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Die teils kurzen, teils längeren Berichte - samt 64 farbigen Bildern - handeln vom Unterwegssein: im In- und Ausland, zu Lande und zu Wasser, zwischen Berg und Tal, zu Fuß und auf dem Rad, im Paddel- und im Segelboot, auf Tramptour und Forschungsfahrt. Auch die politischen Verhältnisse scheinen durch.
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Seitenzahl: 855
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Prolog
Vorschau
Zweite Urlaubsreise nach ‘45
Trampen
Exkurs über die Kunst des Trampens
Richtung Süden
Frankfurt am Main
Nach Oberbayern
Im Penner-Asyl
Volksküche
Köln
Hamburg
An der Elbmündung
Quartiersuche
Heimkehr
Stippvisite: Stechlinsee und Müritz
Große Ferien
Zwei Mann mit Hund
Paddeln in Mecklenburg
Erzgebirge
Wissenschaftliche Seefahrt
Hamburg
Seekrank
Das Schiff
Die Arbeit
Eisberge
Polartaufe
Windstärke 8
Reyk-javik
Großer Geysir und Gulfoss
Grönland
Müdigkeit
Sturm
Besäufnisse
Ausklang
Kreuz und Quer
Vogelsberg
Taunus
Rheingau
Westerwald
Rothaargebirge
Edertalsperre
Kassel
Sommerurlaub in Rerik
Forschungsfahrt auf der Ostsee
Präludium
Wir fischen Daten
Der Ort Orth
Eine Seefahrt die ist lustig
Havarie
Bordleben
Südliches Wandern
Auf der Straße nach Barcelona
Am Meer und in der Eisenbahn
Zaragoza
Über die Pyrenäen
Lourdes
Nochmal Pyrenäen
An der Rhone
Durch die Camargue
Altertümer
Abbruch
Großer Lobgesang
Anno Einundsechzig
Nordische Regenfahrt
Auf nach Kopenhagen
Von Helsingborg nach Karlstad
Von Karlstad zur norwegischen Grenze
Über Oslo nach Göteborg
Jütland
Wieder in Deutschland
Bergauf bergab
Böhmer Wald
Dachstein
Mit dem Rucksack in Skandinavien
Zur sowjetischen Grenze
Inari-See
Tundra
Lofoten
Ein Pfingstbesuch
Von Berg zu Berg
Feldberg
Säntis
Bregenzer Wald
Streifzug durch Persien
Teheran und Kaspisches Meer
Östliche Grenzgebiete
Durch die Wüste zum Persischen Golf
Über Isfahan und Shiraz nochmal zum Golf
Zur irakischen Grenze
Ins Kurdengebiet
Sozialistische Grenze und Kaspisches Meer
Die Besteigung des Ben Nevis
Dalmatinische Tauchfahrt
Wir fahren nach Mali Loschin
Mit dem Boot unterwegs
Tauchen
Schatzsucher
Bei Ivo auf der Insel Iz
Die Insel der Verdammten
Rückfahrt mit Nervenkitzel
Quer durch den Bodensee
Suchumi
Tauchen auf Giglio
Einmal Yokohama und zurück
Aufbruch
Eisenbahn
Russische Grenze
Moskau
Flug nach Chabarowsk
Chabarows
Ankunft in Japan
Kamakura
Hakone
Fuji
Eisenbahnlandschaft
Nara
Weltausstellung
Kioto
Tsugura
Nikko
Tokio
Rückreise
Transsibirische Eisenbahn
Nach Moskau
Weiterfahrt
Zwei Tage Irkutsk
Chabarowsk
Schock in Nachodka
Ruf der Wildnis
Bahnen, Fähren, Städte
Dampferfahren
Unterwegs
Auf dem „Bärenpfad“
Was nun?
Auf nach Kilpisjärvi
Auf den höchsten Berg Finnlands
er lange Weg zurück
Kleinasien
Ostwärts
Schwarzmeerküste
Richtung Ararat
Zum Van-See
Euphrat und Tigris
Südküste
Pamukkale und Westküste
Afrika-Reise
Vogesen-Wanderung
Vergangenheit, die sich als Zukunft ausgibt
Grönland
Wandertagebuch
Holsteinsborg
Ein paar Daten
Inlandeis
Rückblick
Paddeln
Überführungstörn mit Hindernissen
Die Schlucht von Samaria
Gescheiterter Auftakt
Die Schlucht
Abmarsch mit Hindernissen
Auf den Azoren
Campen
Auf den Faröern
Der lange Marsch zum Slǽttaratindur
Sanderoy
Viđareiđi
Abstecher nach Kirkjubøur und Rückfahrt
Rund um Tirschenreuth
Im Winter durch den Ärmelkanal
In der DDR-Provinz
Mann über Bord
Vorbereitungen
Die Balearen
Spanische Küste
Mann über Bord
Französische Küste
Rückreise
Urlaub im Mammut-Hotel
Erster Marathon
Letzter Besuch im Sozialismus
Triumphlauf rund um Berlin
Erinnerungstour zum Stechlinsee
Ausflug nach Ischia
Der 100-km-Lauf von Biel
Anfahrt
Rückbesinnung
Der Lauf
Auf den Brocken
Anmarsch
Aufstieg
Abstieg
Die Sandale
Auf Schusters Rappen nach Meran
Auf Kur
Letzter Marathon
Vorbereitung
Der Lauf
Danach
Ostsee-Kreuzfahrt
Anreise
Nordwärts
Lebenslauf eines Schiffes
Südwärts
Gestrandet
Wies‘n-Zeit
Der Weg in die Tonne
Eine Woche auf dem „Grünen Band"
Rückschau
Epilog
Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen; es muß in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe.
Friedrich Nietzsche
Peter 1958
Es ist klar, daß ein Leben auf einem Schiff oder in anderen Ländern auch nicht ganz anders sein kann als zu Hause. Rumquälen muß man sich dabei sogar noch mehr. Man kann höchstens versuchen, durch Eigentätigkeit der zähen Masse des grauen Alltags einen rosig-romantischen Schimmer abzujagen. Aber das ist mühsam und meistens ist man zu faul dazu. Richtige Abenteuer, z.B. Schiffbruch, Angriff von Piraten, Meuterei, sind solche herrlichen Glücksfälle, daß sie nur zu den ganz großen Ausnahmen zählen. Es gibt unter hundert Menschen vielleicht nicht einen, der mal ein spannendes Abenteuer erlebt hat. Aber noch seltener ist es, daß ein Mensch gleich mehrere erlebt oder daß sich gar sein ganzes Leben daraus zusammensetzt. Dietrich hat mir aus Israel geschrieben: seine blöde Landarbeit ist bestimmt nicht schön - und weiter passiert nichts. Denn sehr erbauend ist es sicher nicht, in glühender Hitze zu leben, Sonnenstiche zu bekommen, dauernd an Dünnschiß zu leiden u.ä.
Aber wenn Ihr schon, gemessen am Maßstab Old Shatterhands, wenig erlebt habt, und das wenige noch dazu eintönig ist, was kann ich da erzählen! Ich war bis jetzt nur zu Hause. Ich hätte mit unseren Brüdern und noch paar Bengels für zehn Tage an den Stechlinsee fahren können. Die Aussicht war mir jedoch zu langweilig. Sonst käme nur eine Allein-Tour infrage. Vielleicht mache ich auch noch etwas.
Es ist traurig, daß wir so zivilisiert leben müssen. Manchmal ist mir, als wollte mich ein an den Irrsinn grenzender Rappel packen. Ich springe auf, laufe kichernd in den Wald oder schleiche nachts auf dem Friedhof herum - um mir Gespenster einzubilden. Aber es wird anders werden. Wir sind alle nach der Penne mit wunder was für Vorstellungen „ins Leben“ gegangen. Aber weil das nun fast ebenso doof ist und nichts passiert, soll man aufgeben?
Man muß versuchen, die Langeweile und Trägheit zu schlagen. Man muß, wenn das Leben nicht auf einen zukommt, in dasselbe hineintrampeln, daß ihm Angst und Bange wird. Oft traut man sich nicht und wartet noch: „Na, wird schon noch!“ aber das ist alles Unsinn. Herrgott, was kann denn passieren? Man kann höchstens eher sterben. Es ist sicher nicht die Kunst des Abenteurers, in gelangweilter Pose dazustehen und lässig dolle Dinger zu erleben, sondern auf die rollenden Steine zu springen, andere anstoßen und mit Neugier warten, was wird. Diese Steine sind überall verstreut. Man muß sie nur sehen. Ich glaube, das Ulkigste kann ein Verrückter erleben.
Planloses Dahinrollen, Treibenlassen zeugt von Willensschwäche und etwas Dummheit, zielstrebiges Wesen, ohne Blick nach rechts und links, von Engstirnigkeit. So muß man sich dazwischen den Weg suche, an dessen Ende ganz bestimmt ein Abenteuer steht - das größte, was man sich denken kann: der Tod. Das muß verdammt lustig sein!
Übrigens schreibe ich diese Zeilen an einem Stehpult, das ich mir gebaut habe. Es wird zwar viel verlacht, aber nur von Modedümmlingen. (Das sind solche, die alles, was modern ist oder gebräuchlich, richtig finden und alles andere albern oder gemein). Schließlich haben die Leute früher immer im Stehen gearbeitet. Ich bin fürs Abwechseln: mal sitzen, mal stehen. Damit genug für den blaulächelnden Mond.
