Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I – 1956 bis 1968 – »Das Fieberthermometer des deutschen Volkes«
»Der kleine Schmächtige mit dem Löwenherzen« oder Wie aus Heini Kamke Sammy ...
II – 1968 bis 1976 – Ein demokratisches Kabarett
Auf dem Satire-Feld – Über Dieter Hildebrandt
»Diese Demokratie muss in die Werft« Gespräch mit Dieter Hildebrandt
»Niemand kann sich entziehen« Rainer Basedow über den »FC Schmiere«
III – 1976 bis 1984 – Wir sind wieder da
Kein Unbekannter – Über Klaus Peter Schreiner
»Ich dachte immer, hinter mir steht der Sammy und sagt: ›Jetzt hör auf!‹« ...
IV – 1984 bis 1996 – Das kommt nie wieder
V – 1996 bis 2006 – Verlängert
Danksagung
Bibliographie
Verzeichnis der Lach- und Schieß-Programme
Register
Copyright
In eigener Sache
Liebe Leserinnen und Leser, zuallererst möchten wir uns verständlicherweise für Ihr Interesse an diesem Buch bedanken. Wir, das heißt – die gesamte »Lach- und Schießgesellschaft« und ihre Mitarbeiter, sind froh, Ihnen aus einem Sammelsurium an Erinnerungen und Texten der vergangenen fünf Jahrzehnte die eindringlichsten Geschichten präsentieren zu können. Matthias Kuhn, erfahrener Münchner Journalist und Kabarettkenner, hat sich freundlicherweise dazu bereit erklärt, die subjektive Essenz aus 50 Betriebsjahren herauszufiltern und für Sie aufzubereiten. Herausgekommen ist dabei auch eine spannende Rückschau auf die Geschichte unserer Bundesrepublik. Und das nicht zuletzt, weil viele Augenzeugen und ehemalige »Lach-und Schieß«-Ensemblemitglieder uneingeschränkt bereit waren, für Herrn Kuhn ihre Anekdotenkisten zu öffnen.
Dass wir selbst so viele Geschichten noch kennen, verdanken wir vor allem Heini Kamke alias Sammy Drechsel und Gerti Schmid. In der Wohnung von Heini Kamke im ersten Stock in der Haimhauserstraße über dem »Lach- und Schieß-Theater« wurden über viele Jahre sämtliche Utensilien und Beweisstücke aus dem Umfeld der »Lach- und Schießgesellschaft« gesammelt und zusammengetragen. Aufbewahrt und behütet wurde die Sammlung seit jeher von Gerti Schmid, die seit 1976 für die »Lach- und Schieß« ihr Herzblut gibt und den Laden auch in schwierigen Zeiten zusammenhält.
Das Theater selbst wurde im Rahmen der Umstrukturierung 2001 komplett saniert, und die Bühnensituation hat sich verändert: Die berühmten kuscheligen Nischen, in denen man an ausverkauften Abenden gerne bis zu neun Personen zusammengeführt hat, wurden luftiger gestaltet. Die charmante Teeküche von Maria de Sena musste zwar der neuen Bühnenlösung weichen, was aber dazu geführt hat, dass sich die gesamte gastronomische Betriebsstruktur veränderte. Wir installierten eine richtige Küche mit Dunstabzugshaube, und Gastrochef Günter Schöne führt seither erfolgreich die kulinarische Stimmgabel im Laden. Maria konnte ja zum Glück gleich um die Ecke ihren eigenen kleinen Laden eröffnen, der natürlich regelmäßig von uns frequentiert wird.
Übrigens: Viele Fotos und Hintergründe zu unserer altehrwürdigen, betriebseigenen Fußballmannschaft, dem »FC Schmiere«, wurden uns von Helmut Müller zur Verfügung gestellt. Wunderbar, wie der Mann wacker für den Fortbestand dieses Ausnahmeclubs kämpft.
Wir möchten es hier nicht versäumen, unsere Leserschaft darauf hinzuweisen, dass auch dem Buch Die Zeit spielt mit von Klaus Peter Schreiner aus dem Jahr 1976 bereits einige der Hintergründe zu diesem Haus aufs Unterhaltsamste zu entnehmen sind. Nur sind inzwischen weitere 30 Jahre vergangen. 30 Jahre, die man nicht einfach so unter den Tisch fallen lassen kann. Zählt Klaus Peter Schreiner, wenn auch sehr ironisch, in seinem Buch noch die Gründe fürs Aufhören mit der Ensemblearbeit im Kabarett auf, so scheint uns an dieser Stelle vor allem eine Auflistung der Gründe fürs Weitermachen aus dem Blickwinkel einer anderen Generation angebracht.
