Unter dem Olivenbaum, Band 01 - Claudia Westhagen - E-Book

Unter dem Olivenbaum, Band 01 E-Book

Claudia Westhagen

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Beschreibung

Jeden Sonntag im Herbst lädt die warmherzige Patronin Dorotea Esposito auf ihren Gutshof in Ligurien ein. Unter einem uralten knorrigen Olivenbaum nehmen Feriengäste und Nachbarn an der festlich gedeckten Tafel Platz. Während sie die Köstlichkeiten der regionalen Küche genießen, teilen die Gäste Erlebnisse, die sie tief berührt haben, oder berichten von Geheimnissen, die erst unter der warmen Sonne Italiens ans Licht kommen. Dabei entsteht ein einzigartiges Potpourri aus kraftvollen Liebesgeschichten, packenden Krimis und Momenten heiterer Gelassenheit. „Unter dem Olivenbaum“ ist mehr als eine Sammlung von Erzählungen – es ist eine faszinierende Vielfalt menschlicher Emotionen, Intrigen und leidenschaftlicher Abenteuer. Eine literarische Reise in die Welt des Genusses und fesselnder Geschichten, die das Leben feiert. Eingebettet in eine wundervolle Rahmenhandlung über die Familie Esposito.

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Zwei freundliche Hinweise

Um den Überblick besser zu bewahren, wurden die einzelnen Rahmenhandlungen »Unter dem Olivenbaum« nicht in das Inhaltsverzeichnis übernommen. Geschrieben wurden sie von: Claudia Westhagen, Brigitte Lamberts und Ursula Schmid-Spreer.

Haftungsausschluss: Sämtliche Personen, ihre Lebensumstände und Gegebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Menschen wäre rein zufällig. Der Gutshof Esposito entspringt unserer Fantasie. Ligurien und seine zauberhaften Orte sind in jedem Fall eine Reise wert.

INHALT

EINLADUNG

DER UNTERSCHIED von Ursula Schmid-Spreer

CAPELLI E VITA Von Fenna Williams

ÜBER DIE GRENZEN HINWEG Von Hannelore Koch

DER STROHHUT von Stefanie Gregg

SEHNSUCHT von Claudia Westhagen

DAS DATE Von Barbara Steuten

INSTINKT von Kerstin Lange

AUSZEIT IM HEU von Ursula Schmid-Spreer

UNZERTRENNLICH von Margit Heumann

UNVERFROREN von Sibyl Quinke

SALUTE! von Joachim Speidel

EISBLUME von Brigitte Lamberts

DIE KUNST UND DIE GUNST DER STUNDE von Rudolf Georg

DURCHGÄNIGE PERSONEN: »UNTER DEM OLIVENBAUM«

ÜBER DIE AUTOR:INNEN

DANKE

EMPFEHLUNGEN

IMPRESSUM

EINLADUNG

Monde und Jahre vergehen und sind auf immer vergangen, aber ein schöner Tag leuchtet das Leben hindurch. Franz Grillparzer

Liebe Freundinnen und Freunde,

liebe Genussmenschen,

wir laden Sie herzlich zu einem wundervollen Sonntag in Ligurien »Unter dem Olivenbaum« ein. Erleben Sie die berauschenden Aromen dieser einzigartigen Region. Lassen Sie sich von der malerischen Kulisse, exklusiven traditionellen Gerichten und bezaubernden Unterkünften inspirieren.

Tauchen Sie ein in die atemberaubende Schönheit der italienischen Riviera. Zwischen zerklüfteten Küsten, majestätischen Klippen und hinreißenden Dörfern erstreckt sich die einzigartige Küste und bergige Vielfalt Liguriens – von der französischen Grenze bis zu dem Ausläufer der Toskana entlang des Golfs von Genua.

Wir freuen uns auf einen gemütlichen Tag voller Geschichten und gemeinsamen Lachen. Jeder von uns trägt einzigartige Erlebnisse im Herzen, die das Leben bunter machen. In diesem Sinne möchten wir Sie dazu ermutigen, eine Geschichte mit uns zu teilen – eine, die Sie tief berührt hat, oder Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Es freuen sich auf einen unvergesslichen Tag in guter Gesellschaft.

