Unzugänglichkeitspole - Ulrich Sichau - E-Book

Unzugänglichkeitspole E-Book

Ulrich Sichau

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Beschreibung

Eine ganze Generation, die nicht geredet hat, die schwieg und ihre Geheimnisse für sich behielt. Das ist die Generation, die dem Krieg und dem Nationalsozialismus in Deutschland, gewollt oder ungewollt, ausgesetzt war, die all das miterleben und ertragen musste. Diese Generation hat Kinder in die Welt gesetzt, denen es besser gehen sollte, die nicht belastet sein sollte von der Vergangenheit. Doch wie sollten sie Wurzeln schlagen, ohne die alten Geschichten der Väter und Mütter zu hören? Dieser Roman ist der Versuch, den eigenen Vater kennenzulernen. Er, der nie über sich und sein Leben erzählte, wird zu Fiktion. Nur anhand der spärlich bekannten Fakten rekonstruiert der Autor ein Leben, das so nie stattgefunden hat, aber vielleicht so hätte stattfinden können. Auch der Protagonist Philipp, der Sohn, der sich bemüht, eine Verbindung zum Unbekannten, zum Unzugänglichen herzustellen, ist eine erfundene Person. Wie ähnlich ist er dem Vater und welche Geschichte führt er fort, die schon lange vor ihm begann?

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Seitenzahl: 147

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Für meinen Vater, den ich fast vergessen hatte.

Cover-Gestaltung:

Ulrich Sichau

Cover-Foto: Icebergs aground

Hartwig, G. (Georg), 1813-1880, Guernsey, Alfred Hudson, 1824-1902, “The Polar and Tropical Worlds: A Description of Man and nature in the polar and equatorial regions of the globe”

https://www.flickr.com/photos/internetarchiveboo-kimages/14591094668/

Es bestehen keine bekannten Urheberrechtsbeschränkungen.

Unzugänglichkeitspol

Als Pol der Unzugänglichkeit (auch Unzugänglichkeitspol oder Pol der Unerreichbarkeit oder Pol der relativen Unerreichbarkeit) bezeichnet man verschiedene Positionen auf der Erde, an Land oder auf dem Wasser, die eine maximale Entfernung zur nächstgelegenen Küste haben.

https://de.wikipedia.org/wiki/Pol_der_Unzugänglichkeit

Vorwort

Eine ganze Generation, die nicht geredet hat, die schwieg und ihre Geheimnisse für sich behielt. Das ist die Generation, die dem Krieg und dem Nationalsozialismus in Deutschland, gewollt oder ungewollt, ausgesetzt war, die all das miterleben und ertragen musste. Diese Generation hat Kinder in die Welt gesetzt, denen es besser gehen sollte, die nicht belastet sein sollten von der Vergangenheit. Doch wie sollten sie Wurzeln schlagen, ohne die alten Geschichten der Väter und Mütter zu hören?

Dieser Roman ist der Versuch, meinen Vater kennenzulernen. Er, der nie über sich und sein Leben erzählte, wird zu Fiktion. Nur anhand der spärlich bekannten Fakten rekonstruiere ich ein Leben, das so nie stattgefunden hat, aber vielleicht so hätte stattfinden können. Auch der Protagonist Philipp, der Sohn, der sich bemüht, eine Verbindung zum Unbekannten, zum Unzugänglichen herzustellen, ist eine erfundene Person. Wie ähnlich ist er dem Vater und welche Geschichte führt er fort, die schon lange vor ihm begann?

