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Wie sieht eine Kirche aus, die Gott gefällt? Über Jahre hinweg rangen deutsche Katholiken vergeblich um die Reinigung und vitale Regeneration ihrer Kirche. Von Anfang an gab es nicht nur römische Bedenken und restaurativen Widerstand. Mit der Initiative "Neuer Anfang" meldeten sich "zivilisierte Kritiker des Synodalen Wegs zu Wort"; ihrer "messerscharfen, zumal philosophische Analyse der kirchlichen Verwerfungen" (FAZ) schlossen sich Tausende von Gläubigen an, denen die eher strukturellen Reformansätze des "Synodalen Weges" nicht weit genug gingen. Nun liegt ein mehr am Evangelium orientierter Reformansatz vor -, ein Buch, das den Dialog mit allen in der Kirche will und Kraft hat, neu für die Schönheit der Kirche und die Wiederentdeckung ihrer Wurzeln zu begeistern. Ein leuchtender Text, der Lust macht auf eine von Jesus her relevante Kirche, die absolut nicht mehr langweilig ist.
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Seitenzahl: 378
Martin Brüske | Bernhard Meuser | Christiana Reemts (Hrsg.)
Urworte des Evangeliums
Für einen neuen Anfang in der katholischen Kirche
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025 Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de Die Bibelzitate sind entnommen der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Alexander von Lengerke Grafische Gestaltung –www.alexanderlengerke.de E-Book-Konvertierung: Daniel Förster ISBN Print 978-3-451-60152-1 ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83702-9 ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83671-8
»Die stärkste Freiheit hat,
wer sein Gestaltetes fahrenlassen kann,
um sich … in seiner ersten,
immer frischgebliebenen Sendung
zu regenerieren.«
Die universale Gemeinschaft, die wir »Kirche« nennen und die mit Jesus begann, scheint trotz einer endlosen Folge von Skandalen ein rätselhaftes Vitalprinzip in sich zu tragen. Die Kirche geht an einem Ort sang- und klanglos (erst nieder, dann) unter, um andernorts leuchtend aufzugehen. Dieses Buch beschäftigt sich weniger mit den Gründen ihres scheinbar unaufhaltsamen Niedergangs in ihren einstigen Kernländern als vielmehr mit der Suche nach ihrem geheimnisvollen Vitalprinzip. Die Frage ist: Angenommen, alles ist kaputt, was einst ihre Größe und Strahlkraft ausmachte – ihre Heiligtümer sind entweiht, über ihre Immobilien wächst Gras, in ihren Lehrgebäuden nisten die Raben, ihre Reputation hat sich in Verachtung verwandelt –, was ist es dann, was neues Leben aus den Ruinen ermöglicht? Was sind die Essentials, ohne die »Kirche« nicht sein kann?
Goethe hat am Ende seines Lebens in einem Anflug von Metaphysik (»eine Region …, vor der ich mich sonst ängstlich zu hüten pflege«) nach »Urworten orphisch« gesucht, wobei er sich von der griechischen Mythologie letzte Gesetze der Wirklichkeit und »urbildlich-typische, sinngebende Leitbegriffe« erhoffte. Wir fragen: Gibt es auch »Urworte christlich« – letzte Wirklichkeitsgesetze der Kirche, Kernbegriffe, die ihre Kraft und Schönheit verloren haben, gar zu nichtssagenden Chiffren abgesunken sind? Urworte, die wir wiederentdecken und neu beleben müssten, damit die Kirche in ursprünglicher Vitalität erstrahlt? In einer Ansprache 2013 vor den brasilianischen Bischöfen hat Papst Franziskus 2013 genau diese Frage gestellt, sie sogar zur Überlebensfrage der Kirche gemacht: »Ich möchte, dass wir heute uns alle fragen: Sind wir noch eine Kirche, die imstande ist, die Herzen zu erwärmen? Eine Kirche, die fähig ist, nach Jerusalem zurückzuführen? Wieder nach Hause zu begleiten? In Jerusalem wohnen unsere Quellen: Schrift, Katechese, Sakramente, Gemeinschaft, Freundschaft des Herrn, Maria und die Apostel … Sind wir noch fähig, von diesen Quellen so zu erzählen, dass wir die Begeisterung für ihre Schönheit wiedererwecken?«
In Jerusalem hat alles begonnen; das neue Jerusalem wird »von Gott her aus dem Himmel herabkommen … bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat« (Offb 21,2). Erst von diesem Jerusalem aus – vom Aufblitzen der letzten Gründe der Wirklichkeit in der Mitte der Zeit – lässt sich angemessen die Frage stellen: Was ist die Kirche? Wozu ist sie gut? Was hat Gott sich dabei gedacht? Würden wir sie von ihren sekundären Anlagerungen her – ihrer historisch gewordenen Struktur, ihrer soziologischen Funktionalität, ihrer psychologischen Nützlichkeit – betrachten, wir würden am falschen Ende ansetzen, auch wenn viele glauben, »Kirche« sei eine gestaltungsoffene Materie im Anschluss an heutige Gewissheiten und denkwürdige Sprüche eines antiken Weisheitslehrers.
Die Kirche ist, wie Lumen Gentium sagt, ein Mysterium. Ein Mysterium ist faszinierend schön – so schön, dass man es nicht fassen kann. Je länger man es betrachtet, gar kritisch beäugt, desto mehr entzieht es sich dem Begriff. Und am Ende werden wir beherrscht von simplen Zugriffen à la: Erst war Gott, dann kam – in jeweils dünnerer Konzentration – Jesus und schließlich in homöopathischer Gottesdosierung die Kirche. Ein Abstieg aus der vollen Schönheit in immer größere Gewöhnlichkeit. Wir landen schließlich beim »grauen Pragmatismus des kirchlichen Alltags«, den Papst Franziskus in Evangelii Gaudium erwähnt, »bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht, in Wirklichkeit aber der Glaube verbraucht wird und ins Schäbige absinkt«. Das Schöne geht; das Mysterium zieht sich zurück, verflüchtigt sich »ins Abstrakte und Theoretische, das unser Leben nicht mehr berührt, geschweige denn formt; praktisch wird wahllos genippt, genascht, ausprobiert, mitgeschleppt« (Ida Friederike Görres).
Was macht uns stark gegen diese Spirale der Banalisierung? Am Ende nur eines: Die Kontemplation der Herrlichkeit, die Ent-Deckung der Schönheit der Kirche in der Schönheit Gottes. »Alles an dir ist schön, meine Freundin, kein Makel haftet dir an.« (Hld 4,7) Das ist. Und zwar vor, nach und mitten in dem, wie wir diese Kirche entstellen. In gewissem Sinn ist nämlich der trinitarische Gott in sich schon »Kirche«. In gewissem Sinn ist die Kirche schon vorweggenommen im »geliebten Sohn«, in dem alles »durch ihn und auf ihn hin geschaffen« (Kol 1,16) ist – in Schönheit und auf Schönheit hin. Und in einem genauso gewissen Sinn war die Kirche vor der Menschwerdung Jesu da. Begann sie nicht schon in dieser nicht zu erfindend schönen Erzählung, dass Gott die Ermöglichung seines Kommens im »den Glauben Israels zusammenfassenden und zur überschwänglichen Vollendung bringenden Jawort der Jungfrau von Nazareth« (Hans Urs von Balthasar) zugrunde legte? So als wollte er den liebenswürdigen Rahmen vor dem kostbaren Bild fertigen, um das Bild in alle Ewigkeit nie mehr ohne den schönen Rahmen darzubieten? »Die Kirche«, sagt Henri de Lubac, »ist unsere Mutter, weil sie uns Christus gibt. Sie gebiert Christus in uns zum Leben Christi.« Und ist die Kirche nicht schon der Leib, der sich am Kreuz für uns hingibt und uns im eucharistischen Mahl hineinnimmt in die Schönheit der Auferstehung?