Ihre Signora Dorotea Esposito und ihr Enkel Pietro Esposito

Tag:

Jeden Sonntag im September

Uhrzeit:

11.00 Uhr - open end

Ort:

Gutshof Esposito, Unter dem Olivenbaum, Ligurien

Besuchen Sie unseren Hofladen und erwerben Sie die köstlichen Produkte, die Sie bei uns verkostet haben. Unser Geschäft ist jeden Freitag und Sonntag für Sie geöffnet. Übernachtungsmöglichkeiten stehen ebenfalls zur Verfügung. Verbringen Sie die Nacht in einem gemütlichen Gastzimmer, auf unserem naturnahen Campingplatz oder mieten Sie eine authentische und luxuriöse Casa für 2 - 6 Personen. Wir sehen Ihrem Besuch mit Freude entgegen.

»Husch, husch«, rief die Patronin, Signora Dorotea Esposito. Sie stützte sich auf ihren Stock, hielt inne. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie liebte Sonntage. Gerade jetzt, wo die Tage etwas kürzer wurden und sich der Herbst ankündigte. Die Wiesen und Bäume verloren ihr sattes Grün. Signora Dorotea fröstelte leicht. Die Sonnenstrahlen erschienen ihr deutlich kühler.

Sie ließ ihre Augen über das Gut und die angrenzenden Weinberge schweifen. Sie flüsterte: »Du hast den Herbst so sehr geliebt, die Farben, die uns die Natur präsentiert, auch den mystischen Nebel und die windigen Herbststürme.« Wehmütig dachte sie an ihren verstorbenen Mann Giuseppe zurück. Wie oft hatten sie unter dem Olivenbaum gesessen und sich Geschichten erzählt, die klare Luft eingeatmet und die letzten golden warmen Tage genossen. Sie seufzte, erlaubte sich in der Vergangenheit zu verlieren. Bei der Olivenernte hatten sie sich kennengelernt. Giuseppe hatte immer wieder ihre Nähe gesucht. Sogar sein Mittagsbrot teilte er mit ihr.

Ihr Blick ging über das Gut, über den angrenzenden kleinen Campingplatz. Versteckt unter Bäumen standen Zelte oder auch kleine Wohnwagen. Fleißig waren sie gewesen, hatten hart gearbeitet. Darauf war sie stolz. Noch stolzer war sie auf ihren Sohn gewesen. Ein lieber Junge, fleißig, strebsam und treu. Elisabeth, die er schon seit der Schule kannte, heiratete er. Und dann kam dieser Unfall. Dorotea presste die Lippen fest aufeinander. Sie wollte nicht wieder in Trauer versinken. Sie hatte Pietro, ihren Enkel, der ihr nur Freude bereitete. Er bewohnte den Ostflügel der Villa, war immer zur Stelle, wenn sie ihn brauchte. Ihre Schultern strafften sich. Sie konnte wirklich stolz sein, auf das, was ihre Familie da geschaffen hatte. Ihre Gedanken gingen zum heutigen Tag zurück. Sie wollte die Tradition auf ihrem Gut wieder aufleben lassen, an den Sonntagen im Herbst die Bewohner des Dorfes zu bewirten. Auch Feriengäste oder auch einfach Wanderer, die am Gut vorbeikamen, wurden herzlich willkommen geheißen.

Sofia, ihre Köchin, war eine Zauberin am Herd. Sie beherrschte die Zubereitung von ligurischen Speisen, wie keine andere.

Ein kleiner Schauer lief ihr über den Arm. Was würde der heutige Sonntag für Geheimnisse offenbaren? Was für Geschichten würde sie heute erfahren?

Esmi, die Haushaltshilfe knickste kurz. Nein, sie würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Es war noch genügend Zeit, um den Tisch einzudecken.

»Servietten fehlen, Esmi, jetzt beweg dich schon. Ich möchte heute die roten haben. Rot wie die Liebe.«

Esmi verzog den Mund. Was wusste die Patronin mit ihren einundachtzig Jahren schon groß von der Liebe? Kurz erlaubte sie sich einen Gedanken an Andrea, den jungen Mann, der in dem Supermercato hinter der Fleischtheke stand.

»Husch, husch«, äffte ihre Kollegin Maria die Patronin nach. Aber nur leise, sodass sie es nicht hörte. Signora Esposito konnte sehr energisch und streng werden.