März 2022

Inhalt

Abwege und Umwege

Hof und Hühner

Landschaften

Engelsburg 1926

Reisen

Spiele

Abschied

Große Stadt

Waise

Bilder

Abtauchen

Allein

Sprache

Soldat

Denkweisen

Fenster

Weiß im Schwarz

Zerstörung

Kriegsspiele

Erinnerungswege

Stunde Null

Brücken

Denkmal

Frauen

Zwiespalt

Großvater

Verluste

Heimwege

Ottos Traum

Philipps Traum

Abwege und Umwege

Er hatte es gerade noch geschafft. Die Türen schlossen sich bereits, als er im letzten Moment den Sprung riskierte und ins Wageninnere stolperte. Es war nicht seine Art, die Dinge unvorbereitet und unter Zeitdruck anzugehen. Üblicherweise plante er mit viel Reserve; Stress und Hektik mochte er nicht. Doch heute, schon als er aufgestanden war, stimmte der Plan nicht mehr. An irgendeinem Punkt hatte er falsch kalkuliert. Wie immer war er am Abend zuvor die Zeiten durchgegangen: Morgentoilette, Frühstück, Hotelabrechnung, für alles hatte er angemessene Zeiten eingesetzt und seinen Wecker entsprechend gestellt. Er hatte nicht gut geschlafen, das stimmte, rechtzeitig aufgestanden war er trotzdem. Das Hotelzimmer hatte er fluchtartig verlassen. Nicht einmal die Tasse Kaffee hatte er sich gegönnt. In der Lobby hatte ihn dann noch die Hotelmanagerin in ein Gespräch verwickelt, vielleicht war das der Punkt, an dem alles durcheinander geriet.

Immerhin war er jetzt im Abteil und hatte die freie Platzwahl, denn der Zug war so gut wie leer. Offensichtlich hatte sich noch nicht herumgesprochen, dass die Lokführer ihren Streik beendet und ihren Dienst wieder angetreten hatten. Einige Tage zuvor hatte Chaos im Bahnbetrieb geherrscht und er hätte sich fast entschieden, seine Geschäftstour abzusagen. Jetzt war er froh, es nicht getan zu haben. In diesem Fall hatte er richtig spekuliert und auf die Einigung der Bahn mit den Streikenden gesetzt.

Philipp war unterwegs. Vor drei Jahren erst hatte er diesen Job angetreten. Er verkaufte Software, nützliche Software glaubte er zumindest , und er konnte seinen Kunden überzeugend gegenübertreten. Philipp war nicht nur Verkäufer, sondern er schulte auch das Personal, wenn die Software dann tatsächlich verkauft war. Und dieser Teil des Jobs machte ihm wesentlich mehr Spaß. Da ging es nicht mehr um Erfolg und Verkaufsprämien. Es ging um Eleganz und spielerische Effektivität im Umgang mit Daten und Zahlen. Philipp war ein leidenschaftlicher Ordnungsmensch. Er liebte es, das Chaos zu entwirren, Schubladen zu füllen und zu schließen, zu etikettieren, Inhaltsverzeichnisse anzulegen und zu katalogisieren. Er fand es genial, wenn Räume fast leer waren und sich Oberflächen matt glänzend und ohne optische Störung vor ihm auftaten. Den letzten Staub pustete er mit einem Lächeln weg. Erst dann griff er zur Maus oder tippte in die Tastatur, um Strukturen auf dem Bildschirm sichtbar zu machen. Der Höhepunkt seiner Arbeit – und darauf steuerte Philipp bei seinen Schulungen jedes Mal zu – wenn er mit einem kleinen, zarten Mausklick, mit einer winzigen Bewegung auf der Tastatur ein vielsagendes Detail aus dem Chaos, ein kleines Attribut, vielleicht einen Farbklecks, ein Datum, eine Zahl, einen Avatar auf die leere Bildschirmoberfläche zaubern konnte. Fast immer rief er damit freudiges Erstaunen oder zumindest anerkennende Zustimmung bei den Mitarbeitern hervor für das, was seine Software leistete.

In diesen Momenten war es tatsächlich „seine“ Software, auch wenn er sie nicht selbst programmiert hatte. Doch das Programmierteam hatte viele seiner Anregungen übernommen, die er in den letzten Jahren, seit er diesen Job machte, zurückgemeldet hatte. Darauf war er stolz.

