« oder »Lachen ist die beste Medizin«. Nun also sollen Geschichten entstehen, die auf Anstößen von Zeitzeugen beruhten.
Nun recherchierte ich Schlagwörter zu den 50er-Jahren: »Wirtschaftswunder«, »Rock ’n’ Roll« und »Nierentisch« fanden sich auf meiner Liste – aber auch »Ratenkredit«, »Erste Waschmaschine« und »Volksaufstand in der DDR«. Passend dazu suchte ich im Internet Bilder von Petticoats, Schallplatten und Motorrollern und machte mich mit diesem Material auf zu den Zeitzeugen.
Die Zeitzeugen fand ich zum größten Teil, indem ich auf sie zuging und ansprach – in Cafés in unterschiedlichen Städten. Ich schilderte mein Anliegen und erhielt prompt viele wertvolle Anstöße. Zum Teil kamen auch Zeitzeugen auf mich zu. Denn in unserer Lokalzeitung SÜDKURIER wurde mein Anliegen erwähnt. Auch mein Arbeitgeber, der AWO-Kreisverband Konstanz, unterstützte mich bei der Suche nach Interviewpartnern. Ferner rief ich in meiner Kolumne »Uli & die Demenz« (diepflegebibel.de) auf, mir vom Wirtschaftswunder-Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts zu berichten.
In vielen Gesprächen erfuhr ich mehr über die Zeit, die mir als 1976 Geborener nur vom Hörensagen bekannt war. Der Grundtenor: Es war eine schwere Zeit. Aber auch eine Zeit voller Aufbruchsstimmung.
Die Geschichten der 50er-Jahre in diesem Buch sind sehr positiv und vielleicht sogar »rosarot« wiedergegeben. Es geht in den Erzählungen und Aktivierungen auch ausdrücklich nicht um korrekte Geschichtsschreibung, sondern darum, schöne Erinnerungen zu wecken. Wenn etwas negative Erinnerungen wecken könnte, habe ich das entsprechend überarbeitet. So heißt die erste Geschichte des Buches »Die Steinschleuder«, obwohl der Interviewpartner mir eigentlich von einem Luftgewehr erzählt hatte. Doch meine Befürchtung ist zu groß, dass ein Gewehr negative Kriegserinnerungen weckt. Das soll hier aber nicht geschehen. Bei manchen Geschichten (z. B. »Der Kerzenschein« oder »Endlich zuhause«) musste ich aber das Thema Krieg erwähnen. Sonst würden die Geschichten keinen Sinn machen.
Daher bitte ich Sie, die Geschichten vorab in Ruhe zu lesen, damit Ihnen die Inhalte (etwa zum Thema Krieg) bekannt sind. Entscheiden Sie dann, ob Sie die jeweilige Erzählung in die Aktivierung aufnehmen möchten. Denn trotz aller Behutsamkeit könnten sie bei dem einen oder anderen Zuhörer negative Irritationen auslösen, was in der Regel mit den ganz persönlichen Biografien zusammenhängt.
Aus den Zeitzeugenberichten sind nun Geschichten geworden. Alles, was Sie in diesem Buch finden, hat mir jemand erzählt. Aber keine Geschichte hat sich exakt so ereignet. Im kreativen Schreibprozess habe ich verschiedene Berichte zusammengefügt oder auseinander genommen – damit am Schluss viele runde, in sich stimmige Geschichten entstehen. Zusätzlich gibt es zu jeder Geschichte kurze Aktivierungsvorschläge, die Sie im Gruppen- oder Einzelsetting einsetzen können aber nicht müssen.
Im Altenheim habe ich die Geschichten und Aktivierungen immer wieder praktisch verwendet und überarbeitet – bis alles gut verständlich und leicht anwendbar war. Sehr ermutigend fand ich die Kommentare meiner Zuhörer: »Ja, so war das« oder »Ich kann mich noch so genau erinnern«.
Dieses Buch soll Sie, liebe Leserinnen und Leser, in Ihrer Arbeit mit Senioren unterstützen – als Vorlesestoff, als Anregung für Gespräche und Aktivierungen sowie für die Biografiearbeit.
