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Inhalt: Drei Personen diskutieren über Probleme der Philosophie und über die Lösungsversuche der Wissenschaft: das Eine und das Viele, Körper und Geist, Mensch und Natur, Natur und Kultur, Diesseits und Jenseits, Aufklärung der Aufklärung.
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Seitenzahl: 502
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Prolog
Dissonante Einstimmung
Auftakt
Wozu Philosophie?
Spekulation
Neuzeitliche Wissenschaft
Tautologien
Raumzeit
Zwiespältige Begrifflichkeiten
Das Eine und das Andere
Veränderung
Grenze
Einheit
Raum und Körper
Raum
Körper
Dimensionen und Koordinaten
Zeit und Bewegung
Ereigniszeit
Jetzt
Uhrzeit
Aktuale und potentielle Unendlichkeit
Unendliche Teilung
Diagonale
Kreis
Das diskrete Kontinuum
Örter
Der erstarrte Pfeil
Infinitesimale Manöver
Wissenschaftliches Panoptikum
Die Zurichtung der Bewegung
Bewegung und Kraft
Die Spur der Bewegung
Medium und Vakuum
Selbstbewegung
Die Zerbröselung der Materie
Stoff und Form
Atom und leerer Raum
Materie und Feld
Teilchenzoo
Die Verkrümmung des Raumes
Kraft und Trägheit
Nah- und Fernwirkung
Euklidisch oder nicht
Gerade oder krumm
Trägheitssysteme
Die Verzerrung der Zeit
Lichtgeschwindigkeit
Gleichzeitigkeit
Umrechnungen
Grenzfälle
Gravitation
Theoriekosten
Der Zufall als Notwendigkeit
Überleben
Mutation und Selektion
Höherentwicklung
Lebende Systeme
Denken und Bewußtsein
Der nackte Affe
Sein und Sollen
Die Auflösung der Welt
Die Welt als Buch
Die Welt als Räderwerk
Die Entgrenzung
Die Explosion
Die Welt als Höhle
Mit uns zieht die neue Zeit
Dem Morgenrot entgegen
Per aspera ad astra
Deus mutabilissimus
Abwertung der Natur
Entzauberung
Mechanisierung
Experiment
Sachlichkeit
Tabula rasa
Fortschrittsglaube
Arbeitskult
Wissensgesellschaft
Frankensteins Kinder
Tot oder lebendig
Außen oder innen
Metaphysik
Körper und Geist
Wahrnehmung
Die kleinen schlauen Zellen
Künstliche Intelligenz
Zufall oder Absicht
Subjekt
Zwei Naturen
Sichtweisen
Fehler
Täuschung
Zufall
Im Lichte der Vernunft
Experiment Mensch
Mündigkeit
Selbstwiderlegung
Antikunst-Kunst
Diesseits und Jenseits
Verwunderung
Etwas oder nichts
Anfang und Ende
Gott und Mensch
Deus absconditus
Daseinsbestimmung
Epilog
Anhang
Etwas Literatur zum Thema
Karrikaturen
Personen
Wir, die Dachkammergesellschaft, wurden gefragt, woher wir die vielen philosophischen Gespräche hätten. Darauf antworten wir: die hier aufgezeichneten Diskussionen wurden auf unserem Trockenboden zwischen Laken und Hemden ausgefochten.
Auf die Frage, ob wir die Diskussionen auf Tonträgern aufgezeichnet hätten, antworten wir: Nein, aber wir lauschten aufmerksam und filterten sie aus den Tiefen des Kosmos heraus. Das hätten wir nicht gekonnt, wenn nicht alles, was jemals geschah, gedacht, getan wurde, weiterwirken würde. Wer das nicht glaubt, müßte akzeptieren, daß das, was jetzt ist, nicht wirklich ist, weil es irgendwann einmal nicht mehr gewesen sein wird.
Die herausgefischten Gespräche konnten wir nicht mehr den einzelnen Teilnehmern, sondern nur philosophischen Tendenzen zuordnen: einer wissenschaftsfreundlichen, die von Otto, einer wissenschaftsskeptischen, die von Karl, und einer gelehrten, um Ausgleich bemühten, die von Leo repräsentiert wird.
Worum es geht? Natürlich um das ewige Thema: Einheit und Vielheit.
Auftakt
OTTO: Womit fangen wir an?
KARL: Wie wär‘s mit dem Anfang?
OTTO: Das geht nicht. Über den Anfang gibt es nichts zu sagen.
KARL: Was du nicht sagst!
OTTO: Ja, weil es den Anfang nicht geben kann. Gäbe es ihn, dann müßte er selbst einen Anfang haben. Und der ebenfalls. Und so weiter.
KARL: Wenn es keinen Anfang geben kann, dann sind wir am Ende, ehe wir angefangen haben.
OTTO: Das geht auch nicht. Ohne Anfang kein Ende.
KARL: Keine Sorge, es gibt einen Anfang. Denn es gibt ja nicht nichts, sondern etwas. Und alles, was es gibt, ist geworden, hat also mal angefangen.
OTTO: Aber wo? Im Nichts? Nichts kann es nicht geben, weil es dann etwas wäre. Also muß es auch keinen Anfang von etwas gegeben haben.
KARL: Es muß nicht, aber es kann!
OTTO: Dann muß etwas dagewesen sein, das angefangen hat. Nein, nach einem Anfang suchen heißt, ihn voraussetzen, und das ist paradox.
LEO: Wieso? Die Bibel sagt: „Suchet, so werdet ihr finden“.
OTTO: Was man voraussetzt, braucht man nicht zu suchen.
KARL: Umgekehrt! Etwas, das ich nicht voraussetze, kann ich nicht suchen. Denn ich wüßte nicht, wonach ich suchen soll.
LEO: Beruhigt euch. Immanuel Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft gezeigt, daß wir weder auf einen Anfang noch auf einen Nicht-Anfang bauen können.
OTTO: Eine unmögliche Situation.
KARL: Wenn die Logik versagt, bleibt uns ja noch die praktische Vernunft.
OTTO: Bitte laß uns an ihr teilhaben.
KARL: Gern. Etwas anzufangen ist doch unser täglich Brot. Woher haben wir denn einen Begriff vom Anfangen, wenn nicht aus eigener Erfahrung?
OTTO: Und welchen Begriff haben wir?
KARL: Jeder Anfang ist eine Selbstbewegung.
OTTO: Selbstbewegung ist nur ein anderes Wort für „Anfangenkönnen“. Aber alle Bewegungen sind Wirkung anderer Bewegungen.
KARL: Und unsere Selbsterfahrung? Schließlich fangen wir doch ständig etwas an.
OTTO: Da täuschst du dich. In Wahrheit bist du in die Bewegungsabläufe eingebunden und tust, was du mußt. Das ergibt sich aus jeder Rekonstruktion vermeintlicher Handlungen.
KARL: Aber nur, weil du voraussetzt, daß die Handlungen mit Notwendigkeit ablaufen, also keine Handlungen, sondern Geschehnisse sind. Damit schließt du Anfänge von vornherein aus.
LEO: Ich seh' schon: wir drehen uns im Kreise.
OTTO: Ich habe euch gewarnt: mit dem Anfang wird es nichts.
KARL: Es ist aber doch etwas geworden: wir haben ein Gespräch über den Anfang angefangen. Und das läßt sich nicht bestreiten.
Wozu Philosophie?
OTTO: War das eben eine philosophische Diskussion?
KARL: Ja.
OTTO: Mal ehrlich: Lohnt es sich, über so etwas nachzudenken?
KARL: Was verstehst du unter „sich lohnen“?
OTTO: Nun, es soll doch dabei etwas herausspringen, z.B. eine Wissenserweiterung. Man will seine Zeit nicht sinnlos verbraten. Das Streitgespräch hat mich etwas verwirrt. Ein klares Ergebnis kann ich nicht erkennen.
KARL: Was also sollen wir tun? Schweigen?
OTTO: Nein, den Fachmann fragen. Heutzutage gibt es auf allen Gebieten Profis: ob für kaputte Geräte, für Politik, für Wissen.
KARL: Du meinst, wir sollen unseren Verstand an der Garderobe abgeben?
OTTO: Quatsch! Ich sehe nur keinen Sinn darin, mir unnütz den Kopf zu zerbrechen oder schwierige Bücher zu lesen. Wozu haben wir Spezialisten!
LEO: Dann empfehle ich Immanuel Kant (1724-1804), einen Spezialisten für philosophische Fragen. Er meint:
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen ... gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen1.
OTTO: Du zitierst da einen Text, in dem bemängelt wird, daß du ihn zitierst, statt selber zu denken, haha.
LEO: Wolltest du nicht den Rat eines Denk-Spezialisten? Das ist sein fachmännisches Urteil über das Sichverlassen auf den Fachmann.
OTTO: Daß ein Anhänger der Aufklärung davon abrät, Aufklärung bei Spezialisten, d.h. bei aufgeklärten Zeitgenossen zu suchen, finde ich schlimm.
LEO: Wieso? Fachleute sind häufig unterschiedlicher Meinung, sie können irren.
OTTO: Trotzdem ist der Fachmann unverzichtbar. Er ist am ehesten in der Lage zu durchschauen, was der Fall ist und Abhilfe zu schaffen.
KARL: Du meinst, er stellt den richtigen Sachverhalt her?
OTTO: Nein, daß der Sachverhalt besteht, ist eine Tatsache. Aber er kann am ehesten durchschauen, was dazu gehört und was nicht.
KARL: Das bedeutet doch, daß ein Sachverhalt nichts Gegebenes, sondern etwas Hergestelltes ist - je nach dem Zweck, um den es geht. Ein Sachverhalt entsteht immer erst im Lichte eines bestimmten Problems.
OTTO: Meinetwegen. Aber letzten Endes liegt die Entscheidung bei mir: entweder ich befolge den Rat des Fachmanns oder ich befolge ihn nicht.