Eberhard 1951
Heute ist der 6. August, der letzte Tag vor unserer Stechlinsee-Reise. Rannte den ganzen Tag in Köpenick ‘rum, nach Kleinigkeiten. Mußte leider auch zum Friseur. Zu allem Überfluß hatten wir Besuch von Frau B. Störte aber wenig. Auf der Kommode häuften sich eine Unmenge Sachen. Dachte, sie würden nicht in drei Koffer reinpassen, gingen aber in einen großen und einen kleinen. Reinhard bekam Reisefieber.
Wir standen schon vor sieben auf. Als wir gehen wollten, merkten wir, daß Frau B. ihren Personalausweis bei uns liegengelassen hatte. Was tun? Wir beschlossen, daß Mutti ihr den Ausweis nach Prenzlauer Berg bringt. Kurz nach neun zogen wir endlich los: mit großem und kleinem Koffer, zwei Taschen und Jacken. Waren gerade 50 Meter gegangen, da ging der Henkel vom Koffer ab. Wir hoben den kleinen Koffer auf den großen, einer faßte vorn an, der andere hinten, und weiter ging’s. Die S-Bahn fuhr uns vor der Nase weg, die nächste war knüppeldickevoll. Am „Ostkreuz“ trennten wir uns: Mutti fuhr zu Frau B., wir nach Oranienburg. Um 13 Uhr kam ein schäbiger Bus für 48 Personen, 70 wollten mitfahren. Wir erkämpften Sitzplätze. Der Rest fuhr mit anderen Autos. Die Fahrt nach Neu-Globsow dauerte eineinhalb Stunden. Wir wohnen bei einem Schuhmachermeister. Der Stechlinsee ist ein herrlicher See, umrahmt von Buchenwäldern, das Wasser klarer als im Heinitzsee. Wir badeten und kletterten. Zum Abendbrot: Fisch, als Nachtisch Gurkensalat. Wurde ziemlich satt.
Wachte um sechs auf vom Gackern der Hühner. Um acht gab’s Frühstück: zwei Schrippen, einen Klecks Butter, einen Klecks Marmelade. Brot konnte man nachbestellen. Nach dem Frühstück wanderten wir zum Fenchelberg, zwei Kilometer nördlich von Neu-Globsow, direkt am Wasser gelegen. Herrlicher Wald. Fing eine Ringelnatter und brachte sie auf den Berg. Dabei ließ ich meine Taucherbrille am Ufer liegen. Als ich vom Berg herunterkam, war sie weg, Leute hatten sie mitgenommen. Ich raste ihnen nach, erst in der falschen Richtung. Endlich holte ich sie ein. Einer hielt die Brille in der Hand, er gab sie mir wieder.
Wir baden immer nackt. Im Wasser sind viele Pflanzen, manche 5-6 Meter lang. Es gibt viele Fische, meist Barsche. Heute sah ich einen halbmeterlangen Hecht in vier Meter Tiefe. Reinhard ist begeistert, will sich auch eine Taucherbrille besorgen, auch Papa lernt sie schätzen. Das Wetter ist durchwachsen: mal Sonne, mal Regen.
Um halb eins gibt’s Mittagessen im Hotel Seeterassen, heute: Königsberger Klopse und Pudding. Leider zu wenig Kartoffeln. Wurden nicht satt. Um halb vier, nach dem Kaffee, wanderten wir am Dagow-See entlang nach Dagow und überschritten die mecklenburgische Grenze. Dann badeten wir an derselben Stelle wie vormittags und jagten Fische: Reinhard mit der Harpune, ich mit dem Kescher. Fingen nichts.
Plötzlich vermißten wir unsere Zimmerschlüssel. Große Aufregung. Papa, der die Schlüssel eingesteckt hatte, ging den Weg zurück - umsonst. Auch in der Wohnung waren sie nicht. Mutti bekam Bauchschmerzen vor Ärger. Ein Schlosser mußte kommen. Zum Abendbrot Kartoffelsalat und Stullen mit Wurst. Reinhard war den ganzen Abend bei der Kuh im Stall.
Machte mit Reinhard um sieben einen Morgenspaziergang. Kühles Wetter. Gingen einen unbekannten Weg. Er führte durch eine Wiese voller Disteln und Brennesseln, ich war barfuß, den Rest kann man sich denken. Waren fast drüben, da standen wir vor einem breiten, sumpfigen Bach, wollten aber nicht mehr umkehren. Ich bemerkte einen dünnen Baum, der schräg zu uns herüberwuchs. Sein Wipfel berührte diesseits den Boden. Ich hangelte rüber. Reinhard schaffte es nicht, denn es war sehr schwer. Doch nicht weit entfernt fanden wir eine Stelle, wo er leicht rüber konnte. Nach dem Frühstück gingen wir zwei Kilometer am Südufer entlang, an der alten Fischerhütte vorbei. Dort lagerten, spielten, badeten und kletterten wir. Reinhard verlor zum zweiten Mal sein Messer, fand es aber wieder, ich meine zweite Harpunenspitze, fand sie aber nicht wieder.
Zum Mittag Mohrrübeneintopf mit Hammelfleisch, hinterher gebratene Nudeln mit Zucker und Zimt. Ein Gewitter zog auf. Kamen gerade noch rechtzeitig vor dem großen Guß nach Hause. Als der Regen aufgehört hatte, war es kühl. Spielte mit Reinhard Faustball bis zum Abendbrot. Es gab Kochfisch und Kartoffeln und danach ‘ne Stulle mit dick Butter und zwei Scheiben Limburger Käse.
Gingen zur alten Stelle am Fenchelberg, schnitzten Boote und ließen sie fahren. Mutti war zum Einkaufen bei der HO, Papa malte, ging dann Mutti entgegen. Beide verfehlten sich: Papa ging oben, Mutti unten lang. Als die Familie wieder beisammen war, gingen Reinhard und ich baden. Stürmisches Wetter: Windstärke 8, aber sonnig, nur locker bewölkt. Große Wellen mit Schaumkämmen.
Mittagessen: Gemüsesuppe, als Hauptspeise Hammelkotelett mit Kartoffeln. Nach dem Essen wanderten wir drei Männer um den Stechlin herum, nur die Halbinsel wurde ausgelassen. Wir machten noch einen Abstecher zum Nemitzsee und kamen am Kleinen Stechlin vorbei. Er ist gänzlich verschilft und versumpft. Auch der Nemitzsee ist verschilft, aber nur am Rande. Wir wanderten die ganze Zeit durch herrlichen Wald, der manchmal urwaldartig war. Überall umgebrochene dicke und dünne Bäume, dichtes Unterholz. Papa sah drei Rehe, wir nur eines. Am Nordende entdeckten wir etwas Seltsames: eine Buche hielt eine trockene Kiefer, die anderthalb Meter über dem Boden abgesägt war, mit ihrer Haut umklammert. Zweimal badeten wir. Zum Abendbrot gab’s erst Grießsuppe, dann einen Salzhering, 20 g Butter und Kartoffeln. Unsere Salzheringe aß Papa. Kaffee und Kuchen vom Nachmittag bekamen wir auch noch.
Wachten um sechs auf, lasen bis zum Frühstück. Die Bücher stammen aus einer Kammer in unserem Zimmer. Meines heißt: Drei Mann in einem Boot, vom Hunde ganz zu schweigen von Jerome K. Jerome. Ist ulkig. Nach dem Frühstück gingen wir alle an den See. Der Sturm von gestern hielt an, das Wetter war aber sonnig. Vergaßen den Ball. Zum Mittagessen gab‘s geschmorte Gurken und Kartoffeln, als Nachspeise Apfelmus. Nachmittags bauten wir ein Floß. Es trägt nur einen und den kaum. Mutti wurde von einer Wespe gestochen. Beim Nachhausegehen vergaßen wir abermals den Ball. Das Abendbrot: wenig Blumenkohlsuppe und zwei Stullen, Butter und Weißkäse. Außerdem aßen wir noch die zwei Brötchen vom Kaffee und ich dann noch zu Hause vier Stullen und drei Äpfel, die anderen aßen weniger.
Schrieb Tagebuch von gestern. Frühstück: ein Brötchen, zwei Stullen und wieder 20 g Butter und 30 g Marmelade. Dazu den üblichen Liter Kuhmilch, den Mutti täglich kauft. Am Fenchelberg badeten wir und beschlichen uns, spielten Faustball und Fangeball. Mittags gab es eine Tasse Brühe, 100 g Schweinebraten, Rotkohl und Kompott (Kirschen). Um halb vier: Kaffee und zwei Stückchen Streuselkuchen.
Stechlinsee
Neuglobsow, Hotel „Seeterrassen“
Auf dem Weg zum Fenchelberg
Eberhard mit Tauchmaske
Ein verträumter Reinhard
Anschließend gingen wir nach Dagow zum Konditor, dann weiter zum Peetschsee, an den Traderwiesen entlang. Es war ein schöner Weg durch herrlichen Wald. Bei Augusta-Höh am Peetschsee badeten wir. Der Peetschsee liegt in Mecklenburg. Kamen gerade rechtzeitig zum Abendbrot zurück: Fleischsalat, drei Stullen mit Butter und Limburger Käse. Das Wetter ist sehr windig.