Wenn dieses Buch gut ankommt, kann ich mir vorstellen, dass es in einigen Jahren ein Buch mit dem Titel »Unsere 60er-Jahre« geben wird. Mit Geschichten aus dem Folgejahrzehnt – seien es der Kauf der ersten Beatles-Schallplatte, die Umstellung auf Farbfernsehen oder die Mondlandung. Haben Sie daher ein berührendes, lustiges oder tiefsinniges Erlebnis zu den 1960er-Jahren, schreiben Sie mir! Meine Adresse: [email protected]. Ich fange dann schon mal an, Geschichten zu sammeln.
Mein besonderer Dank gilt der Tanzschule Seidel in Singen, die alle Geschichten zum Thema Tanz aus Tanzlehrersicht begutachtet hat und die Idee für den Sitztanz »Lollipop« beigesteuert hat. Herzlich danke ich meinen Lektorinnen Claudia Flöer und Petra Heyde für die tolle Zusammenarbeit.
Klaus H. erinnert sich: »Seit 1953 hatte ich als Bäckergeselle bei einem Bäcker in Stuttgart gearbeitet. Wir haben Stuttgart mit Weckle, Hefezopf und Laugenbrezeln versorgt. Das war harte Arbeit für uns Bäckergesellen – Mehlsäcke schleppen, Ofen anheizen, Brot backen. Klar, das war anstrengend. Aber manchmal hatten wir dafür schon Pause, wenn die Fabrikarbeiter morgens zu Daimler, Bosch und Porsche aufgebrochen sind.
Eines Tages brachte mein Kollege Wolfgang eine Steinschleuder mit zur Arbeit. Die lag künftig immer in der Backstube. Wenn wir Pause hatten, schossen wir aus Spaß im Hinterhof damit – auf Flaschen, verkohlte Weckle und Brote. Eines Tages forderte Wolfgang mich heraus. Er sagte: ›Drei Schuss auf drei Flaschen. Wer gewinnt, bekommt zehn Pfennige. Schau nur, da vorn steht eine ganze Reihe von Flaschen.‹ Wolfgang legte einen Stein in die Schleuder, spannte und traf! Es stand eins zu null für ihn.
Ich schleuderte auf die nächste Flasche. Sie zersprang in tausend Scherben. Es stand eins zu eins. Wir schauten uns verschmitzt an und knufften uns freundschaftlich in die Seite. Bei dieser Gelegenheit vertraute ich Wolfgang meine neueste Nachricht an: Ich hatte eine Frau kennengelernt. Die liebe Monika, die sowohl klug wie auch praktisch veranlagt war. Ich war sehr verliebt und wollte sie heiraten. Da wies mich Wolfgang auf die schwäbische Lebensweisheit ›Schaffe, schaffe, Häusle baue – und net nach de Mädle schaue‹ hin. Dennoch erklärte er mir: ›Bau doch ein Haus für euch. Du bist jung und kräftig. Du kannst dein Häusle ja auf den Monte Scherbelino stellen! Du darfst bloß nicht zu viele Räume in dein Haus bauen. Sonst quartieren sie Flüchtlinge ein.‹ Er grinste, spannte seine Schleuder, schoss – und traf. Jetzt stand es zwei zu eins für ihn. Ich legte wieder einen Stein auf die Schleuder. Zisch. Und die zweite Flasche war kaputt. Es stand zwei zu zwei. Wolfgang bückte sich und hob einen Stein vom Boden auf. Mit voller Wucht schoss er. Und er traf die Flasche – drei zu zwei für ihn. Jetzt war ich wieder dran, zielte – und schoss daneben. Mist! Wolfgang hatte gewonnen.
›Was ist los?‹, fragte Wolfgang, ›du triffst doch sonst immer‹. Ich schaute ihn an: ›Aber heute nicht. Ich habe nämlich gerade eine Entscheidung getroffen. Ich werde tatsächlich ein Haus für Monika und mich bauen.‹
Da kramte Wolfgang in seinem Geldbeutel, grinste mich an, legte zehn Pfennige auf den Tisch und sagte: ›Wohlstand für alle, lautet die Losung dieser Tage. Ich habe zwar gewonnen, aber du hast noch viel vor. Hier hast du einen Groschen. Damit kannst du anfangen, dein Haus zu bezahlen.‹«
Wer war während der gesamten 1950er-Jahre Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland?
(Hinweis: Er war korpulent, trug eine Brille und rauchte Zigarren.)
• Konrad Adenauer
• Ludwig Erhard
• Theodor Heuss
Richtig ist: Ludwig Erhard
Politiker der 1950er-Jahre
Ludwig Erhard (CDU) war von 1949–1963 Wirtschaftsminister. Sein Slogan als Wirtschaftsminister lautete »Wohlstand für alle«. Bekannt war auch Erhards Vorliebe für Zigarren. Davon rauchte er jeden Tag mehrere. Erhard gilt als Vater des deutschen Wirtschaftswunders.
