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Band 4 der Dialogdidaktik-Reihe vertieft relevante Aspekte der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften und gibt vielfältige Tipps für die Unterrichtspraxis: Wie gelingt es am besten, dialogdidaktische Elemente in den Deutschunterricht und den fächerübergreifenden Unterricht aufzunehmen? Wie lassen sie sich mit den Anforderungen der Lehrpläne unterschiedlicher Jahrgangsstufen vereinbaren? Worin bestehen die Zielsetzungen der Dialogdidaktik, wie die Kompetenz- und Handlungsorientierung, im Umgang mit literarischen Texten? Wie lassen sich Schülerinnen und Schüler heute anregen, selbst literarisch aktiv zu werden, und dafür sensibilisieren, produktiv und reflektierend mit Sprache umzugehen? In welchem Verhältnis stehen Literatur und Gesellschaft heute beziehungsweise wie kann die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gegenwart im Umgang mit Literatur entwickelt werden? Wie lässt sich im Austausch mit Mitschülerinnen und Mitschülern anderer Muttersprachen und Kulturen Dialogverhalten ausprobieren? Wie lassen sich dabei gerade Fremdheitserfahrungen zum Beispiel mit anderen Sprachen zur Reflexion – und kritischen Hinterfragung – der eigenen, oftmals allzu selbstverständlich erscheinenden Lebenswelten zielführend einsetzen?
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Seitenzahl: 194
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Jörg Roche / Gesine Lenore Schiewer
Unterrichtswelten - Dialoge im Deutschunterricht
Neue Perspektiven für Literaturvermittlung, Lesen und Schreiben
Mit Unterrichtskonzepten von José F.A. Oliver, Akos Doma, Lena Gorelik, Sudabeh Mohafez und Senthuran Varatharajah
© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISBN 978-3-8233-8422-9 (Print)
ISBN 978-3-8233-0325-1 (ePub)
Die ersten drei Bände der Dialogdidaktik-Reihe (Identitäten, Emotionen, Lebenswelten) enthalten eine Vielfalt von Texten unterschiedlicher literarischer Gattungen zu Themen, die den Anliegen heutiger Schülerinnen und Schüler entsprechen. Zu diesen relevanten Themen finden sich in den drei Bänden zahlreiche Bearbeitungsvorschläge der Autorinnen und Autoren, die zum Dialog über die teilweise eigens für diese Bände verfassten Texte und ihre Themen einladen. In verschiedenen Beiträgen werden zudem die theoretischen Hintergründe dieser Literaturdidaktik des Dialogs behandelt.
Der vorliegende Band baut darauf auf, nimmt dabei aber gezielt Aspekte der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften in den Blick:
Wie gelingt es am besten, dialogdidaktische Elemente in den Deutschunterricht und den fächerübergreifenden Unterricht aufzunehmen?
Wie lassen sie sich mit den Anforderungen der Lehrpläne unterschiedlicher Jahrgangsstufen vereinbaren?
Worin bestehen die Zielsetzungen der Dialogdidaktik, vor allem die Kompetenz- und Handlungsorientierung, im Umgang mit literarischen Texten?
Wie lassen sich Schülerinnen und Schüler heute anregen, selbst literarisch aktiv zu werden, und dafür sensibilisieren, produktiv und reflektierend mit Sprache umzugehen?
In welchem Verhältnis stehen Literatur und Gesellschaft heute beziehungsweise wie kann die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gegenwart im Umgang mit Literatur entwickelt werden?
Wie lässt sich im Austausch mit Mitschülerinnen und Mitschülern anderer Muttersprachen und Kulturen Dialogverhalten ausprobieren; wie lassen sich dabei gerade Fremdheitserfahrungen zum Beispiel mit anderen Sprachen zur Reflexion – und kritischen Hinterfragung – der eigenen, oftmals allzu selbstverständlich erscheinenden, Lebenswelten zielführend einsetzen?