Wachte um halb sieben auf, las das Buch zuende. Papa kam rein, sagte: „Ihr stinkt wie die Ziegenböcke“ und machte das Fenster auf. Auf dem Wege zum Fenchelberg sahen wir ein Reh aus 15 Meter Entfernung, wie es langsam im Wald verschwand. Badeten in den großen Wellen. Fotografierte Reinhard und den See, fing an, eine Kiefer zu zeichnen. Als wir dann den See zeichnen wollten, kam ein dünner Mann und ging immer um uns ‘rum, wobei er so tat, als ob er etwas suchte. Manchmal guckte er an den Bäumen hoch, dann wieder auf seine Uhr. Papa sagte: „Wir wollen mal weggehen, der sucht vielleicht was.“ Als wir dann beim Lagerplatz waren, sahen wir ihn um eine Ecke verschwinden. Vermutlich ein Irrer.
Kurz nach zwölf zum Mittagessen: Kirschsuppe, Gulasch. Danach wieder zum Fenchelberg. Der Himmel bewölkte sich immer mehr. Bauten eine Steinmauer für einen Teich. Papa wusch Strümpfe, Mutti, die später kam, ein Hemd. Gegen Abend schwamm Papa ans gegenüberliegende Ufer: hin und zurück in 50 Minuten. Abends um sechs kam die Sonne heraus. Zum Abendbrot gab’s Kartoffelsuppe und zwei Stullen, dazu 10 g Butter und Jagdwurst. Mir fiel der Teller und eine mit Butter beschmierte Stulle runter. Während ich alles aufhob, entfuhr mir das Wort „Scheißdreck“. Leute schielten herüber, mache mir nichts draus. Zum Abschluß ein Glas dunkles Bier. Meine Wurst bekam Teggi, der Hund des Schusters. Er wedelte wie wild mit dem Schwanz.
Um halb acht aufgewacht, dachte, meine Uhr steht, denn das war noch nie vorgekommen. Stand schleunigst auf. Nach dem Frühstück ging Mutti zum HO und stand nach Butter an. Es fing an zu regnen und regnete bis Mittag. Zum Mittagessen gab’s Wirsingkohl mit Hammelfleisch. Wir machten eine Tour über den Fenchelberg nach Schönhorn am Großen Glietzensee und von da nach Steinförde an der Havel (Steinhavel). Der Weg ging auch am Kleinen Glietzensee vorbei, fast nur durch Wald, auch durch Fichtenwald. Dort fanden wir Pilze.
In Steinförde aßen wir im Gasthaus unsere Schrippen. Steinförde ist ein kleines Dorf, die Havel ein dreckiger breiter Fluß mit Dampferverkehr. Auf dem Rückweg regnete es. Wir sahen ein Wildschwein. Über Augustablick am Peetschsee, wo Papa badete, kehrten wir zurück. Meine Turnschuhe waren naß. Abendbrot: Milchsuppe mit Nudeln, Salzkartoffeln mit Senfsoße, ein Ei sowie Kuchenbrot vom Nachmittag. Streichelten das Schwein des Schusters. Ging ins Bett, mußte plötzlich aufs Häuschen, war aber im Nachthemd. Machte daher in den Nachttopf. Weil es so stank, stellten wir ihn in den Ofen.
Stand auf und machte den Nachttopf sauber. Nach dem Frühstück wollten wir einen Kahn mieten, kamen aber zu spät. Gingen zum Fenchelberg. Ab und zu kam die Sonne durch. Mutti sonnte sich, ich zeichnete Glockenblumen, Papa tuschte den See und Reinhard sah ihm zu. Als ich fertig war, machte ich Steinstoßen. Dann badeten wir, das Wasser war warm. Mittags aßen wir Bratklops, Mohrrüben, Salzkartoffeln. Nach dem Essen lasen wir bis zum Kaffee. Papa bekam sein verlorenes Messer wieder, es war im Hotel abgegeben worden. Dann wieder zur alten Stelle. Es fing an zu regnen, wir spielten Fangeball, ich tauchte. Abendbrot: Tomatensalat, Gurkensalat, Stullen mit Butter. Um halb neun gingen wir zu einem Mandolinen-Orchester. Es spielte Volkslieder aus verschiedenen Ländern, sehr schön. Zu Hause schliefen wir sofort ein.
Heute bestiegen wir unseren gestern bestellten Kahn und ruderten los. Es machte riesigen Spaß. Wir durchfuhren fast den ganzen See und badeten dabei. Um halb eins kehrten wir zur Bootsvermietung zurück. Der Besitzer ist ein humorvoller alter Mann mit Vollbart. Mittags gab‘s Schweinebraten, eine handtellergroße, zentimeterdicke Scheibe, grüne Bohnen und Salzkartoffeln, als Nachtisch Pudding mit Saft. Nach dem Kaffee gingen wir zum Fenchelberg. Zum Abendbrot: drei Stullen, 15 g Butter, Weißkäse und eine Scheibe Wurst. Bestellten noch je eine Flasche Dunkel...
Peter 1955
Eines Tages ging ich zur Gendarmerie und verlangte ein Visum nach Deutschland. „Was soll das bedeuten?“ fragte der Schutzmann, der hinter einer Barriere saß, damit ihn nicht so leicht die Hunde ins Bein beißen können. „Ein Visum,“ begann ich zu erklären, „das ist eine Art Ausweis, mit dem ich berechtigt bin, die Grenzen eines Landes zu übertreten, ohne daß man mit blauen Bohnen herumknallt. Es gibt verschiedene Arten von Visa, das ist die Mehrzahl von Visum, z.B. Visa zur Ausreise aus einem Lande, oder solche ...“ Er unterbrach mich und behauptete, er habe danach nicht gefragt und wüßte allein, was ein Visum ist. „Verzeihung, Herr Ordnungserzeuger,“ stellte ich richtig, „ich weiß es genau, daß Sie fragten, was es bedeutet!“ - „Ja, Donnerwetter, ich meine, was Ihr alberner Antrag auf ein Visum nach Deutschland bedeuten soll!“ - Ja Donnerwetter,“ sagte ich, „das bedeutet, daß ich nach Deutschland fahren will.“ - „Aber Sie sind doch in Deutschland!“ - „Natürlich bin ich in Deutschland! Deswegen brauche ich ja auch ein Visum nach Deutschland, denn sowas gibts nur in Deutschland! Hier haben doch die bösen Geister die roten Striche durch die Wiesen und Felder gemalt!“
Er starrte mich an. Dann frug er ganz leise, was für Geister und rote Striche ich meine. Da sagte ich: „Die eine Majestät von Deutschland erklärt, daß sie „wägen de nadsionale Schbaldung prodesdiert“. Die andere Majestät von Deutschland erklärt, daß auch sie von „janzem janzem Herzen“ gegen die Linien im Land sei, die man als Grenze bezeichnet. Da nun auch alle übrigen Männer und Weiber dagegen sind, was bleibt da übrig, als daß böse Geister die Grenzen gemacht haben?“
Es dauerte einige Zeit, doch ich bekam meinen Paß. Im Sommer enterte ich einen Zug, der irgendwohin fuhr, was ich vergessen hab. Dietrich, ein prosaischer Mensch, fuhr auch mit. Wir sahen zum Fenster hinaus, aber das ist wohl uninteressant zu beschreiben, weil das jeder genauso sehen kann, wenn er da lang fährt. Dann kamen wir in Helmstedt an und verließen den Zug, denn wir hatten nur bis Helmstedt bezahlt. Als wir auf dem Bahnsteig über die Schienen stiegen, weil uns der Tunnelübergang zu beschwerlich war, tobte der Kellenfritze herum. Das kam uns sehr gelegen, denn wir konnten ihn gleich nach dem Weg fragen. In diesigem Wetter fanden wir die Jugendherberge und ordneten unsere Sachen, die von den Zoll-Leuten zerwühlt waren. Dann holten wir uns Essensgutscheine und begaben uns zum Grenzpunkt für Motorfahrzeuge, wo unser Trampen begann.
Romantik und Trampen haben das „a“ in der Mitte des Wortes gemeinsam. Das jedoch nur in der Schrift, denn Trampen ist englisch, wo „a“ nicht ein „a“, sondern ein „ä“ ist. Trampen ist, wenn man die Nacht in den Büschen gepennt hat, wenn‘s kalt ist und pißt und man an einer zugigen Ecke auf der Landstraße steht und mit dem Daumen rasende Autos anzuhalten versucht. Denn Trampen ist das Betteln ums Mitfahren, was man mit dem erhobenen Daumen anzeigt. Wir hatten noch nie getrampt. Während ich schüchtern von Auto zu Auto sah, sauste Dietrich energisch dazwischen herum und stürzte sich auf die Leute: „Guten Tag, mein Herr, mein Name ist Dietrich, hä, Abiturient aus Berlin, auf der Reise durch Deutschland, zwecks deren ich bitte, mich und den Freund mitzunehmen.“ Er dienerte zackig und vollführte vor einigen Fernfahrern Verbeugungen, bis sich ein Herr erbarmte, der mit seiner Oma nach Afrika wollte. Der nahm uns mit bis nach Braunschweig.