Philipp war auf dem Weg nach Berlin. Er hatte bereits zwei Einsatzorte hinter sich und die Schule in Berlin-Mitte war die letzte Station seiner Geschäftsreise. Das Softwareunternehmen, für das er tätig ist, entwickelt Verwaltungsprogramme für Schulen. In der Hauptstadt sollte er an dieser großen Einrichtung die Mitarbeiter in das neue Programm einweisen. Die Kaufverträge waren bereits unter Dach und Fach, die Software vor Ort installiert. Alles war auf einem guten Weg: Er saß im Zug, seine Termine würde er pünktlich einhalten können.

Aber Berlin machte ihn irgendwie nervös. Er war schon vor der Wende in Westberlin gewesen und auch nach dem Mauerfall hatte er die Stadt bereits zwei Mal besucht – doch er hatte nicht nur gute Erinnerungen.

Sicher, das Leben in dieser Weltstadt, die Musik, das Theater, die Poetry-Slammer, die bunten Graffiti auf dem grauen Beton – das alles hatte ihn beeindruckt, es hatte ihm gefallen. Doch da waren auch die Dealer, die Taschendiebe, die Psychopathen, die einem fast ständig über den Weg liefen, sich nicht versteckten oder untertauchten, die sich einem in den Weg stellten und nicht auswichen, wenn man auf sie zukam.

Philipp würde im Grunde nur zwischen seinem Hotel und dem Einsatzort pendeln. Aber ein Taxi war in seinem Budget nicht vorgesehen, er würde sich dem Unvorhersehbaren auf den Straßen oder in der S-Bahn nicht ganz entziehen können. Vielleicht würde er sich auch abends mit seinen Kunden treffen müssen, wegen der Arbeitsatmosphäre und der Gruppendynamik und so. An einen Rückzug ins sterile, aber störungsfreie Hotelzimmer war letzten Endes nicht zu denken.

Der Zug war losgefahren, gemächlich verließ er Frankfurt Richtung Osten. Philipp ordnete seine Papiere: Die Hotelrechnung kam in der Mappe nach hinten, die neue Hoteladresse und die Fahrkarten nach vorne. Die modernen Bahnfahrkarten erstaunten ihn immer wieder, komplizierte, mit Zahlen und Hinweisen gespickte Ausdrucke waren das. Wie einfach war es in seiner Kindheit und Jugend gewesen, als er allein unterwegs war. Eine kleine Karte, höchstens vier mal sechs Zentimeter, mit sechs horizontalen eingerahmten Reihen, in die man seinen Zielbahnhof mit einem Stift eintragen konnte. Weitere Angaben waren nicht notwendig, keine Zugnummer, keine Sitzplatzreservierung, keine Umstiege, kein Preis. Nur das Ziel war wichtig. Sechs Einträge pro Kalenderjahr, sechs Fahrten, wohin man wollte, und das jedes Jahr aufs Neue. Das war die Vergünstigung, die Angehörige von Bahnmitarbeitern zugesprochen bekamen und sein Vater arbeitete bei der Bahn. Damals war er stolz darauf gewesen, einen solchen Fahrschein zu besitzen, und er ließ keine der Freifahrten verfallen. Die kleinen Kärtchen bekamen seine Geschwister und er, auch wenn sein Vater im damaligen Staatsbetrieb kein Beamter war. Er rangierte mit kleinen Loks auf Gleisen, draußen, er machte sich die Hände schmutzig, bei jedem Wetter, Tag und Nacht. Viel wusste Philipp nicht davon, er ahnte nur, wie es dort zuging, sein Vater sprach nie über die Arbeit.

Jetzt war er wieder in seine Gedanken gesprungen, der Vater, der sich reindrängte. In den letzten Wochen war es ihm immer wieder passiert. Eigentlich hatte er gedacht, dass er mit diesem Thema, mit dieser Person schon längst abgeschlossen hätte. Der Vater war seit langer Zeit tot, lag in seinem Grab, das Philipp nur wenige Male besucht hatte, sich immer damit entschuldigte, der Weg dorthin sei zu weit, der Aufwand lohne nicht.