Konrad Adenauer (CDU) war während dieses Zeitraums der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er war der »alte Kanzler« der jungen Republik, denn als er das Amt des Bundeskanzlers antrat, war er bereits 73 Jahre alt. Dennoch war er noch 14 Jahre im Amt.
Theodor Heuss (FDP) war von 1949–59 der erste Bundespräsident. Heuss liebte es, seine Reden selbst zu schreiben. Daher wurde Heuss von den Deutschen entsprechend authentisch empfunden und im Volksmund liebevoll Papa Heuss genannt.
Monte Scherbelino
Noch Ende der 1950er-Jahre wurden Scherben, Steine und Ziegel von zerstörten Gebäuden aus dem Krieg zu Hügeln angehäuft. So auch der im Volksmund »Monte Scherbelino« getaufte Berg in Stuttgart. Ihn gibt es noch heute – jetzt »Birkenkopf« genannt und höchster Aussichtspunkt der Stadt. Auch in anderen Städten gab es sogenannte Monte Scherbelinos.
Wohnungszwangswirtschaft bis 1960
»Wohnungszwangswirtschaft« kann man auch mit »Einquartierung« umschreiben. Der Staat baute Wohnungen mit einer Mietpreisbindung. Bis 1950 wurden 500.000 Wohnungen neu gebaut; davon waren 400.000 gefördert.
Unter alliiertem Druck musste Wohnraum und Zwangsleistungen an Flüchtlinge abgegeben werden. Bei den Flüchtlingen, die nach Deutschland kamen, handelte es sich meist um sogenannte Sudentendeutsche, Ostpreußen, Schlesier sowie deutsche Minderheiten vom Balkan.
Handwerk als Beruf
• In den 1950er-Jahren waren viele Männer in handwerklichen Berufen tätig. Was handwerkeln oder arbeiten Sie gerne?Mögliche Antworten: malen, backen, kochen, mauern, stricken, sägen, tapezieren, verputzen, gärtnern …
Beruf Bäcker
• Welche Zutaten kann man für ein Brot verwenden?Mögliche Antworten: Mehl, Zucker, Salz, Hefe, Wasser, Milch …
• Welche Mehlsorten gibt es?Mögliche Antworten: Roggen, Weizen, Dinkel, Gerste, Hafer …
Welche Zeitung ist das?
Sie besteht aus vielen Bildern und großen Überschriften. Die Zeitung gibt es in ganz Deutschland. Am 24. Juni 1952 erschien die erste Auflage in Höhe von 250.000 Exemplaren. Sie kostete damals zehn Pfennige. Ihr Name reimt sich auf »wild«. Lösung: Bildzeitung
Dosenwerfen
Mit der Steinschleuder auf Flaschen zu schießen, ist gefährlich. Aber versuchen Sie doch einmal mit den Senioren, mit einem Ball Dosen umzuwerfen. Sie können den Ball werfen oder rollen. Stellen Sie dafür eine oder mehrere Dosen auf. Bei genügend Teilnehmern kann auch ein kleines Turnier gespielt werden.
Bäcker-Pantomime
Wie bewegen Sie die Hände beim Teigkneten und Brötchenbacken? Führen Sie diese Bewegungen in einer Gruppe zusammen pantomimisch aus.
Karin B. aus Berlin erinnert sich: »Wir lebten 1953 am Stadtrand und hatten einen kleinen Garten. Dort befand sich ein Gehege aus Maschendrahtzaun. Darin hielt mein Vater Kaninchen. Er war sogar Mitglied im Kleintierzuchtverein.
Ich denke an einen ziemlich heißen Sommertag zurück. Es war der 17. Juni 1953 – ein Tag, der in die Geschichte eingehen sollte. Doch ich ahnte von all dem nichts, sondern schaute morgens aus dem Fenster und sah das Loch unter dem Maschendrahtzaun des Kaninchengeheges. Und, dass unser Hase Henry fehlte, mein Lieblings-Karnickel. Henry hatte weiche, weiße, flauschige Haare – und schöne braune Augen. Nun war er fort. ›Papa, Papa‹, rief ich, ›Henry ist weg‹. Doch meinen Vater schien das nicht zu interessieren. Er saß im Wohnzimmer, hatte einen Kopfhörer auf dem Kopf und hörte konzentriert Radio. Wie ich erst später erfuhr, lauschte er RIAS, dem amerikanischen Sender, der an diesem Tag zum Aufstand im sowjetischen Sektor in Berlin aufrief.