Hier regnete es. Unter einer Brücke stiegen wir aus und wanderten kreuz und quer durch Siedlungen, bis wir meine Tanten aufspürten. Es war aber noch eine dritte da, was die Freundin von Tante Lolli ist und Edelweiß heißt. Die richtigen Tanten sind auf Schloß Ihlow erzogen, weshalb sie so vornehm sind, daß sie nicht miteinander sprechen. „Bon,“ sagte Tante Asta, die älteste Tante, als sie mich sah, denn sie beherrschte die französische Sprache. „Es tut mir unendlich leid, werte Muhme,“ erwiderte ich, „aber wir vermögen deinen Sprachen nur langsam zu folgen, besonders der Dietrich, der dafür ein Meister des Russischen ist.“ Sie sah auf ihn hin und streckte die Hand aus. „Dann nehmen Sie fürlieb mit einem Wodka, Herr Dietrich!“ Und während wir „fürlieb nahmen“, erzählte sie uns von ihren „alpinen Errrlebnissen“ und der „Herrrzogin Amalie von Brrraunschweig“ und deren abgetragenem Pelzjäckchen. Als wir sie zum „Keks-Tee“ allein ließen, taumelte Dietrich noch fassungslos hinter mir drein. Wir begaben uns in den anderen Flügel des Hauses, will sagen ins Nebenzimmer, wo Tante Lolli ein Bett aufgestellt hatte.
Tante Lolli war groß wie ein Baum, sprach mit sopraniger Stimme und war so gescheit wie eine mannlose Hebamme nur sein kann. Da war alles „Unsinn“, was über die Gehirnkapazität eines Säuglings hinausging. Wenn aber das Essen kam, fuderte sie maßlos in sich hinein und erstickte uns fast mit ihren Torten. Widersprechen war „ungesund“, sowohl beim Essen wie in der Politik. Sie verstand sich vortrefflich mit Schwester Edelweiß, die aus Amerika war und uns den neuweltlichen Erwerbssinn demonstrierte. Sie kaufte nämlich Sonnenbrillen en gros ein, wobei sie am Preis herumhandelte, und versuchte die dann einzeln wieder abzusetzen.
Drei Tage vergingen und Dietrich trampte nach Eschwege zu seinen Verwandten. Dann kam Eberhard. Er war 300 Kilometer mit dem Fahrrad gefahren und müde wie ein Gießereiarbeiter. Übrigens auch ebenso dreckig. Aber die sprachliche Tante kochte ihm Wasser, und er wusch sich, und die Hebamme wunderte sich, wieviel das „arme Kind“ aß. Am Abend marschierte die Partei der Kommunisten mit Fackeln durch die Straßen und sang fromme Lieder.
Am nächsten Morgen ließen wir unsere Tanten zurück, und es begann unsere eigentliche Tramptour. Tante Lolli schenkte mir 70 Mark Bargeld, und Tante Asta rief uns ein überschwengliches „Arrrividerci“ nach. Dann waren wir vogelfrei.
Das Trampen, meine Damen und Herren, ist keine Glücksache. Der große Komponist hat auch nicht einfach Glück gehabt, als er die Symphonie XYZ schrieb, sondern er faßte die Töne und Tonmöglichkeiten der Welt so genial auf und setzte sie so genial wieder zusammen, daß unser Gefühl einfach gepackt wird. Trampen ist eine Gabe, eine Gabe des Himmels, ein Appell an Auto und Fahrer, gerade hier und gerade jetzt anzuhalten. Und wenn das Auto sich wieder langsam in Bewegung setzt, schnurrend wie ein Kätzchen, und der Fahrer sich die Lippen leckt über die Delikatesse, einen Tramp im Auto zu haben, dann ist es richtiges Trampen: ästhetisch, schön, menschenwürdig und edel. Nur der Primitive stellt sich irgendwo hin und winkt solange, bis mal ein Auto hält, das ihn mitnimmt. Er hat dann „Glück“ gehabt - ungefähr das Glück, wie wenn er im Orchester mitspielt und zufällig mal den richtigen Ton zur richtigen Zeit anschlägt. Nein! Trampen ist keine mechanische Arbeit. Der richtige Tramp winkt nur einmal oder biedert sich nur einmal an, dann hat er sein Auto. Denn der richtige Tramp weiß, welches „sein Auto“ ist, wo es fährt oder steht, wann es das größte Bedürfnis hat anzuhalten und wie der Fahrer beschaffen ist.
Trampen ist kein Glück, weil man dem Glück nachhelfen kann, und dann ist es eben kein Glück mehr, sondern verteufelte Kunst. Die Frage ist, wie man dem nachhelfen kann. Sie ist nicht grundsätzlich zu beantworten, wie man auch nicht sagen kann: so oder so mußt du malen, dann wird es ein herrliches Bild! Der richtige Tramp kennt die Straßen, die in die Richtung gehen, in die er will, oder er fragt einen Ortskundigen. Doch damit ist erst der Anfang gemacht. Wie Perlen an einer Schnur kann man sie stehen sehen, die kleinen Bahngeldeinsparer. Es ist die Geige, die man ergreift, wenn man musizieren will, man muß sie aber auch spielen können! Man muß wissen, wohin man sich stellt an der Straße.
Gesetzt, man will ein fahrendes Auto anhalten, dann ist es notwendig zu wissen: Wo hält ein Auto am liebsten? Auf der geraden Chaussee, wo es langbraust mit 140 Sachen? Wohl schwerlich. Ehe der Fahrer den Tramp überhaupt sieht, ist er schon an ihm vorbei. Außerdem mag weder Fahrer noch Auto die plötzliche Störung: blitzschnelle Reaktion, Umschalten, Bremsen. Wird ja alles abgenützt, Nerven wie Material. Also - bei langsamem Fahren! An Kurven? Wenn sie unübersichtlich sind, bestimmt nicht. Im Ort, wo die Ausfallstraße beginnt, halten sie eher. Ebenso da, wo die schlechte Straße aufhört und die gute anfängt. Der Fahrer ist dann gut gelaunt: „Werde mal zeigen, wie ich loslege! Die kleine Verschnaufpause kommt mir grad recht, um dann so richtig übern Asphalt zu zischen!“ Beliebt sind auch Bahnübergänge. Hier fährt jeder langsam. Man stelle sich dahinter, und es ist wie nach der schlechten Straße. Davor hält er nicht an: das Bestreben, erst drüben zu sein, zieht Auto und Fahrer hinüber. Jedoch wenn die Schranke herunten ist, muß er halten und man kann fragen. So gehts auch bei Verkehrsampeln, Baustellen und manchem anderen. Aber oft fährt er auch langsam und ist trotzdem nicht geneigt zum Halten: der Sonntagsfahrer, der sich nicht absolut sicher fühlt oder die Gegend begaffen will, oder wenn es bergauf geht. Man wird ja den Kohlenmann mit der Kiepe am Ast auch nicht anquatschen nach den Sehenswürdigkeiten der Stadt!
Eine andere Sache ist das Trampen bei parkenden Autos. Hier muß man wissen, wen man wie anspricht. Wenn ein Fahrer anhält, dann nimmt er auch mit. Ein Wagen, der parkt, muß beurteilt, eingestuft und bearbeitet werden. Häufige Plätze, wo Autos rumstehen, sind Schranken und Ampeln, Gaststätten und Tankstellen. Besonders die letzteren sind ein ergiebiges Objekt für den richtigen Tramp. Hier erweist sich sein psychologisches Können, wie er den Fall anpackt. Wir haben Tramps getroffen, die seit Stunden versuchten ein Auto zu kriegen. Ein anderer kam und erhielt sofort eins. Sie sagen Glück? Nein, sondern: Veni, vidi, vici - Eleganz und Können. Der richtige Tramp sieht es dem Auto an, ob es geeignet ist oder nicht. Die kleinen und glänzend geputzten Goggomobile und Lloyds sind untauglich. Ihre Besitzer sind winzige Beämtchen, denen die drei Pfennige zusätzliches Benzin die geizige Gurgel abwürgen möchten. Und dann sind sie auch etwas Besseres: sie haben ein Auto, und der da, der nichtstuerische Strolch, der hat keins! Auch die ganz großen Dinger, die mit Chauffeur, sind meistens nicht geeignet. Der gefahrene Diplomat oder Direktor ist viel zu verbissen in seine Konkurrenten, als daß ihm ein mildtätiges Landstreichergefühl aufkommen könnte. Aber vielleicht hat er auch Angst um seine Brieftasche.
Am besten sind mittlere Wagen, leicht angestaubt und mit einzelnem Herrn, der auf Geschäftsreise ist: Vertreter, Kleinindustrieller o.ä. Gut eignen sich auch Lastkraftwagen, die über Land gehen und von den Matrosen der Landstraße gelenkt werden. Nur leider besteht hier seit kurzem oft ein Verbot für die Fernfahrer, weil die Firmen Angst haben, im Falle eines Unfalls auch für den Tramp zahlen zu müssen. Grundsätzlich jedoch nehmen beide Arten von Wagen gern mit, weil sie sich auf den oft hunderte Kilometer langen Strecken langweilen. Der Tramp hat dann die Aufgabe, den Fahrer zu unterhalten und ihm Geschichten zu erzählen, was er wohl gern tun wird. Wir jedenfalls waren nie wortkarg.