KARL: Genau so ist es mit unlösbaren Problemen - wie das Problem des Anfangs.
OTTO: Unbeantwortbare Fragen sind offenbar falsch gestellt, der Sachverhalt wird verkannt.
LEO: Das glaube ich nicht: Philosophie gibt es seit mehr als 2500 Jahren. Wären ihre Probleme lösbar, so gäbe es keine Philosophie mehr.
OTTO: Und wüßte man, daß ihre Probleme unlösbar sind, dann gäbe es ebenfalls keine Philosophie mehr.
LEO: Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) zog daraus den Schluß, philosophische Probleme seien „Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache“. Er meinte, wir müßten uns von ihnen befreien wie von einer Geisteskrankheit, und zwar durch Analysieren der Sprache.
KARL: Typisch Ingenieur! Die Sprache als falsch eingestellte Maschine, die repariert werden muß. Die Reparatur ist gelungen, wenn wir philosophische Probleme nicht mehr formulieren können.
OTTO: Oder wenn wir sie nicht mehr formulieren wollen.
LEO: Wer sich von der Sprache verhexen läßt, der denkt nicht selbst, sondern benutzt Denkschablonen, die von anderen hergestellt wurden. Er ist also unmündig. Mündigkeit wäre für Wittgenstein erreicht, wenn wir die philosophischen Probleme durch Sprachhygiene losgeworden sind.
KARL: Aber indem er die Sprache zum Gegenstand seines Nachdenkens macht, also gleichsam aus ihr heraustritt und sie vor sich hinstellt, philosophiert er. Können wir Philosophie durch Philosophieren loswerden?
LEO: Über die Sprache nachdenken kann er nur in und mit der Sprache.
KARL: Dann ist sein Kampf gegen die Verhexungen selbst eine Verhexung.
LEO: Das ist die typische Situation des Philosophen: das, worüber er nachdenkt, ist nicht unabhängig von ihm. Der Philosoph ist immer Teil des philosophischen Problems. Über die Sprache nachdenken kann er nicht ohne die Sprache; denkt er über die Welt nach, kann er nicht davon absehen, Teil der Welt zu sein.
KARL: Trotzdem bin ich froh, daß es auch nach über 2000 Jahren nicht gelungen ist, die philosophischen Probleme ad acta zu legen. Denn sonst gäbe es ja nur noch „heilige“ Bücher oder Lehrbücher, die dir sagen, was ist, wie es sich verhält, was du zu tun und zu lassen hast! Es gäbe keine Entdeckungsreisen des Geistes auf eigene Faust, kein Staunen, keine Freiheit.
OTTO: Du bringst mich auf den rettenden Gedanken: Philosophie ist Begriffslyrik, also eine Kunstform! Dem einen gefällt diese, dem anderen jene Philosophie, wie es ja auch bei Gedichten, Musikstücken oder Bildern der Fall ist.
KARL: Du möchtest Philosophie in die Wunderkammer nutzloser Dinge abschieben? Es geht nicht um Gefallen oder Nichtgefallen, sondern um den Anspruch auf Wahrheit.
OTTO: Ansprüche stellen kann jeder. Erfüllt hat sie die Philosophie nicht, im Gegensatz zur Naturwissenschaft. Die löst nämlich Probleme, indem sie sich ihre Fragen von der Natur beantworten läßt: durch Experimente.
LEO: Ja, damit genügen die Aussagen der Naturwissenschaft dem Kriterium der „Sachhaltigkeit“, was man von philosophischen Aussagen nicht behaupten kann. Insbesondere der Philosoph Rudolf Carnap2 (1891-1970) verwarf alle Aussagen als sinnlos, die dieses Kriterium nicht erfüllen.
OTTO: Ein Philosoph, der mir aus der Seele spricht.
KARL: Auch so ein Spezialist der Philosophie, der mit seiner Philosophie die Philosophie abschaffen wollte – was natürlich nicht gelingen kann.
OTTO: Warum denn nicht?
KARL: Der Ärger fängt doch schon mit der Frage an, durch welches Wahrheitskriterium das Kriterium der Sachhaltigkeit – und erst recht das Experiment – beglaubigt sei. Hat sich das Kriterium der Sachhaltigkeit als sachhaltig erwiesen? Für viele Sätze der theoretischen Physik trifft das jedenfalls nicht zu.
OTTO: Wozu dann überhaupt Philosophie, wenn man keinen festen Boden unter die Füße kriegt?
KARL: Weil es keinen festen Boden gibt. Aber du kannst versuchen, dich durch Selberdenken - wie einst Münchhausen an den eigenen Haaren - aus dem Schlamassel herauszuziehen.
OTTO: Bisher bin ich gut über die Runden gekommen, ohne zu philosophieren. Ich kann die Leute verstehen, die nichts für Philosophie übrig haben. Sie fühlen sich irritiert und angegriffen, weil das ihnen Selbstverständliche in Frage gestellt wird.
KARL: Die Philosophie kann niemandem das Selberdenken ersparen. Das mag lästig sein, hat aber auch praktischen Nutzen: Philosophie befördert nicht nur die Denkdisziplin und spielt Denkfallen durch, in die man so gerne tappt, sondern du lernst andere Denksysteme zu durchschauen, Ideologien abzuwehren.
OTTO: Trotzdem - das ist mir zu lebensfern.
LEO: Lebensfern? Der Antrieb zur Philosophie nährt sich gerade aus einer Beunruhigung durch das Leben.
KARL: Überlassen wir das letzte Wort Christian Morgenstern:
Geburtsakt der Philosophie
Erschrocken staunt der Heide Schaf mich an,
als säh‘s in mir den ersten Menschenmann.
Sein Blick steckt an; wir stehen wie im Schlaf;
mir ist, ich säh‘ zum ersten Mal ein Schaf.
Spekulation
OTTO: Philosophisches Denken läßt sich empirisch nicht erhärten, ist somit Spekulation.
KARL: Und was ist eine Spekulation? Ein hypothetischer, über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgehender Gedankengang.
OTTO: Ich denke eher an die Machenschaften der Finanzhaie oder ans Glücksspiel.
KARL: Kein Wunder, daß die Spekulation in Verruf geraten ist – auch die philosophische.
LEO: Dabei wird vergessen, daß jede Innovation eine Spekulation ist: eine Wette auf den Erfolg eines neuen Produkts oder einer neuen Produktionsweise. Jeder neue Forschungsansatz in der Wissenschaft ist eine Spekulation auf neue Erkenntnisse. Und wenn du für nächste Woche eine Verabredung triffst, dann spekulierst du darauf, daß nichts dazwischenkommt.
OTTO: Wetten sind Voraussagen, die Wett-Teilnehmer zu riskanten Maßnahmen verleiten, in der Hoffnung auf zukünftigen Erfolg. Die Chancen stehen um so besser, je mehr Wissen in die Voraussage eingeflossen ist. Und da schneiden Finanzspekulationen und erst recht Glücksspiele schlecht ab.
LEO: Finanzspekulationen sind keine reinen Glücksspielwetten, und selbst das Glücksspiel ist nicht ganz unabhängig vom Wissen und anderen Fähigkeiten des Wettenden. Schneiden sie schlechter ab als Innovationen in Wissenschaft und Technik? Auch bei denen spielen Glück und Zufall eine Rolle.
OTTO: Das Roulette-Spiel ist jedenfalls vollständig unabhängig vom Wissen und den Fähigkeiten des Wettenden.
KARL: Es gibt Gegenbeispiele. Jack London erzählt in einer Goldgräbergeschichte, wie einem Mann namens Alaska-Kid auffiel, daß sich das Rad des Roulette-Spieltischs, der in der Nähe des Ofens stand, etwas verzogen hatte, so daß die Kugel bestimmte Nummern bevorzugte. Er gewann aufgrund seines Scharfsinns einen Haufen Gold.
OTTO: Aber Innovationen in Wissenschaft und Technik sind auf Wertschöpfung ausgerichtet, Finanzspekulationen und Glücksspielwetten nicht.
KARL: An welche Werte denkst du?
OTTO: An Produkte, die der Allgemeinheit zugute kommen: neue Erkenntnisse, neue Geräte, neue Arbeitsplätze usw.
KARL: Und das philosophische Denken?
OTTO: Du willst doch wohl nicht behaupten, die philosophische Spekulation sei wertschöpfend?
LEO: Warum nicht? Blaise Pascal (1623-62), französischer Philosoph und Mathematiker, war vom Wert einer Wette auf die Existenz Gottes überzeugt.
OTTO: Tatsächlich? Gibt es da etwas zu gewinnen?
LEO: Entscheide selbst: Wettkumpan A hält die Wette für sinnlos. B erwidert:
B: Ja, aber es muß gewettet werden, das ist nicht freiwillig, Ihr seid nun mal im Spiel und nicht wetten, daß Gott ist, heißt wetten, daß er nicht ist. Was wollt Ihr also wählen? Laßt uns erwägen: was Euch am wenigsten wert ist. Ihr habt zwei Dinge zu verlieren, die Wahrheit und das Glück, und zwei Dinge zu gewinnen, eure Vernunft und Euren Willen, Eure Erkenntnis und Eure Seligkeit... Wette denn, daß er ist, ohne dich lange zu besinnen, deine Vernunft wird nicht mehr verletzt, wenn du das eine als wenn du das andre wählst... Und eure Seligkeit? Wir wollen Gewinn und Verlust abwägen: setze aufs Glauben, denn wenn du gewinnst, gewinnst du alles, wenn du verlierst, verlierst du nichts. Glaube also, wenn du kannst.
A: Das ist wunderbar, ... aber ich wage vielleicht zu viel.