Die Signora ging ein paar Schritte zum Tisch hin, der direkt unter der weit ausladenden Krone des Olivenbaumes stand. Die Tafel war mit einem weißen Tuch gedeckt, die roten Servietten machten sich gut. Esmi trug ein Tablett mit Rotweingläsern.

»Pietro, da bist du ja!«

Der junge Mann eilte auf seine Großmutter zu, ergriff ihre Hände und drückte einen Kuss darauf.

»Es ist alles vorbereitet, liebste Nonna. Ich freue mich schon, und ich bin verdammt neugierig, wer heute alles zu unserer Tafel kommt.« Der Schäferhund, Signore Palazzolo, trabte neben ihm her. Auf einen Wink hin, legte er sich neben den Stuhl, auf dem die Patronin Platz nahm. Majestätisch hob er den Kopf und überblickte die Tafel.

Die Kirchturmuhr schlug elf Mal.

»Wie schön unser Gut ist!« Dorotea wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Erneut verweilten ihre Gedanken in der Vergangenheit. Sie als junges Mädchen, die von dem Gutsbesitzer Giuseppe Esposito zum Altar geführt wurde. Das Leben war geprägt von harter Arbeit, aber sie redeten immer miteinander, meist saßen sie unter dem Olivenbaum. Der Baum war ihr Freund geworden. Er konnte im Laufe der vielen Jahrzehnte viele Geheimnisse bewahren.

»Signore Pastore Ricci! Welch Überraschung. Herzlich willkommen!« Ein älterer Herr kam auf die Patronin zu, ergriff ihre Hand und drückte einen Kuss darauf.

Dorotea Esposito hielt sich mit der anderen Hand am Stock fest.

Der Hof war gefegt, der Tisch gedeckt, die beiden Mädchen standen bereit, die Gäste zu bewirten.

Welch interessanten Geschichten würden zum Besten gegeben werden? Sie straffte die Schultern. Der Brunch, der oftmals bis nach Mitternacht dauerte, konnte beginnen.

URUSLA SCHMID-SPREER

DER UNTERSCHIED

Nach und nach kamen Leute aus dem Dorf, die älteren Frauen waren in dunkle Röcke und weiße Blusen gekleidet, die langen Haare zu Zöpfen geflochten und wie eine Krone um den Kopf gelegt. Die Männer trugen legere Stoffhosen und Hemden. Alle plauderten aufgeregt durcheinander, begrüßten sich lautstark. Sie gestikulierten und redeten durcheinander.

Signora Esposito klatschte in die Hände und rief freudig: »Das Büfett ist eröffnet. Nennen Sie Esmi und Maria ihre Wünsche.«

Die Gäste zeigten auf das Gewünschte und die beiden Serviererinnen legten die ausgewählten Speisen auf den Teller. Die Focaccia di Recco erfreute sich großer Beliebtheit. Köchin Sofia hatte nicht am Käse und Olivenöl gespart. Sie hatte das Fladenbrot aus Hefeteig zubereitet, hauchdünn ausgerollt und reichlich mit Frischkäse belegt.

Sofia stand hinter dem Büfett, rote Flecken bedeckten ihre Wangen, voller Freude rief sie: »Ligurien riecht nach frischem Basilikum, Oliven, Salami vom Wildschwein, Wein und wilden Kräutern und nach meiner Focaccia.«

Begeistertes Klatschen der Gäste war die Antwort, nur unterbrochen von heiserem Gebell des Signore Palazzolo.

»Das ist unser ältester Baum, den wir hier auf dem Weingut haben«, meinte die Signora zu den Gästen. »Er ist zum Glück gesund, und er trägt reichlich Früchte. Es ist so stimmungsvoll unter ihm zu speisen.« Man hielt sich lange an den Vorspeisen auf, alles verlief in harmonischer Atmosphäre. Es wurde viel gelacht und dem Aperol Spritz come Aperitivo zugesprochen. Sie unterhielten sich angeregt.

Die Sonne stand fast im Zenit. Die Sonnenstrahlen blinzelten durch den Olivenbaum. Es wurde ein bisschen kühl unter den stattlichen Zweigen.