Wir finden nämlich überhaupt nicht, dass das Kabarett tot ist und dass sich die Verhältnisse in unserem Land in den letzten 50 Jahren so radikal gebessert haben, als dass die »Zehnte Muse« überflüssig geworden ist. Unseren Autoren fällt noch viel ein, und im derzeitigen Ensemble hat noch keiner einen Richtstrauß auf seinem Luxusbungalow. Zudem zeichnet sich derzeit in der Regierungsarbeit eine politische Richtung ab, die wir so zu keiner Zeit unterstützt haben, weshalb uns die Kritik daran überhaupt nicht schwer fällt.
Kürzlich wurden die Mieten unseres Hauses in der Haimhauserstraße nach einem Eigentümerwechsel erhöht, und das Heini-Kamke-Archiv musste umziehen. Viele vergessene Dinge und alte Bühnenkostüme kamen dabei ans Licht und wurden begutachtet. Die Sammlung bewohnt nun ein weitaus größeres Souterrain in der Haimhauserstraße, etwas näher an der Münchener Freiheit. Räumlichkeiten, die einst für eine Fleischerei als Aufbewahrungsort und Kühlzelle dienten. Für uns beinhaltet diese neue Örtlichkeit zusätzlich eine Programmatik: Hin zur Freiheit, weiter schlachten, frisch bleiben und mehr Stauraum für eine hoffentlich noch lange Zukunft mit zahlreichen Ereignissen in und rund um unser kleines Theater in Schwabing. Und für viele neue Texte seines noch jungen Ensembles.
Nun aber Vorhang auf für unsere Revue: »Verlängert – 50 Jahre Lach- und Schießgesellschaft«. Viel Vergnügen dabei wünscht Ihnen
Ihr Till Hofmann
Vorwort
Nur die Kleinkunst, hat Hanns Dieter Hüsch einmal gesagt, könne jedem einzelnen Zuschauer das Gefühl vermitteln, dem Vortragenden quasi auf dem Schoß zu sitzen. Es gibt wohl kaum eine Bühne, vor der sich dieses Gefühl besser herstellen lässt als die der »Münchner Lach- und Schießgesellschaft«. Rund 130 Leute passen in den Laden, wie die Kabarettinstitution flapsig wie ehrfürchtig vom treuen Publikum genannt wird, danach bescheidet Gerti Schmid Anrufern freundlich am Telefon: »Ausverkauft.« Und es ist schon lang nicht mehr alleine das Hausensemble, das sich zwischen den Tourneeterminen Abend für Abend auf dem Brettl an der Schwabinger Haimhauser-/Ecke Ursulastraße die Ehre gibt. Und es gibt sie immer noch, die hochverehrten Gäste, die sich nach der Hälfte des Programms in der Pause bei der Bedienung erkundigen: »Und wann kommt Herr Hildebrandt?« Schon seit Anfang der siebziger Jahre ist der Laden auch Gastspielbühne, treten hier Kabarettisten, mittlerweile auch Comedians, mit ihren Soloprogrammen auf, ist die Bühne zum Sprungbrett geworden für Newcomer vieler Couleur.
Am 12. Dezember 1956 fand hier die Premiere des Programms »Denn sie müssen nicht, was sie tun« statt, mit Ursula Herking, Hans Jürgen Diedrich, Klaus Havenstein und Dieter Hildebrandt auf der Bühne. Seither ist nicht nur viel Wasser die Isar runtergeflossen, es scheint, als habe die »Lach- und Schieß« nichts von ihrem Glanz für den Nachwuchs, von ihrem guten Namen in ganz Deutschland verloren. Ob in der Lüneburger Heide oder im Markgräfler Land – der Laden ist vielen, nicht bloß Kabarettanhängern, noch immer ein Begriff. 50 Jahre sind ins Land gegangen, Themen wie Wiederbewaffnung, Notstandsgesetze, Studentenunruhen, Ölkrise, Kanzlerstürze, Öko- und Friedensbewegung, Fall der Mauer haben die Akteure auf und hinter der Bühne beschäftigt, und es gibt sie noch immer, die Enklave für Freigeister und Gipfelstürmer, für Zauderer und Weltverbesserer, für Überzeugungstäter und Karrierebewusste, für die Alt- und Neulinken und die dazwischen. Auch die inzwischen zweite Geschäftsführung nach Sammy Drechsel sowie die Akteure sind, was den Laden betrifft, unverbesserlich: Dem Zeitgeist haben sie etwas entgegen- und an ihm etwas auszusetzen.