B: Wir wollen sehen. Weil gleiche Wahrscheinlichkeit des Gewinns und Verlusts ist, ... ist hier eine Unzahl von unendlich glücklichen Leben zu gewinnen mit gleicher Wahrscheinlichkeit des Verlustes und des Gewinnes und was du einsetzt [= dein Leben], ist so wenig und von so kurzer Dauer, daß es eine Tollheit wäre, es bei dieser Gelegenheit zu sparen.3
OTTO: Das Zitat ist nicht der Rede wert, denn inzwischen ist Gott verstorben.
LEO: Ich wollte nur zeigen, daß die philosophische Spekulation wertschöpfend sein kann. Mit dem Wort „Gott“ ist ja das Gute verbunden. Das hat so manchen dazu gebracht, seine Tugenden zu trainieren und den inneren Schweinehund zu bekämpfen, und das ist etwas wert.
OTTO: Die Spekulation, daß diese metaphysische Wette zum Erfolg führen könnte, zeigt nur die mangelnde Bodenhaftung der Philosophie.
KARL: Sagen wir es doch positiv: die philosophische Spekulation ist ein Denken, das nicht am Boden klebenbleibt. Und das macht natürlich allen Spießern Angst, denen Sicherheit und Nutzen oberste Gebote sind.
OTTO: Darum geht es nicht. Philosophische Spekulation ist Begriffslyrik, die nur Verwirrung stiftet.
KARL: Nein, sie ist Detektivarbeit: sie späht hinter die Erfahrungs- und Sinnenwelt und sucht zu ergründen, was dahinter steckt.
OTTO: Dafür haben wir die Naturwissenschaft. Die erklärt uns sehr überzeugend, was hinter der Erfahrungs- und Sinnenwelt steckt. Sie kann es sogar beweisen. Wozu dann noch Philosophie?
KARL: Die Wissenschaft steht ja selbst auf den Fundamenten einer philosophischen Spekulation: der wissenschaftlichen Weltanschauung.
OTTO: Wenn das eine Spekulation ist, dann offenbar die richtige: eine, die den Menschen von Vorurteilen, Aberglauben, Illusionen befreit, eine, die ihm Macht über die Natur verschafft. Ihr Name ist Aufklärung.
LEO: Aufklärung ist kein Zuckerlecken: der Ärmste muß mindestens drei Kränkungen der Menschheit verkraften, die Sigmund Freud erkannt haben will: die kosmologische durch Kopernikus, die biologische durch Darwin und die psychologische durch Freud. Die erste katapultiert den Menschen aus dem Mittelpunkt des Kosmos an den Rand, die zweite versetzt ihn ins Tierreich und die dritte mutet ihm die Einsicht zu, daß das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist.
KARL: Wieso Kränkungen? Ist er etwa unglücklich, nicht mehr als „Krone der Schöpfung“ und „Ebenbild Gottes“ im Rampenlicht des Kosmos zu stehen? Ist er nicht viel lieber ein nackter Affe, der sich ganz seiner Natur hingeben darf? Und daß er nicht mehr Herr über sich selbst ist, erlöst ihn von der lästigen Verantwortung. Was konnte ihm also Besseres passieren, als von diesen Illusionen befreit zu werden!
LEO: Der Molekularbiologe und Nobelpreisträger Jacques Monod (1910-76) hätte für deine Ironie kein Verständnis. Als Existentialist glaubt er, der Mensch werde, wenn er „endlich aus seinem tausendjährigen Traum“ erwacht ist,
seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen4.
KARL: Das klingt viel zu edel. Franz Moor aus Schillers Theaterstück Die Räuber ist drastischer:
Der Mensch entstehet aus Morast, und watet eine Weile im Morast, und macht Morast, und gärt wieder zusammen in Morast, bis er zuletzt an den Schuhsohlen seines Urenkels unflätig anklebt. Das ist das Ende vom Lied - der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung.
OTTO: Polemisch, aber nicht von der Hand zu weisen, besonders wenn ich das Wort „Morast“ durch das Wort „Materie“ ersetze.
KARL: Das Wort „Materie“ klingt viel zu mütterlich, denn die wissenschaftliche Materie ist ja nur noch totes, von außen bewegtes Material, einschließlich des Menschen.
OTTO: Genauer gesagt ist der Mensch ein hochkomplexes, in Millionen Jahren zufällig entstandenes materielles System, das aus etwa 46 Liter Wasser, 12 kg Eiweiß, 7,5 kg Fett, 0,7 kg Zucker und 3,8 kg Salzen besteht. Mit 75 Jahren hat er etwa das 500-fache des eigenen Körpergewichts an Nahrung verdaut, fast 3000 kg ausgeschieden, 3500 Rollen Toilettenpapier verbraucht und 36.000 kg Müll hinterlassen. Das ist die nackte Wahrheit.
LEO: Aus dir spricht der „gemeine Empiriker“, von dem Schiller sagt:
Der gemeine Empiriker unterwirft sich der Natur als einer Macht und mit wahlloser blinder Ergebung. Auf das Einzelne sind seine Urteile, seine Bestrebungen beschränkt; er glaubt und begreift nur, was er betastet; ... Er ist daher auch weiter nichts, als was die äußern Eindrücke zufällig aus ihm machen wollen; seine Selbstheit ist unterdrückt, und als Mensch hat er absolut keinen Wert und keine Würde. Aber als Sache ist er noch immer etwas, er kann noch immer zu etwas gut sein. Eben die Natur, der er sich blindlings überliefert, läßt ihn nicht ganz sinken; ihre ewigen Grenzen schützen ihn, ihre unerschöpflichen Hülfsmittel retten ihn, sobald er seine Freiheit nur ohne allen Vorbehalt aufgibt... Es gibt Menschen genug, ... die in diesem verächtlichen Zustande leben5...
OTTO: Als ob der Mensch nicht auch Natur wäre! Ist nicht ein Zustand, der sich über oder gegen die Natur erhebt, viel verächtlicher und lächerlicher als einer, der die Tatsachen, die uns die Wissenschaft vermittelt, anerkennt?
KARL: Das wissenschaftliche Weltbild ist eine philosophische Spekulation. Es gleicht der Vorlage eines Puzzlespiels, das aus unendlich vielen Teilen besteht. Zu Spekulationen gibt es immer Alternativen, sonst wären es keine.
LEO: Sehr richtig. Und deswegen ist die Bestimmung des Menschen als „nackter Affe“ oder „Gen-Maschine“ keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern eine persönliche Entscheidung. Jeder hat das Recht auf geistige Selbstverstümmelung - für Schiller eine Kapitulation vor dem Menschsein.
OTTO: Mir ist das Mißtrauen gegenüber dem wissenschaftlichen Weltbild schleierhaft.
KARL: Die wissenschaftlichen Weltbilder kommen und gehen. Ein Sprichwort sagt: Die wissenschaftliche Wahrheit von heute ist der Irrtum von morgen.
OTTO: Das wissenschaftliche Weltbild verändert sich natürlich mit zunehmendem Wissen, das Netz der Funktionalitäten wird immer enger geknüpft, die Strukturen immer komplexer ausgestaltet. Aber die Grundprinzipien der Wissenschaft - ihre Vorgehensweise, ihr Zugang zur Natur - haben sich bewährt und sind unverändert gültig.
KARL: Auch Prinzipien sind Spekulationen, vor allem das Prinzip, daß die Naturvorgänge determiniert sind: daß alles, was geschieht und alles, was ist, die notwendige Wirkung von etwas anderem ist, das wieder Wirkung von etwas anderem ist usw. - bis zu einer allerersten Ursache, Urknall genannt.
LEO: Der Urknall fällt aus dem Rahmen. Er könnte wie der biblische Gott zu Mose - auf dessen Frage nach seinem Namen – sagen: „Ich bin, der ich bin“6.
OTTO: Verstehe ich nicht.
LEO: Das heißt, daß der Urknall – wie Gott - nicht Wirkung einer Ursache oder Nachkomme eines Vorfahren ist, sondern er selbst: absoluter Anfang. Aus ihm gehen Raum, Zeit, Materie und Kraft hervor.
OTTO: Das ist ja das, was das wissenschaftliche Weltbild darstellt. Und dazu gibt es keine Alternative.
KARL: Doch, denn im wissenschaftlichen Weltbild ist der Urknall der einzige Aktivist. Warum kann die Welt nicht viele Aktivisten haben?
OTTO: Weil damit der kausale Zusammenhang aller Naturvorgänge geleugnet würde.
KARL: Nein, nur relativiert. Und du könntest Schiller eine Freude machen, indem du zugibst, daß dir deine Selbsterfahrung nahelegt, Selbstbewegung zu besitzen.
OTTO: Ich könnte also ebenfalls sagen: Ich bin, der ich bin? Hahaha.
KARL: Selbstverständlich. Zwar stammst du von anderen Menschen ab und bist äußeren Einflüssen ausgesetzt, aber der göttliche Funken der Selbstbewegung ist in dir installiert. Auch du hast die Fähigkeit, eine neue Kausalkette zu beginnen. Und wenn das für das Naturwesen Mensch gilt, dann kann es auch für die gesamte Natur gelten. Im übrigen kommen erst bei Anerkennung der Selbstbewegung Phänomene wie Leben, Freiheit, Willen, Gut und Böse usw. in den Blick.
OTTO: Also der ganze Rattenschwanz der Metaphysik? Nein danke!
Neuzeitliche Wissenschaft
LEO: Die klassische - um nicht zu sagen, die natürliche - Auffassung versteht Natur als einen symbiotischen Zusammenhang natürlicher Wesen.
KARL: Die Auffassung gefällt mir.
OTTO: Dabei wird die Natur vermenschlicht. Alle Vorgänge werden so gedeutet, als wären es menschliche, z.B. Gewitter als Wutausbruch einer übermenschlichen Macht. Menschliches Denken, Fühlen und Handeln werden auf Außermenschliches übertragen. Das ist anthropomorphes Denken, Märchenstunde!