Signora Esposito klopfte kurz an ihr Glas. »Es ist Brauch in meinem Haus, eine Geschichte zu erzählen. Traditionell beginne ich die Herbstsaison mit einer Geschichte.« Sie sah in die Runde, forderte ihren Enkelsohn Pietro auf, die Gläser zu füllen. Die Schüsselchen mit Oliven, eingelegten Tomaten und Auberginen waren aufgefüllt. Sofia hatte Zahnstocher hineingesteckt. Andere Schüsseln waren mit Nüssen, Kapern und Sardellen bestückt. Auch Olivenöl wurde gereicht, sodass man Stücke der Foccacia eintunken konnte. Jeder Gast durfte sich somit seinen Teller selbst gestalten. Erst als alle Teller gefüllt waren, begann sie zu erzählen.

»Es war Anfang 1946, der Zweite Weltkrieg war gerade vorüber würden. Die Menschen konnten sich nur schwerlich daran gewöhnen, dass der Krieg vorbei war, trauten dem Frieden nicht so ganz. Nur sehr langsam begann das normale Leben wieder. An unser Weingut grenzte ein weiteres, das genau wie unser Hof einigermaßen verschont geblieben war. Wir haben uns gut mit unseren Nachbarn, der Familie Rossi, verstanden. Während des Krieges kamen die Zwillinge Mario und Antonio auf die Welt. Eineiige Zwillinge, man verwechselte sie laufend. So sehr sie sich auch äußerlich ähnelten, so verschieden waren sie vom Charakter her. Mario war der ruhigere, strebsamere, während Antonio seinen Eltern viel Kummer bereitete. Schon als kleiner Junge ließ er keine Schlägerei aus. Selbst gegen seinen Zwillingsbruder erhob er die Hand. Signora Teresa Rossi hatte oft Kummer mit ihm. Sie musste die Kinder allein großziehen. Ihr Mann war leider in der Zwischenzeit an einer Lungenentzündung verstorben.«

»Zwillinge, die sich nicht grün sind, das ist schlimm«, unterbrach der Pastore Ricci. »Die müssten doch ein besonders enges Band haben.«

»Scheinbar war dem nicht so«, antwortete Pietro. »Erzähle, wie ging es weiter, Nonna?«

»Teresa starb, und der Advoccato gab bei der Testamentseröffnung bekannt, dass die Zwillinge das Gut, die Weinberge und noch ein Grundstück je zur Hälfte geerbt hätten. Sie erhoffte sich wohl, als sie das Testament verfasste, dass die beiden dann gut zusammenarbeiten würden. Und sie wünschte sich auch, dass sie dann besser miteinander auskamen.«

Die Zuhörer lauschten gespannt. Pietro öffnete eine weitere Flasche Rotwein aus dem eigenen Weingut, goss ihn in die bereitgestellten Karaffen, damit er sein Aroma entfalten konnte. Er reichte Schälchen mit grünen und schwarzen Oliven. Eines der Mädchen stellte Körbe mit frischem Brot auf den Tisch, erst dann erzählte Signora Esposito weiter.

»Wie berichtet wurde, fand die Sekretärin Livia des Gutes einen der Zwillingsbrüder tot im Büro am Boden liegend. Er war sichtlich erschlagen worden, denn ein Briefbeschwerer lag neben der Leiche. Ihr Schrei ließ die Arbeiter auf den Hof stürmen. Auch der andere Zwillingsbruder, der gerade beim Frühstück saß, war losgerannt.

»Antonio«, rief er und noch einmal »Antonio«. Somit war klar, welcher Zwilling, tot auf dem Boden lag. Die Ermittlungen verliefen äußerst schleppend, es gab keine Fingerabdrücke, die man verwerten konnte, und auch sonst keinerlei Indizien. Antonio war die Schande der Familie. Stück für Stück kam heraus, was er alles auf dem Kerbholz hatte. Die Gläubiger saßen ihm im Nacken. Ein gehörnter Ehemann hatte ihm Prügel angedroht, aber ob das für ein Mordmotiv ausreichte?«

Einer der Gäste, Dottore Camillo Barbieri, seufzte und meinte: »Vielleicht ist ihm wirklich sein lockerer Lebenswandel zum Verhängnis geworden.« Er sah Dorotea direkt an und lächelte.

»Und ist die Geschichte aufgeklärt worden? Wer hat ihn umgebracht?«, ließ sich nun wieder Pastore Ricci vernehmen.