Dann, im Mai, war diese Nachricht aufgepoppt, sein Bruder hatte sie geschickt, an ihn und die Geschwister. Der hundertste Geburtstag des Vaters würde sich jähren. Fast schon übertrieben feierlich klang diese Botschaft für Philipps Geschmack. Konnte man den Geburtstag einer Person feiern, die schon tot war? Irgendwie schien es ihm paradox und Philipp hatte gezweifelt. Und doch ließen ihn die Gedanken an den Vater nicht mehr los. Vor drei Jahren erst war die Mutter gestorben. Tränen waren geflossen und Philipp trug sich ihren Todestag in seinen Kalender ein, wollte mindestens einmal jährlich daran erinnert werden. Und an den Vater? Lieber nicht? Er hatte sogar sein Todesdatum vergessen, musste es in den Erbschaftsunterlagen recherchieren. Philipp wurde plötzlich klar, dass es ein Hirngespinst war, den Vater ablegen zu können wie eine staubige Akte. Er ahnte, dass dieser Mann mehr mit ihm zu tun hatte, als er sich bisher eingestehen wollte. Dabei wusste er nichts von ihm, nur rohe Daten, in vielen Details noch nicht einmal plausibel.

Philipp ließ die Gedanken an ihn zu. Er merkte, dass diese Reise ihn offenbar nicht nur nach Berlin führen würde, sondern auch auf den Weg zu seinem Vater. Und wenn er ihn nicht finden sollte, hätte er zumindest einem einsamen Mann die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt.

Hof und Hühner

Da stand er, allein, um ihn herum der große Hof, vor ihm der Hühnerstall. Er spürte sich als Person, als Persönlichkeit, als etwas Eigenständiges, als abgetrennt von den anderen. Im Hühnerstall sein Vater, er fütterte die Tiere. Es waren auch drei oder vier Gänse dabei, große, Furcht einflößende Vögel. Sein Vater stand ganz ruhig zwischen ihnen, ohne Hektik streute er das Körnerfutter vor ihnen aus. Die kleinen Hühner sprangen an ihm hoch, um das Futter direkt aus seiner Hand zu picken. Fast schon zärtlich beruhigte er die Tiere mit Piepgeräuschen, nie war er laut oder unwirsch im Hühnerstall.

Nach dem Füttern saß er auf seinem Schemel vor dem Stall. Friedlich, stolz und mit sich selbst im Reinen. Sein Vater betrieb ein Geschäft mit seinen Tieren: Die Eier wurden verkauft, ab und zu für die Stammkundschaft ein Suppenhuhn, von ihm selbst geschlachtet, gerupft und ausgenommen. In den späten Fünfzigerjahren war das noch richtig einträglich. Es gab noch keine Konkurrenz durch Supermärkte und Discounter. Als Philipp Fahrrad fahren konnte, war er der Bote, lieferte die Ware aus und verdiente sich das Trinkgeld. Wehe, wenn etwas zu Bruch ging auf seiner Tour, die Reaktion des Vaters war handfest.

Philipp war fast neidisch auf die Hühner: So viel Anteilnahme und Zuspruch hätte er für sich gewünscht. Doch dieser Wunsch blieb unerfüllt. Die Geduld für ihn und seine Geschwister hatte sein Vater nicht. Es wurde laut geschrien. Philipp musste darauf gefasst sein, dass er wütend wurde und hinter ihm her war, wenn er nicht mit dem einverstanden war, was sein Sohn veranstaltete. Philipp konnte diesen Widerspruch im Auftreten seines Vaters den Tieren und seinen Kindern gegenüber nie für sich entschlüsseln. Sein Verhalten blieb ihm ein Rätsel und war unvorhersehbar; alles konnte passieren, zu jeder Zeit.

Philipp ging seinem Vater aus dem Weg, das war die sicherste Methode, sich vor den plötzlichen Wutausbrüchen zu schützen. Manchmal ahnte er die Auslöser für die Wut: Unordnung, Schmutz, Aufmüpfigkeit, Ungehorsam. Es konnte sein, dass sein Vater ausrastete, wenn die Schuhe noch dreckig im Flur standen, sie nicht auf Hochglanz geputzt waren vor dem nächsten Schultag, die Kleidung nachlässig oder die Haare zu lang waren. Manchmal konnte es auch einfach ganz unerwartet geschehen, der Grund dafür war für ihn nicht immer greifbar.