Was wäre das für eine Kirche, wäre sie bloß eine von Jahr zu Jahr verblassendere Vergangenheit und keine heilige Gegenwart, in der Gott Gott ist und in Schönheit als Gott aufstrahlt – Gott, der mit »seiner ganzen Fülle« (Kol 1,19) in ihr wohnt, wie er in Christus wohnt. Wie die Heiligkeit der Kirche aber mit der Sündigkeit ihrer Glieder zusammen zu denken ist, das führt uns zu keinen faulen Entschuldigungen, sondern zu »Christus, der für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren« (Röm 5,8) – zu Christus, der heute noch in einer Kirche lebendig ist, die ihn verkündigt und preist, wie sie ihn verhöhnt und kreuzigt.
Das Vitalprinzip der Kirche ist eine Person: Jesus Christus. Irenäus von Lyon dazu: »Alle Neuheit hat er gebracht, indem er sich selbst brachte.« Die Kirche ist, was die Liebe schlechthin, was Gott für uns will: Leben ohne Ende, Leben in ihm. Die Kirche ist die Lebensform des Glaubens – die Form, in der wir in best shape kommen, in die forma Christi, worin wir das Leben finden und unsere individuellen und kollektiven Katastrophen überleben. Die Kirche integriert uns in die Liebe und nimmt uns hinein in die Lebensbewegung Gottes. Die »Liebe«, sagt Bernhard von Clairvaux, »ist etwas Großes«. Sie kommt aus den Tiefen der Schönheit Gottes selbst, geht durch uns hindurch, nimmt uns in Jesus hinein und reißt uns mit ihm – durch das Kreuz hindurch – in das wahre Leben. »Sie muss zu ihrem Ausgang zurück, muss heimfließen zu ihrem Quell, um immer wieder aus ihm zu schöpfen und ausströmen zu können.« In der Schönheit der Kirche werden wir schön.
Um die Erneuerung der Kirche zu denken, folgen wir der Einladung von Papst Franziskus zu einem Heimatbesuch in Jerusalem. Wir gehen noch einmal in die privilegierte Zeit Jesu zurück, achten auf alles, was Jesus (vor allen späteren kirchlichen Entfaltungen) wichtig war, und machen es wie gute Unternehmensberater mit einem Sanierungsfall. Sie denken vom Gründungsauftrag (»vision«) her, versuchen, den Unternehmenszweck (»mission«) zu bestimmen, und empfehlen dem Unternehmen zumeist die Verschlankung auf das Kerngeschäft. Wenn das geleistet ist, priorisieren sie die rettenden Maßnahmen à la Stephen R. Covey: »Put first things first.« Von den frühen Zisterziensern, die in die Wildnis zogen, um ein neues Kloster zu gründen, heißt es, sie hätten als Erstes einen Altar errichtet, um dann darum herum den Rest zu bauen. Wenn wir in diesem Buch 15 Urworte und ein Urbild der Kirche betrachten, betreiben wir zuerst Theologie und fragen: Warum ist das Jesus wichtig? Dann erst betreiben wir Pastoral: Was können wir tun, damit die Kirche an vielen Orten wieder aufblüht?
*
Die Urworte, in denen wir die Kirche als ein »Positum« Gottes betrachten, sind keine vollständige Sammlung ihrer Wesensbestandteile; sie beweisen nichts und liefern auch keine schnellen Rezepte für die Regeneration der Kirche aus ihrem Ursprung. Die Schönheit eines Bildes kann man nicht beweisen. Ein Bild kann man nur schauen. Die Kirche ist ein Bild und keine Erfindung und keine Theorie. Die fundamentale Voraussetzung von Kritik in der Kirche ist die Wahrnehmung ihrer Gestalt. Die Urworte wollen dazu beitragen – zur ganzheitlichen Schau einer Gestalt, deren Sinngehalt und Schönheit dann aufgeht, wenn man hinsieht und hinschauend all die verstellenden Momente überwindet, die uns von der bedeutsamen Wirklichkeit trennen: mangelnde Vertrautheit, Blindheit, Distanz, Gleichgültigkeit, Ignoranz, das Fremdeln mit einem Fremden.
Goethe hatte eine »Schau«, als er das Straßburger Münster sah und tief ergriffen von ihrem Erbauer sprach, der »zuerst die zerstreuten Elemente in ein lebendiges Ganzes zusammenschuf. […, Er] vermannigfaltige die ungeheure Mauer, die du gen Himmel führen sollst, daß sie aufsteige gleich einem hocherhabenen, weitverbreiteten Baume Gottes, der mit tausend Ästen, Millionen Zweigen und Blättern wie der Sand am Meer ringsum der Gegend verkündet die Herrlichkeit des Herrn, seines Meisters. … Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte.« (Goethe, Von deutscher Baukunst) Im Zustand der Entfremdung fühlen, riechen, schmecken, hören und sehen wir nicht mehr, was das ist, dass Gott sich ein irdisches Haus gebaut hat. Goethe hat in der gemeinsamen Weimarer Zeit intensiv mit seinem Freund Schiller über die »Gestalt« gesprochen – und was Schiller daraufhin in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen vom Menschen sagt, kann man ohne Abstriche auf die Kirche übertragen: »Ein Mensch, wiewohl er lebt und Gestalt hat, ist darum noch lange keine lebende Gestalt. Dazu gehört, daß seine Gestalt Leben und sein Leben Gestalt sei.« Eine Kirche, wiewohl sie lebt und Gestalt hat, ist darum noch lange keine lebende Gestalt. Dazu gehört, dass ihre Gestalt Leben hat und ihr Leben Gestalt sei.
Dass uns wieder aufgeht, was die Kirche ist – dafür gibt es dieses Buch. Die Sensibilität, mit der Romano Guardini die Schönheit Assisis betrachtete und darin »weder Winkel noch Heimlichkeit« fand, diese Feinfühligkeit und Sehbereitschaft benötigen wir, um wieder heim zu finden nach Jerusalem und in die Wohnung Gottes unter den Menschen: »Jede Gestalt steht in freiem Licht und in rein gehenden Winden. Immer wieder öffnen sich die Straßen und Plätze, und der Blick geht auf die umbrische Ebene hinaus. Überall strömt, kühl bewegt, die Luft, und umgießt jede Form mit Reinheit. Und wenn die Sonne auf die Stadt herunterbrennt, die Luft zittert und der Stein von rosa Licht wie vollgesogen ist; wenn diese ganze Welt aus gehauenen Kanten und gemauerten Massen in der leise strömenden Frische des Windes steht, dann wird die Seele vom Mysterium jener Tiefe berührt, die nicht im Chaos, sondern in der Klarheit liegt.«
Bernhard Meuser
Balthasar, Hans Urs von: Klarstellungen, Freiburg i. Br. 1971
de Lubac, Henri: Geheimnis aus dem wir leben, Einsiedeln 1967
Papst Franziskus: Apostolisches Schreiben EVANGELII GAUDIUM über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Vatikanstadt 2013
Jesus
Die Kirche leuchtet, wenn Jesus ihr Anfang, ihre Mitte und ihr Ziel ist.