Die psychologische Hauptschwierigkeit liegt im Erkennen des Wesens der Person und ihrer Augenblicksstimmung. Wir kannten einen, der fuhr am liebsten mit Jehovas Zeugen. Er sah auf unendliche Entfernung dem Auto schon an, daß es ein frommes war, und verstand es, sich so zu benehmen, daß das Auto anhielt und der Mann auf ihn zutrat: „Möchten Sie mitfahren?“ Die Lust, sich bekehren zu lassen, stand ihm ins Antlitz geschrieben. Und er ließ sich immer von neuem bekehren. Die Augenblicksstimmung richtet sich z.B. danach, ob der Mann besser gelaunt ist bevor er gegessen, also im Angesicht der leckeren Speisen einer Raststätte, oder nachdem er sich den Wanst gefüllt hat.
Der richtige Tramp wartet nicht, bis einer kommt, der zufällig das Bedürfnis hat, einen Tramp mitzunehmen, sondern er erzeugt dieses Bedürfnis bei dem Fahrer. Er erzeugt es durch seine Persönlichkeit. Er kleidet sich nicht zerlumpt wie ein Strolch und nicht elegant wie ein vornehmer Ganove, auf den die Polizei schon am Bahnhof wartet, sondern wie ein Wandersmann. Kurze Hosen wirken immer. Wenn er auf den Fahrer zutritt, muß er ihn abgeschätzt, in ihm ein Bedürfnis erzeugt haben und gleichzeitig unsichtbar die Erfüllung dieses Bedürfnisses versprechen, wenn er ihn mitnimmt. Für dieses Bedürfnis ist wichtiger noch als die Worte, mit denen er um die Mitfahrt bittet, das Fluidum, jenes Etwas von Herz zu Herz, das nicht zu beschreiben ist und was den Herrn des Wagens bezwingt. Wir haben das oft ausprobiert: nicht und nicht klappte es. Dann zieht man sich zurück, konzentriert sich auf die innere Kraft, geht dann wieder ans Werk, - und drei Minuten später lehnt man sich in die Sitzpolster eines fetten Mercedes.
Was man spricht, wie man spricht, ist natürlich von Bedeutung. Immer von Vorteil ist, ein nahes Ziel anzugeben, das man später ja noch verlängern kann. Dem Fahrer ist es unmöglich zu leugnen, daß er da wenigstens vorbeikommt, und es erscheint ihm weniger verlangt, den Tramp mitzunehmen, als wenn der ihn bittet, ihn nach Honolulu zu fahren. Die Art, wie man anfragt, ist so unterschiedlich wie die Person des Fahrers. Der Geschäftsreisende ist in lässig-exakter Weise zu fragen, für das ältere Ehepaar darf es keinen netteren jungen Mann geben als den „reisenden Studiosus“, und den Fernfahrer, der am Vorderrad steht und einen plätschert, redet man etwa so an: „Guten Tag, Meister! Wie wär‘s, wenn im Anhänger noch’n Plätzchen frei wär für ‘nen müden Kumpel?“
Im Übrigen ist nichts widerlicher, als sich aufzuschwatzen, wie es manchen beliebt. Es gibt natürlich auch Gewaltkuren, die immer richtig sind, was das Mitfahren betrifft, die aber zu störend auf die Harmonie der Natur wirken. Eine der netteren dieser Methoden ist das Bewußtlosstellen, wozu man sich auf den Damm legt, die Zunge rausstreckt und die Augen verdreht. Man kann auch den Fahrer mit einem Stilett bedrohen: „Wenn du mich nicht mitnimmst, old boy, sehe ich mich leider gezwungen, deine Kaldaunen zu kitzeln!“ Oder wenn man eine Frau ist - aber schweigen wir lieber darüber.
Das Thema ist nicht erschöpft, meine Damen und Herren, ebensowenig wie man sich in Worten über eine Symphonie erschöpfen könnte. Ich wollte nur darauf hinweisen, was ein richtiger Tramp ist. Dabei muß gesagt werden, daß der „richtige“ Tramp der ideale Tramp ist, und den idealen Tramp gibt es nicht. Wir jedenfalls haben oft hunderte von Autos vorbeilassen müssen, bis mal eins anhielt. Wir haben uns dreißigmal an den Falschen gewandt, bis es der Richtige war, und standen oft an den unmöglichsten Stellen. Aber es macht sich so gut, wenn Ideale da sind. Und hin und wieder haben wir auch versucht, den idealen Tramp zu erreichen. Und das ist doch auch schon etwas.
Als wir die Tanten verlassen hatten, bekamen wir ein Auto, das nach Salzgitter fuhr, was ein Kaff weit im Süden ist. Dann fuhren wir über Seesen bis zu einer Kreuzung, mitten zwischen den Feldern. Als keiner anhielt und die Bauernkinder schon Wetten abschlossen, ob wir hier übernachten müßten oder nicht, fingen wir uns ein Gör und benutzten es als Aushängeschild. Und richtig, das heischte Mitleid und verwischte den Eindruck der Straßenräuberei, der bei zwei einzelnen jungen Kerlen wohl aufkommen konnte. Es war eine einzelne Frau, die anhielt und ganz entsetzt war, als das Kind nicht mit einstieg. Wir aber wälzten uns schon behaglich auf den Rücksitzen. Zwei weitere Autos brachten uns bis nach Göttingen, wo wir in einen Ford überwechselten. Der gehörte einem Yankee mit dem brutalsten Gesicht, das mir je untergekommen ist. Er knautschte Kaugummi und konnte kein Wort deutsch. Und da wir Deutsche waren und kein Wort yankeeisch konnten, fuhren wir 70 Kilometer an Kassel vorbei, wo wir längst hätten abbiegen müssen, um Eschwege zu erreichen. Wir stiegen wieder aus, wo kein Ort war und begannen zurückzulaufen.
Dann nahm uns ein Limonadenauto mit bis nach Hersfeld. Als wir da ankamen, war es schon dunkel und wir waren müde und suchten einen Unterschlupf für die Nacht. Es schien nichts zu geben, denn alles sah teuer aus, und wenn jemand geizig war, waren wir es. Endlich fand sich am Rande des Städtchens eine Scheune auf einer Wiese, die umzäunt war. Die Scheune selbst war mit Schlössern und Stacheldraht verbarrikadiert. Aber wir entdeckten eine Klappe am Dach, die Eberhard aufbrach. Gegen Morgen weckte mich ein Faustschlag von ihm. Ich taumelte hoch, aber er zog mich wieder runter: der Bauer war da und schloß an der Haupttür! Wir sahen durch die Latten ein Fuhrwerk mit etlichen Männern, die Stroh holen wollten. Da warfen wir unsere Sachen aus der Klappe, die Säcke, die Decken und die Fotoapparate, und sprangen hinterher, die dreieinhalb Meter hinab, und rasten davon, als wenn die Kerle hinter uns wären.
Dann wuschen wir uns in einem Fließ, aßen etwas Speck und Brot und machten uns wieder auf den Weg. Jetzt sollte mein Bein strapaziert werden, das von einem früheren Sturz noch arg mitgenommen war. Die Straßen in unserer Richtung waren im Bau, und alles ging über eine Umleitung. Wir erwischten kein Auto und beschlossen zu wandern. Es war heiß, langweilig und beschwerlich. Endlich, in Bebra, hatten wir Glück und wurden mitgenommen. Es war ein Schweinefuhrwerk, man konnte sich im Laderaum nur durch Balancieren auf den Schutzblechen vor dem Versinken in der Scheiße bewahren. Von dem Schweinefuhrwerk stiegen wir in Sontra um in einen Opel-Kapitän. „Ich weiß nicht, das riecht hier so nach Mist, ich sehe aber gar nichts,“ sagte der Fahrer. „Oh,“ erwiderten wir, „auf dem Lande riecht es ja meistens nach Mist. Wahrscheinlich ist der Mist auf den Feldern schon untergegraben, weil man ihn nicht sieht.“
In Eschwege trafen wir Dietrich und seine Tante. Wir schliefen in der Jugendherberge, wurden aber von der Tante sorgsam verpflegt. Der Wirt der Jugendherberge fragte uns, ob wir Schlafsäcke hätten. Wir sagten ja, denn dann braucht man nur halb soviel zu bezahlen. Wir hatten aber keine, sondern nur unsere dreckigen Decken, mit denen wir schon in der Scheune gepennt hatten. Denselben Tag briet uns der Küchenmeister noch einige Würste, die etwas alt waren, denn sie stammten noch aus Berlin. Sie schmeckten schauderhaft, vielleicht weil sie schon einen grünlichen Schimmer hatten. Wir schenkten sie einem Türken, der sie auffraß. Dann machten wir eine Tour mit der Tante und Dietrich und den anderen Verwandten zum Hohen Meißner. Das ist kein Fürst, sondern ein Berg in der Nähe. Man kann auf ihm lange anstrengend hin- und herlaufen und von oben heruntersehen, was eine bewaldete Aussicht ergibt.