Doch all das war mir egal. Ich hatte nur eine Sorge: Wo ist Henry? Von der brenzligen Stimmung im Osten des Landes bekam ich nichts mit. Erst später erzählte mir meine Tante aus Mecklenburg von einer Kartoffelkäferplage zu dieser Zeit. Und, dass die SED verbreitete, dass die Amerikaner schuld an dieser Plage seien. Angeblich hätten sie nachts im Tiefflug Kartoffelkäfer über den Feldern abgeworfen … Auch ahnte ich nichts davon, dass Walter Ulbrich das Arbeitspensum in der DDR um zehn Prozent angehoben hatte. Ferner war mir nicht bekannt, dass die Menschen in der DDR für freie Wahlen demonstrierten. So wusste ich weder von den brennenden Kiosken am Potsdamer Platz und von den Schüssen vom Dach der Ministerien noch von den sowjetischen Panzern, die den Aufstand schließlich niederwälzten.
In meiner Welt drehte sich die ganze Sorge nur um eins: Ich hatte Angst um meinen Hasen Henry. Wo war er, das Kaninchen mit dem weichen Fell? ›Komm mit, Papa‹, rief ich, ›wir müssen doch Henry finden‹. Schließlich ließ mein Vater seine Kopfhörer sinken und ging mit mir in den Garten. Wir suchten in allen Winkeln. Es war keine Spur von Henry zu entdecken. Irgendwann jedoch begann mein Vater zu lachen. Er deutete in den Garten unserer Nachbarn. Und tatsächlich. Da saß Henry und knabberte in aller Ruhe am fremden Salat. Schnell schlüpfte ich durch den Zaun und fing den Hasen ein. Ich streichelte sein Fell und herzte ihn – mein Tag war gerettet.
Und wenn ich es nicht von den Erzählungen meiner Familie wüsste, würde ich vielleicht noch heute denken, dass die größte Sorge des 17. Juni 1953 ein entlaufenes Karnickel war.«
Wofür stehen die Buchstaben RIAS des Berliner Senders?
• Radio im amerikanischen Sperrgebiet
• Rhythmus in allen Sektoren
• Rundfunk im amerikanischen Sektor
Richtig ist: Rundfunk im amerikanischen Sektor
17. Juni 1953
Am 17. Juni 1953 demonstrierten Bürger in der DDR gegen die Anhebung der Arbeitsleistung um zehn Prozent. Außerdem forderten sie freie Wahlen. Der amerikanische Sender RIAS rief daraufhin zum Aufstand im sowjetischen Sektor von Berlin auf. Der sowjetische Stadtkommandant verhängte den Ausnahmezustand, sodass sowjetische Panzer den Aufstand niederschlugen und dabei mehr als 30 Personen getötet wurden. Von 1954–1990 war der 17. Juni in der Bundesrepublik ein gesetzlicher Feiertag, der »Tag der deutschen Einheit«.
Planwirtschaft und Normenerhöhung in der DDR
Ab 1951 gab es einen Fünf-Jahres-Plan in der DDR. Damit sollte die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Landes gesteuert werden. Anfang der 50er-Jahre stockte die Entwicklung der DDR. Also hob die SED die Arbeitsnormen an, um die Wirtschaft, den Staatshaushalt und schlicht die Ernährungssituation der Bevölkerung zu stabilisieren. Es gab aber auch Anreize für jeden Einzelnen: Belohnungen für besonders gute Leistungen, z. B. 50 Mark, ein Kofferradio oder den Titel »Held der Arbeit«.
17. Juni 1953
• Wie haben Sie die Unterschiede zwischen der BRD und der DDR in den 1950er-Jahren erlebt?
• Haben Sie in der DDR jemals den verbotenen amerikanischen Sender RIAS gehört? Was hat ihnen daran gefallen?
• Wie haben Sie den Volksaufstand am 17. Juni 1953 erlebt?
• Wo befanden Sie sich, als der Aufstand losbrach?
• Wie haben Sie vom Aufstand gehört?
Pressefreiheit
• Pressefreiheit ist ein hohes Gut. Was für Ressorts kennen Sie aus der Tagespresse?