Anno 2006, längst haben Schlagworte und Beunruhigungen wie Globalisierung oder Internationaler Terrorismus die spießigen Sechziger, die angestrengten Siebziger, die spaßigen Achtziger und die faden Neunziger in eine »Watteausche Idylle« (Wolf Biermann) verwandelt, was haben uns die vier vom Ensemble, die Solisten und Duos und Kapellen, da noch zu sagen, uns, den immer von neuem Nachgeborenen? Anno 2006 haben Computer und Karriereplanung längst schon die Grundschulklassenzimmer erreicht, und Satire ist via Television oder Äther kaum noch ohne Werbeunterbrechung oder länger als ein Jinglehäppchen zu haben, warum lässt man’s da nicht bleiben mit dem guten alten Ensemblekabarett und setzt auf leicht verkäuflichen Konsumgenuss, der ja schon längst und zu Recht keine Sünde mehr ist? Anno 2006 junges Publikum für Politik zu interessieren, neues Publikum für den Laden zu begeistern, ist kein leichtes Spiel, warum nicht dem Zuschauer alleine das geben, was er offensichtlich verlangt: gute Unterhaltung? Vielleicht, weil diese Fragen so ähnlich oder ganz anders schon seit 50 Jahren mehr, weniger oder sehr erfolgreich gestellt werden? Das Aus, der Neubeginn, der Erfolg, die Niederlage, Zwist und Zusammenhalt, Wirkung und Verpuffen haben die Geschicke der »Münchner Lach- und Schießgesellschaft« seit Anbeginn begleitet.
Was immer der Grund ist für das Phänomen »Lach- und Schieß«, sie ist es wert, sich anno 2006 frisch und frei mit ihr und ihren Protagonisten, mit ihren Beständigkeiten und Hervorbringungen, ihren Fahrten auf prächtigen Boulevards und in Sackgassen zu beschäftigen; viele Personen vor unseren geistigen Augen paradieren zu lassen, sich an manchen guten Menschen genauer zu erinnern und am Beispiel dieses Kleinkunstbetriebs ein Gefühl zu entwickeln für jene Zeitläufte im Land, die uns doch in den vergangenen Jahren gehörig durcheinander gerieten. An den Denkmälern darf gerüttelt werden, sie sind noch höchst lebendig, und aufgeschrieben wird eine Geschichte, die mit ihrem letzten Satz nicht endet. Einige Wegbegleiter kommen selbst zu Wort, andere werden geehrt, viele Schnappschüsse und Langzeiteinstellungen gibt es zu bestaunen, und prominente Zeitgenossen geben natürlich auch noch ihren Senf zum runden Ganzen. Am Schluss heißt es: »Eine Erfolgsgeschichte, trotzdem.« Und wie es zu ihr kam, das sollte gerade die jüngsten Fans eines Genres interessieren, in dem gutmütige niederrheinische Vortragsreisende ihr Publikum noch auf den Schoß nahmen.
I – 1956 bis 1968
»Das Fieberthermometer des deutschen Volkes«
»Ursula Herking, Claus Havenstein, Dieter Hildebrand und Samy Drexl wollen Ende November oder Anfang Dezember im Schwabinger ›Stachelschwein‹, das bisher die ›Namenlosen‹ beherbergte, ein neues Kabarett eröffnen. Einen Namen hat das Ensemble bisher noch nicht; das erste Programm heißt: ›Denn sie müssen nicht, was sie tun‹. Außer den Genannten wirkt noch Hans Jürgen Diedrich mit, der früher bei den ›Amnestierten‹ war.« – Bei der Münchner Abendzeitung wird man in Zukunft noch Zeit genug finden, sich an die korrekte Schreibweise der Kabarettistennamen zu gewöhnen; und der Name, den sich die Gruppe schließlich gibt, wird in Anzeigen dortselbst auch einigen bezahlten Platz benötigen, was Sammy Drechsel fast noch davon abgehalten hätte, dem gemeinschaftlich für gut befundenen »Münchner Lach- und Schießgesellschaft« zuzustimmen. Am 12. Dezember 1956 ist es dann so weit: Ursula Herking, Dieter Hildebrandt, Hans Jürgen Diedrich und Klaus Havenstein feiern unter der Regie Sammy Drechsels und am Klavier begleitet von »Stachelschwein«-Inhaber Fred Kassen an der Ecke Haimhauser-/Ursulastraße Premiere mit ihrem ersten Programm »Denn sie müssen nicht, was sie tun«.