Praktische und vielschichtige Antworten für einen Schülerinnen und Schüler wirklich begeisternden, motivierenden und kenntnisreichen Unterricht geben darauf in diesem Band Senthuran Varatharajah, Sudabeh Mohafez, Akos Doma, Lena Gorelik und José F.A. Oliver. Ergänzt werden ihre didaktischen Vorschläge durch eine gut verständliche Darstellung der Grundlagen der Didaktik des Dialogs, eines neuartigen Ansatzes der Literaturvermittlung und des Zugangs zum Lesen und Schreiben, der diesem Band zugrunde liegt.
Die Vielfalt der Themen, der Poetiken und der didaktischen Zielsetzungen und Schwerpunkte eröffnet ein großes Spektrum an Zugängen zu jungen Leserinnen und Lesern, von denen viele vermutlich noch gar nicht wissen, dass sie auch Autorinnen und Autoren sind oder sein können und dass auch in ihnen literarische Kompetenzen schlummern. Diesen Potentialen soll mit den didaktischen Beiträgen für unterschiedliche Formen von Schreibwerkstätten zur Entfaltung verholfen werden. Als Referenzpunkte dienen dabei eigene Werke und Werke unterschiedlicher Gattungen anderer bekannter zeitgenössischer und historischer Autorinnen und Autoren. Hervorgehoben werden Struktur- und Wirkungselemente literarischer Texte, Funktionen sprachlicher Mittel, Perspektivierungen in Erzählung und Dichtung, Schreibstrategien und -techniken, Aspekte der Mehrsprachigkeit und interkulturelle Potentiale.
Dabei wählen die Autorinnen und Autoren nicht den klassischen Weg der Didaktikpräsentation, wie er in Fortbildungsveranstaltungen verbreitet ist. Jede Autorin und jeder Autor stellt aufgrund der jeweiligen langjährigen Erfahrungen mit Schulveranstaltungen und Fortbildungen die eigenen Präferenzen schlüssig, entdeckend und jeweils mit eigenen literarischen Texten illustriert dar. So entsteht eine lesenswerte Mischung aus literarischen Texten, biographischen, historischen und gesellschaftlichen Hintergrundinformationen und Lektüre- und Unterrichtshinweisen.
Senthuran Varatharajah zeigt in seinem Beitrag „Ohne Abschied kein Neuanfang“. Literarische Schreibwerkstatt – Am Beispiel der Bedingungen des Menschlichen, geleitet von Textauszügen von Joan Didion und Peter Weiss sowie autobiographischen Ausführungen, wie Texte exemplarisch im Unterricht und dabei mittels verschiedener thematischer Aufgabenstellungen auch strukturelle Merkmale bearbeitet werden können, wie sie zum Beispiel beim Wechsel der Erzählperspektive oder der Auslassung von Adjektiven auftreten. Anhand der für alle Leserinnen und Leser relevanten Erfahrungen zu Abschieden und Neuanfängen wird hier vor allem das kreative Potential von sprachlichen Variationen aufgezeigt.
In ihrem Beitrag Interkulturalität und Intertextualität im kreativen literarischen Schreiben – Am Beispiel der Themen Angst und Traum entwickelt Sudabeh Mohafez verschiedene Unterrichtseinheiten bestehend aus theoretischen Literaturarbeiten am Beispiel von Originaltexten und Bearbeitungsaufgaben für die eigene literarisch-kreative Schreiberfahrung. Auch diese Unterrichtseinheiten eignen sich für verschiedene Schularten und Altersstufen und sind mit didaktischen Hinweisen für Lehrerinnen und Lehrer versehen. Wie in der vorangehenden Einheit arbeitet auch Mohafez mit Reduktionsstrategien, die dazu dienen, Variationen anzuregen und die Macht der Sprache zu entfalten. Ausführlich behandelt auch sie dabei strukturelle Merkmale literarischer Texte und deren Wirkungen auf Leserinnen und Leser. Unterrichtseinheit 2 behandelt vertieft, am Beispiel eines persischen Originaltextes von Forrough Farrokhsād, die Wirkungen einer fremden Sprache und die Möglichkeiten der Eröffnung eines dritten Raumes als Konsequenz der Begegnung von Sprachen.