Die Kirche ist vital, wo Menschen in persönlicher Beziehung mit Jesus sind. Der HERR ist da. Er kommt uns entgegen: im Empfang der Sakramente, in der Kontemplation des Wortes, im Gebet und in der Begegnung mit dem Nächsten. Wir verkümmern als Kirche, wenn wir uns Jesus vom Leib halten, ihn zur frommen Dekoration machen, ihn durch Begriffe zähmen und ihn in die Vergangenheit entrücken, statt seine heilende Gegenwart zu verkünden.
Liebe
Eine Kirche der Liebe ist eine Kirche mit Gott. Das Maß ihrer Liebe ist die Liebe Jesu, der sich am Kreuz für uns hingegeben hat.
»Liebe« ist der zentrale Begriff des Christentums, der Ausgangspunkt aller Wirklichkeit und das Ziel von allem. Liebende zu werden, die Liebe Gottes in die Welt zu tragen, eine liebevoll anfordernde Kirche zu sein, das ist das Abenteuer, zu dem Gott uns einlädt.
Volk Gottes
Die Kirche ist älter als die Kirche; sie lebt bis heute aus dem Wurzelgrund Israels und hat als Volk Gottes bereits eine lange Geschichte mit Gott.
Ohne ihren jüdischen Ursprung würde die Kirche die Wege Gottes mit den Menschen nicht kennen, sich seiner Gebote nicht bewusst sein, die Sprache der Psalmen nicht sprechen und Jesus nicht verstehen, der die Herrlichkeit, die Nähe und das Ja zu allen Verheißungen Gottes ist. Israel wurde von Gott für immer erwählt und ist und bleibt der »Augapfel Gottes«.
Wort Gottes
Die Kirche ist »Geschöpf des Wortes Gottes« (Martin Luther).
Sie steht unter dem Wort und verliert ihre Identität, wenn dieses Wort nicht allem kirchlichen Denken, Handeln und Sprechen vorausliegt. Die Lebenswirklichkeit der Menschen heute muss sich am lebendigen Wort Gottes orientieren, an Jesus Christus, in dem Gott sich vollkommen ausgesprochen hat. Die Kirche kann das Wort Gottes nicht verbessern oder nachjustieren. »Der glaubende Mensch kann das Wort Gottes nicht er-finden; er kann es nur finden oder noch besser: sich von ihm finden lassen.« (Kardinal Kurt Koch)
Heiliger Geist
Die Kirche ist eine Wirklichkeit aus dem Heiligen Geist, bevor sie eine menschliche Organisation ist.
Sie wird, wo immer sie berät und handelt, »geistlich« vorgehen. Nicht menschliches Planen, sondern der Heilige Geist ist es, der die Kirche in die Wahrheit führt, ihr neues Leben und Wachstum schenkt. »Ein christliches Leben, das als christlich bezeichnet wird und dem Geist keinen Platz vorbehält, sich nicht vom Geist führen lässt, ist ein heidnisches Leben, das sich als christlich verkleidet. Der Geist ist der Protagonist des christlichen Lebens, der Geist – der Heilige Geist –, der bei uns ist, uns begleitet, verwandelt, mit uns siegt.« (Papst Franziskus)
Rettung
Die Kirche ist der einzige Ort, an dem sich Rettung und Erlösung für die gesamte Schöpfung ereignet.
Die Kirche ist der von Gott vorgesehene Ort für die Rettung und Erlösung der ganzen Welt. Alles, was Menschenantlitz trägt, wird von der Gnade des Heiligen Geistes zu diesem Ort hingeführt. Eine Welt, deren Rettung allein uns Menschen anvertraut wäre, ist rettungslos verloren. Gott entreißt sie dem Untergang und wird sie in ursprünglicher Schönheit vollenden.
Eucharistie
Ohne Eucharistie keine Kirche.
Die Kirche lebt aus der österlichen Hingabe Jesu am Kreuz und der eucharistischen Integration der Gläubigen in seinen Leib. Wer das einmal in seinem Leben gesehen hat, wird die Eucharistie um keinen Preis in der Welt gegen etwas anderes eintauschen. Die Eucharistie ist das Herz der Kirche und nicht etwa eine Gottesdienstform unter anderen oder eine rituelle Zugabe.
Verkündigung
Die Kirche ist die Botin, nicht die Botschaft, sie verkündet nicht sich selbst, sondern das Evangelium.
Die Kirche hat aus sich heraus nichts zu sagen; ihr ist aber die demütige, leidenschaftliche, vollmächtige und strahlende Verkündigung des Wortes Gottes anvertraut. Die Kirche ist wie der Mond: »Er ist nicht selbst das Licht, sondern strahlt, weil er von der Sonne angestrahlt wird. So strahlt auch die Kirche niemals aus sich selbst heraus, sondern durch Christus, der das Licht ist.« (Henri de Lubac)
Leib
Die Kirche ist ein Leib, sie freut sich am Leib und sie lehrt die Erlösung im Leib.
Die Kirche gründet im Geheimnis der Inkarnation (Fleisch-Werdung) Gottes und sie wird vollendet in der Auferstehung des Leibes. Sie widersteht allen Versuchen, ihre Leibhaftigkeit in eine bloße Gesinnungsgemeinschaft aufzulösen. Die Kirche bejaht den Menschen ganzheitlich, in seiner geschaffenen Leiblichkeit, als Mann und Frau.
Sakrament
Die Kirche begegnet in den Sakramenten dem lebendigen Jesus.
Wir feiern keinen antiken Helden, an den wir uns aus der Ferne erinnern. In den Sakramenten ist der Auferstandene bei uns. Er lebt, beschenkt uns mit seiner Gegenwart. Und er wirkt sogar durch uns, die wir sein Leib, die Kirche, sind. Die Sakramente setzen die Menschwerdung Gottes in sinnlichen Zeichen fort. »Der Verlust der Sakramente ist gleichbedeutend mit dem Verlust der Inkarnation und umgekehrt.« (Joseph Ratzinger)
Jünger
Durch missionarische Jünger und Freunde Jesu blüht und wächst die Kirche.
Die Kirche wächst erst in der Breite, wenn sie in der Tiefe gewachsen ist. Als Jünger nehmen wir bewusst die Freundschaft Jesu an und lassen uns von ihm verwandeln. In der Lebensschule Jesu lernen wir, was es heißt, mit Hingabe in seiner Nähe zu sein. Wir werden immer mehr, wozu wir geschaffen sind: geliebte Kinder unseres himmlischen Vaters. Wir lassen uns senden. Wir tun, was ER tun will. Wir treffen die große Wahl unseres Lebens.
Gebet
Das Gebet ist der Atem und die Seele der Kirche.