LEO: Ja, seit der Mensch glaubt, sich nicht mehr auf göttliches Wohlwollen oder Mutter Natur verlassen zu können, steht er der Natur als ein Fremder gegenüber. Seitdem ist das Etikett „anthropomorph“ ein Schimpfwort.
KARL: Sich der Natur als Fremder entgegenstellen zu wollen ist Größenwahn. Die Natur hat den Menschen gemacht, und sie ist so, wie sie ihn gemacht hat. So wie ich meinen Hund verstehe, verstehe ich den Kreislauf der Jahreszeiten und alles andere, denn ich bin mit allem verwandt. Diese Sicht der Dinge hatte immerhin ein paar tausend Jahre Bestand.
LEO: Die Natur ist selbst anthropomorph.
OTTO: Das anthropomorphe Denken ist teleologisch, es sieht in den Vorgängen der Natur Absichten am Werke, wie sie der Mensch von seinesgleichen kennt. Daß es in der Natur zielgerichtete Vorgänge gibt, läßt sich aber nicht beweisen.
LEO: Deshalb eliminierte Descartes das teleologisches Denken aus der Wissenschaft. Er war so rigoros, alle Aussagen aus einem Zweck, den sich Gott oder die Natur bei ihren Hervorbringungen gesetzt haben könnte, für Hybris zu erklären. Der Mensch dürfe sich nicht anmaßen, Einblick in die Absichten Gottes mit der Welt erlangen zu wollen.
KARL: Man kann nur staunen, wie schnell mancher bereit ist, anderen das Maul zu verbieten, indem er sich auf Gott beruft! Welches Denken ist denn noch erlaubt?
LEO: Es bleibt nur die kausalmechanistische Betrachtungsweise übrig.
KARL: Ob die der Natur gerecht wird, bezweifle ich.
OTTO: Sie ermöglicht aber die Rekonstruktion von eindeutigen, wiederholbaren Geschehnissen.
KARL: Ja, aber die müssen erst mal geschehen sein. Um die erwünschten Geschehnisse aus der Natur herauszupräparieren, kann die Naturwissenschaft auf das Zweckdenken gar nicht verzichten.
OTTO: Das glaube ich nicht.
KARL: Man spricht verschämt von Teleonomie statt von Teleologie. Dabei werden pro forma - entgegen der Wissenschaftsideologie - Zwecke in der Natur vorausgesetzt, um funktionale Zusammenhänge zu ermitteln, z.B. die Wirkungsweise von menschlichen Organen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden dann kausalmechanistisch umformuliert.
LEO: Das Naturwesen Mensch geht aber trotzdem seinen Zielen und Zwecken nach. Eines dieser Ziele ist es, Macht über die Natur zu erringen, und zu diesem Zweck treibt er Naturwissenschaft.
KARL: Ein guter Witz! Die Naturwissenschaft verbietet das teleologische Denken, um dem teleologischen Denken zum Erfolg zu verhelfen.
OTTO: Stopp! Die Naturwissenschaft schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: sie erringt nicht nur Macht, sondern auch Erkenntnisse über die Natur.
KARL: Aber die Erkenntnisse sagen nichts darüber aus, was die Natur mit den Geschehnissen bezweckt, sondern nur, wie sie kausalmechanistisch ablaufen, und dieses „Wie“ dient dem Zweck, die Natur zu nutzen. Das Interesse der Wissenschaft an der Natur beschränkt sich auf maschinenartig ablaufende Prozesse.
OTTO: Beschränkt es sich? Gesetzmäßig ablaufende Prozesse machen das aus, was wir „Natur“ nennen. Das Neue an der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist ja die Hochschätzung des Experiments, das Einsicht in diese gesetzmäßigen Abläufe ermöglicht, ohne über Naturzwecke spekulieren zu müssen.
LEO: Die Hochschätzung des Experiments ist nicht neu. Schon Francis Bacon (1561-1626) entwickelt in seinem Werk Novum Organum den Gedanken, daß der Mensch die Natur allen möglichen Einschränkungen unterwerfen müsse, wenn er zu neuem Wissen kommen wolle. In seinem Werk Novum Organum schreibt er:
Wie im gewöhnlichen Leben die Denkart und Gemütsbeschaffenheit eines Menschen sich leichter offenbart, wenn er in Leidenschaft geraten ist, so enthüllen sich auch die Verborgenheiten der Natur besser unter den Quälungen der Kunst, als wenn man die Natur in ihrem Gange ungestört läßt.
OTTO: So ist es. Die Beschaffenheit der Natur offenbart sich im Experiment. Das Experiment legt die Anatomie der Natur bloß und verschafft uns überprüfbare, also sichere Erkenntnisse.
KARL: Anders gesagt: Mit Hilfe des Experiments „macht“ der Mensch Erfahrungen und „erwirbt“ Wissen. Nicht durch Beobachtung der ungestörten Natur, sondern durch ihre peinliche Befragung, d.h. mittels Folter.
OTTO: Naturerfahrung kann man nicht „machen“ - im Sinne von „herstellen“.
KARL: Aber ja. Was denn sonst!
LEO: Mit diesem Problem hat sich schon Immanuel Kant herumgeschlagen. Er hat den Gedanken Bacons weiterentwickelt und kopernikanisch umgestülpt:
Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt7.
KARL: Wenn die Vernunft nur einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt, dann verstehe ich das so, daß Naturerkenntnis nicht vermittelt, sondern hergestellt wird. Und daraus folgt, daß Erkenntnisse nicht mehr eine Einsicht in die Natur als solche sind, sondern eine Antwort auf die Frage, wie Naturphänomene im Rahmen unserer Vorgaben und unseres Handelns funktionieren.
OTTO: Aber die Naturvorgänge sind tatsächlich vorhanden. Es geht darum, ihre Wirkungszusammenhänge zu erkennen. Dazu muß das Kuddelmuddel der ineinander verfilzten Naturvorgänge entflochten werden.
KARL: Daraus ergibt sich eine technische Sicht auf die Natur, die ein einseitiges Bild ergibt, weil es eine Labor-Natur ist. Die Naturvorgänge oder Stoffe werden aus ihrem natürlichen Kontext herausgelöst, denn nur in reiner Form sind sie beherrschbar. Das gelingt nur im Labor. Was du „entflechten“ nennst, ist in Wirklichkeit ein Herauspräparieren „nach dem Entwurf der Vernunft“, also im Hinblick auf die jeweilige Theorie.
LEO: Für diese Methode steht der Name Galileo Galilei (1564-1642). Er hatte in den Arsenalen von Venedig als Ingenieur gearbeitet und seine Arbeitsweise auf die Naturforschung übertragen. Galilei ist der Prototyp des heutigen Naturwissenschaftlers.
OTTO: Ja, ihm verdanken wir das Experiment als Prüfstein der Wahrheit.
KARL: Dann wäre jedes Experiment eine Wette auf die Wahrheit. Wahrheit wäre ein zukünftiges Ergebnis, etwas, das man herstellen kann und das es erst gibt, wenn es hergestellt ist: ein technisches Produkt.
LEO: Darum hat der Philosoph Karl Popper (1902-1994) den Experimentator zum Weltenrichter ernannt, denn Theorien stehen und fallen seiner Ansicht nach mit der Verifikation bzw. Falsifikation durch das Experiment.
OTTO: Er hat recht. Das Experiment ist unser „Sesam-öffne-dich“ zum Schatz der Naturkräfte.
KARL: Und was ist der Preis? Eine tote Natur.
OTTO: Tot? Das ist Naturlyrik.
KARL: Aristoteles unterschied Selbstbewegung von Fremdbewegung. Mit Abschaffung der Teleologie verschwand die Selbstbewegung, die Natur wurde zum Material menschlicher Zwecke degradiert. Das meine ich mit „tot“.
OTTO: Damit können wir leben.
KARL: Wer weiß!
Tautologien
KARL: Es ist komisch: Um zu demonstrieren, daß die Natur eine Sache bzw. Maschinerie ist, wird die Natur dem Experiment ausgesetzt, also einer objektiven, d.h. auf Sachen bezogenen, maschinenartigen Untersuchungsmethode, um dann als Erkenntnis verkünden zu können: die Natur ist eine Sache.
LEO: So etwas nennt man Tautologie.
KARL: Ebenso operiert man mit dem Begriff der Determiniertheit. Wie wird bewiesen, daß die Natur determiniert ist? Dadurch, daß man experimentell nachweist: jeder untersuchte Vorgang ist determiniert - oder er ist kein Vorgang. Man setzt also Determiniertheit schon voraus.
LEO: Das nennt man einen Zirkelschluß: circulus vitiosus. Das, was bewiesen werden soll, ist schon - implizit oder explizit - in den Voraussetzungen enthalten, von denen der Beweis ausgeht.
KARL: Ja, und eben das ist eine Tautologie: eine taube Nuß.
LEO: Unser Lexikon übersetzt das griechische Wort „Tautologie“ mit: „dasselbe sagen“. Es heißt also soviel wie „doppelt gemoppelt“. Beispiele: „weißer Schimmel“ oder „kleines Kerlchen“.
KARL: Mark Twain meinte sogar:
Die Schöpfung des Menschen war eine gute und originelle Idee, aber dann auch noch das Schaf zu erschaffen war eine Tautologie.
OTTO: Aber „Tautologie“ nennt man auch Aussagen wie diese: „Entweder heute regnet es oder es regnet nicht.“
LEO: Tautologien sagen nichts Falsches aus, aber auch nichts Neues.
KARL: Dann können wir ja das „Ockhamsche Rasiermesser“ wetzen und alles Tautologische wegschneiden. Wenn wir „Schimmel“ sagen statt „weißer Schimmel“, oder wenn wir gar nichts sagen statt: „Entweder heute regnet es oder es regnet nicht“, dann sagen wir mit weniger Aufwand dasselbe.