Akos Doma wählt für seine Didaktik einen etwas anderen Weg. In seinem Beitrag Literarische Schreibwerkstatt – Am Beispiel der Themen Hoffnung und Sehnsucht beginnt er jeweils mit einem kulturgeschichtlichen Überblick über die Begriffe Hoffnung und Sehnsucht und begründet sie als Motive berühmter literarischer Texte von Henrik Ibsen und Anton Tschechow über Eugene O’Neill, Arthur Miller, Maxim Gorki bis zu E.T.A. Hoffmann, Novalis, Joseph von Eichendorff und Johann Wolfgang Goethe. Auf dieser literaturwissenschaftlichen Einführung baut dann seine Schreibwerkstatt auf, die er als fragenden, dialogischen Prozess des Autors/der Autorin von der Idee bis zum fertigen Roman beschreibt, illustriert an Hand von Domas’ persönlicher Erfahrung. Dieser kleinschrittig beschriebene Weg mit vielen oft unbemerkten Stationen und Entscheidungen kann sehr gut als Masterplan für die Analyse von Texten und die Entwicklung eigener Texte der Schülerinnen und Schüler dienen. Er fungiert wie ein didaktischer Leitfaden für einen entdeckungsreichen, aktiven Unterricht. Diesem Leitfaden folgen methodische Hinweise für eine Schreibwerkstatt in Form von Übungen zum Schreiben und Vortragen, die Doma dann in unterrichtliche Szenarien, mit verschiedenen thematischen und textuellen Perspektivierungen, für Willkommensklassen, Grundschule, Haupt-, Mittel- und Berufsschule, Realschule und Gymnasium überführt.
Lena Gorelik fokussiert ihre Einheit auf das Thema Mehrsprachige Lebenswirklichkeit. Dabei geht sie eingangs vor allem auf die vermeintlichen Ängste von Autorinnen/Autoren beim Schreiben generell und beim literarischen Schreiben im Besonderen ein und behandelt erprobte Strategien zur Überwindung dieser Ängste. An einem Auszug aus ihrem Roman Null bis Unendlich gibt sie schließlich differenzierte methodische Hinweise dazu, wie die Schülerinnen und Schüler die Brücke vom Textverstehen zum eigenen Schreiben schlagen können, zunächst über Worterklärungen und über sprachliche Perspektivierungen bis hin zum Transfer in erlebte oder imaginierte Situationen. Die methodischen Hinweise sind in drei Komplexitätsstufen, mit zunehmender Komplexität, gegliedert und lassen sich damit unter anderem unterschiedlichen Schularten zuordnen oder auch in einem binnendifferenzierten Unterricht einsetzen.
In dem Ansatz Von der Notiz ins Notat; vom Notat in die Verdichtung: aus der Verdichtung ins Gedichtführt José Oliver die Arbeiten fort, die er bereits in den drei vorangehenden Materialbänden ausgearbeitet und gut illustriert hat. Hier auch wieder illustriert mit einer fast unzählbaren Fülle von Originaltexten und Zitaten (viele von weiteren Chamisso-Autorinnen und -Autoren) und systematisch ausgeführt in Bezug auf den Entstehungsprozess lyrischer Texte und eine Darstellung und Bearbeitung ihrer wesentlichen Strukturmerkmale (Gestaltung, Inhalt und Form, Erzählperspektive, Reim, Textlänge, lyrisches Ich, Variation), versehen mit Schreiblockerungsübungen und Arbeitsblättern als Vermittlungsinstrumente und -begleiter, schon fast ein Lyrik-Grundkurs für die Schule und eine Schreibwerkstatt für angehende Poeten.
Literarische Schreibwerkstatt – Am Beispiel der Bedingungen des Menschlichen
Es gibt kein Leben ohne Abschied – ohne Verabschiedung. Das ist der Fall: Jeder Mensch ist – ob wir wollen oder nicht – mit verschiedenen Formen des Abschieds konfrontiert; mit unterschiedlichen Handlungen, und manchmal auch Ritualen des Verabschiedens. Diese existentielle Situation – wir könnten auch von einer prinzipiellen Unausweichlichkeit sprechen; wir alle haben uns bereits verabschiedet, und wir werden uns weiterhin verabschieden, bis wir verabschiedet werden – begründet auch das literarische Interesse am Abschied. Wir verabschieden uns jeden Tag: von Dingen, von Menschen. Das ist der Fall.