»Sie haben noch eine Weile ermittelt, es wurde immer klarer, dass es zu viele Leute gab, die ein Motiv gehabt hätten. Aber alle konnten ein Alibi vorweisen, somit schieden sie aus. Wie so oft hat Kommissar Zufall seine Hände im Spiel. Livia, die Sekretärin der beiden Brüder, kam eines Tages tränenüberströmt zu mir in die Küche«, erzählte Dorotea weiter. »Unter Schluchzern erzählte sie, dass sie ein Verhältnis mit Mario gehabt und der sich nun von ihr getrennt hätte. »Wo wir doch so gut miteinander waren, wir haben sogar schon von Hochzeit gesprochen. Ich kann es nicht glauben«, das waren ihre Worte. Und dann meinte sie noch: »Mario hat sich total verändert, neulich hat er mich sogar angeschrien, dass er seinen Kaffee schwarz trinkt, ob ich mir das nicht merken könnte. Schwarz ja, aber immer mit einem Löffel Zucker.« Das kam mir doch etwas seltsam vor«, sagte Signora Esposito. »Commissario Bianchi, er kauft seinen Wein bei uns, erzählte ich von dieser Begegnung.

»Ich habe einen Verdacht«, meinte er.

Das konnte ich nur bestätigen. Ich bin extra in die Bibliothek gegangen und habe mich eingelesen. Stellt euch vor, eineiige Zwillinge haben keine identischen Fingerabdrücke. Das wusste man damals schon. Sie haben zwar ein ähnliches Fingerabdruckmuster, aber die Spiralen und Schlaufen an ihren Fingerkuppen sehen vielleicht gleichartig aus, sind es aber nicht.

Ich lud daher Mario zu einem Glas Wein ein. Man hätte es auf seinen Kummer zurückführen können, denn normalerweise trank er ein Glas, sehr selten mal zwei. Diesmal aber langte er kräftig zu, goss sich immer wieder nach. Sehr ungewöhnlich für Mario. Wankend ging er nach Hause. Es waren nur ein paar Meter bis zu seinem Grundstück. Die Flasche mit seinen Fingerabdrücken habe ich dann Commissario Bianchi gegeben.«

»Und was kam dabei heraus?«, fragte Pietro. Die Gäste hatten gespannt zugehört.

»Die Fingerabdrücke gehörten Antonio«, rief die Signora aus. »Er war ja schon mal polizeilich erfasst worden. Man konnte sie ihm zuordnen.«

»Si, si«, meinte Esmi, die ebenfalls aufmerksam zugehört hatte. »Man sollte niemals eine Frau enttäuschen oder schmähen. Das könnte zum Verhängnis werden. Hat er es wenigstens zugegeben, dass er Antonio ist und dass er seinen Bruder Mario umgebracht hat?«

»Das musste er wohl«, fuhr Signora Esposito fort. »Die Gefängnisse damals waren grauenvoll und die Carabinieri gingen mit Gefangenen nicht gerade zimperlich um.« »Fingerabdrücke lügen nicht.«

»Und was war sein Motiv?«, fragte der Dottore.

»Die blanke Gier. Er wollte das Gut allein haben und nicht mit seinem Bruder teilen. Obwohl, es sein Zwilling war, hatten die beiden nichts gemeinsam. Er hasste diesen Menschen sogar. Ein Bruder, der so ganz anders war als er selbst, der ihm immer wieder den Spiegel vorhielt, der zwar genauso aussah wie er, das missfiel ihm sehr. Mario war der Brave, der Folgsame, der Angepasste. Antonio fühlte sich wohl immer als Außenseiter.«

»Eine schöne Geschichte«, antwortete der Dottore.

Und die Patronin entgegnete: »Stimmt! Pietro bitte fülle die Gläser. Lasst uns auf das Gute in der Welt anstoßen!«

Signora Esposito nahm nur mit halbem Ohr wahr, wie die Gäste lebhaft über ihre Geschichte diskutierten. Allmählich legte sich die Aufregung, die sie jedes Mal ergriff, wenn sie eine große Einladung ausrichtete.

»Du hast Lampenfieber«, hatte Giuseppe sie immer geneckt.

»Pah! So was kenne ich doch nicht!«

»Nein natürlich nicht, mia bellissima«, hatte er mit schalkhaftem Grinsen geantwortet.

»Es ist schon erschreckend, wie unterschiedlich die Zwillingsbrüder waren«, warf Signora Rossi aus dem Dorf ein. Ihre zwanzigjährige Tochter Elena saß neben ihr. Sie hatte sich bunte Bänder in ihr langes Haar geflochten.