Der Abschied erfolgte, und wir zogen wieder los. Es war frühmorgens, die Erde duftete frisch in der Sonne, wir hatten geschlafen und waren satt. „Was meinst du, was ist wohl der Grund, weshalb wir hier rumlaufen?“ begann Eberhard. - „Ich würde sagen, es sind viele Gründe, äußere und innere. Äußere zum Beispiel, weil wir vor einigen Tagen nach Eschwege gekommen sind. Wenn wir nach Sylt getrampt wären, könnten wir hier nicht entlanggehen. Oder wenn wir jetzt in eine andere Richtung wollten, würden wir auch woanders herumspazieren.“ - „Ja, ich meine aber überhaupt den Grund! Warum laufen wir überhaupt irgendwo herum?“ - „Das wäre dann der innere Grund, wenn ich so sagen darf. Mir scheint, daß sich auch dieser wieder differenzieren läßt. So ist es zum Beispiel Mode, sich in den Ferien herumzutreiben, anstatt gemütlich zu Hause zu sitzen, zu fressen und sich zu sonnen.“ -
„Na ich meine den noch inneren Grund!“ - „Ich meine, der letzte Grund ist, daß wir leben. An sich ist es egal, wo wir rumwandern, nur müssen wir überhaupt wandern oder uns anders beschäftigen, damit wir zeigen, daß wir leben.“ - „Dann wäre das Leben ja sinnlos!“ - „Ist es auch. Wenn ich mir überlege: wir trampen und trampen, um zu den Alpen zu kommen. Und wenn man fragt, was man da will, sagt man: ich bin mal dagewesen!“ - „Ja, vielleicht ist der Sinn des Trampens oder des Lebens gar nicht zu sagen: aus dem und dem Grund. Sondern ein Gefühl, ein schönes oder schlechtes, aber eben ein Gefühl.“
Nach solchen Gesprächen kamen wir zu einer Schranke, hinter der wir uns aufstellten und winkten. Es wollte zuerst keiner halten, und wir dachten, es läge an unserem Gepäck, was zwei gewaltige Rucksäcke waren. Deshalb versteckten wir die Säcke an einem Baum. Da kam „unser“ Wagen, und während der eine mit dem Fahrer verhandelte, holte der andere die Säcke herbei. Fast hätten wir Pech gehabt, denn es war ein „Privater“, der Angst hatte, daß wir mit den Haken und Schnallen seine Polster demolieren könnten. Solche „Privaten“ sind nicht nur Eigentümer des Wagens, sondern fahren auch nur zur Angabe mit ihrer Kutsche spazieren. Es war ein älterer Herr, der nach Kleinaktien aussah und furchtbaren Wert auf seinen „intakten“ Motor legte. Überdies war er der reinste Sonntagsfahrer und kam nicht über 35 Kilometer pro Stunde hinaus.
Wir lauschten seinem blöden Gelaber, unter anderem auch über die „Bundesgartenschau“ in Kassel, die er uns dringend empfahl. Ja, sagten wir, das interessiert uns gewaltig, wir wollten selber mal Gärtner werden und herzlichen Dank für die Empfehlung und so weiter. In Wirklichkeit war uns die Gartenschau schnurzegal, aber man muß doch dem Spender der Fortbewegung wenigstens etwas Honig aufs Brot träufeln, damit der auch seinen Spaß hat. Und sieh mal, bei dieser Gelegenheit kamen wir auf den Dreh, wie man durch Geschichtchen und träufelnden Honig reich werden kann! Der Mann gab uns nämlich das Geld für den Eintritt in die Schau, was gar nicht so wenig war. Wir sind natürlich nicht hingegangen, sondern haben das Geld zu was anderem benutzt. Kassel ist eine zertrümmerte Stadt, wo nichts los ist, und wir verließen sie bald. Ein Weg ging durch Gärten, wir stahlen Johannisbeeren und badeten an einem Wehr, wo drauf stand:
BADEN VERBOTEN! LEBENSGEFAHR!
Gegen Abend gelangten wir zur Autobahn und fuhren mit einem Fernlastzug nach Frankfurt. Das sind wohl 200 Kilometer. Der Anhänger war leer und nicht gefedert und steinhart aufgepumpt. Und wer da meint, daß man auf der Autobahn keine Federung braucht, glaubt wahrscheinlich, daß der Mensch einen Hintern aus Eisen hat. Denn hinsetzen kann man sich nicht, weil man immer einen halben Meter hochfliegt und dann wieder mit dem Arsch auf die Bretter kracht. Da wir aber die vier Stunden in dem hopsenden und schleudernden Fahrzeug nicht stehen wollten, spannten wir die Festhalteketten an den Seitenwänden und setzten uns drauf. Das kniff zwar ein bißchen, aber es wirkte wie die beste Federung. Wir genossen die Aussicht und freuten uns an den entfliehenden Bäumen und Feldern und an der Sonne, die langsam unterging. Eberhard pinkelte von dem Anhänger herunter, und weil ich mußte, pinkelte ich auch. So kamen wir immer weiter nach Süden.
Als wir Frankfurt erreichten, war es stockdunkel. Der Lastzug hielt an der Autobahn und der Fahrer bedeutete uns auszusteigen, denn er würde noch weiterfahren. Dann standen wir allein am Rande der Großstadt. Weit entfernt blinzten Lichter, sonst war es einsam. Ein riesiges Laubengelände dehnte sich bis zu entfernten Häusern. Wir badeten in einem schmalen Flüßchen und sahen uns dann nach einem Nachtquartier um. Ich weiß nicht, ob Wolken am Himmel waren, aber ein kühler Nachtwind huschte durch die Sträucher. Es gibt nichts so Bedrückendes, als fremd und nicht an ihr teilhabend am Rande der Zivilisation zu stehen. Man ist müde und kommt sich so ausgestoßen vor, so einsam und elend, und möchte weg, nur weg von der Welt. Im Wald und in der Natur ist die Nacht schön. Man fühlt sich teilhaftig am großen Schlafengehen der Tiere und Pflanzen, aber die steinernen Häuser schlafen nicht. Sie sind tot und tragen doch etwas vom Tage in sich, von der Wärme und vom Licht der Sonne, von dem man selbst ausgeschlossen ist.
Im Angedenken an die Scheune von Hersfeld, wo wir beinahe erwischt worden wären, getrauten wir uns nicht, in eine Laube einzusteigen. So irrten wir herum, bis wir zu den entfernten Häusern gelangten, wo eine Siedlung begann. Zudem plagte uns entsetzlicher Durst. Als wir an einem Kolonialwarenladen vorbeikamen, sahen wir Licht herausschimmern. Es war spät, etwa elf Uhr, aber wir pochten, bis eine Stimme fragte, was los sei.
„Guten Abend, zwei Wanderer sind hier, die einigen Durst hätten und leider ganz unbemittelt sind. Wenn‘s möglich wäre, etwas Wasser?“ Na, es war zwar ein mickriger Kaufmannswurm, der uns reinließ, aber ein gutmütiger. Er gab uns versäuerte Buttermilch und einige Stullen und wir erzählten ihm etwas und fragten nebenbei, wo man hier schlafen könnte. Aber da biß er nicht an und schickte uns zur Polizei. Wir sagten ihm unseren Dank und befolgten seinen Rat. Aber man hat selten zweimal solches Glück an einem Tage, oder besser: in einer Nacht. Wir machten bereits einen grundlegenden Fehler, als wir schräg über den Damm auf das Polizeihaus zugingen. Weit und breit war kein Auto zu riechen, aber ein Polizist ist ein empfindlicher Mensch.
Also, wir gingen schräg über den Damm. Ein fetter Gendarm stand vor der Tür und ein magerer sah aus dem Fenster. Und wenn Sie immer noch nicht glauben, meine Damen und Herren, daß nicht der begriffliche Inhalt der Worte den wirklichen Ausdruck der Situation prägt, sondern das Fluidum, das den Worten anhaftet, dann werden Sie das gleich erleben. Denn grade wollte ich einen rührseligen Schwall von zu Herzen gehender Tonfolgen loslassen, als Eberhard ganz trocken fragte: „Können wir hier schlafen?“ Ach Bombenpotzhagelundkugelblitzdonner, ist das eine diplomatische Frage! Ich weiß ja, es ist ein zu unkonventioneller Mensch, der Eberhard... Der würde bei einer feinen Tischgesellschaft der Hausfrau glatt zurufen: „He - neue Füllung!“, anstatt: „Gestatten Madame, mich noch einmal an der gekonntesten Kunst aller Künste, an diesem Tomatensalat zu berauschen?“
So spielte sich die Unterhaltung mit den Polizisten wie folgt ab: der dicke Polizist sagte: „Nein!“ und wir sagten: „Aha!“ Mittlerweile waren wir dermaßen ermüdet, daß uns fast alles egal war. Wir kamen zu einer Grünanlage: ein Weg, daran Bänke, ringsherum Rasen und mittendrin ein Gebüsch. Wir legten uns ins Gebüsch.
Es mochte noch zeitig am Morgen sein, als ich von der Kälte und Nässe des Taues erwachte. Ich nahm meine Sachen und ging zu einer Bank. Dann wartete ich und hielt Maulaffen feil für die Leute, die bald zahlreich zu ihrer Arbeit eilten. Plötzlich hörte man einen Schrei aus dem Gesträuch und Eberhard stürzte hervor. Er hatte eine Decke um den Leib geschlungen, sah zerzaust aus und warf wilde Blicke um sich, denn er glaubte, ich sei gestohlen worden. Die Leute waren stehengeblieben. Da erblickte er mich und kam erleichtert herbei, mit Sack und Pack, immer quer über den Rasen und die Blumenrabatten geschritten. Es getraute sich aber niemand etwas zu sagen.