Ein Abschied ist allerdings nicht einfach ein Abschied: Es gibt ein Register des Abschieds – einen Umfang von Varietäten von Verabschiedungen. Wenn wir von Abschied sprechen, meinen wir entweder einen Augenblick der Trennung oder einen längeren Prozess; man könnte sagen: je länger der Abschied dauert, desto bedeutsamer war das, von dem wir uns verabschieden – ein Ding, ein Mensch. Ein Abschied kann aktiv vollzogen werden – wir verabschieden uns an der Tür von Freund*innen – oder in die Ordnung unseres Lebens einbrechen – d.h.: als ein unerwartetes Ereignis, als ein Widerfahrnis, wie der Tod eines Menschen, der uns nahesteht, nahestand. Wir verabschieden uns mit einem Handschlag, mit einer Umarmung, mit einer Trauerfeier. Es gibt kein Leben ohne Abschied.
Abschied. Ein biographisches Beispiel: Meine Familie kennt den Abschied. Ich wurde 1984 in Jaffna, im Norden Sri Lankas, in einen Krieg geboren. 80 000 bis 100 000 Menschen wurden – offiziellen Schätzungen zufolge – in den 26 Jahren, die dieser Krieg dauerte, getötet. Als ich vier Monate alt war, konnte meine Mutter mit meinem älteren Bruder und mir über Colombo, Moskau und Ost-Berlin nach West-Berlin fliehen. Die ersten sieben Jahre wohnten wir in fünf verschiedenen Asylbewerberheimen: in West-Berlin, Frankfurt am Main, Nürnberg, Coburg und in einer bayerischen Kleinstadt, in der ich auch bis zum Studium lebte.
Meine Familie kennt den Abschied: Den Abschied von dem Haus, in dem meine Eltern aufgewachsen sind, den Abschied von ihren Freund*innen, von ihrer Familie, von ihrer Heimatstadt, die sie verlassen mussten, von dem Land, in dem sie, bis zum Zeitpunkt ihrer Flucht, ihr ganzes Leben verbracht hatten, von der Sprache, in der sie jeden Tag gesprochen haben, von den Asylbewerberheimen, in denen wir die ersten sieben Jahre hier in Deutschland gelebt hatten. Als ich in der zweiten Klasse war, wollten meine Eltern Deutschland verlassen und nach Kanada auswandern. Meine beiden Brüder und ich gingen auf den Spielplatz und begannen, Abschied zu nehmen, von unseren Freund*innen, und auch von den Dingen, auf denen wir gespielt hatten: von der Holzbrücke, von den Betonröhren, vom Sandkasten. Je länger der Abschied dauert, desto bedeutsamer war das, von dem wir uns verabschieden.
Abschied. Ein literarisches Beispiel: Die US-amerikanische Schriftstellerin Joan Didion erzählt in ihrem 2005 in den USA veröffentlichten autobiographischen Roman Das Jahr des magischen Denkens von einem anderen Abschied: vom Tod ihres Mannes. Der Roman beginnt mit einer Notiz, die die naheliegenden Themen des Romans zusammenfasst:
Das Leben ändert sich schnell.
Das Leben ändert sich in einem Augenblick.
Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf.
Die Frage des Selbstmitleids.
Diese Themen, die diese Notiz versammelt, beziehen sich in Das Jahr des magischen Denkens nicht nur auf Didions Mann, den Schriftsteller John Gregory Dunne, mit dem sie 40 Jahre verheiratet war, sondern auch auf ein anderes Unglück, auf eine parallele Trauer – auf einen doppelten Abschied: ihre gemeinsame Tochter Quintana lag im Koma, als ihr Vater an einem Herzinfarkt starb; über den Tod von Quintana, die zwei Jahre nach ihrem Vater an den Folgen einer Gehirnblutung stirbt, wird Didion in ihrem darauffolgenden, sechs Jahre später veröffentlichten Roman, Blaue Stunden schreiben. Beide Romane, Das Jahr des magischen Denkens wie auch Blaue Stunden, erzählen vom Abschied und dem Abschiednehmen als einer existentiellen Erfahrung, als einer prinzipiellen Unausweichlichkeit: davon, wie der Tod in die Ordnung ihres Lebens einbrach, und dieses Leben von Grund auf veränderte. Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Und von diesem Punkt an wird es kein Zurück mehr geben.
