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Vergeltung ist eine Geschichte von Karl May, die eher unbekannt ist. Sie erschien auch unter dem Namen Der Brodnik. Auszug: Wenn ich in stillen Stunden die Erlebnisse meines vielbewegten Lebens an mir vorüberziehen lasse, so drängt sich meinem Geiste vor allen Dingen die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf, welche die Erinnerung mir vor die Augen führt. Die Erscheinungen des kalten, starren Nordens und des glühenden Südens, des jungen Westens und des altersgrauen Ostens haben sich meinem Gedächtnisse eingeprägt, und es bedarf oft einer gewissen Anstrengung, diese an Form und Farbe so verschiedenartigen Bilder genau auseinander zu halten. Ich habe mir überall Früchte gepflückt, materielle für den Körper und geistige für die Seele. Von diesen Früchten gleicht keine der andern an Gestalt, Farbe und Geschmack, an Art und Tiefe ihrer geistigen Wirkung, denn jedes Land hat seinen eigenen Boden und infolgedessen auch seine eigenartigen Entwicklungsformen, seine eigenartigen physikalischen und psychischen Erscheinungen. Eine einzige Frucht ist es, welche ich in allen Ländern, bei allen Völkern pflückte, eine Frucht, welche mir an den norwegischen Fjords ebenso wie in der wasserleeren Sahara, am Marannon ebenso wie am Jang-dse-kiang reifte: die Erkenntnis nämlich, daß ein großer, allmächtiger, allgütiger und allweiser Schöpfer waltet, der nicht bloß die Sonnen um die Welten wirbelt, sondern den Wurm im Staube bewacht, die Tiefen des Meeres und die Höhen der Berge bestimmt, mit seinem Odem den Halm des Grases und die Wedel der Palme bewegt, im Brausen des Kataraktes, im Heulen des Sturmes und im Brande des Vulkanes zu uns spricht, im Tropfen ebenso waltet wie im Oceane, im Zweige wie im Urwalde, im einzelnen Menschen wie im ganzen Volke, und ohne dessen Willen kein Sonnenstäubchen fliegt, kein Blättchen fällt und kein Haar unsers Hauptes verloren geht.
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Seitenzahl: 67
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Wenn ich in stillen Stunden die Erlebnisse meines vielbewegten Lebens an mir vorüberziehen lasse, so drängt sich meinem Geiste vor allen Dingen die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf, welche die Erinnerung mir vor die Augen führt. Die Erscheinungen des kalten, starren Nordens und des glühenden Südens, des jungen Westens und des altersgrauen Ostens haben sich meinem Gedächtnisse eingeprägt, und es bedarf oft einer gewissen Anstrengung, diese an Form und Farbe so verschiedenartigen Bilder genau auseinander zu halten. Ich habe mir überall Früchte gepflückt, materielle für den Körper und geistige für die Seele. Von diesen Früchten gleicht keine der andern an Gestalt, Farbe und Geschmack, an Art und Tiefe ihrer geistigen Wirkung, denn jedes Land hat seinen eigenen Boden und infolgedessen auch seine eigenartigen Entwicklungsformen, seine eigenartigen physikalischen und psychischen Erscheinungen. Eine einzige Frucht ist es, welche ich in allen Ländern, bei allen Völkern pflückte, eine Frucht, welche mir an den norwegischen Fjords ebenso wie in der wasserleeren Sahara, am Marannon ebenso wie am Jang-dse-kiang reifte: die Erkenntnis nämlich, daß ein großer, allmächtiger, allgütiger und allweiser Schöpfer waltet, der nicht bloß die Sonnen um die Welten wirbelt, sondern den Wurm im Staube bewacht, die Tiefen des Meeres und die Höhen der Berge bestimmt, mit seinem Odem den Halm des Grases und die Wedel der Palme bewegt, im Brausen des Kataraktes, im Heulen des Sturmes und im Brande des Vulkanes zu uns spricht, im Tropfen ebenso waltet wie im Oceane, im Zweige wie im Urwalde, im einzelnen Menschen wie im ganzen Volke, und ohne dessen Willen kein Sonnenstäubchen fliegt, kein Blättchen fällt und kein Haar unsers Hauptes verloren geht.