Viel seltener – aber auch das geschah– gab es positive Erlebnisse mit seinem Vater: ein Einkauf in der großen Stadt und der Vater war der spendable Begleiter. Er ließ sich nicht lumpen, wenn Philipp neue Schuhe brauchte oder eine Winterjacke, einen Anzug für die Kommunion. Entschieden, selbstbewusst und stolz befahl er den Angestellten, die passende Kleidung zu präsentieren. Der Preis war wichtig, noch wichtiger aber die Qualität der Ware. Ob es dem Sohn gefiel, spielte wiederum kaum eine Rolle.

Dies waren Ausnahmeerlebnisse, an einer Hand abzuzählende Höhepunkte, die monumental hervorragten im Lebenslauf eines Kindes. Das andere, das Schlimme ragte nicht hervor, wollte man schon gar nicht zählen, konnte abgehakt werden, vielleicht…

Doch es blieben die schwarzen Löcher, das Nie-Gesagte, das Nicht-Vorhandensein von Beziehung. Zwischen was und wem? Zwischen Vater und Sohn?

Philipp wusste es damals nicht, es war für ihn keine Dimension in seinem Universum des Durchkommens, des sich Wegduckens, des Unsichtbar-Seins. Seine Erde war eine Scheibe.

Landschaften

Ob das immer noch so funktionierte mit dem Rangieren? Wagen aneinanderhängen, von einem Gleis aufs andere bugsieren, in die richtige Reihenfolge bringen, einkuppeln, die Elektrik und die Hydraulik vernetzen? Philipp hätte es gerne gewusst, als er jetzt mit dem ICE den Frankfurter Bahnhof verließ. Der Zug musste sein Tempo drosseln, zu viele Weichen waren zu kreuzen, die richtige Spur musste noch gefunden werden. Überhaupt konnte man die einzelnen Wagen fast gar nicht mehr erkennen, so sehr gingen sie ohne optische Trennung ineinander über. Der Großraumwagen, in dem Philipp jetzt saß, war lang; mit den früheren Waggons gar nicht mehr zu vergleichen.

Philipp genoss das Zugfahren – spätestens, wenn die Außenbezirke der großen Städte allmählich aus dem Blick verschwanden. Meist sah man dort noch hässliche Gegenden, Fabrikhallen, Ruinen, Lagerplätze oder Baustellen; die Wände besprüht mit unleserlichen Graffiti, erschaffen von irgendwelchen Künstlern, deren Botschaften ungelesen und unverstanden in diesen Hinterhöfen der Städte jeden Tag, wenn auch unmerklich, immer mehr verblassten. Philipp hatte sich schon immer gefragt, was diese Sprüher eigentlich wollten. Wen wollten sie ansprechen, wenn sie an der Rückwand einer Lagerhalle, unter Autobahnbrücken und nie genutzten Unterführungen ihre Weisheiten hinmalten? Lediglich da hatten sie ihre Fläche, nur da trauten sie sich zu sprühen, dort, wo es nur von Weitem zu sehen war, wo kein Mensch war und sich nur selten einer hin verirrte, alles vergeblich.

Die Landschaft war jetzt angenehmer. Es war später Winter und auch wenn sich jetzt alles nur in Grautönen zeigte, so konnte man schon die Bilderbuchmotive erahnen, die spätestens mit dem ersten Grün und Rot und Gelb demnächst die Welt verzieren würden. Vielleicht war es Kitsch, aber Philipp konnte sich dem nie entziehen. Wie bei der Spielzeug-Eisenbahn, nur in Groß. So präsentierten sich jetzt die Hügel und Wälder, die Wiesen, von Bächen durchzogen, auf denen es bald in allen Farben leuchten würde. Sogar die kleinen Häuser mit den roten Ziegeldächern, die Kirchtürme und Schornsteine, weit in der Ferne, alles schien wie komponiert, gewollt, mit Absicht dahingestellt.