»Hildebrandt/ Havenstein/ Diedrich:Es ist zum Schießen, zum Schießen, zum Schießen. Es ist zum Schießen alles angerichtet, aufgestellt, geprüft, gedichtet.
Es ist zum Lachen, zum Lachen, zum Lachen. Es ist zum Lachen alles ausgerichtet, umgestellt, zensiert, gesichtet.
Hiermit eröffnen wir hiermit eröffnen wir
Havenstein: Darf ich vielleicht einen Vorschlag machen? Wenn wir schon dem Publikum eine Eröffnung machen müssen, wie wär’s dann mit der spanischen Eröffnung? … Bauern vorziehen, und die Dame frei machen.
Alle: Hiermit eröffnen wir hiermit eröffnen wir
Herking: Stop mal. Wir haben hier ja gar nichts zu eröffnen. Die Eröffnung macht doch der Stationssprecher.
Sprecher: In unserer heutigen Sendung ›Gäste im Kabarett‹ besucht uns die ›Münchner Lach- und Schieß-Gesellschaft‹ mit ihrem ersten Kabarett-Programm ›Denn sie müssen nicht, was sie tun!‹< Sie hören Ursula Herking, Klaus Havenstein, Dieter Hildebrandt und Hans-Jürgen Diedrich und Fred Kassen am Flügel.
Alle: Und unser Haus liegt an der Münchner Freiheit
Herking: Wir können doch hier keine Reklame für unser Unternehmen machen. Vielleicht singt ihr noch die Telefonnummer.
Havenstein: Nicht doch. Das ist doch symbolisch gemeint.
Alle: Und unser Haus liegt an der Münchner Freiheit, doch bis zur
Freiheit ist es noch sehr weit und tun wir auch, was wir nicht lassen können und müssen wir nicht, was wir tun, den einen Glauben müssen
Sie uns gönnen, dass wir es wissen, was wir tun!«
»Unser Haus liegt an der Münchner Freiheit, doch bis zur Freiheit ist es noch sehr weit« – hier ist das Credo der Lach- und Schießer, wie sich die von Sammy Drechsel ins Leben gestoßene Truppe selbst gerne nennt, schon vorgezeichnet. Kabarett als Auftrag, kritisch die noch junge Demokratie zu begleiten, Widersprüche aufzudecken, alte Zöpfe abzuschneiden, zu makeln, mäkeln, unbequem zu sein, wo man’s sich doch grad so behaglich einrichtet im Wiederaufbauwirtschaftswunderboom der mittleren fünfziger Jahre.
Kabarett, das war und ist kritische Unterhaltung. Unterhaltung, die zum Mitdenken auffordert und in der Folge vielleicht sogar dazu verführt, sich einem aus »Wir müssen es ja besser wissen, schließlich sind wir die Intelligenz des Landes« gespeisten Wir-Gefühl hinzugeben, das Lehrer, Bibliothekare, Schauspieler, Schriftsteller, Dozenten, Fußballstars, Industrielle, Geschäftsbesitzer wie Stadträte eint. Ein Vorwurf, der politisches Kabarett bis in die Gegenwart ereilt: Eigentlich bestätigen die »da oben« nur denen »da unten« die vorgefasste Meinung, sprachlich geschliffen und pointiert, zum Beklatschen und mit nach Hause Tragen. Doch etwas muss diese bunt zusammengewürfelte Kabarettriege aus Schauspielern, einem Journalisten und einem Studenten mit abgebrochenem Studium, allesamt nicht aus dem Münchner Raum, anders gemacht haben, wurden doch ihre Einwürfe zur Lage der Nation bald schon vor den Fernsehschirmen diskutiert und hinterließen einige Nummern ihre Spuren gar in Bundestagsdebatten und Untersuchungsausschüssen. Sammy Drechsel wusste um die Kontaktpflege mit der politischen Prominenz über persönliche Eitelkeiten hinaus, und wenn in späteren Jahren die Regierung eine sozialliberale sein wird, gibt es auch keinen Bundeskanzler mehr, der sich nicht gern mit der beliebtesten bundesdeutschen Kabarettgruppe fotografieren lässt, oder so manchen Minister, auf den die Fernsehkamera im rechten Augenblick gerichtet wird, um sein Lachen und den vergnügten Blick zur Gattin über einen gelungenen, auf Bonn zielenden Seitenhieb fürs Wahlvolk vor den Fernsehschirmen einzufangen.