Didion weiß: Es gibt kein Leben ohne Abschied. Ohne Verabschiedung. Auch, wenn sie darüber schreibt, unter anderem unter Bezugnahme auf medizinische Quellen, bleiben diese Ereignisse unbegreiflich. Sie – der Tod, die Trauer, der Abschied – entziehen sich dem Verständnis, auch wenn wir wissen, auch wenn wir verstanden haben, dass es kein Leben ohne Tod, ohne Trauer und ohne Abschied gibt. Didions Romane versuchen diese existentielle Grausamkeit zu verstehen. Aber auch Literatur kann der Sinnlosigkeit dieser Ereignisse keinen Sinn abringen – aber sie kann ihre Sinnlosigkeit darstellen; von ihr erzählen. Und von diesem Punkt an kann es kein Zurück mehr geben.
Das Thema Abschied kann im Unterricht starke emotionale Reaktionen bei den Schüler*innen hervorrufen. Es ist wichtig, es allen Schüler*innen selbst zu überlassen, ob sie den Text, den sie geschrieben haben, vor der Klasse vorlesen wollen oder nicht. Eine alternative Methode könnte darin bestehen, alle Texte zu sammeln, zu mischen und in der Klasse zu verteilen, sodass kein*e Schüler*in den eigenen, womöglich sehr persönlichen Text vorlesen muss, aber dennoch alle Texte vorgelesen werden.
(30 Minuten)
Die Schüler*innen sollen ein Gedicht schreiben, das aus 30 je einsilbigen Wörtern besteht, über einen persönlichen Moment des Abschieds. Die formale Vorgabe dient dazu, den Moment von Sprachlosigkeit darzustellen: das Suchen von Wörtern, das Fehlen von Wörtern, ihre Kargheit angesichts eines Ereignisses, das uns die Sprache verschlagen hat.
(45 Minuten)
Die Schüler*innen sollen ihre*n Banknachbar*in fragen, was der letzte Abschied war, den sie erlebt haben, und von ihnen auch dazu befragt werden. Über diesen Abschied sollen die Schüler*innen dann jeweils eine Erzählung aus der Ich-Perspektive schreiben und diese im Anschluss ihrem Banknachbarn/ ihrer Banknachbarin vorlesen, von dem oder der sie nur das Thema des Abschieds erfahren haben, aber keine Details.
(60 Minuten)
Die Schüler*innen sollen das Gedicht, das aus 30 je einsilbigen Wörtern besteht, in der Form einer Erzählung umschreiben, aber dabei die Erzählperspektive ändern: Wenn das Gedicht in der ersten Person geschrieben wurde, sollen sie es in der zweiten Person schreiben. Wurde es in der dritten Person geschrieben, soll es in der ersten Person umgeschrieben werden.
Einem Neuanfang muss ein Abschied vorausgegangen sein, zumindest ein Ende. Ein Neuanfang bezeichnet eine Zäsur. Diese Zäsur kann verschiedene Formen haben: ein neues Schuljahr, der Schulabschluss, ein Umzug, eine Trennung. Ein Neuanfang ist nicht einfach ein Anfang. Es gibt einen terminologischen Unterschied, der hörbar ist: bezeichnet das Wort Anfang einen objektiven Beginn, einen Beginn ohne Wertung, klingt in dem Wort Neuanfang ein Optimismus an, eine Zuversicht, die sich doppelt begründen lässt – aus dem Ende einer Vergangenheit, mit der man abgeschlossen hat, und aus einem Anfang, der eine andere Zeit verspricht.
Wir sagen: „Das wird ein Neuanfang“, und meinen die Trennung von einem bestimmten Abschnitt in unserem Leben. Wir können uns von Dingen verabschieden, wir können uns von Menschen verabschieden. Wir können Dinge zurücklassen, Menschen zurücklassen. Das ist die Bedingung der Möglichkeit eines Neuanfangs: ein Abschied, der vollzogen werden kann, der vollzogen wurde.