»Eineiige Zwillinge besitzen das gleiche Erbgut. Aber das betrifft nur das Äußere. Die Psyche und der Charakter können grundverschieden sein«, erklärte der Dottore.

Die Patronin bemerkte, dass Pastore Ricci auf den Olivenbaum zuging. Sie stand auf und stellte sich – auf ihren Stock gestützt – neben ihn. »Ich freue mich wirklich, dass Sie trotz Ihrer vielen Arbeit kommen konnten.«

»Verehrte Signora, die Einladung zu Ihrem legendären Sonntagstreffen konnte ich mir nicht entgehen lassen. Er streckte seine Hand aus und pflückte eine saftige blauviolette Olive.« Genüsslich biss er hinein. »Vorzüglich, die sind schon reif.« Den Kern spuckte er in die Hand. »Ich liebe es, wie intensiv die Früchte dieses alten Baumes schmecken.« Wiederholt zupfte er eine Olive ab. »Fruchtig und zu gleich herb mit einem leicht nussigen Aroma. Was will ich mehr?«

Die Patronin schüttelte lachend den Kopf. »Ich bitte Sie, lassen Sie noch welche hängen. Nächste Woche wird geerntet.«

Lächelnd nickte er ihr zu. Er wandte sich ab und nahm einen Teller, um sich am Büfett zu bedienen.

Stolz überblickte die Patronin die fröhliche Runde. Die einen saßen noch vor ihrem Espresso und Cornetti, die anderen kosteten schon die leckeren Vorspeisen, die aufgetischt worden waren.

Nun begann ihre Lieblingsaufgabe des heutigen Tages. Sie entschied, wer eine Geschichte erzählen durfte! Ihr Blick fiel auf ein Paar, das weit hinten auf der linken Seite des Tisches saß. Sie hatten nur Getränke vor sich stehen. Einen Augenblick stutzte sie. Für einen Moment dachte sie, sie würde die beiden kennen. Sie überlegte. Nein, sie hatte sich wohl geirrt. Die zwei unterhielten sich leise. In ihrem Miteinander lag etwas Zauberhaftes.

Die Patronin straffte die Schulter. »Zeit für die nächste Geschichte.«

FENNA WILLIAMS

CAPELLI E VITA

»Magie«, flüstert Lena Molossini dem Mann an ihrer Seite zu, den sie erst seit achtundvierzig Stunden kennt, aber seitdem ihr Leben anvertraut. Leben, das sie bisher nicht hatte. »Es ist wie Magie.«

Jetzt nimmt Davide wie selbstverständlich ihre Hand, haucht einen Kuss auf den Handrücken und sagt: »Menschen haben Augen im Kopf, schauen aber nicht hin, bis man ihnen sagt, was sie sehen sollen – selbst wenn das von der Wahrheit weit entfernt ist. Mit echter Wahrnehmung hat das nichts zu tun.«

»Es ist mir trotzdem ein Rätsel, warum mich niemand am Tisch erkennt, nicht einmal meine Eltern. Es ist ja nicht so, dass ich noch nie jemandem von den anderen begegnet bin.« Sie schüttelt ungläubig den Kopf. »Da vorne, links, Dottore Barbieri, der war, bis er seine Praxis aufgab, unser Hausarzt. Der sollte wissen, wer ich bin.«

Davide nimmt den Arzt ins Visier und folgt dessen Blick zur Gastgeberin hinüber. »Wir könnten alle nackt am Tisch sitzen«, sagt er, »der Arzt würde trotzdem nur Augen für Signora Esposito haben.«

»Aber neben ihm sitzt Signora Rossi, meine Nachbarin, die kennt mich seit meiner Geburt. Gleich neben dir, das ist Aldo Romano, bei dem ich am Freitag Obst und Gemüse gekauft habe ... bevor ich dir in die Hände fiel.« Sie kichert wie ein Teenager und schämt sich nicht, dieser Zeit schon seit fünfundzwanzig Jahren entwachsen zu sein.