1956 geht aus dem Studentenkabarett »Die Namenlosen« die »Münchner Lach-und Schießgesellschaft« hervor, die damals im »Stachelschwein« genannten Lokal in München-Schwabing ihre ersten erfolgreichen Gehversuche unternimmt. In einem südlichen Vorort Münchens, in Pullach, beginnt im selben Jahr der Bundesnachrichtendienst mit seiner Arbeit. Im Januar rücken die ersten Freiwilligen der Bundeswehr ein, und im Juli wird die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht vom Bundestag beschlossen. Der Wirtschaftsboom macht den Zuzug der ersten (italienischen) Gastarbeiter erforderlich, und die Kommunistische Partei Deutschlands wird vom Bundesverfassungsgericht endgültig verboten. Giganten mit dem kurz zuvor gestorbenen US-amerikanischen Jugendidol James Dean an der Seite von Rock Hudson und Elizabeth Taylor kommt in die Kinos, und der Rock’n’Roll hält neben der bundesdeutschen Schmuseausgabe eines Peter Kraus mit Bill Haley und seinen Comets und deren Hit »Rock Around The Clock« auch eine internationale und manchem authentischer erscheinende bereit. 1956 wird der amtierende Kanzler der Bundesrepublik (sic!) 80 Jahre alt, und die Tagesschau, bis heute Flaggschiff aller Nachrichtensendungen im deutschen Fernsehen, geht jetzt werktags nach einigen vom Nordwestdeutschen Rundfunk ausgestrahlten Probeläufen mit einer männlichen Sprecherriege um 20.00 Uhr auf Sendung.
In Ungarn schlagen sowjetische Panzer einen Volksaufstand blutig nieder, nachdem sich die Menschen dort in Folge der vom in Moskau amtierenden Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow ausgesprochenen Verurteilung des Stalin-Regimes eine Liberalisierung ihrer Lebensverhältnisse erhofft hatten. In Deutschland nimmt man regen Anteil am Schicksal der Menschen dort, auch wenn natürlich im »Laden«, wie die »Lach- und Schießgesellschaft« von ihren Mitgliedern liebevoll bezeichnet wird, die Lasten der eigenen Vergangenheit nach wie vor die größere Rolle spielen. So auch in Dieter Hildebrandts erstem Solo, in »Zollologie«, dem gar nicht so sehr aus der Luft gegriffenen x-beliebigen Arbeitstag eines deutschen Zöllners und seines Assistenten an der deutsch-österreichischen Grenze:
»Haben Sie was zu verzollen? Fahren Sie bloß schnell weiter, ich bin Grenzer und kein Filzer! Komisch, dass die Leute immer so merkwürdig sind, wenn sie an die Grenze kommen. Wie Schüler, die die Hausaufgaben nicht gemacht haben. Und immer machen se die falschen Gesichter! Wenn sie was zu verzollen haben, gucken sie aus ihren Autos so harmlos raus, dass ich sofort feststelle: Aha. Sechs italienische Pullover übereinander … Heee Kinder! Das ist keine Turnstange, das ist hier ein Schlagbaum. Habt Respekt vor dem Äußersten, was unser Land besitzt, vor der Grenze!« Der Assessor »meint, ein Schlagbaum wäre der Punkt, von wo aus losgeschlagen wird, wenn es siegreich ins Feindesland ginge. Er kann nichts dafür, er ist beim Geschichtsunterricht bloß bis Sedan gekommen, dann kam ihm das Abitur dazwischen. Ich habe gesagt, Schlagbaum ist der Punkt, wo mit einem Schlag die Vernunft im Eimer ist. (…) Seitdem leidet unser Dienstverhältnis unter Kontaktarmut. Kontaktarmut ist, wenn man einen zum Kotzen findet. (…) Ich bin zwar sein Chef, aber man muss heute nach oben und nach unten buckeln. Gar nicht so einfach. Da muss man sich dauernd drehen und wenden. Ich bin ein Beamter am Grill. Ja, mein Assessor ist nämlich karriereträchtig. Und er wird auch bald niederkommen … in Bonn. (…) Zoll muss ja sein. Das schon! Stellen Sie sich mal vor, wo der deutsche Bauer wäre ohne Einfuhrzoll!! Der wäre … auf dem Feld. Wie früher. Heute? Heute ist er auf der Bank. (…) Haben Sie was zu verzollen? Hören Sie mal, Sie können doch nicht ohne Pass hier durch! (…) Ein tragischer Fall, der Mann. Er leidet so sehr unter seiner unbewältigten Vergangenheit. 