Neuanfang. Ein literarisches Beispiel. Obwohl es einen terminologischen Unterschied zwischen Anfang und Neuanfang gibt, gibt es dennoch etwas, was diese beiden Wörter über ihre eigene Differenz hinweg zusammenhält, wir könnten sagen: eine begriffliche und substantielle Gemeinsamkeit. Es gibt einen Unterschied: ob am Anfang oder im Anfang gesagt wird. Die Elberfelder Bibel bleibt konsequent: sie entscheidet sich immer dafür, im Anfang zu sein, 1. Moses 1:1, Johannes 1:1. D.h.: Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Präposition im zu verstehen: zeitlich – als Augenblick in einer Zeitspanne; räumlich – als Position in einem Raum. Das im zeitlich zu interpretieren liegt nahe; es räumlich zu verstehen irritiert: Es gab bereits einen Anfang, einen Anfang vor dem Anfang, ein Anfangen bevor etwas angefangen hat; aber der Anfang vor dem Anfang – dieser Anfang: Wie nennen wir ihn? Gibt es einen Namen, einen anderen Ausdruck? Einen Begriff?
Wenn es diesen Begriff gäbe, dann scheint er – in der Erzählung des Alten und des Neuen Testaments – vor der Sprache zu liegen, vor dem Sprechen. Erst nach dem Anfang nach dem Anfang, erst nach dem Anfangen nach dem Anfangen gibt es Himmel und Erde; das Wort; etwas, das da ist; etwas, das sagt. Über den Anfang – und ein Neuanfang lässt sich nur verstehen, wenn die Idee des Anfangs begriffen wurde – wurde in der Geschichte der Philosophie immer schon nachgedacht. Auch Aristoteles‘ Überlegungen zur Bewegung – und die Zeit ist, in unserer Vorstellung, eine Bewegung, die sich nicht aufhalten lässt – können als eine Reflexion über den Anfang verstanden werden. Wenn es Bewegung gibt, dann muss es etwas geben, das das, was bewegt wurde, das Bewegte, in Bewegung gebracht hat. Aristoteles führt jede Bewegung notwendigerweise auf eine Urbewegung zurück, die am Anfang der Bewegung, am Anfang aller Dinge steht. Aristoteles nennt sie den unbewegten Beweger. Ein Anfang ist also immer auch eine Konstruktion: Ein Anfang lässt sich zwar in den meisten Fällen mit einer gewissen Sicherheit bestimmen, aber diesem Anfang ist immer bereits etwas anderes vorausgegangen, was einem Anfang, einem Neuanfang seine Bedeutung und begriffliche Berechtigung gibt. Es gibt keinen Neuanfang ohne Anfang. Und um neu anfangen zu können, müssen wir uns von einem anderen Anfang verabschiedet haben.
Neuanfang. Ein literarisches Beispiel. Peter Weiss schreibt in seinem autobiographischen, 1962 veröffentlichten Roman Fluchtpunkt von einem erzwungenen Neuanfang:
Am 8.November 1940 kam ich in Stockholm an. Vom Bahnhof fuhr ich zu Schedins Pension in der Drottninggata, wo Max Bernsdorf ein Zimmer für mich bestellt hatte.
Mit diesen beiden Sätzen beginnt der Roman. Fluchtpunkt erzählt davon, wie der 24-jährige Weiss nach seiner Flucht in Stockholm ankommt, und wie er versucht, ein Leben als Künstler in der schwedischen Emigration aufzubauen. Fluchtpunkt ist im Grunde genommen eine Fortsetzung seines, ein Jahr zuvor veröffentlichten, autobiographischen Romans Abschied von den Eltern, an den er auch thematisch anschließt. Der Abschied ist auch hier die Bedingung der Möglichkeit eines Neuanfangs: ein Abschied, der vollzogen werden kann, der vollzogen wurde – der vollzogen werden musste. Ein Abschied von den Portalfiguren meines Lebens, den Eltern:
Die Trauer galt der Erkenntnis eines gänzlich mißglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte lang beieinander ausgeharrt hatten. Die Trauer galt dem Zuspät, das uns Geschwister am Grab überlagerte, und das uns dann wieder auseinandertrieb, ein jedes in sein eigenes Dasein.