OTTO: Ockham? Wer ist das?
LEO: Wilhelm von Ockham war ein berühmter englischer Gelehrter und Franziskanermönch (†1350). Er lehrte, daß die Welt aus Einzeldingen zusammengesetzt sei, daß es nur Individuen gäbe, daß der menschliche Geist, um sich in der Welt zurechtzufinden, Konzepte entwickeln müsse, in der Hoffnung, daß sie der Realität entsprächen. Das müsse man halt ausprobieren.
OTTO: Was er da lehrte, sind doch Selbstverständlichkeiten.
LEO: Ja, heute! Damals waren es revolutionäre Gedanken. Und weil es niemand mit seiner Geistesschärfe und dialektischen Gewandtheit aufnehmen konnte, wurde er der doctor invincibilis - der unbesiegbare Doktor - genannt. Wir stehen noch immer unter seinem Bann.
OTTO: Dann erkläre mir mal, wie eine Welt aussehen könnte, die nicht aus Einzeldingen zusammengesetzt ist.
LEO: Tja - nehmen wir mal an, daß ein Weltgeist die Natur geordnet hat. Unserer Erfahrung nach ist die Natur ja in allen ihren Bestandteilen bis ins kleinste sinnvoll strukturiert. Da der Mensch ein Bestandteil der Natur ist, wirkt dieser Weltgeist auch im Menschen, d.h. der menschliche Geist ist Teil des Weltgeistes. Daraus können wir schließen, daß sich im menschlichen Denken - seiner Logik, seiner Begrifflichkeit - die Struktur des Weltgeistes und damit der Welt widerspiegelt.
OTTO: Soso. Und was hätte diese Annahme für Konsequenzen?
LEO: Wir können eine Begriffspyramide - den sogenannten arbor porphyrii - konstruieren, indem wir die Einzeldinge unter allgemeineren Begriffen zusammenfassen, diese unter noch allgemeineren Oberbegriffen usw.
OTTO: Ja, wir abstrahieren. Und?
LEO: Die sprachliche Begriffshierarchie verweist auf eine reale Hierarchie der Wesen. Dabei steht das Individuum auf der niedrigsten - bzw. überhaupt keiner - Hierarchiestufe, Gott oder das Sein als abstraktester Begriff auf der höchsten.
OTTO: Hat man solchen Unsinn tatsächlich geglaubt? Typisch Mittelalter!
LEO: Einen Moment! Genau diese Analogie zwischen Welt und Sprache leugnet Ockham, der ebenfalls im Mittelalter lebte.
OTTO: Ach so. Aber er war seiner Zeit voraus. Er hat mit solchen Katerideen aufgeräumt und den Blick auf die Realität, wie sie an sich ist, freigelegt.
LEO: Das ist deine Ansicht. Ockham ging es um ganz etwas anderes: er wollte der kirchlichen Lehre die Sicherheit ihrer rationalen Begründung entziehen, um den Glauben ganz auf den unergründlichen Willen Gottes zu konzentrieren.
KARL: Daß die von ihm vertretene Auffassung von der Welt als Summe einzelner Dinge nach seiner eigenen Lehre ebenfalls ein Konzept - ein Weltmodell - ist, fiel ihm wohl nicht auf?
OTTO: Wieso?
KARL: Wenn seine Lehre wahr ist, dann ist sie ebenfalls ein Konzept, also nicht wahr.
OTTO: Man muß eben ausprobieren, ob das Konzept der Realität entspricht.
KARL: Das Ausprobieren setzt die Gültigkeit des Konzepts voraus, d.h. es setzt voraus, was bewiesen werden soll.
LEO: Wenn wir also - im Namen der Denkökonomie - mit dem „ockhamschen Rasiermesser“ alles logisch Überflüssige wegsäbeln, dann säbeln wir das Weltmodell selbst weg, denn es erweist sich als zirkulär, als tautologisch. Deshalb sollten wir mit dem Wegsäbeln vorsichtig sein.
OTTO: Wieso? Tautologien bringen keinen Erkenntnisgewinn, sind daher überflüssig.
KARL: Vielleicht bringen ja Tautologien einen Gewinn anderer Art. Andernfalls können wir die gesamte Mathematik und Logik in ihrer modernen, axiomatisierten Form wegsäbeln.
OTTO: Unsinn!
KARL: Nein: alle Sätze der formalisierten Mathematik und der formalen Logik werden durch Umformungen aus anderen Sätzen gewonnen - letzten Endes aus den Axiomen. Sie zeigen also nur, was explizit oder implizit in den Axiomen steckt. Und die Axiome selbst sind sinnleer.
OTTO: Das ist absurd! Einerseits gelten Mathematik und formale Logik als ein Bereich genialster Geistestaten, andererseits sollen diese Geistestaten nur Tautologien sein? Das kann nicht stimmen.
KARL: Die Paradoxie löst sich auf, wenn du bedenkst, daß die Tautologie erst entsteht, wenn der Erkenntnisgewinn schon eingefahren ist. Die Tautologie ist gleichsam der abgestorbene Baum der Erkenntnis.
OTTO: Das verstehe ich nicht.
KARL: Die Schlußfolgerungen, die der Mathematiker aus mathematischen Sätzen ziehen kann, sind zunächst nur Möglichkeiten. Um aus ihnen einen Beweis werden zu lassen, muß er versuchen, seine Vermutungen durch bestimmte Operationen mit den Ausgangssätzen zu bestätigen. Diese Operationen sind nicht tautologisch.
LEO: Ach so, er muß die für den Beweis nötigen Prämissen aus den möglichen Folgerungen, die den Axiomen innewohnen, herausfinden und in geeigneter Weise miteinander kombinieren.
KARL: Jeder Wissenschaftler muß natürlich eine Vorstellung von dem haben, womit er es zu tun hat. In der Geometrie etwa muß er wissen, was Punkte, Geraden, Kurven, Ebenen, Körper usw. sind, um die Möglichkeiten zu erkennen, welche diese Gegenstände der „reinen Anschauung“, wie Kant sagen würde, bieten.
LEO: Andererseits muß er sich vergewissern, daß seine Erkenntnisse wahr sind, er muß sie begründen. Und da wird’s ungemütlich.
OTTO: Wieso? Er braucht doch immer nur „warum“ zu fragen. Nehmen wir an, er hat bewiesen, daß eine bestimmte Aussage wahr ist. Warum ist sie wahr? Weil die Voraussetzungen, auf die sie zurückgreift, als wahr gelten und weil die Schlußfolgerungen, die aus den Voraussetzungen gezogen wurden, logisch korrekt sind. Die Voraussetzungen gelten als wahr, weil sie ihrerseits auf Voraussetzungen gründen, die als wahr gelten usw. Dieses Verfahren setzt er fort, bis er auf unbezweifelbare Voraussetzungen stößt. Das sind die Axiome seiner Wissenschaft.
KARL: Aber gibt es überhaupt Axiome? Sie müssen nicht nur evident, d.h. unmittelbar einsichtig, sondern auch unabhängig voneinander und vollständig sein. Und sie dürfen keine Widersprüche enthalten.
OTTO: Das kann man alles prüfen.
KARL: Wirklich? Entweder es gibt Axiome, oder das Verfahren geht bis in alle Unendlichkeit weiter, man nennt das den regressus in infinitum. Leider gibt es keine unbezweifelbaren Voraussetzungen, und auf Evidenz will man sich - nach unangenehmen Erfahrungen - nicht mehr verlassen. Darum müssen auch Grundbegriffe wie z.B. Punkt oder Gerade definiert werden, aber weil man dazu Begriffe braucht, die ihrerseits definiert werden müßten, gerät man abermals in den regressus in infinitum.
OTTO: Die Mathematiker wissen auch ohne Definition, was sie tun und womit sie es zu tun haben.
KARL: Manchmal eben nicht. Deshalb verzichten manche Mathematiker darauf zu sagen, was die Grundphänomene - Punkt, Gerade, Ebene,... - sind. Der Mathematiker David Hilbert (1862-1943) behauptete:
Man muß jederzeit an Stelle von „Punkten, Geraden und Ebenen“ „Tische, Stühle, Bierseidel“ sagen können.
LEO: Ach so, indem man die Grundbegriffe und damit die Axiome formalisiert, verlieren diese jede Anschaulichkeit, ja jeden Inhalts.
KARL: Aber man trickst den regressus infinitum aus, denn wo kein Inhalt mehr vorliegt, hat Begründung keinen Sinn. Was übrigbleibt, ist ein logischer Kalkül, ein mathematisches Skelett, abgestorbene Mathematik.
LEO: Und damit der Zirkelschluß, d.h. die Tautologie.
KARL: Es ist wie bei einem Buch, das ja, als Sache betrachtet, nur ein Bündel Papier ist, bedruckt mit schwarzen Krakeln, ein lebloses Objekt. Lebendig wird das Buch erst, wenn ihm Geist eingehaucht, d.h. wenn es gelesen wird.
OTTO: Es sind Naturwissenschaftler und Techniker, die mathematische Kalküle zum Leben erwecken, indem sie diese als Hilfsmittel benutzen, um die quantitativen Zusammenhänge in ihren Forschungsbereichen zu beschreiben. Welches formale mathematische System sie benutzen, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, der Mathematiker hat die passenden Kalküle „auf Vorrat“ in der Schublade.
LEO: Dann ist ein mathematischer Kalkül ein Modell mit der Tautologie als notwendigem Kennzeichen.
KARL: Ist der Kalkül nicht sogar das Modell eines Modells? Ein Modell des wissenschaftlichen Modells, dessen Urbild der mathematische Kalkül ist?