1937 hat er eine Annonce aufgegeben: ›Tannenbergkämpfer mit Siedlungsabsicht wünscht männliche Nachkommenschaft mit gesundem, altarisch anspruchslosem, auch für grobe Arbeit geeignetem Weibe – mit breiten Absätzen, ohne Ohrringe.‹ – Die Frau hat er heute noch! Und jetzt will er dauernd über die Grenze. (…) Na, und seit sie in Bayern eine Zensur von Bildungsgütern planen, werden hier Sachen geschmuggelt! Filme werden gleich hier auf künstlerische Verdachtsmomente untersucht. Da kommt immer ein Ordinar vom Ordinariat, der schneidet sich aus ausländischen Filmen raus, was er braucht, übergroße Busen werden sofort von den hiesigen Dorfjungfern synchronisiert, und Klassiker werden seitenweise überklebt. Einen italienischen Film haben wir mal so gekürzt, dass er nur noch im Fernsehen als Werbe-Spot laufen konnte. (…) Gehen Sie weg vom Schlagbaum … mit ihrem Hund. An dieser Grenze lüftet man den Hut und nichts anderes. Aber Instinkt hat das Vieh. Der Assessor hat ja einen Riesenrespekt vor der Grenze! Er meint, es wäre ›traditionsgetränkter Boden‹. Ich halte das hier mehr für ein Sumpfloch. Und dann im Sommer die Schnaken! Wie die Touristen. Der Assessor lässt sich lieber stechen, als nach einer traditionsgetränkten Bremse zu schlagen. Er sagte, Deutschland ist der Nabel der Welt. Ich meinte, der Fall liegt tiefer.«
Ein Foto mit Symbolkraft: Das Stammensemble – v.o.: Klaus Havenstein, Ursula Herking, Dieter Hildebrandt und Hans Jürgen Diedrich – mit Sammy Drechsel (li.) und Fred Kassen auf der Leiter zum Erfolg.
»Er sieht aus wie die Karikatur eines intellektuellen Studenten. Er vermittelt den Eindruck übergroßer Schüchternheit. Beides ist ein Trick. Wenn er die dickgeschliffene Brille abnimmt, sieht er aus wie ein lustiger Spitzbube, und seine Schüchternheit ist schiere Träumerei.« Das hatte die Schauspielerin Ursula Herking ihrem Kollegen Dieter Hildebrandt ins Stammbuch, sprich ins erste Programmheft der »Münchner Lach- und Schießgesellschaft«, geschrieben. Aber wer waren die anderen? Was hatte es zum Beispiel mit diesem Sportreporter aus Berlin auf sich, der in München sein Glück suchte in einem Theater, einem Gastraum, nicht allzu groß, bestehend in erster Linie mal aus Bestuhlung an Tischchen vor einer handtuchgroßen Bühne, exakter wäre: Podium? Wer war dieser Klaus Havenstein, dem laut Dieter Hildebrandt keiner bös sein konnte und dessen Familienunterhaltungssendung namens Sport, Spiel, Spannung eine ganze Generation Buben und Mädchen früh schon ans Fernsehen band? Wer der Kabarettist und Texter Hans Jürgen »Dietsch« Diedrich, den Sammy Drechsel in Paris am Telefon erwischte und nicht lang überreden musste, nach München zu kommen, um das Nomadenleben für eine Weile an den Nagel zu hängen? Ursula Herking, seinerzeit ein Publikumsmagnet, die dem Kabarett eigentlich schon abgeschworen hatte? Dieser Dieter Hildebrandt, der gemeinsam mit Klaus Peter Schreiner bereits bei den »Namenlosen« agierte, und den erst mal die schiere (Geld-)Not erneut an die Seite von Sammy trieb? Klaus Peter Schreiner sollte erst fürs nächste Programm wieder textaktiv werden und ein paar Jahre später dem Laden exklusiv als Hausautor zur Verfügung stehen; aber was wurde aus dem Mann am Klavier, dem »Stachelschwein«-Hausherrn Fred Kassen, den heute niemand mehr erinnert, weil er schon 1958 seinen Laden an Sammy Drechsel verscherbelte, sein Glück in Köln mit dem neu zu eröffnenden »Senftöpfchen« erfolgreich suchte und damit einen Laden erst zum Laden machte? Ein Künstler mit Namen Walter Kabel folgte ihm als Pianist und Komponist und blieb der »Lach- und Schießgesellschaft« bis in die achtziger Jahre treu ergeben.