Es gibt keinen Neuanfang ohne Abschied. Es gibt keinen Abschied ohne ein Ausmaß der Trauer.
Abschied von den Eltern erzählt von dem repressiven großbürgerlichen Umfeld, in dem Peter Weiss erzogen wurde, und von der Intimität seines Widerstands: von seiner Affinität zur Kunst. Fluchtpunkt hingegen erzählt von den Schwierigkeiten des Neuanfangs, des Neuanfangens – dem Gefühl der Unzugehörigkeit und der künstlerischen Unzulänglichkeit; Fluchtpunkt erzählt von seinen Selbstzweifeln:
Mein Leben war nutzlos, ich hatte nicht einmal etwas verloren, weil ich nie etwas besessen hatte, ich konnte keine Wunden, keine Narben aufweisen, weil ich an keinem Kampf teilgenommen hatte, ich hatte nichts zu berichten, weil mir nichts widerfahren war.
Es gibt keinen Neuanfang ohne Anfang. Und um neu anfangen zu können, müssen wir uns von einem anderen Anfang bereits verabschiedet haben. Der terminologische Unterschied zwischen Anfang und Neuanfang wird im letzten Satz des Romans ausgesprochen:
An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamm in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, daß ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden.
Je länger der Abschied dauert, desto bedeutsamer war das, von dem wir uns verabschieden. Das Buch endet mit der bestimmten Zuversicht eines Neuanfangs, eines neuen Anfangens. Von diesem Punkt an wird es kein Zurück mehr geben.
(30 Minuten)
Die Schüler*innen schreiben eine Liste von 10 Empfindungen auf, die sie mit einem Neuanfang, den sie erlebt haben, in Verbindung bringen. Aus dieser Liste der Empfindungen, die nur aus Adjektiven bestehen dürfen, schreibt ihr*e Banknachbar*in ein Gedicht, das aus 30 Wörtern besteht, wobei die Wörter in einem Vers nach Silbenlänge geordnet werden, d.h.: der Vers beginnt mit einem einsilbigen Wort, darauf folgt ein zweisilbiges, usw.
(45 Minuten)
Die Schüler*innen schreiben eine Erzählung, die von einem Abschied und einem Neuanfang erzählt, von ihren Zweifeln, aber auch von der Zuversicht, die sie damit assoziiert haben. Die Geschichte soll aus der Perspektive der zweiten Person geschrieben werden und keine Adjektive enthalten. Anhand dieser Übung kann die Wichtigkeit von Adjektiven gezeigt werden, die nach gegenwärtig konventionellen literarischen Maßstäben keine literarische Bedeutung besitzen sollen, sondern nur dekorativen Nutzen hätten. Dieses institutionalisierte Vorurteil gegenüber den Adjektiven kann mit dieser Übung widerlegt werden.
(30 Minuten)
Die Schüler*innen schreiben die Erzählung, die sie vorher ohne Adjektive geschrieben haben, mit Adjektiven, allerdings dürfen sie in der ganzen Erzählung nur maximal 10 verwenden.
Schon die Begriffe verweisen auf eine Verwandtschaft: Sowohl in der Interkulturalität als auch in der Intertextualität geht es um Wechselbeziehungen. Um gegenseitige Einflüsse, um Prägungen des Einen durch das Andere und umgekehrt, um kulturelle, gesellschaftliche, politische, sprachliche und Räume des Denkens von Möglichkeiten, die überhaupt dadurch erst entstehen, dass Wechselbeziehungen möglich sind, stattfinden und, im besten Falle, gefördert und ausgebaut werden.
Die hier folgenden drei Vorschläge für je mehrstündige Unterrichtseinheiten widmen sich der Intertextualität in interkulturellen Werken deutscher Autor*innen und verwenden Beispiele daraus für Unterrichte, die die interkulturellen Wahrnehmungsfähigkeiten und Kompetenzen ihrer Schüler und Schülerinnen nicht nur nutzen, sondern gleichzeitig stärken und fördern wollen.