Beten ist die natürliche menschliche Reaktion auf die Liebe Gottes. Die Kirche als Ganze ist »ohne Unterlass« (1 Thess 5,17) mit Gott im Gespräch. Nichts ist wichtiger, als Gott voll Vertrauen anzubeten, ihm zu danken, ihn zu loben, ihn zu bitten und täglich die ganze Welt vor sein Angesicht zu bringen. In der Weite der Kirche und mit ihren Worten zu beten, lässt uns in der Wahrheit ruhen. Es verbindet uns mit Tausenden an unserer Seite, mit Abertausenden vor und nach uns.
Mission
Die Kirche hat keine Mission, sie ist Mission.
Mission heißt Sendung. Wie der Vater den Sohn und den Heiligen Geist sendet, so ist die Kirche zu den Menschen gesandt, um die Welt in die Liebe heimzuholen. Es geht um eine Liebe, die Geschenk für freie Menschen sein möchte; sie will dienen und nicht triumphieren. Wer in der Freundschaft mit Jesus ist, für den ist Mission etwas Natürliches: »Wovon unser Herz voll, davon geht der Mund über.« (Lk 6,45) Mission ist kein Luxus oder eine Aufgabe für Spezialisten – gesandt sind wir alle. Dafür ist die Kirche da.
Umkehr
Die Kirche wird durch Umkehr schön; sie kommt zu sich und zu Gott.
Umkehr ist Herrschaftswechsel in einer verkehrten Welt und Orientierung an den neuen Regeln der Gottesherrschaft. Wir alle sind zur Umkehr eingeladen und durch die Gnade Gottes dazu befähigt: »Bekehrung ist die Demut, sich der Liebe des ganz anderen anzuvertrauen, einer Liebe, die Maßstab und Richtschnur meines eigenen Lebens wird.« (Benedikt XVI.)
Freude
Die Freude am Herrn ist die Stärke der Kirche.
Die Freude ist die Botschaft der Engel für die Hirten und das erste Geschenk des Auferstandenen, zugleich sein Auftrag; wir sollen einander zu Dienern der Freude (2 Kor 1,24) werden. Papst Franziskus beginnt sein großes Lehrschreiben Evangelii gaudium mit dem Satz: »Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm retten lassen, sind befreit von der Sünde, von der Traurigkeit, von der inneren Leere und von der Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude.«
Urbild Maria
Zwischen Maria und Jesus hat die ganze Kirche Platz.
Maria ist das Urbild der Kirche. In ihrer Person verdichtet sich das Geheimnis der Kirche wie in einer Ikone. Im hörenden Glauben empfängt Maria Gottes ewiges Wort. Indem sie »Ja« (Lk 1,38) sagt, wird das Wort Fleisch. Maria wird fruchtbar und kann der Welt den Erlöser schenken. Auch die Kirche bringt Frucht, wenn sie das Wort empfängt, es im Herzen bewegt und zur Welt bringt. Das verbindet orthodoxe, katholische und reformatorische Christen im Wort Gottes.
Dieses Buch verzichtet durchgängig auf Polemik, Schuldzuweisungen und Kritik. Dennoch war es unerlässlich, ihm an einer einzigen Stelle eine Ortsbestimmung und einen ungeschönten Blick auf die kirchliche Gegenwart voranzustellen. Uns blieb die Notwendigkeit nicht erspart, manche Dinge deutlich und klar anzusprechen. Die sich daraus ergebende Schärfe ist der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit halber unvermeidlich. Es nützt nichts, Fehlentwicklungen, ja real existierende Abgründe zu verschweigen. Sie bilden einfach die Realität, die benannt sein muss. Und ohne diesen harten Realismus kann es keine Erneuerung geben.
Seraphim von Sarow (1759–1833) gehört zu den größten »Starzen« (die russische Form des geistlichen Meisters) der orthodoxen Kirche im 19. Jahrhundert. Seine Bedeutung reicht aber weit darüber hinaus, nämlich bis in die Gegenwart und in den weiten Raum der Ökumene hinein. Im berühmt gewordenen Gespräch mit Motowilow – einem der großen Dokumente der Geschichte des geistlichen Lebens – formuliert der hl. Seraphim das Ziel des christlichen Daseins ebenso kurz wie präzise. Es bestehe »in der Erlangung des Hl. Geistes«. »Erlangung des Hl. Geistes« bedeutet die Teilhabe am Leben Gottes. Theosis, Vergöttlichung, ist das Wort in der Sprache der Alten.
»Wer will schon heute noch vergöttlicht werden?«, fragte einst Hans Küng ironisch (und – man wird es ihm nicht ersparen können – ziemlich borniert). »Jeder, der begriffen hat, dass er sich als Mensch nicht selbst genügt und die letzte Frage seines Daseins deshalb die Frage nach der Teilhabe an seinem absoluten Grund ist«, lautet die Antwort. Mensch zu sein, bedeutet unausweichlich, diese Frage zu stellen und zu beantworten. Sie ist die letzte, ja am Ende die einzige Frage des Menschen, die zählt.
Karl Rahner war da entschieden tiefgründiger als Küng: Angesichts der Unausweichlichkeit der Bezogenheit auf das absolute Geheimnis Gottes würden sich dem Menschen zwei Fragen stellen. Sie sind Teilfragen der gerade schon formulierten Frage nach der Teilhabe des Menschen an seinem absoluten Grund: Will dieses Geheimnis Gottes sich verschweigende Ferne oder absolute Nähe sein? Wenn aber Nähe, dann Gericht über meine Schuld oder vergebende und lebensspendende Barmherzigkeit? Eben Teilhabe am Leben Gottes in der Erlangung des Hl. Geistes.
In Jesus von Nazareth und seiner Verkündigung und Vermittlung der Königsherrschaft Gottes, zuletzt in seinem Tod, seiner Auferstehung und Erhöhung zum »Herrn« (Kyrios) und in der Gabe des Geistes als Vollendung seines Pascha, ist diese Frage beantwortet. Glauben bedeutet: Dazu »Ja« zu sagen und sich dieser Wirklichkeit anzuvertrauen, auf dass sie immer tiefer, bis zur letzten Faser, mein Dasein bestimmt. Sprich: Schüler, Jünger Jesu zu werden. Und zu »realisieren« (»realisation«, J. H. Newman), was da geschehen ist und weiterhin wirkt und geschieht.
Christ zu werden, bedeutet also die Grundlegung dieser Teilhabe; auf dem christlichen Weg zu gehen, Wachstum eben darin. Nichts anderes. Alles andere ergibt sich erst daraus. Alles andere wird falsch, wenn es sich davon löst: »Suchet zuerst Gottes Königsherrschaft, alles andere wird euch hinzugegeben werden.« Denn Gottes Königsherrschaft in der Verkündigung und Tat Jesu ist der handelnde Gott Israels selbst, der Verlorene in seinem königlichen Handeln neu erwählt und zu endgültiger und unüberbietbarer Lebensgemeinschaft ruft. Eine Lebensgemeinschaft, die sich realisiert im Hl. Geist durch den einen und einzigen Mittler Jesus Christus, den menschgewordenen Logos, vor dem Antlitz des Vaters und in seinem Licht. Man kann also Seraphims Aussage völlig auf seiner Linie – der Sinn des christlichen Daseins besteht in der Erlangung des Heiligen Geistes – variieren: Der Sinn des christlichen Daseins besteht in der Geburt Christi im Herzen oder in immer tieferer Realisierung der Gegenwart des Vaters. Letztlich und noch einmal: Teilhabe an Licht und Leben des Dreifaltigen, ein immer tieferes Leben in der Gegenwart Gottes. Wenn christliches Leben diese Richtung verliert, wird früher oder später alles andere falsch; und umgekehrt liegt im Wiederfinden dieser Orientierung das Maß jeder kirchlichen Erneuerung.