OTTO: Der Naturwissenschaftler oder Techniker, der für seinen Forschungsbereich ein Modell erstellen will, verleiht also den inhaltsleeren, abstrakten Bausteinen des Modells - je nach seinen Zwecken - einen konkreten Sinn.
KARL: Es scheint also nur zwei Möglichkeiten zu geben: entweder ein Modell ist eine rein formale Konstruktion, dann können wir die Tautologie nicht vermeiden. Oder das Modell beruht auf inhaltlichen Grundlagen, also auf Metaphysik, dann hängt seine Wahrheit von der subjektiven Überzeugung ab.
LEO: Also entweder Ideologie: dann keine Tautologie, aber Wahrheit durch Überzeugung. Oder Wissenschaft: dann Tautologie, aber keine Wahrheit, sondern Richtigkeit. Haben wir nur die Wahl zwischen zwei Übeln?
Raumzeit
LEO: Das umfassendste naturwissenschaftliche Modell dürfte das Raum-Zeit-Modell sein, das Aristoteles ersonnen hat und das immer noch in Gebrauch ist: der originale Raum wird durch eine Art Schachtel mit verschiebbaren und unendlich verdünnbaren Wänden ersetzt, die originale Zeit durch eine Ortsbewegung.
KARL: Daß dieses geometrische Modell auch heute noch in Gebrauch ist, verdanken wir der Infinitesimalrechnung, durch die es arithmetisiert und operationalisiert wurde und die Berechenbarkeit von Bewegungen ermöglicht. Und dieses Modell ist auch tautologisch. Denn Raum und Körper bedingen sich gegenseitig - wie Henne und Ei: Der Raum ist Bedingung dafür, daß es Körper gibt, und der Körper ist Bedingung für den Raum. Ähnliches gilt für Zeit und Bewegung, aber auch für das Gewicht: es ist Bedingung dafür, daß es Schwerkraft gibt, Schwerkraft wiederum ist die Bedingung dafür, daß es Gewicht gibt.
OTTO: Trotz der Genialität dieses Modells gab es natürlich Philosophen, die dagegen angestänkert haben, wie z.B. Zenon und sein Lehrer Parmenides. Glücklicherweise haben sie sich damit nur lächerlich gemacht.
LEO: Da verwechselst du etwas: Parmenides (um 540-470) und Zenon lebten früher als Aristoteles (384-324), und Aristoteles entwickelte sein Raum-Zeit-Modell im Bewußtsein ihrer Kritik. Aber du hast insofern recht, als sie ihre Kritik weiter aufrechterhalten hätten.
OTTO: Das verstehe ich nicht. Es ist doch ganz einfach, sie zu widerlegen. Diogenes, auch ein Philosoph, tat es, indem er einfach auf und ab ging und so Zenons Behauptung, daß Bewegung nicht möglich sei, ad absurdum führte.
KARL: Er offenbarte damit nur seine Blindheit für das eigentliche Problem. Zenon kämpfte nämlich nicht gegen das Modell, sondern gegen die Verwechslung von Modell und Wirklichkeit.
LEO: Und zwar ganz im Sinne des Parmenides, der sich von einer Göttin über die Meinungen der Sterblichen, also die öffentliche Meinung, belehren läßt:
Ohnmacht lenkt in ihrer Brust ihren schwankenden Verstand, und sie treiben dahin so taub als blind, blöde, verdutzte Gaffer, unterscheidungslose Haufen, bei denen Sein und Nichtsein dasselbe gilt und nicht dasselbe...
OTTO: Der Philosoph hält also die große Mehrheit seiner Zeitgenossen für unfähig, zwischen Meinung und Wahrheit, d.h. Bild und Wirklichkeit zu unterscheiden. Warum beschäftigt er sich dann überhaupt mit Meinungen, wenn sie falsch sind?
LEO: Weil die Göttin rät:
Diese scheinbare Weltordnung schildere ich dir nun vollständig, damit keine Meinung der Sterblichen dich überflügele.
KARL: Mit anderen Worten: Die Meinungen zu durchschauen, ist nicht so einfach, sie sind suggestiv, täuschen vor, daß sie die Erfahrung auf ihrer Seite haben. Nicht Zenon leugnet die Bewegung, wie Diogenes glaubt, sondern Diogenes, also der „gesunde Menschenverstand“, leugnet den Raum.
OTTO: Das ist eine groteske Unterstellung. Aber wahrscheinlich bin ich - nach dem Maßstab des Parmenides - selbst taub, blind und blöd.
LEO: Aber Zenon nötigt uns zu dieser Schlußfolgerung! Nehmen wir seine Aporie vom fliegenden Pfeil: Wie kommt der Pfeil von einem Ort zum anderen? Ein Übergang ist nicht möglich. Denn wo könnte der Pfeil sein, wenn er einen Ort verlassen hat? In der Ortlosigkeit? Das kann nicht sein, denn zwischen je zwei Orten gibt es keine Leerstellen. Andererseits ist Bewegung ohne Übergang nicht möglich, d.h. wer den Ort voraussetzt, muß auch die Leere - die Ortlosigkeit - voraussetzen, damit Bewegung möglich wird.
KARL: Die Aporie vom fliegenden Pfeil faßt Bewegung als Ortsveränderung auf. Ortsveränderung setzt den als Körper aufgefaßten Raum - die Gesamtheit aller Örter - voraus, in dem sich nichts bewegen kann. In Wirklichkeit gibt es aber keine Örter. Ein Ort ist eine Gedankenkonstruktion, ein nichtexistentes Zwischending zwischen Körper und Raum, so etwas wie ein entkörperlichter Körper oder enträumlichter Raum.
OTTO: Wie kommt es dann, daß das Modell so erfolgreich ist? Hat nicht Zenon bewiesen, daß es keine Bewegung geben kann, weil der Raum zum Körper gemacht wurde? Wie meistert das Modell die Bewegung?
KARL: Was dem Raum-Zeit-Modell letztlich aus der Patsche hilft, ist die Mathematik, speziell die Infinitesimalrechnung mit dem Begriff des Grenzwerts und den Verfahren, unendliche Zahlenmengen in den Griff zu bekommen.
LEO: Unser Modellbauer benötigt als Rahmen seiner Konstruktion den Raum als Schachtel mit verschiebbaren Wänden. Jede Raumstelle innerhalb der Schachtel ist ein Ort. Die Kanten der Schachtel sind die Koordinatenachsen für die Ortsbestimmung, sie können, je nach Geometrie, gerade oder gekrümmt sein. Der Schnittpunkt der Achsen ist der Koordinaten-Nullpunkt, der an einem beliebigen Ort installiert werden kann und als Vergleichsbasis dient, auf die alle Orte bezogen werden.
OTTO: Um die Ortsveränderung eines Körpers in der Raum-Schachtel zu erfassen, brauchen wir noch die Zeit.
KARL: Ja, die Zeit kommt als vierte Koordinate hinzu. Sie wird als Maß der Bewegung definiert, die Bewegung als Maß der Zeit. Um Zeit messen zu können, wird eine bestimmte Ortsveränderung als Uhr, also als absolut gleichmäßige Bewegung definiert. Uhren sind z.B. der Umlauf der Sonne oder die Lichtgeschwindigkeit.
Regressus in infinitum
OTTO: Aber woher will man wissen, ob die Bewegung, auf die man sich als Uhr geeinigt hat, wirklich absolut gleichmäßig verläuft?
KARL: Man weiß es nicht, man hat es so definiert. Messen läßt es sich nicht, denn dazu brauchte man ja wiederum eine Uhr.
OTTO: Und wie will man eine Bewegung, die nach Zenon gar nicht ablaufen kann, in ihrer Bahn und Geschwindigkeit erfassen?
KARL: Wie schon gesagt: durch die Differential- und Integralrechnung. Die Bewegung von Ort zu Ort, die im Modell nicht vollziehbar ist, wird durch einen technischen Trick überbrückt: man vergewissert sich mit einem mathematischen Verfahren, daß es zwischen zwei Orten beliebig viele weitere Orte gibt, sozusagen eine Brücke von Orten, und erklärt diese Brücke für lückenlos.
LEO: Man denkt die Bewegung immer vom abgeschlossenen Vollzug her.
OTTO: Aber man berechnet doch auch Bewegungen im voraus.
LEO: Indem man sie berechnet, denkt man sie sich als vollzogen.
OTTO: Na, dann ist ja alles in Ordnung. Anscheinend lassen sich die Differenzen zwischen Modell und Wirklichkeit überwinden.
KARL: Ja, technisch. Ein krasses Beispiel dafür, daß man Modell und Wirklichkeit nicht verwechseln sollte, bietet die Quantentheorie, die ja auch mit diesem Raum-Zeit-Modell arbeitet. Der Gegensatz von „Welle“ und „Korpuskel“, der den einen ein Ärgernis, den anderen Anlaß zu wilden Spekulationen - z.B. über Freiheit - ist, erklärt sich aus der Konstruktion des Raum-Zeit-Modells.
OTTO: Tatsächlich? Wie denn?
KARL: Das Modell hat zwei Gesichter, die sich gegenseitig ausschließen: ein kontinuierliches: Welle bzw. Feld, und ein diskretes: Korpuskel bzw. Atom. Ein Beispiel: Das Vakuum muß sein, weil es im Atommodell nur Teilchen und das Leere gibt. Das Vakuum kann nicht sein, da Bewegung sich kontinuierlich in einem Medium, dem „Feld“, vollzieht.
LEO: Mit anderen Worten: Das eigentliche Problem, das sich hinter den Antinomien verbirgt, ist das Verhältnis von Einheit und Vielheit, von Kontinuum und Diskretum.
KARL: Ja. Zenon bewies, wie wir sahen, daß Bewegung unmöglich ist, wenn man die Einheit aus Raum und Zeit als Vielheit von Raum-Zeit-Punkten auffaßt.