Wie fanden diese vier plus Impresario, musikalischem Leiter und Textlieferant zueinander, die in den kommenden Jahrzehnten Kabarett- und Fernsehgeschichte schrieben und die selbst von hochgelobten Folge-Ensembles nach einer Kunstpause in den frühen Siebzigern nicht mehr vom Erinnerungsthron gestoßen werden konnten? Die zuerst zu einer Münchner Instanz und schließlich einer bundesdeutschen Institution wurden.
»Erstes Programm erster Tag ausverkauft, zweiter Tag ausverkauft, dritter Tag – siehe erster Tag und so weiter und so fort. Das ›Stachelschwein‹ scheint mit seinem neuen Programm unter einem sehr glücklichen Stern zu stehen. ›Denn sie müssen nicht, was sie tun‹, heißt das Programm, und das ist so ziemlich das Einzige, was daran falsch ist, denn sie müssen tun, was sie tun, und weil sie es so gut tun, drum könnte man sich vorstellen, dass dieses neue Ensemble (…) eine lange Lebensdauer haben wird.« Schreibt das 8-Uhr-Blatt nach geglückter Premiere in der staaden Zeit des ausgehenden Jahres 1956. Und die Abendzeitung aus München wartete auf mit Klassifizierungen wie »Urviechs-Komödiantik« (Klaus Havenstein), »intellekt-gebeugt« (Dieter Hildebrandt), »Millimeterarbeit aus Charme, Witz, Verstand und Herz« (Ursula Herking), »umwerfend« (Hans J. Diedrich): »Der erste Schuss, den die neue Jux- und Schützengilde gestern im altvertrauten ›Stachelschwein‹ in Schwabing abfeuerte, dauerte lange, fast so lange wie Kortners ›Faust‹, also bis nach Mitternacht. Teiltreffer wurden fast mit jeder Pointe erzielt, und welcher Satz war keine Pointe, wenn die Autoren Hans J. Diedrich, Oliver Hassencamp und Horst Huckauf hießen. Im Publikum war vieles versammelt, was dem deutschen Film teuer und den Leuten gut ist.« Die Süddeutsche Zeitung schließlich schrieb zwei Tage nach der Premiere von »Denn sie müssen nicht, was sie tun«: »Der böse Geist der Zwietracht hat das einst so hoffnungsvolle Brettlkollektiv der ›Namenlosen‹ auseinander gebracht. Im Stachelschwein empfangen uns als Hinterbliebene der bestbegabte Dieter Hildebrandt, der quirlige Sammy Drechsel mit seinen Regie-Ambitionen und natürlich Fred Kassen als musikalischer und gastronomischer Patron. Neue Kumpanei hat sich hinzugesellt, um unter einem frischen Firmenwappen das Vakuum zu füllen. So gründete sich die so genannte Münchner Lach- und Schießgesellschaft m.b.H.«
Das Ensemble mit Fred Kassen am Klavier und Heinz Briola am Bass im 2. Programm »Bette sich wer kann« (1957).