Der Weg zum Freitagsmarkt war derselbe wie immer. Die Zeit, die man ihr gab, die Einkäufe für das Wochenende zu erledigen ebenso. Auch ihr Aussehen hatte sich in all den Jahren nicht verändert, nur hingen ihre Schultern weiter herunter, schien es ihr, als sich ihre Gestalt im Vorübergehen im Schaufenster des Friseurladens spiegelte, der vor einem Monat die alteingesessene Metzgerei abgelöst hatte. Aus den Augenwinkeln sah sie sich, wie alle sie kannten: lange braune Strickjacke, ausgeleiert, dunkelgrün karierter Rock, blickdichte Strumpfhosen, ausgewaschenes Grau, Schuhe mit Blockabsätzen, die auf dem Kopfsteinpflaster auch bei Regen nicht ins Rutschen gerieten.

Lena eilte weiter und blieb dann kurz vor dem Einbiegen in die Fußgängerzone wie angewurzelt stehen. Sie ging die paar Meter zurück zum Schaufenster des CAPELLI E VITA, um sich zu vergewissern, dass das Plakat wirklich versprach, wovon sie seit Jahren träumte:

Wir schenken Ihnen die Frisur, die zeigt, wer Sie sind.

Lernen Sie sich kennen, wie wir Sie sehen.

Eine Sekunde dachte sie nicht an prosciutto crudo, Oliven, schwarz und grün, den Honig aus den Bergen Südtirols und den Büffelmozzarella. Ihre Einkaufsliste war lang und forderte alles, was die Familie für das Wochenende brauchte, nur traditioneller Kaninchenbraten stand nie darauf. Das Geld sparte man im Hause Molossini; stattdessen speiste man in treuer Selbstverständlichkeit lieber bei Signora Esposito, wofür man sogar den beschwerlichen Weg den Hügel hinaufwanderte. Der schönen Aussicht wegen, nicht um Geld zu sparen, selbstverständlich. Lena ließ man zu Hause, die fand immer Übriggebliebenes.

»Auch Reste müssen aufgegessen werden«, sagte ihre Mutter regelmäßig. Genau wie: »Man muss auch mal Arbeit liegen lassen« und meinte damit sich, nie Lena.

»Man muss auch mal mit anderen schwätzen. Neue Eindrücke gewinnen«, haute der Vater in dieselbe Kerbe, »interessante Menschen um sich haben.« Er meinte damit alle, außer Lena.

»Ich trau mich gar nicht, mich umzusehen oder zum Büfett zu gehen«, murmelt Lena. »Ich fürchte mich zu verraten. Den Mund aufzumachen getraue ich mich erst recht nicht.«

»Mach nur«, beruhigt Davide. »Versteck dich einfach hinter der Normalität. Sie erwarten dich hier nicht, also bist du auch nicht da.«

»Und mein Bruder? Was ist mit Umberto?«

»Der mit dem Dreitagebart, etwas zu langen Koteletten und dem Goldkettchen unter dem weit offenen Hemd?«

Lena nickt.

»Der wird jeden Moment anfangen mit dir zu flirten. Den interessiert seine Wirkung auf die Neue, nicht, wer du bist«, sagt Davide. »Außerdem fehlt ihm der richtige Friseur. Einer, der ihm mal so richtig den Scheitel zieht.«

Lena hatte lange auf das Plakat gestarrt, ohne zu merken, dass sie beobachtet wurde und überlegt, ob das des Rätsels Lösung sein könnte. Man musste den Mut haben alte Zöpfe abzuschneiden, um Platz für Neues zu finden, endlich sichtbare Zeichen setzen. Dann tastete sie nach ihrem Zopf. Haselnussbraun. Schwer. Dick. Wenn er nicht wie ein Kranz, um ihr Haupt geflochten war, reichte er bis über ihre Taille hinweg, einen guten Meter lang. Wenn sie ihre Haare wusch, dauerte es einen ganzen Tag bis ihre Mähne trocknete. Also flocht sie ihren Zopf immer so feucht, wie er nach dem Frottieren war und genoss für viele Stunden das Gefühl, einen kühlen Kopf zu haben, der sie daran hinderte laut zu schreien, Widerworte zu geben, unter der Last der Einsamkeit inmitten der Menschen verrückt zu werden. Denn im Hause Molossini stand die Arbeit im Vordergrund, nie das Spiel und erst recht nicht Lena. Immer kam die Ölmühle an erster Stelle, und die musste auch an einem Sonntag zur Verfügung stehen. Sogar außerhalb der Erntezeit. Auf Kundschaft und auf Aufträge konnte nicht verzichtet werden.