Ein großer, Staunen erregender, Ehrfurcht erweckender Zusammenhang, der unserm Auge nur zuweilen für einen kurzen Augenblick entschwindet, geht durch die ganze Reihe der kreatürlichen Erscheinungen. Keiner kann sich ihm entziehen: Alle sind ihm unterthan. Er macht sich bemerkbar ebensowohl in der äußeren Wesenfolge wie in der inneren Entwicklung des einzelnen Menschen und seines Geschlechtes. Er verbindet die einzelnen Räume ebenso wie die Stunden und Jahrhunderte und bringt eine Gerechtigkeit zur Offenbarung, in deren Tiefen unsere schwache Erkenntnis nicht zu dringen vermag. Eine jede Pflanze zeitigt ihre Frucht; eine jede That, mag sie nun von dem einzelnen oder von der Nation geschehen, trägt den Keim ihrer Vergeltung in sich.
Wie oft bin ich grad dieser Gerechtigkeit begegnet, den ganz natürlich und doch so erstaunlich entwickelten Folgen einer That, die von Menschen nicht beachtet oder längst vergessen worden war und deren Urheber noch in fernen Zeiten oder in fernen Ländern ganz plötzlich von Dem getroffen wurde, von dem der Psalmist singt: »Wo soll ich hingehen vor Deinem Geiste, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesichte? Führe ich gen Himmel, siehe, so bist Du da; bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist Du auch da; nähme ich die Flügel der Morgenröte und flöge ans fernste Meer, so würde doch Deine Hand daselbst mich führen und Deine Rechte mich halten!«
Längst vor den im Kiang-lu erzählten Erlebnissen befand ich mich wieder einmal in der Heimat, und eine Rundreise führte mich an einen berühmten Centralpunkt des westfälischen Kohlen- und Eisenwerkbetriebes, wo ich einige Tage verweilte. Zur Abreise gerüstet, fuhr ich dann in einer Droschke nach dem Bahnhofe, welcher eine ziemliche Strecke von der Stadt entfernt war. Eben als ich ausstieg, verließ ein Zug den Perron, und als ich die Expeditionshalle betrat, wurde einer der Billetschalter geschlossen.
»Zug nach Düsseldorf?« fragte ich den Portier.
»Ist soeben abgefahren.«
»Ah! Wann geht der nächste?«
»Sehr spät. In drei Stunden fünfzig Minuten.«
»Also vier Uhr fünfzig. Bewahren Sie bis dahin meinen Koffer auf.«
Ich begab mich nach dem Wartezimmer, unentschlossen, ob ich nach der Stadt zurückkehren oder die Zeit bis zur Abfahrt des betreffenden Zuges auf dem Bahnhofe verbringen solle. Kaum hatte ich Platz genommen, so trat der Portier ein, um mir die Marke zu übergeben.
»Soll ich vielleicht für ein Billet nach Düsseldorf sorgen, mein Herr?«
»Danke. Werde mich nicht wieder verspäten!«
Er ging. Im Salon befand sich außer mir nur eine Dame, welche so sehr in die Lektüre einer Zeitung vertieft war, daß sie meinen Eintritt gar nicht bemerkt zu haben schien. Nach einiger Zeit legte sie die Blätter fort und blickte nach der Uhr. Sie erhob sich wie erschrocken und bemerkte mich jetzt.
»Pardon, mein Herr! Ist es Ihnen vielleicht gegenwärtig, wann der Zug nach Düsseldorf abgelassen wird?«
»Vier Uhr fünfzig, Mademoiselle.«
»Quel horreur! Da habe ich mit dieser fesselnden Lektüre die Zeit versäumt! Was thun!«
Halb ratlos und halb forschend ließ sie ihr Auge über mich gleiten. Dann fragte sie:
»Kann man nicht eher fort? Vielleicht auf einem Umwege?«
»Das Bahnnetz ist hier so eng gelegt, daß Sie unter mehreren Umwegen die Wahl haben, doch erreichen Sie Düsseldorf auf einem solchen sicherlich nicht eher, als wenn Sie hier drei Stunden warten.«
»Fatal!«
»Allerdings, wie ich an mir selbst erfahre.«
»Wie so?«
»Ich habe ganz denselben Zug versäumt.«
Ein halbes Lächeln überflog ihr Gesicht.