Harter Schnitt! Der kanadische Philosoph Charles Taylor (geb. 1931) hat die Geschichte des westlichen Christentums in der Neuzeit in seinem monumentalen Werk Ein säkulares Zeitalter als gewaltiges Disziplinierungsprojekt beschrieben. Nach dem spätmittelalterlichen Religionschaos sollte es darum gehen, eine wohlgeordnete societas christiana zu schaffen. Ein höchst ehrenvolles Anliegen, das Wittenberg, Genf und Rom miteinander teilten. Disziplinierung – das bedeutet: Starke Institutionen sozialisieren Menschen hinein in die Ordnung des Lebens. Bei Erfolg schafft Disziplinierung disziplinierte, sprich: starke Subjekte (bei Misserfolg jedoch geschädigte Neurotiker). Paradoxerweise führt der Erfolg des Disziplinierungsprojekts so die Fähigkeit herbei, sich von der disziplinierenden Institution zu emanzipieren. Sprich: Der relative Erfolg des »Disziplinierungsprojekt[es] neuzeitliches Christentum« ist eine wesentliche Bedingung der Aufklärung.
Dieses Projekt ist untrennbar verwoben mit all den Rationalisierungs-, Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozessen, die frühneuzeitliche Gesellschaften und ihre Staatlichkeit insgesamt bestimmen. Überall bildet sich die Fähigkeit zum rationalen Verwaltungshandeln aus. Eben und wesentlich auch im Bereich der Religion. Das westliche Christentum insgesamt wird zum Virtuosen der Religionsverwaltung wie niemals zuvor in seiner Geschichte: Normierung, geordnete Seelsorge von der Wiege bis zur Bahre, »Verwaltung der Sakramente« (was für ein Wort!), Strukturierung/Institutionalisierung von Schule, Bruderschaften, Caritas mit dem Ziel der Effizienz usw. usw. … Die beanspruchte Hoheit über die Verwaltung von Religion ist beinahe einschränkungslos realisiert worden.
Hier muss stark verknappt werden, deshalb bloß die Feststellung: »Katholisch« hat das – bis in die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, teilweise verbunden mit einer letzten Scheinblüte – gut hundert Jahre länger »funktioniert« als bei unseren großkirchlichen protestantischen Brüdern und Schwestern. Dahinter steckt eine gewaltige soziale Integrationsleistung, für die heute ein sehr hoher Preis bezahlt werden muss. Die geschlossene katholische Lebenswelt hielt sich bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, seitdem – besonders seit den späten 60ern (»1968«) – befindet sie sich im Zustand einer sich beschleunigenden Auflösung. Menschlich gesehen, ist der Kipppunkt bereits überschritten. Wir befinden uns im Stadium des vollständigen und nicht mehr aufzuhaltenden Zerfalls.
Ein einziges, notwendiges Wort zum Synodalen Weg: Mit diesem Hintergrund gelesen, stellt er sich als ein verzweifelter Versuch der Restauration dar. Noch einmal wollte man die rapide schwindende Religionsverwaltungskompetenz durch spektakuläre Anpassungsleistungen reparieren und gesellschaftlich legitimieren. Dieser Versuch war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Er antwortete an keiner Stelle auf die wirklichen Herausforderungen des christlichen Glaubens heute. Er verriet zudem auch das historische Christentum. Und musste notwendigerweise scheitern.
Die Fähigkeit des westlichen Christentums zur effizienten Religionsverwaltung – vermutlich historisch unvermeidbar und mit unbestreitbaren Leistungen verbunden – enthält mindestens vier in ihrem Zusammenspiel tödliche Gefahren, die heute durch einen weiteren Faktor noch einmal verstärkt werden:
1. Wesentliche Glaubensinhalte wurden amalgamiert mit Disziplinierungserfahrungen negativer bis neurotisierender, ja missbräuchlicher Art. Jetzt triggern solche Inhalte die negativen Erfahrungen und lösen entsprechende Abwehrreaktionen aus.
2. Das Modell der Religionsverwaltung (»Vermittlung von Zugehörigkeit durch Sozialisation«) läuft zunehmend ins Leere in einer sich individualisierenden Gesellschaft, in der personale Plausibilisierungsvorgänge ganzheitlicher Art der einzige Zugang zu existenziell bedeutsamen Wirklichkeiten und Wahrheiten darstellen, die lebensverändernd und lebensverbindlich werden können.
3. Religionsverwaltung bietet keine Antwort auf den negativen kulturellen Druck, dem der christliche Glaube in Moderne und Postmoderne ausgesetzt ist. Sie ist keine mystagogische Hilfe zur »Realisierung« (noch einmal Newman) der Inhalte des Christentums auf einem Wachstumsweg des Glaubens, der zur Innewerdung ihrer Wirklichkeit führt. Religionsverwalter drohen dabei selbst in eine innere wissenssoziologische und sozialpsychologische Spaltung zu geraten: Sie »glauben nicht, was sie glauben«. (So hat es Robert Spaemann formuliert.) Heißt: Sie sind unfähig geworden zu realisieren, was ihre Gemeinschaft des Glaubens normativ vorgibt, bringen aber nicht die Kraft auf, damit konsequent in die eine oder andere Richtung umzugehen und erfahren darin auch keine Hilfe. Das erzeugt eine Vergiftung, die jetzt ihre angesammelte tödliche Wirkung entfaltet, oder ein explosives Gemisch, das gerade detoniert.