Lena wendet ihre Aufmerksamkeit Davide zu, wie er da neben ihr in der Runde sitzt, lacht, scherzt und offenbar von allen genau so akzeptiert wird, wie er ist: knapp unter fünfzig, von gedrungener Statur und mit dunklem Haar, das sich noch immer lockt. Lena muss sich zusammenreißen, nicht mit der Hand hindurchzufahren, nicht um es zu glätten, Gott bewahre, sondern um es weiter zu verwuscheln; aus purer Begeisterung, weil er ihr Leben auf den Kopf gestellt hat: mit einfachen Handgriffen, voller Verständnis, Charme und Hingabe an seinen Beruf.

Jetzt zwinkert er ihr zu und sagt an alle am Tisch gewandt: »Selbstverständlich stellen wir uns gerne vor, wenn das hier so üblich ist. Ich bin Davide Lombardi, der Inhaber des neuen Friseursalons unten im Ort. Und das ist Lena, mein Model, mit dem ich bei der diesjährigen Landesmeisterschaft der Friseurinnung in San Remo den ersten Preis zu gewinnen gedenke.«

»Das sollte ein Leichtes sein, Signor Lombardi«, sagt die Hausherrin. »Ich habe selten ein so apartes Gesicht und eine so geschickte Frisur gesehen. Der jungen Dame fehlt nichts als eine lange Zigarettenspitze und ein Paillettenkleid aus den Zwanzigerjahren, und ich würde Pietro bitten, mit ihr einen Charleston aufs Parkett zu legen.«

»Den würde ich mir auch zutrauen«, lässt sich Umberto Molossini hören. »Aber mir wäre ein Tanz lieber, bei dem ich mehr als die Hand der jungen Dame halten dürfte.«

»Lena«, sagt Lenas Mutter, »ist so ein schöner Name. Elegant, jung und doch mit jahrhundertealter Tradition. Aber man muss ihn auch gebührend tragen können.«

Ihr Mann nickt. »Unsere Tochter kann das nicht.«

»Lernen Sie sich kennen, wie ich Sie sehe«, sagte eine Stimme direkt hinter ihr.

Lena entdeckte erst in diesem Moment die zweite Spiegelung im Fenster. Einen Mann, etwas kleiner als sie selbst. Sie drehte sich nicht um, sondern redete gegen die Fensterscheibe an. »Ich bin Lena, ich habe Haare auf dem Kopf, aber keine Frisur.«

»Ich bin Davide. Ich ändere das.« Noch auf der Straße öffnete er ihren Haarkranz, mit sanften Fingern, so als wäre jede Haarnadel zuvor durch ihn gesetzt worden, als hätte jede Strähne darauf gewartet durch ihn befreit zu werden. Ihr Haar fiel weit über den Rücken und Davide hatte es behandelt wie einen kostbaren Umhang. Dann betrachtete er lange ihr Gesicht im Schaufenster. »Schön«, sagte Davide und Lena wusste, sie war gemeint.

»Es kann zwei Gründe haben, warum jemand nicht mit dem eigenen Namen verschmilzt«, sagt Davide und legt den Arm um Lena, wie um ihr Sicherheit zu geben. »Entweder haben die Eltern dem Kind den falschen Namen gegeben, und es ist einfach keine Lena, oder die Familie lässt nicht zu, dass es dem Mädchen gelingt in ihren Namen hineinzuwachsen. Familie kann sehr hinderlich sein, wenn es darum geht, die eigene Persönlichkeit zu finden.«

»Moment mal«, begehrt Umberto Molossini auf. »Was, wenn die Frau einfach den Schneid einer Lena nicht hat?«

»Wie müsste der denn aussehen?« Lena findet zu ihrer Überraschung in einer verborgenen Ecke ihres Temperaments eine zornige Ecke und damit ihre Stimme wieder.

»Sie müsste sein wie Sie.« Ihr Bruder legt ein schmieriges Lächeln auf und beugt sich über den Tisch, um ihr nähergekommen.

Lena stellt den Abstand zwischen sich und ihm wieder her und rückt ein Stück zurück, damit seine Schleimspur das Make-up in ihrem Gesicht nicht ruiniert.

»Wie bin ich denn?«

»Sexy«, haucht Umberto.

---ENDE DER LESEPROBE---