In der Jugendherberge trafen wir Dietrich, der die Bekanntschaft eines seltsamen Individuums gemacht hatte: eines staatenlosen Rumtreibers der angeblich aus Triest kam, aber keine Papiere besaß und eine Pistole in der Achselhöhle trug. Wir machten uns fein, das heißt, wir wischten unsere Schuhe an einem Vorhang ab, wuschen uns die Hälse und kratzten den Bart weg, denn wir wollten eine Dame besuchen. Diese Dame hieß Christa und war eine Schulkameradin gewesen. Sie freute sich sehr, denn sie mochte Männer gut leiden. „Na, wirscht du immer noch so rot?“ fragte sie Eberhard. - „Nein,“ sagte er und erglühte wie eine Tomate. Dann war es Mittag und wir schlugen uns die Wänste zum Platzen voll, denn wir waren ja eingeladen. Einige Tage lang zeigte uns Christa die Stadt, den Verkehr, Wolkenkratzer, die Amis, Nutten, das Goethe-Haus, den Dom und die Paulskirche, den Zoo, Spielhöllen und Kneipen und die Penner, die nachts auf den Parkbänken schliefen und manches andere, was noch von der hohen Kultur dieser Stadt zeugt.
In der Jugendherberge, die sehr groß war, mußten wir Küchendienst machen, weil wir mehrere Tage bleiben wollten. Abends war es meist rührselig, wenn die Gruppen sich sammelten und ihre Lieder sangen, von denen eines den Refrain hatte: „Ich bin ein Vagabund“. Das macht sich immer gut, besonders wenn man mit dem Omnibus von Herberge zu Herberge fährt und Gitarren und Trommeln mit herumschleppt und manchmal sogar eine Fahnenstange mit der Vereinsfahne dran. Um zehn mußten wir alle ins Bett gehen. Sorgfältig waren die Geschlechter geteilt: die weiblichen Kollegen in diesen Gang, die männlichen in jenen. Und damit sich nicht zufällig mal jemand verirren konnte, hatten alle eine Nummer, die sowohl das Zimmer als auch das Bett bezeichnete. Aber wie es nun mal so ist, selbst die mathematischste Normung wird in der Praxis immer wieder an der menschlichen Unvollkommenheit scheitern. Denn wie soll man es anders erklären, daß ausgerechnet der Eberhard eine Nummer erhielt, die in den weiblichen Gang wies? In einem Zimmer, in dem sechs Betten waren, legte er sich auf eine der Pritschen und stopfte seine Socken, als einige Mädels hereinkamen. Sie kreischten laut auf und verschwanden, worauf Eberhard, um weiteren Störungen vorzubeugen, sich einriegelte. Am Morgen beschwerten sich die Damen bei der Verwaltung.
Die „Herbergsmutter“ kam rasselnd herbei und öffnete die Tür mit einem Nachschlüssel. Sie fand Eberhard in Unterhosen an der Erde sitzend beim Essen, auf einer Zeitung lagen Brot und Speck und ein gewaltiges Klappmesser spickte in der Diele. „Was tun Sie hier?“ fauchte die „Mutter“. - „Ich esse,“ antwortete Eberhard. - „Zeigen Sie mir Ihre Nummer!“ - „Bitte, da.“ - „Das ist ja die Nummer für dieses Zimmer!!“ - „Jawohl, deshalb bin ich auch hier. - „Aber, aber...,“ die Frau stammelte, „warum haben Sie sich eigentlich eingeschlossen?“ - „Damit niemand hereinkommt.“ - „Wußten Sie nicht, daß dies Mädchenschlafräume sind?“ - „Doch, aber das macht mir nichts aus.“
Im Truck: Mal vorne...
... mal hinten
Auf der Landstraße
An der Werra
Dann kam der Abschied von Christa und auch von Dietrich, der eine andere Tour nahm als wir. Mittags zogen wir los, kamen erst bis Darmstadt und erwischten dort einen Lastzug, der nach Süden fuhr. Kreuz und quer ging‘s durch das Land und ein paarmal über den Rhein. Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg, Speyer, Knittlingen, Karlsruhe. Immer durch und vorbei, hier ein paar Kisten, da ein Faß, und so weiter. In solchem Lastzug fahren immer zwei Männer. Während der eine steuert, schläft der andere in einer Koje über dem Sitz, und alle vier Stunden wird gewechselt. So können sie mitunter tagelang fahren, halten kaum einmal an zum Benzintanken oder zum Essen oder zum, zum - na ja eben dazu, aber das kann man auch während der Fahrt vom Trittbrett erledigen. Es ist ein schwerer Beruf. Wir saßen vorne, und der eine der Fahrer war ein neckischer Kauz, der bei jedem Fräulein auf der Straße die Hupe ertönen ließ.
Spät nachts kamen wir in Stuttgart an. Das war auch das Ziel unseres Autos, und die Männer boten uns die Koje als Nachtquartier an. Wir wollten uns aber die Beine vertreten und verabschiedeten uns. Von einem hochgelegenen Außenbezirk sahen wir auf die zehntausend Lichter der Stadt, die sich über Hügel und Täler erstreckten, was wie ein starres, aber glänzendes Meer aussah. Wir waren wieder todmüde und schliefen in der Jugendherberge, wo wir gegen doppelten Preis eingelassen wurden.
Am nächsten Tag sahen wir uns etwas um, begaben uns dann aber wieder auf die Walz und walzten bei entsetzlicher Hitze einige Stunden durch die Gegend. Es ging durch Felder und Wiesen und an Bauern vorbei, die mit Jauche hantierten, und wir stellten fest, daß die Landschaft doch schon erheblich anders aussah als im Norden. Dann kamen wir an die Autobahn, wo schon etwa fünfzig Tramps winkten. Na, das waren noch blutigere Neulinge, die gegen uns nicht aufkamen. Wir hielten uns an die Raststätte, wo keiner stand, und eroberten in wenigen Minuten gleich zwei Wagen, von denen wir den einen drei dänischen Jungens vermittelten. Es waren zwei korporierte Studenten, die uns mitnahmen. Über das schneeweiße Hemd spannten sich die akademischen Bänder der Neu-Teutonen, und sie demonstrierten ihre Männlichkeit durch häufiges Biertrinken in den Autobahnkneipen. Natürlich mußten wir mithalten und wurden auf diese Art und Weise nicht nur mit dem Korpsgeist bekannt, sondern erhielten auch gleich eine Einführung in die bayrische Nationalgewohnheit. Hei, war das lustig! Und je mehr Bier wir tranken, um so dichter rasten die beiden an Bäumen und Gräben vorbei, manchmal etwas die linke Grasnarbe streifend, manchmal auch die rechte.
Als wir trotzdem wohlbehalten in München anlangten, empfing uns die Familie Brühreis, Verwandte von Eberhard, mit jener freundlichen Vorsicht, wie man sie gegen Angetrunkene empfindet. Es war eine achtbare Familie, die Brühreis, die gut aß, weiche Betten hatte und neben den Eltern aus einem verdorbenen Sohn und einer Tochter bestand. Am Abend machten wir eine Sauftour zum Bavaria-Keller, wo einige Liter Bier ihren Weg durch unsere Körper antraten. Das war wieder lustig und wir trieben Unsinn, wobei der verdorbene Sohn uns die bayrische Art eines Schwipses vorführte. Er kniff die Frauenzimmer, warf einem Kellner das Tablett an die Erde und ließ einen Mauerstein auf einen Tisch knallen, wo mehrere „Saupreißen“ saßen (Saupreißen sind alle, die nördlich der Donau wohnen). Und als er am Ende noch zwanzig Mark „fand“, war der Abend in jeder Weise gesichert.
Dann kamen drei Tage mit der Besichtigung Münchens, einer Stadt wie jede andere, mit Plätzen und Kirchen, Museen, Straßen und Springbrunnen. In einem Museum, wo man aufs Dach steigen konnte, war eine Tafel angebracht mit den Namen der Alpengipfel, die man von hier aus sehen sollte. Wir sahen aber gar nichts, obwohl klares Wetter war, und es war wohl alles nur ausgedacht mit den Gipfeln.
So schön wie am ersten Abend war es nie mehr. Deshalb verabschiedeten wir uns und begannen unseren letzten Vorstoß nach Süden. Hier fuhren die Autos sehr spärlich. Eine Menge Italienfahrer mit überladenen Kutschen kamen für uns nicht in Frage. Wir zuckelten immer nur ein paar Kilometer mit Lieferautos voran, bis der Strom bei Wolfratshausen schließlich ganz versiegte. Zu Fuß mühten wir uns mit unserem Gepäck weiter vorwärts. Auf der flachen Ebene brütete gräßliche Hitze, alles roch nach Wiese, und hin und wieder war ein Haus zu sehen, wo wir Wasser tranken. Vor uns lagen die Alpen. Die riesigen Berge, die oben weiß waren, rückten nicht näher. Und wie wir da liefen und liefen, kamen wir uns vor wie der Cäsar, der mit seinen Legionen auch mal die Alpen überqueren wollte. Und wir fragten uns: Ach verdammt, was haben uns die Berge getan, daß wir ihnen auf den Leib wollen?