OTTO: Mit der Wahrheit des Parmenides läßt es sich eben nicht leben.
KARL: Und ohne sie nur mit technischer Hilfe. Leider vergißt der Mensch allzu gern, daß das Raum-Zeit-Modell nicht mehr als eine „scheinbare Weltordnung“ ist.
1 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung
2 Rudolf Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie (1928)
3 Pascal: Gedanken über die Religion
4 Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit
5 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung
6 2. Mose 3,14
7 Immanuel Kant: Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft
Veränderung
KARL: Eines steht fest.
OTTO: Was denn?
KARL: Das sich alles verändert.
OTTO: Wenn sich alles verändert, dann steht auch nichts fest.
KARL: Bis auf dies: daß sich alles verändert.
OTTO: Du widersprichst dir.
KARL: Dann sage ich eben: Alles verändert sich, nur die Erkenntnis, daß sich alles verändert, verändert sich nicht.
OTTO: Wenn du die Erkenntnis „Alles verändert sich“ abänderst in die Erkenntnis „Alles verändert sich, nur die Erkenntnis, daß sich alles verändert, verändert sich nicht“, dann hat sie sich aber verändert.
KARL: Na gut, aber dann gilt erst recht, was ich anfangs feststellte: Alles verändert sich. Wir sind uns also einig.
LEO: Nein, sind wir nicht, weil die Erkenntnis, daß sich alles verändert, eine Feststellung ist, also etwas Unveränderliches.
KARL: Das sage ich doch die ganze Zeit!
OTTO: Wir drehen uns im Kreise. Wenn du feststellst, daß sich alles verändert, dann ist das einzig Feststehende die Veränderung. Daß sich alles verändert, verändert sich nicht.
KARL: Ja, das steht fest. Alles ist veränderlich, sogar das Unveränderliche. Deshalb hat man in alten Zeiten das Kreisen der Planeten als unveränderlich angesehen.
OTTO: Das Unveränderliche zeigt sich am Veränderlichen. Jede Veränderung ist in sich unterschieden, sonst ist sie keine. Was sich unterscheidet, ist voneinander abgegrenzt, die Abgrenzung ist das Unveränderliche.
KARL: Die Unterschiede und Abgrenzungen verändern sich ebenfalls.
OTTO: Die Grenze verändert sich ständig, bleibt aber als Grenze unveränderlich. Egal, wo sie sich befindet und wie sie aussieht, sie bleibt Grenze.
KARL: Ich sag’s ja: die Grenze ist das Unveränderliche, das sich ständig verändert. Mit anderen Worten: Alles verändert sich.
OTTO: Umgekehrt! Nichts verändert sich, denn wie du betonst, steht ja sogar fest, daß sich alles verändert. Die Frage ist nur: Kann es dann überhaupt etwas geben?
KARL: Ja, natürlich - das, was sich verändert.
OTTO: Etwas, das sich verändert, ist nicht. Denn es bleibt nicht, was es ist. Nur das, was sich nicht verändert, also feststeht, ist.
KARL: Wenn feststeht, daß sich alles verändert, gibt es das sich Verändernde. Das, was sich verändert, ist ja etwas und nicht nichts. In seinem Sichverändern bleibt es unverändert.
OTTO: Wir stehen also vor der traurigen Alternative, daß es das Sichverändernde entweder nicht gibt - oder es ist unveränderlich. Beides ist unmöglich.
KARL: Ebenso unmöglich wie ein Unveränderliches, das sich verändert.
OTTO: Aber wie kann dann überhaupt etwas sein?
KARL: Anscheinend brauchen wir das Unveränderliche, und da wir es nicht haben, müssen wir es herstellen. Wir müssen, aber wir können nicht.
OTTO: Aber wir tun es doch. Wir sprechen von Substanz und Akzidens, von Notwendigkeit und Zufall, von Erbgut und Umwelteinflüssen.
KARL: Der Preis, den das Unmögliche kostet, ist unsere ständige Anstrengung, den Schein zu wahren.
OTTO: Mit allgemeiner Veränderlichkeit können wir nicht leben, weil das kein Leben ist. Mit Unveränderlichkeit können wir nicht leben, weil sie das Leben kostet.
KARL: Bravo. Ein würdiger Schluß!
Grenze
KARL: Das Veränderliche ist nicht denkbar ohne das Unveränderliche, von dem es sich abgrenzt.
OTTO: Klar, ohne Abgrenzungen könnte man nichts unterscheiden.
KARL: Etwas Abgegrenztes ist eine Einheit, nennen wir sie X. Durch die Abgrenzung unterscheidet sich X von allem übrigen.
OTTO: „Alles übrige“ wäre dann ebenfalls eine Einheit, nennen wir sie Y.
KARL: Dann sind X und Y gegeneinander abgegrenzt, die Grenze sei G. Nun frage ich dich: Gehört G zu X oder zu Y?
OTTO: G gehört sowohl zu X wie zu Y.
KARL: Nein. X und Y sind voneinander abgegrenzt, es gibt keine Gemeinsamkeit.
OTTO: Wieso? X und Y sind durch die gemeinsame Grenze G verbunden.
KARL: Oder getrennt.
OTTO: Eben nicht! Wären sie getrennt, dann könnten wir X und Y voneinander entfernen. Wir ziehen X nach links, Y nach rechts. Gehört dann G zu X oder zu Y?
KARL: Weder noch. G ist jetzt selbst zu einer Einheit geworden, die an X und Y grenzt.
OTTO: Dann bleibt das Problem dasselbe: Gehört die Grenze zwischen G und X zu G oder zu X? Dasselbe kann man für Y fragen.
KARL: Dann überlege mal, was sich ergibt, wenn die Grenze G zu X gehört.
OTTO: Wenn G zu X gehört, dann hat Y keine Grenze. Das heißt: wohin wir uns auch bewegen, wir befinden uns immer in Y. Also kann Y keine Einheit sein.
KARL: Und X ebenfalls nicht. Es bleibt also nur die Möglichkeit, daß Y eine eigene Grenze G1 hat. Aber wie wir gesehen haben, können beide Grenzen nicht identisch sein. Es muß daher zwischen ihnen einen Bereich geben, der weder zu X noch zu Y gehört. Das geht nicht: G und G1 sollen ja Grenzen zwischen beiden Einheiten sein.
OTTO: Das ist absurdes Theater. Es muß doch eine vernünftige Lösung geben! X und Y müssen begrenzt sein, und die Grenzen müssen sich in G berühren. Die Grenze von X ist die eine Seite von G, die Grenze von Y die andere Seite. Die eine Hälfte von G gehört zu X, die andere zu Y.
KARL: Wenn X und Y Linien sind, dann ist G ein Punkt. Sind X und Y Flächen bzw. Körper, dann ist G eine Linie bzw. eine Fläche. Ein Punkt hat keine Hälften oder Seiten, eine Linie keine Breite, eine (Ober)Fläche keine räumliche Tiefe. Andernfalls wäre G keine Grenze, sondern hätte eine Grenze.
OTTO: Daß eine Grenze keine Einheit sein kann, ist klar. Dennoch gilt: eine Grenze ist etwas, das nicht nur trennt, sondern auch verbindet. So wie eine Linie zugleich konvex und konkav sein kann.
KARL: Aber ein alter Spruch besagt: omnis definitio est negatio - alles Begrenzen ist ein Ausschließen.
OTTO: Nur - ohne das Ausgeschlossene gibt es kein Eingeschlossenes. Eine unbegrenzte Einheit ist ja nicht denkbar. Warum sollte nicht eine Einheit denkbar sein, jenseits derer nichts übrig bleibt?
KARL: Weil sie keine Grenze hätte und deshalb nichts Bestimmtes, also gar nichts wäre. Hätte sie jedoch eine Grenze, dann zum Nichts, das dann zu einem Etwas würde und deshalb zur Einheit dazugehören müßte. Ein Widerspruch!
OTTO: Das ist reichlich spitzfindig.
KARL: Wieso? Das Unbewußte wird auch nicht als spitzfindig empfunden. Wenn man das Bewußtsein als Einheit definiert, wird vorausgesetzt, daß sich jenseits seiner Grenze etwas befindet. Aber dann ist dieses Etwas eben nicht mehr jenseits seiner Grenze.
OTTO: Dasselbe Verhältnis besteht offenbar auch zwischen dem Körper und dem Nichtkörperlichen.
KARL: So ist es. Wir nennen es Raum.
OTTO: Und jenseits des Sprechbaren, so belehrt uns der Philosoph, beginnt das Schweigen:
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen8.
KARL: Und wovon kann man nicht sprechen? Von dem, worüber man schweigen muß? Aber genau darüber spricht er. Er gibt eine Empfehlung, die sich selbst mißachtet. Und wer jenseits des Bewußtseins das Unbewußte postuliert, der hat es seinem Bewußtsein schon einverleibt. Und der Raum - wird er nicht postwendend verkörperlicht?
OTTO: Über die Grenze kann man, scheint’s, nicht vernünftig reden.
Einheit
KARL: Das Unveränderliche können wir nur als Eines, als Einheit denken.
OTTO: Wieso?
KARL: Das Unveränderliche ist unteilbar. Könnte es geteilt werden, wäre es nicht unveränderlich. Wenn es aber keine Teile hat, dann ist es eine Einheit.
OTTO: Das hört sich so an, als wäre Unteilbarkeit das Kriterium der Einheit. Sollte man nicht lieber von Ungeteiltheit sprechen?
KARL: Nein. Das Ungeteilte könnte teilbar sein. Teilbares verdient es nicht, Einheit genannt zu werden.
OTTO: Dann sieht es schlecht aus für das Eine, denn was ist unteilbar?
KARL: Wirklich unteilbar ist, was keine Größe hat.
OTTO: Und was hat eine Größe?