4. Dort, wo persönlich, aber auch sozial, Glaube nicht mehr realisiert werden kann, zugleich aber Religionsverwaltungshoheit und -kompetenz aufrechterhalten werden soll, wird dieses ganze Gebräu radikal toxisch. Die Transzendenz des Glaubens kann nicht mehr realisiert werden, der Transzendenzbezug des Individuums wie der Institution bricht zusammen. Individuum und Institution fallen auf sich selbst zurück. Sie beginnen, um sich selbst zu kreisen und ausschließlich selbstbezogen zu handeln. (»Selbstreferenziell« sagen die Soziologen – Kardinal Bergoglio hat im Vorkonklave 2013, in seiner berühmten Ansprache vor seiner Wahl zum Papst, genau diesen Ausdruck gebraucht: autoreferencialidad.) Dies ist der »systemische« Hintergrund – der einzig wirkliche – sowohl für Missbrauch wie für Vertuschung. Der in seinem Triebleben nicht integrierte potenzielle Täter kennt nur noch die eigene Bedürftigkeit und nützt zugleich seine soziale Rolle aus. Spiegelverkehrt korrespondiert ihm der disziplinierte Funktionär, der ebenso wenig noch transzendente und unbedingte Bindungen kennt. Ganz im Sinne von Dostojewskis Erzählung vom Großinquisitor, in der der wiederkommende Christus zum Störfaktor der in sich geschlossenen Machtstruktur der Kirche wird, setzt er die Institution absolut. Auch er gibt ihre unbedingte Bindung auf. Er will die Institution um jeden Preis, selbst um den Preis einer Lüge, bewahren.Aber damit nimmt er sie wichtiger als Gott selbst. Wer aber eine endliche Wirklichkeit mit der Energie des Absoluten auflädt, schafft einen Götzen und setzt einen Akt von ekklesialem Atheismus. Benedikt XVI. traf den Punkt, als er darauf hinwies, dass Vertuschung und Missbrauch Akte der Apostasie sind. Das ist analytisch präzise! Die Kardinäle Meisner und Lehmann und der Erzbischof Zollitsch waren in der Zeit, als sie öffentlich in Sachen Missbrauch notorisch logen, im Status von ekklesialen Atheisten und Apostaten; sie erwiesen sich nicht als Diener Gottes, sondern als die eines selbst geschaffenen Götzen – selbst wenn sie dabei ein orthodoxes Credo aufsagten. Ihr Lügen war im strengen Wortsinn heillos. Dabei geht es nicht um ein letztes Urteil über diese Kleriker, welches uns weder zusteht noch möglich ist, sondern um die klare Benennung dessen, was sie je und je im Akt der notorischen öffentlichen Lüge realisiert haben. Denn die Logik ihres Handelns ist der Analyse sehr wohl zugänglich. Die Institution aber, die als soziales System auf diese Weise ihre transzendente Bindung verliert, wird zum selbstbezogenen Moloch. Sie entwickelt eine Eigendynamik, gegen die nur größte (intellektuelle, ethische, zuletzt geistliche) Selbstständigkeit, ein ebenso starkes wie zartes Gewissen und die Bereitschaft hilft, notfalls zu brechen und zu widerstehen, wenn es das Gewissen gebietet. Wie wir alle wissen: In der Regel eine Überforderung. Auch mancher, in seiner persönlichen Integrität ansonsten nicht anfechtbare Bischof, ist diesem Druck erlegen.
Die hier beschriebene gefährliche Konstellation, die die Kirche in ihrer neuzeitlichen Entwicklung insgesamt begleitet, wird noch gefährlicher und fataler durch eine bestimmte Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die sie endgültig auf eine selbstbezogene Struktur der Religionsverwaltung zurückzuwerfen droht. Das große transzendente Widerlager und Gegengewicht gegen die Absolutsetzung des Religionsverwaltungssystems war der Ernst der Differenz von Heil und Unheil. Zwar ist die Differenz selbst ambivalent, weil gerade sie im Sinne des Disziplinierungsprojekts instrumentalisiert werden konnte. Möglicherweise ist diese Instrumentalisierung – die Drohung mit der Hölle zur (schnellen und bequemen) Disziplinierung der Subjekte – die fatalste und zerstörerischste aller Instrumentalisierungen. Und sie steht indirekt ja immer hinter allen anderen. Aber im Ernst angenommen – und deshalb vor allem in der Weise der Selbstbindung realisiert – hielt genau diese Heilsdifferenz Transzendenz offen. Auch für den Religionsverwalter ging es um alles, weil auch er selbst unter der Differenz von Heil und Unheil stand. Und nur in dieser Weise konnte diese neuzeitliche Gestalt des Christentums ihre Legitimität bewahren: Im Ernst der eigenen Heilssorge und darin unbedingter, transzendenter Bindung. Sonst war sie eo ipso pervers.
Die Bedeutung dieser Differenz von Heil und Unheil ist nun im Bewusstsein des westlichen Christentums in den letzten Jahrzehnten auf dramatische Weise verschwunden. Es ist hier nicht zu analysieren, woran das liegt – und ob es in der ganzen Breite der Gesellschaft wirklich so ist oder ob wir nicht genauer von einem Vorgang bloßer Überdeckung und Verbergung sprechen müssen, auf den die Großkirchen in ihrem Mainstream nicht antworten. Menschen ringen sehr wohl mit der Frage nach Heil und Unheil, Schuld, Verlorenheit und Vergebung, Sinn, Unsinn und Verzweiflung – nur nicht unter diesen etablierten Begriffen, sondern in vielfältigen Verhüllungen und Masken. Aber im großkirchlichen Standardrepertoire des globalen Westens ist das Bewusstsein für die Bedeutung dieser Frage beinahe verschwunden. Möglicherweise wird man in diesem Zusammenhang einmal von einer epochalen religionssoziologischen Verschiebung im Blick auf das neuzeitliche großkirchliche Christentum sprechen und vom entscheidenden Indiz für das Ende seiner Sozialgestalt. Angemerkt sei, dass sich die Utopie eines, individuelle Religiosität lediglich begleitenden, liberalen, nur schwach institutionalisierten Christentums schon im Protestantismus auf die Dauer als Unmöglichkeit erwiesen hat. Liberale Gestalten des Christentums leben vom Charme des Moments der Emanzipation; sie zehren von ihren großkirchlichen Wurzeln und von der Frömmigkeit ihrer ersten Protagonisten. Fallen diese Faktoren weg, werden sie unkenntlich, langweilig, am Ende zerfallen sie.
Katholisch aber, aufgrund der Intensität der Institutionalisierung von Religion, führt der Wegfall der Heilsdifferenz fast zwangsläufig zu dem irrwitzigen Anspruch, weiterhin Religion verwalten zu wollen, ohne dass Religion noch irgendetwas bedeutet, was über Briefmarkensammeln oder Taubenzucht hinausgeht. Genau dies war am Synodalen Weg zu beobachten. Therapeutischer Deismus (so könnte man die offiziöse Religionsform dahinter am besten umschreiben) interessiert aber nur die schrumpfenden Kohorten, die noch irgendwie kirchlich gebunden sind, die faktisch die Macht als geweihte oder ungeweihte Funktionäre haben, aber nie den Zugang zu einem authentischen Christentum fanden oder gewiesen bekamen. Sonst niemanden.
1. In seiner Rede im Vorkonklave hat Kardinal Bergoglio den Kern dessen klar auf den Punkt gebracht, um das es im letzten Abschnitt ging: Eine um sich selbst kreisende, selbstbezogene Kirche (eben eine Kirche der Selbstreferenzialität, der autoreferenzialidad) wird zutiefst krank. Leider hat die Kirche in Deutschland bis heute diese den eigentlichen Kern der Missbrauchs- und Vertuschungskrise absolut treffende Aussage weder begriffen, noch auch nur ansatzweise daraus die richtigen Folgerungen gezogen. Dies zeigt ihre törichte Nicht-Reaktion auf den Brief des Papstes An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland von 2019. Was sich in der Missbrauchs- und Vertuschungskrise manifestierte, muss in einem noch viel größeren Zusammenhang betrachtet werden: Hier ist eine selbstreferenzielle Kirche unfähig geworden, aus ihrem transzendenten Grund zu leben. Und sie ist im selben Moment unfähig geworden, in die Sendung zu gehen. Sie ist ohne Leben und geistlich steril. Anders gesagt: Ein soziales System, das um seiner eigenen Erhaltung willen nur noch um sich selbst kreist und den Grund seines Lebens nicht in sich selbst trägt, stirbt notwendigerweise. Denn es schneidet sich vom Grund seines Lebens ab. Und genau dies geschieht gerade. »Wer sein Leben behalten will, wird es verlieren, wer es um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.« (Mt 16,25) Paradoxerweise ist das Projekt absoluter Selbsterhaltung (sein Leben behalten wollen – um jeden Preis) am Ende tödlich, weil der Grund des Lebens außerhalb von uns liegt (»um meinetwillen«), wir aber nur als Empfangende lebendig sein können – als solche, die sich loslassen müssen bis zur Lebenshingabe, um aus der Quelle zu trinken.