So nahmen wir an einem reißenden Flüßchen Abschied von der Eroberung der Alpen. Wir badeten bis gegen Abend in dem herrlichen Wasser, ließen uns mit der Strömung treiben und plantschten herum wie die Kinder. Bei einem Hirtenpaar, das noch den altdeutschen bajuwarischen Dialekt sprach, schliefen wir auf dem Heuboden. Die Unterhaltung mit den Leutchen verlief etwa so: Die Frau sagte irgendetwas von „Kaffa“. - „Ja,“ sagten wir, „Kaffee gibt es auch in Berlin.“ - „Nein,“ meinte der Hirte und brachte wieder das Wort „Kaffa“ an, diesmal in Verbindung mit Ost-Berlin. „Na, kann man wohl sagen, gibt ganz schöne Kaffern da.“ Nein, auch das war nicht gemeint. Kaffa, kaffa - wie es mit Kaffa ist? Da verstanden wir endlich: Wie es mit dem „Kaufen“ im Osten sei! - „Ganz großartig,“ sagten wir, „es wird da überhaupt alles zu kaufen geben, was man sich nur vorstellen kann. Nur hapert es ein bißchen mit der Organisation, weil erst die Schwerindustrie aufgebaut werden muß.“ Die Hirten gaben uns Frühstück am nächsten Morgen, und wir verabschiedeten uns.
Es ging wieder los, mit Gepäck und ich mit dem Humpelstock, bei der üblichen Hitze, 25 Kilometer durch die Gegend zu einer Jugendherberge, die „Jägersbrunn“ hieß und die älteste war von der Welt. Da trafen wir einen Landstreicher, der sich Klaus nannte und grade beim Messerwerfen war. Ob er vom Zirkus sei, fragten wir. Nein, sagte er, er übe sich nur darin aus Vergnügen, denn er sei katholischer Geistlicher, allerdings noch ungeweiht. Die Herberge lag mitten im Wald und zwischen den Wiesen. Der Boden war saftig und die Gewächse voll Kraft und am Abend war kein Luftzug zu spüren. Dann konnte man auf den Wiesen am Waldrand die Rehe stehen sehen, die Phantasie spukte sich Elfen vor und kleine Zwerge, die ihre Schätze bewachten. Das erinnerte uns an Hauffs Märchen und machte uns ganz traurig und voll Sehnsucht. Und wir dachten an zu Hause und auch wieder nicht und fühlten uns fast zum Zerreißen.
Am nächsten Tag schien wieder die Sonne und alles war verflogen vom Abend und wir machten uns erneut auf den Weg. Wenn ich an unseren Fraß denke, von dem wir uns ernährten, wird mir jetzt noch schlecht. Meistens hatten wir nur Speck und Brot und mitunter etwas Honig, und tranken dazu nur Wasser. Dann hatten wir uns mal Margarine gekauft anstatt Speck, die wir in einem alten Marmeladenglas aufbewahrten. Als es nun so heiß herunterbrannte, wurde die Margarine flüssig, was aussah wie Benzin, in dem eitrige Wasserflöhe schwammen. Das konnte man natürlich nicht aufstreichen, sondern mußte das Brot in die Suppe eintauchen. Ich vermochte das bald nicht mehr zu essen und überließ alles Eberhard, der immer ein Stück Brot abbiß und es mit kleinen Schlückchen des lauwarmen Aufstrichs herunterspülte. Wir sparten das Geld und verzehrten uns lieber vor Durst, als Limonade zu kaufen, wenn kein Wasser da war. Das war nicht nur Geiz, denn wenn wir irgendwo angefangen hätten, etwas „Überflüssiges“ zu kaufen, wären wir sofort pleite gegangen. Nur mit eiserner Strenge gegen Sinalco-Getränke oder Butter oder gar Kuchen konnten wir uns mit unseren geringen Kapitalien halten.
Es folgten nun zwei oder drei nichtssagende Tage mit Trampen, und ich erinnere mich, daß die Tramper manchmal zu so vielen und so dicht standen wie Reisende auf dem Bahnsteig. Dann kamen wir nach Leipheim bei Ulm, was ein Nest von vielleicht dreitausend Personen ist und ein Schloß hat und eine Herberge für Penner. Wir nächtigten in der letzteren, weil sie im Schloß gerade keine Räumlichkeiten für uns mehr frei hatten. Das Penner-Asyl bestand aus einem halbdunklen Raum, in dem einige Pritschen waren, mit Strohsäcken darauf. Ein Kollege war bereits eingezogen, der sich sofort über uns hermachte und uns drei Pfund altes Fleisch schenkte, das er gestohlen hatte. Dann erzählte er uns aus seinem Leben und gab uns verschiedene Ratschläge, deren Befolgung ganz harmlos war, sofern man sich nicht dabei erwischen ließ. Er erklärte, daß die Menschen dumm seien, weil sie arbeiten und er arbeitet nicht, sondern ist Strolch und bettelt, weil das viel besser ist. Das mache er schon seit sieben Jahren.
Am nächsten Morgen holte der Dorfpolizist uns allesamt auf das Rathaus. Wir marschierten durch das Städtchen wie seine Gefangenen, und die Leute gafften uns nach. Auf dem Rathaus ging es durch etliche Gänge und Räume, wo die Schreiber und Sekretäre saßen, bis zu einem besonders amtlichen Raum, wo das Vor-Vorzimmer des Bürgermeisters war und wo ein bleichsüchtiger Jüngling Kaffee trank. Wir warteten, bis er fertig war und mehrere Bleistifte angespitzt hatte. Dann nahm er einen Bogen Papier aus seinem Schreibtisch und begann. „Sie!“ sagte er zu dem Strolch, der sofort eine leidende Miene annahm, „Sie!“ - und dann ganz schnell: „Name, Adresse, Beruf und Grund der Landstreicherei!“ Alter und Harm schienen den Gefragten immer tiefer zu beugen. Er begann eine lange Geschichte: er sei aus Westfalen, vor dem Kriege nach Schlesien gezogen und 1945 nach Ostfriesland geflüchtet. Dabei seien während des Übergangs über die Elbe zwei Schwestern und seine Kinder ertrunken. Ein großer Wagen mit Hausgerät sei abhanden gekommen, als durch feindlichen Beschuß ein Dorf in ihrer Nähe zerstört wurde...
Der Jüngling unterbrach und wiederholte, etwas weniger streng: „Nennen Sie bitte Namen, Adresse, Beruf und den Grund Ihres hiesigen Aufenthalts!“ - „Aber das tu ich ja gerade,“ fuhr der Penner fort. Er nannte sich Herbert Elias Franke aus Sötenholt in Ostfriesland. Und eben nach Ostfriesland sei er damals nach langen Wanderungen gekommen, jedoch ohne einen Menschen zu besitzen, der ihm nahestünde. Ganz allein sei er auf der Welt bis auf einen Bruder, der in Sibirien eingesperrt ist. So war es bis vor drei Monaten, als er einen Brief dieses Bruders aus Sibirien bekam, aus dem Lager Dobro Djensk. Darin stand, daß er nach Ulm entlassen werde. Nun habe er, der alte Elias, sich aufgemacht, ihn zu suchen. Doch alles vergebens. Und zu allem Überfluß hätten ihm Diebe die Brieftasche samt allen Papieren, auch den Brief, gestohlen. Jetzt sei er nicht nur mittellos, sondern auch ohne Paß. Und wenn er daran denke, sein Bruder irre verlassen durch diese Welt und fremde Menschen mißbrauchten seinen Namen, seinen alten ehrlichen Namen, dann krampfe sein Herz sich zusammen über all dem Weh, das den Menschen überfallen kann.
Da konnte sich der Kerl nicht mehr halten, er schluchzte laut und barg sein Gesicht in den Händen, durch die die Tränen rannen. Während all dem redete er den Jüngling als „Herr Bürgermeister“ an, was dessen Selbstgefühl sichtlich hob. „Beruhigen Sie sich,“ sagte er ein paarmal, „wir werden versuchen, alles in die richtigen Wege zu leiten.“ Er erlaubte ihm, unentgeldlich noch einige Tage in dem Asyl zu wohnen, und gab ihm zehn Mark als einstweiligen Notbehelf, „bis die Sache geklärt ist“. Der Penner stammelte seinen Dank und ging gebeugt zur Tür hinaus. Als er an uns vorbeikam, zischte er durch die Zähne: „Ihr müßt dem Affen sagen, daß ihr kein Geld habt.“ Natürlich machten wir nicht solches Theater wie unser Freundchen, aber wir befolgten doch seinen Rat und erklärten, kein Geld zu besitzen. Wir würden aber gern in Herbergsscheinen bezahlen. Dabei war das mit dem Geld zweideutig zu verstehen: wir besaßen wohl Geld, aber nicht „dazu“, nämlich nachträglich für eine Nacht auf einem dreckigen Strohsack eine Westmark zu blechen. Und Herbergsscheine nahmen sie nicht, das wußten wir.