KARL: Unter einer Größe versteht man etwas, das in Teile zerlegbar ist, deren jedes seiner Natur nach ein Eines und Dieses ist. So Aristoteles.
OTTO: Mit „Eines“ und „Dieses“ sind offenbar Größeneinheiten gemeint. Diese dürfen keine Größe haben, denn sonst könnte man sie ebenfalls in Teile zerlegen. Aber wenn sie keine Größe haben, was sind sie dann? Nichts. Und da jede Größe die Summe von Einheiten ist, so ist sie ebenfalls nichts, da die Summe vieler Nichtse nichts ist.
KARL: Und das kann ja wohl nicht sein. Zerlegt man etwas, das eine Größe hat, dann entstehen Teile, die ebenfalls eine Größe haben, also zerlegt werden können, und so weiter. So kommt man niemals zu unteilbaren Einheiten.
OTTO: Es sei denn nach unendlich vielen Schritten.
KARL: Nein, keine Größe kann unendlich oft geteilt werden, denn da jedes dieser unendlich vielen Teile wieder eine Größe hat, wäre ihre Summe unendlich groß.
OTTO: Das würde ja bedeuten, daß eine Einheit weder eine Größe haben noch keine Größe haben, also weder etwas noch nichts sein kann. Das ist doch Unsinn.
KARL: Vielleicht haben wir den Größenbegriff noch nicht richtig verstanden. Er kann ja zweierlei bedeuten: entweder die Größe einer Menge nicht zusammenhängender Teile, oder die Größe eines in sich - räumlich oder zeitlich – zusammenhängenden Gebildes. Das heißt: Wir müssen unterscheiden zwischen diskontinuierlichen und kontinuierlichen, d.h. zwischen arithmetischen und geometrischen Größen.
OTTO: Und was ändert das?
KARL: Das wirst du gleich sehen. Schraubst du z.B. dein Fahrrad soweit auseinander, wie es geht, dann erhältst du die Menge seiner „Eines und Dieses“. Die Größe der Menge ergibt sich aus dem Abzählen dieser Teile, die nicht zusammenhängen. Sie ist die Anzahl der Einheiten oder Einsen. Diese Zähleinheiten haben keine Größe im Sinne von Ausdehnung.
OTTO: Das hört sich ja ganz schön an, aber was die Einheiten der Menge namens „Fahrrad“ sind, ist deiner Entscheidung überlassen. Nehmen wir als Beispiel die Fahrradkette: Ist sie als Einheit zu betrachten oder als eine Vielheit von Kettengliedern?
KARL: Als Einheit. Denn die Kettenglieder lassen sich nicht auseinanderschrauben, sie sind zusammengenietet.
OTTO: Aber die Kettenglieder sind die Einheiten der Kette. Und die Kettenglieder sind wiederum aus Einheiten zusammengesetzt usw.
KARL: Wenn du so weitermachst, dann bleibt letzten Endes nur ein Haufen Schrott übrig, aber keine Menge von Fahrradteilen.
OTTO: Das ist ja das Manko! Du bestimmst, was ein Fahrradteil, was eine Einheit ist. Und nicht nur für Fahrräder, sondern auch für Naturbereiche.
KARL: Wieso Manko? Wenn diese Festlegung einmal getroffen ist, kann ich Größen durch Abzählen genau bestimmen.
OTTO: Eine willkürlich festgesetzte Einheit ist aber nichts natürlich Gegebenes, sondern etwas Genormtes. Und Normen entspringen menschlichen Zwecksetzungen. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als über die Fahrradwelt hinauszugehen. Die Fahrradwelt ist Teil der einen Welt, die alle Spezialwelten umfaßt. Die Einheiten dieser einen Welt sind die natürlichen Einheiten. Sie sind zwangsläufig auch die Einheiten der Spezialwelten.
KARL: Daß es diese natürlichen Einheiten nicht geben kann, haben wir doch soeben durchexerziert. Denn alles, was ausgedehnt ist in Raum und Zeit, kann geteilt werden. Das ist nur eine Frage der Technik. Denk an das Atom, griechisch: das Unteilbare. Was einst unteilbar war, ist teilbar geworden.
OTTO: Vielleicht finden wir einen Ausweg aus der Sackgasse, wenn wir den Begriff der Einheit unter die Lupe nehmen.
KARL: An einer Einheit interessiert nur die Begrenzung, d.h. das Zählbare. Ob sie in sich einfach oder vielfältig ist, spielt keine Rolle. Sie ist sozusagen die Grenze an sich.
OTTO: Eben nicht! Eine Einheit muß etwas Einfaches sein, und das Einfache ist eben nicht in sich unterschieden, d.h. nicht vielfältig. Es kann also nicht zerlegt - griechisch: analysiert - werden.
KARL: Das gilt nur im Hinblick auf das Ganze, dessen Einheit es ist.
OTTO: Relative Einheiten im Hinblick auf irgendein System interessieren mich nicht.
KARL: Andere Einheiten gibt es nicht.
OTTO: Es muß doch absolute Einheiten geben. Die einfachen, kleinsten, nicht weiter zerlegbaren, materiellen Bausteine des Universums!
KARL: Das sind Einheiten im Hinblick auf die Konstruktion eines Universums, es sind geistige Einheiten.
OTTO: Ich meine aber die realen, die natürlichen Einheiten.
KARL: Woher willst du wissen, daß die nicht auch zerlegbar sind? Erst hatte man die angeblich unteilbaren Atome gespalten, dann ihre Kerne. Und jetzt? Man spricht von einem Teilchenzoo. Vielleicht liefert die Atomzertrümmerung, die man in den riesigen Zyklotronen betreibt, nur noch Schrott.
OTTO: Dann wüßte man ja, welches die absoluten Einheiten sind, nämlich diejenigen, aus denen sich der Schrott zusammensetzt.
KARL: Aber wie kann man Schrott von Nicht-Schrott unterscheiden, d.h. von Bestandteilen, die in der Natur vorkommen? Beim Fahrrad ist das möglich, aber wie soll man sich eine letzte, materielle Einheit vorstellen? Ich bezweifle, daß du dem Begriff der Einheit, angewendet auf die ganze Welt, einen Sinn geben kannst. Denn nur von diesem Sinn her - ob Zweck oder Grund - kannst du ja die Einheiten bestimmen.
OTTO: Der Begriff „Einheit“ ist offenbar mehrdeutig, also selbst keine Einheit, denn du benutzt ihn sowohl im Sinne von „einfach“ als auch im Sinne von „unteilbar“.
KARL: Ja, je nachdem, worauf er bezogen wird. Das Fahrrad dient der Fortbewegung und ist insofern eine Einheit im Sinne von „einfach“. Zugleich ist das Fahrrad eine Einheit im Sinne von „vielfältig“, denn es ist aus Fahrradeinheiten zusammengesetzt. Diese Einheiten sind im Hinblick auf den Zweck des Fahrens konstruiert. Die Vielheit der Teile ist kein beziehungsloses Sammelsurium, sondern auf den Zweck hin geordnet und zusammengehörig.
OTTO: Die Einheiten der einen Welt sind aber nicht Einheiten in Hinblick auf etwas Bestimmtes, auf einen Zweck, einen Grund. Da ja nicht nichts, sondern et- was existiert, und dieses Etwas sich verändert, muß es absolute Einheiten geben, die allem zugrunde liegen.
KARL: Es muß gar nicht.
OTTO: Nehmen wir mal an, die Welt sei das Ergebnis einer Urexplosion, dann wären ihre Einheiten die einfachsten Explosionstrümmer.
KARL: Und damit Konstrukte in Hinblick auf eine Welt, die man als Überrest einer Explosion interpretiert.
OTTO: Das ist aber keine Spezialwelt, sondern die eine Welt.
KARL: Wieso? Es ist doch wie beim Fahrrad. Die vielfältige Einheit namens „Explosionswelt“ bestimmt die einfachen Einheiten, verleiht ihnen Legitimität, Ordnung, Zusammengehörigkeit. Diese Einheit ist eine technische Konstruktion wie das Fahrrad, also eine Spezialwelt.
OTTO: Das hieße ja, daß die eine Welt, die Welt als ganze, ein unmöglicher Begriff ist, den man nicht in den Griff bekommt.
KARL: Die Welt ist etwas, das in Kants Sprachgebrauch eine regulative Idee genannt werden könnte.
OTTO: Ich dachte mir schon, daß da die Philosophen ihre Hand im Spiel haben.
KARL: Die Welt-Idee drängt sich auf. All die Einzelheiten und Individuen, die uns über den Weg laufen, wirbeln ja nicht chaotisch um uns herum, sondern hängen zusammen, bilden offenbar eine Ordnung.
OTTO: Philosophen haben auf alles eine Antwort.
Raum
KARL: Stellen wir uns mal dumm und fragen: Was ist das: der Raum?
OTTO: Ganz einfach: Der Raum ist so etwas wie ein leeres Zimmer.
KARL: Ein Zimmer ist ein Körper: ein Hohlkörper.
OTTO: Na dann ein Zimmer ohne Fußboden, Decke und Wände.
KARL: Ein Hohlkörper ohne Wände ist nichts, im Gegensatz zum Raum.
OTTO: Wenn der Raum nicht nichts ist, was kann er dann anderes sein als ein Körper.
KARL: Er kann kein Körper sein, denn wenn ein Körper an die Stelle eines anderen treten soll, muß der andere entfernt werden. Den Raum kann und muß man nicht entfernen, wenn man einen Körper an eine Raumstelle setzen will.
OTTO: Dann ist der Raum wohl so etwas wie eine Negation des Körpers.
KARL: Ja. Denn wäre der Raum ein Körper, dann müßte er sich selbst im Raum befinden. Und dieser „Überraum“, als Körper gedacht, befände sich wiederum in einem Überraum, nämlich in einem Über-Überraum usw. Wir geraten in einen unendlichen Regreß.