2. Wenn Papst Franziskus – und auch dies ist in Deutschland kaum verstanden worden – als Alternative zur selbstbezogenen Kirche das Bild einer evangelisierenden Kirche zeichnet, dann geht es nicht um eine zusätzliche Tätigkeit, eine weitere, nur hinzuaddierte pastorale Aufgabe, und alles andere bleibt, wie es ist. Es geht vielmehr um ein neues Paradigma, um eine grundlegend andere Seins- und Lebensform der Kirche. Eine Kirche, die endlich realisiert, was sie ist: Ausfluss der trinitarischen Sendungen in die Welt hinein.
3. Eine solche Kirche ist »dezentriert« (Papst Franziskus empfahl es der Gesellschaft Jesu – aber es ist direkt in seine Ekklesiologie übersetzbar). Sie empfängt sich beständig aus ihrem transzendenten Grund, aus ihren Quellen und geht von dort aus in die Sendung. Sie kreist nicht um sich.
4. Die Kirche hat nur eine einzige Aufgabe – in zwei Schritten: Sie stellt sich dem Wirken Gottes als Instrument zur Verfügung, um Menschen in personale Verbindung und Beziehung mit dem einen Mittler Jesus Christus zu bringen, und sie stellt sich dem Wirken Gottes als Instrument zur Verfügung, um denen, die diese Beziehung aufgenommen haben, zu helfen, darin zu wachsen. Nicht mehr, nicht weniger. Alles andere folgt dann erst.
5. Menschen, die in Verbindung und Beziehung mit Jesus Christus kommen, werden so zu Jüngerinnen und Jüngern. Sie werden Schülerinnen und Schüler in der Kirche als Schule des Evangeliums. Alle – auch die Amtsträger – sind Teil dieser Jüngerschaft. Auf der Ebene der Jüngerschaft ist Kirche strikt egalitär – wie es sich etwa aus der Ekklesiologie des Matthäus klar und verbindlich ergibt. Auf der Ebene der Sendung gibt es in der Kirche Leben zeugende, apostolische auctoritas – und zwar in Verkündigung, Heiligung und Leitung. Sie dient der Vermittlung des Lebens, sodass Jüngerinnen und Jünger auf ihrem geistlichen Weg des Glaubens wachsen können zu geistlicher Selbstständigkeit. Jüngerschaft nimmt so die Gestalt wachsender Subjektwerdung im Glauben an. Geistliche Vollmacht ergeht deshalb niemals von oben herab. Sie will Augenhöhe, weil sie geistliche Selbstständigkeit will. Und sie ist bereit, Füße zu waschen.
6. Diese Lebensmitteilung setzt sich notwendig fort in missionarischer Dynamik: Das Herz wird voll, der Mund fließt über. Die Schale füllt sich und auch sie fließt über. Ein völlig natürlicher Prozess. (Dort, wo er nicht natürlich geschieht, ist dies ein sehr deutliches, lebensbedrohendes Krankheitszeichen.)
7. Wachstum in der Jüngerschaft – geistliche Selbstständigkeit – Subjektwerdung im Glauben: Was sich in dieser Trias dreifach spiegelt, ist in Wahrheit eine Wirklichkeit und muss heute die Maxime allen pastoralen Handelns der Kirche sein. Sie ist zugleich mystagogische Einweisung in eine Lebensform, die – wenn sie gelingt – so leuchtet, dass das Christentum wieder anzieht, weil Menschen darin die Antwort auf die letztlich entscheidende Lebensfrage entdecken können: Wenn ich mir selbst nicht genüge, wie finde ich Teilhabe an meinem absoluten Grund? Leben, Genügen und Sinn in Fülle? Wie erlange ich also den Heiligen Geist?
8. Damit sind wir wieder bei Seraphim von Sarow und bei seinem Gespräch mit Motowilow. Heute müsste es statt um Disziplinierung um Evangelisierung und Mystagogie gehen – jenseits von jeder Form eines kirchlichen Imperialismus. Ohne sie ist alles nichts. In Evangelisierung und Mystagogie aber geschieht Einweisung in eine Lebensform, in der durch den Glauben an den einen Mittler Jesus Christus im Heiligen Geist die Christusgeburt im Herzen geschehen und der Glaubende so gehen kann im Licht des Angesichts des Vaters.
9. Wir sind – menschlich gesehen! – über dem Kipppunkt. Aber dort, wo Menschen im tiefsten Herzen Jesus Christus wählen, weil sie von ihm erwählt sind – und wenn ihnen dann der Mund übergeht, dann dürfen wir auf Gottes Erbarmen hoffen. Denn ihm ist nichts unmöglich.
Martin Brüske
»Feuer auf die Erde zu werfen, bin ich gekommen, und wie wünsche ich, dass es schon brennt.« (Lk 12,49) Das sagte Jesus vor 2000 Jahren, und die ersten Christen entfachten mit ihrem Glaubens- und Lebenszeugnis in der Tat einen Flächenbrand im Römischen Reich. »Das Feuer unseres Herrn wohnt in unseren Herzen und belebt uns. Wenn wir fest und wahrhaft im Glauben sind, berauscht es uns und feuert uns an, den Weg zu verkündigen und ihn zu gehen.« So kommentiert Ephraem der Syrer im 4. Jahrhundert das Feuer-Wort aus dem Lukasevangelium. Mit dem »Feuer Jesu im Herzen« widerstanden die Christen nicht nur dem Anpassungsdruck der römischen Gesellschaft, sondern sie erlebten auch, dass sie die Gesellschaft nachhaltig verändern konnten. »Was die Seele im Leib ist«, lesen wir im Brief an Diognet, »das sind die Christen in der Welt. Die Seele durchdringt alle Glieder des Leibes, die Christen alle Städte der Welt.« Solche Sätze stehen am Beginn des 1. Jahrhunderts, heute dagegen lesen wir Schlagzeilen wie »Kirche im Burn-out«, begleitet von beschämenden Umfrageergebnissen zum aktuellen Stand in Sachen Glaube und Kirche. In einer Studie von 2023 erfahren wir, dass nur noch 4 Prozent der befragten Katholiken angeben, gläubig zu sein. Jede Spielart von »Burn-out« in der Kirche hängt ganz offensichtlich damit zusammen, dass Jesus nicht mehr die Herzen entflammt.
Im 4. Jahrhundert schreibt der Bischof und Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos über das Feuer-Wort in Lk 12,49: »Mit diesen Worten wollte Jesus offensichtlich zeigen, wie flammend und heiß die Liebe sein muss, die er von uns verlangt. Weil er uns so flammend geliebt hat, will er in gleicher Weise von uns geliebt sein.« Sein Feuer ist brennende Liebe, und Liebe ein zutiefst personales Geschehen. Es geht um eine echte Beziehung zwischen Jesus und mir, zu der Wachstum, Entwicklung und »Beziehungsarbeit« gehören. Jesus lässt sich nicht ersetzen durch eine Idee, durch ein Konzept oder durch eine Struktur, auch nicht durch eine Summe von Lehrsätzen. Man kann gegenüber diesen Dingen vielleicht eine gewisse Begeisterung entwickeln, zeitweilig sogar »Feuer und Flamme« für sie sein, aber man kann mit ihnen keine Liebesbeziehung eingehen. Mit Jesus schon.