Philipp wusste genau, man durfte nicht anhalten, nicht aussteigen, sich das Ganze nicht aus der Nähe ansehen. Sofort wäre das Bild zerstört. Schmutz, Abfall, Baustellen und Kräne, rot-weiße Absperrbänder, die den Zutritt verwehrten: All das entsprach niemals den Bildern, die im Vorbeifahren zu sehen waren, die flüchtig zufrieden machten und einen von einer besseren Welt träumen ließen.

Unter diesen angenehmen Bildern bevorzugte er die hügeligen Landschaften. Die Ebenen, auch schön, doch viel zu weit und ohne Ende. An jenen Tagen im Sommer oder an Nebeltagen im Herbst wusste man nicht, wo Erde und Himmel sich trennten, das war Philipp fast unheimlich. Das Hochgebirge, auch irgendwie schön, doch hier schien es Philipp, als sei das erträgliche Maß an Kitsch bereits weit überschritten. Die grauen Felsen der Berge, die in das klare Blau des Himmels schnitten, das war ein zu starker Kontrast. Und dann die vielen Tunnel, durch die die Züge hindurchfuhren, immer wieder Dunkelheit, immer wieder Nacht und Unterbrechungen.

Die Landschaft, die jetzt vorbeiflog, war beruhigend. Philipp hatte seine Aufregung vom Morgen fast vergessen. Er würde um die Mittagszeit in Berlin sein, sein Hotel beziehen und hätte noch den ganzen Tag Zeit, sich auf den nächsten Arbeitstag vorzubereiten und alles neu zu ordnen. Er war zuversichtlich, dass alles gut gehen würde. Philipp verzichtete darauf, seinen Laptop auszupacken, um Mails zu überprüfen oder den Testdatenbestand noch einmal durchzugehen, den er morgen in der Schulung einsetzen wollte. Er war sich sicher, dass alles passte. Die Daten waren anonymisiert, alles Mustermänner und Musterfrauen, keine Fakten, die Rückschlüsse auf lebende Personen oder Einrichtungen zuließen. Damit entsprachen seine Einweisungen den Datenschutzverordnungen, auf die immer mehr und immer penibler geachtet wurde. Dadurch waren diese Schulungen aber auch langweilig und lebensfremd. Philipp wusste, dass er seinen Vortrag mit Anekdoten anreichern musste, um sein Publikum bei Laune zu halten. Aber auch das hatte er in petto und er konnte sich auf seine Schlagfertigkeit verlassen. Seine Selbstsicherheit war wieder hergestellt, er war zufrieden. Die Landschaft schläferte ihn ein.

Engelsburg 1926

Die Mutter war streng, sie hat ihn nach draußen geschickt, in den Hof. Jetzt steht Otto da, fühlt sich wieder einmal ungerecht behandelt. Er war wohl zu laut in der Stube, als die Mutter dem kleinen Bruder die Brust gegeben hat. Seit dieser in sein Leben geplatzt ist, hat sie noch weniger Zeit für ihn. Otto soll den Hof rechen, zur Strafe die größeren Steine aus den Fahrspuren entfernen, alles herrichten für den Sonntag. Der Pastor hat sich angekündigt, zum Mittagessen. Otto wird das Tischgebet aufsagen müssen, ohne Stottern, ohne Fehler, sonst setzt es was. So wie sie es ihm beigebracht hat, jeden Abend aufs Neue. Er auf den Knien vor ihr, sie mit unbarmherzigem Blick, bis er es auswendig konnte.

Seine Mutter ist schön, findet er. Dunkelbraunes Haar, hochgesteckt zu einem Kranz auf dem Kopf, dunkle große Augen, denen nichts entgeht, die alles im Blick haben, jede Kleinigkeit fällt ihr auf. Sie ist jung, selbst gerade erst erwachsen geworden, aber sie ist eine Erwachsene, als wäre sie nie Kind gewesen. Ihre Anweisungen dulden keinen Widerspruch, auch der Vater muss