»Ich kondoliere! Aber meinen Sie vielleicht, daß in der Gleichheit unsers Schicksales eine Beruhigung für mich liegen könne?«
»Vielleicht; doch kommt es hierbei auf den Charakter oder vielmehr auf die Beschaffenheit des Gemütes an. Gleichheit des Schicksals erzeugt Teilnahme, und Teilnahme mildert ja bekanntlich den Druck der Verhältnisse.«
»Ah, Sie wollen zu erkennen geben, daß Sie Teilnahme für mich empfinden?«
»Dieses Gefühl zu hegen, ist sicherlich jedermann erlaubt, dasselbe aber durch Worte auszudrücken, kann unter Umständen kühn genannt werden.«
»Wissen Sie, daß wir Damen die Kühnheit lieben und uns von derselben imponieren lassen?«
»Grad so, wie wir die Schönheit bewundern und uns gern unter ihre Herrschaft begeben.«
»Wirklich? Dann mögen Sie mich für schön und ich will Sie für kühn halten, damit wir uns durch gegenseitige Bewunderung die Zeit bis zum Abgange des Zuges zu verkürzen vermögen!«
»Angenommen. Hier meine Karte!«
»Danke! Und hier die meinige!«
Wir verbeugten uns gegenseitig, und ich schob ihr einen Sessel in meine Nähe. Sie nahm Platz.
»Adele Treskow, Sängerin, Berlin« stand in feinen Zügen auf ihrer Karte, und allerdings nur eine ›Künstlerin‹ konnte sich in so selbständiger, beinahe emanzipierter Weise einem fremden, ihr vollständig unbekannten Herrn beigesellen. Ich brauchte sie nicht für schön zu ›halten‹, sondern sie war wirklich eine Schönheit und zwar eine jener selbstbewußten, scheinbar natürlich und doch mit feiner Berechnung sich gebenden Schönheiten, wie sie von der Bühne gebildet und entwickelt werden. Der Name Treskow war mir sehr wohl bekannt; er wurde von einem altadeligen Geschlechte getragen. Sollte sie vielleicht diesem letzteren entstammen und unter dem Drucke der Verhältnisse oder aus innerem Triebe zur Bühne gegangen sein? Nur fiel mir dabei der leise, polnische Accent auf, mit welchem sie sprach.
Unsere nun beginnende Unterhaltung war eine sehr animierte und ließ mir die Sängerin als eine höchst interessante Persönlichkeit erscheinen. Bald voll tiefen, warmen Gefühles, bald naiv kokett, bald voll liebenswürdigen Humors, dann gleich ein wenig sentimental, duldete sie während des Gespräches nicht die kleinste Pause, und ich beobachtete an ihr eine wahrhafte Virtuosität in jenem innigen, gemütvollen und eigentümlich verständnisreichen Augenaufschlage, welcher, selbst wo nichts vorhanden ist, einen Schatz echter, reiner Weiblichkeit, ein tiefes Wissen und die Fähigkeit der Anschmiegung, der Accommodation, erraten läßt und wohl manchen ernsten Mann bethört und ihm bittere Täuschung bereitet hat.
»Auch Sie sind musikalisch, wie ich höre?« fragte sie mich, als unsere Unterhaltung auf diesen Gegenstand gekommen war.
»Nur so viel, als man für das Haus braucht.«
»Spielen Sie Piano?«
»Auch ein wenig. C-dur, G-dur, F-dur. Viele Kreuze und B's liebe ich nicht.«
Sie nickte lachend.
»Das kennt man! Soll ich Ihnen beweisen, daß Sie ebenso gut Cis wie C oder Ges wie G und Fis wie F spielen?«
»Wie wollen Sie diesen Beweis führen?«
»Durch einen Vorschlag, den ich Ihnen mache.«
»Dann bitte!«
»Wir haben noch volle zwei Stunden Zeit?«
»Allerdings.«
»Sie geben zu, daß es hier auf dem Bahnhofe höchst langweilig ist. Ich besuchte gestern abend das Café N. und bemerkte in einem der hinteren Zimmer dort ein prachtvolles Instrument. Wollen wir zur Stadt gehen und ein wenig musizieren? Oder werden Sie mir Ihren Arm versagen?«
Ich acceptierte natürlich diesen Vorschlag, der mir einen Kunstgenuß versprach, und verließ mit ihr den Bahnhof. Wenige Minuten später saßen wir in dem betreffenden Zimmer des Kaffeehauses und lösten einander am Piano ab. Ich gestehe gern, daß sie sich mir überlegen zeigte; doch schien es mir, als gehöre sie zu jenen Pianistinnen, welche nur einige eingeübte Stücke ausgezeichnet vorzutragen wissen und dann auch gleich am Ende ihrer Fertigkeiten stehen.