Nur stehen wir heute vor dem Problem, dass Jesus in weite Ferne gerückt ist. Zwar liegen schon zwischen ihm und Ephraem, Chrysostomos sowie all ihren Zeitgenossen bereits einige Jahrhunderte; als historische Gestalt ist er auch ihnen nicht zum Greifen nah. Aber es gibt einen markanten Unterschied: Die geschichtliche Distanz zu ihm ist für uns heute auch zu einer existenziellen Distanz geworden. In der Zeit der Kirchenväter war gerade das nicht der Fall. Für sie ist Jesus der in seiner Kirche zu jeder Zeit lebendige und gegenwärtige Herr, der das Feuer in den Herzen entfacht und am Brennen hält.
Wie ist es dazu gekommen, dass wir ihn aus unseren Herzen in die Geschichtsbücher verbannt haben? Die Wurzeln liegen in den geistesgeschichtlichen Umwälzungen seit dem 18. Jahrhundert, die wir unter dem Namen »Zeitalter der Aufklärung« kennen. Die Methoden der modernen Geschichts- und Geisteswissenschaften, die man seit dieser Zeit auf die Zeugnisse über Jesus, also die Bibel, anwandte, brachten etwas Verhängnisvolles mit sich, das in den Methoden selbst zwar nicht verankert ist, wohl aber in den weltanschaulichen Voraussetzungen, unter denen sie entwickelt wurden. Sie lassen sich auf den Kernsatz eindampfen: »Gott handelt nicht in der Geschichte.« Konsequenterweise ist dann auch so etwas wie Inkarnation (Gott wird Mensch) und Inspiration (Gottes Geist wirkt in den Menschen) nicht denkbar. Das Ergebnis: Jesus war ein Mensch wie du und ich – von wegen Wunder und so! –, die Bibel ist ein Buch wie jedes andere – im Blick auf ihr Sprachniveau sogar eher ein schlechtes. Seither stehen die Evangelien unter dem Generalverdacht, dass sie aus Jesus etwas gemacht haben, was er nicht war, nämlich Sohn Gottes. So war man bestrebt, »wissenschaftlich« den echten Jesus hinter oder jenseits der biblischen Überlieferung zu (re-)konstruieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Albert Schweitzer die Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens festgestellt, was zahlreiche Exegeten aber keineswegs davon abhielt, auf diesen Gleisen bis in unsere Gegenwart weiterzufahren. Jesus, der jüdische Rabbi, der Weisheitslehrer, der naturverbundene, erzählerisch begabte Wanderprediger, auch der gegen das religiöse Establishment Aufmüpfige und gegenüber sozialen Grenzen Unangepasste – all diese »Forschungsergebnisse« skizzieren den einen oder anderen zutreffenden Aspekt der historischen Gestalt, aber sie ignorieren das einzig Wichtige an ihm: dass er der Auferstandene und der Lebendige ist, »wahrer Mensch und wahrer Gott« – wie das Konzil von Chalcedon im 5. Jahrhundert die Jesus-Erzählungen des Neuen Testaments in dogmatische Formelsprache brachte –, und dass er deshalb einmalig, unvergleichlich, einzigartig, analogielos unsere »Hoffnung auf Herrlichkeit« (Kol 1,27) ist.
Der Apostel Johannes spricht als Augenzeuge über das, »was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben« – und das ist nicht bloß Jesus, der Rabbi aus Nazareth, sondern Jesus, »das Wort des Lebens« (1 Joh 1,1). Nur als dieses kann er sein Feuer auch in unseren Tagen auf die Erde werfen und bewirken, dass unsere Herzen brennen. Der entscheidende Schritt, der uns dabei hilft, die historische Distanz als unwichtig zu begreifen und die existenzielle Distanz von ihm in Nähe verwandeln zu lassen, besteht darin, eine ganz persönliche Beziehung zu Jesus aufzubauen. Wir können heute nämlich – ebenso wie damals der Apostel Johannes – das Wort des Lebens, Jesus, hören, sehen und anfassen. Wie das geht?
Die allererste Voraussetzung ist, mit den Worten Ephraems (s. o.), »fest und wahrhaft im Glauben« zu sein. Und hier kommt unweigerlich die Kirche ins Spiel. Der britische Patristiker Andrew Louth schreibt: »Um Jesus zu hören, und nicht nur seine Worte, müssen wir uns in die Tradition der Kirche stellen; wir müssen unser Vertrauen in diejenigen setzen, denen unser Herr seine Mission, seine Sendung anvertraut hat. (...) Wir werden Christen, indem wir Mitglieder der Kirche werden, indem wir unseren Vorfahren im Glauben vertrauen. Wenn wir nicht darauf vertrauen können, dass die Kirche Jesus verstanden hat, dann haben wir Jesus verloren, und die Mittel der modernen Wissenschaft werden uns nicht helfen, ihn zu finden.«
Wir hören Jesus durch das Buch der Kirche, die Heilige Schrift, und sein Wort erklingt in allen ihren Texten, in denen des Alten genauso wie des Neuen Testaments. »Über mich«, sagt der Auferstandene zu seinen Jüngern, »schreiben das Gesetz des Mose, die Propheten und die Psalmen« (Lk 24,44). Berühmt wurde das Wort des Kirchenvaters Hieronymus: »Wer die Schrift nicht kennt, der kennt Christus nicht.« Ins Positive gewendet sagt Hieronymus, dass wir durch die Lesung, das Studium und die Meditation der biblischen Schriften das »Wort des Lebens« selbst kennenlernen und zu ihm in eine freundschaftliche Beziehung eintreten.
Ein Blick in die Kirchengeschichte – auch in die jüngere – zeigt freilich, dass den katholischen Christen über lange Zeit der Zugang zu den biblischen Texten über das hinaus, was in der Liturgie als Lesung Verwendung fand, versperrt war; sie müssen neu entdecken und lernen, wie sich die Begegnung mit dem lebendigen Christus im Wort der Heiligen Schrift vollzieht. Das war keineswegs immer so, wie etwa ein Brief des Papstes Gregor der Große an der Wende zum 7. Jh. bezeugt, den er an Theodor, den Arzt des Kaisers, schrieb: »Ständig lässt du dich von materiellen Angelegenheiten fesseln, bist endlos auf Reisen, und du hörst auf, täglich die Worte deines Erlösers zu lesen. Ist nicht die Heilige Schrift ein Brief des allmächtigen Gottes an sein Geschöpf? Wenn du auch nur eine kurze Zeit vom Kaiser getrennt wärst und von ihm einen Brief erhalten würdest – du würdest nicht zur Ruhe kommen, noch deinen Augen Schlaf gönnen, bis du ihn gelesen hättest, einen Brief, den ein irdischer Kaiser dir schreibt. Der Kaiser des Himmels, Herr über Menschen und Engel, hat dir seine Briefe geschickt, die dein Leben betreffen, doch du brennst überhaupt nicht darauf, sie zu lesen. Übe dich darin, ich bitte dich, jeden Tag die Worte deines Schöpfers zu meditieren. Lerne das Herz Gottes in den Worten Gottes kennen, damit du immer mehr entflammst für das Unvergängliche!«