Die atomare Bewaffnung der Bundeswehr beschäftigt Politiker wie Bevölkerung gleichermaßen und führt zu heftigen Diskussionen im Bundestag. Das Saarland zählt nach einem Volksentscheid seit 1957 wieder zu Deutschland. Im selben Jahr werden in Rom die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der Europäischen Union, unterzeichnet. Doktor Schiwago von Boris Pasternak erscheint, und Harry Belafonte und die Geschwister Fahrnberger stürmen die Hitparaden mit »Banana Boat Song« und »Es läuten die Glocken am Königssee« – beim ersten Lied besteht zumindest noch eine Chance, es auf einem Oldie-Sampler oder einer Secondhand-LP wieder zu finden. Alec Guinness brilliert in dem Antikriegsepos Die Brücke am Kwai.
Und im Laden »bettet sich wer kann«. Am 25. April hat das zweite Programm der »Münchner Lach- und Schießgesellschaft« Premiere, und weil man erst im kommenden Jahr beschließt, eine bis heute nicht mehr wegzudenkende Tradition zu begründen, die da bedeutet, Jahr für Jahr im Herbst mit dem aktuellen Programm auf eine ausgedehnte Tournee durch den deutschsprachigen Raum zu gehen, erblickt noch im selben Jahr ein weiteres Programm das Licht des Podiums an der Haimhauserstraße: »Im gleichen Schrott und Trott«, gleichzeitig das letzte, für das man noch sein Zugpferd in München-Schwabing halten kann; Ursula Herking scheidet nach ihrem Tourneegastspiel in diesem Programm 1958 aus dem Ensemble aus. Sie wird ersetzt von der zweiten Grande Dame der »Lach- und Schieß«, Ursula Noack, die im selben Jahr erstmals und einmalig in Abwesenheit der Stars im Stammhaus in einem zweiten Ensemble die Stellung halten musste. Sammy Drechsel und seine Truppe hatten nicht nur entschieden, sich erstmals auf das Abenteuer Tournee einzulassen – die dann prompt zum Flopp wurde -, sondern gleichzeitig beschlossen, dass es ökonomisch nicht zu vertreten sei, das eigene Theater verwaist zu lassen.
Anders, als es noch der wohlmeinende Reporter vom 8-Uhr-Blatt nach der Premiere von »Denn sie müssen nicht, was sie tun« geschrieben hatte, lief es im Laden, was die Zuschauer betraf, gar nicht so rosig. Erst das dritte Programm, »Im gleichen Schrott und Trott«, bedeutete nämlich auch beim zahlenden Publikum und nicht nur bei den Kritikern einen endgültigen Durchbruch. Mit der Tournee-Entscheidung indes drohte ganz anderes Ungemach, was zur ersten einschneidenden Weichenstellung in der Geschichte der »Lach- und Schießgesellschaft« führte, wie Klaus Peter Schreiner in seinem Buch Die Zeit spielt mit zu berichten weiß. Hans Jürgen Diedrich erreichte der Anruf seiner Kollegin Ursula Noack frühmorgens in Münster:
»›Hallo Dietsch, hier ist Ulla.‹ ›Welche?‹ ›Noack.‹ (…) ›Ja sag mal – was willst du denn zu nachtschlafender Zeit von einem ehrsamen Langschläfer?‹ ›Pass auf, Dietsch, es ist wichtig, Fred (Kassen) scheint da irgendeine faule Sache vorzuhaben. (…) Der spielt sich hier auf wie der Kaiser von China, spricht von seinem Ensemble, spuckt große Töne und tut, als gäb’s euch und Sammy überhaupt nicht mehr.‹ ›Na dann lass ihn doch, lass ihm die Freude, solange wir nicht da sind.‹ (…) Was er dann durchs Telefon erfuhr und den anderen sofort berichtete, war allerdings etwas anderes! ›Eine kleine Machtmusik‹ mit dem Überbrückungs-Ensemble (im Laden) lief weiterhin phantastisch, und das gab Fred zu denken. Da hatte alle Welt, er eingeschlossen, bisher geglaubt, der Erfolg der Lach- und Schießgesellschaft liege allein an Sämmy und seinen Akteuren. Jetzt aber sah er ganz klar das Gegenteil bewiesen! Da standen völlig andere Leute auf der Bühne, der Sämmy hatte nicht Regie geführt, und es lief trotzdem! Lief sogar besser als zuvor! Also war es doch gar nicht nötig, sich die ständigen Querschießereien von diesen bornierten ›Stars‹ bieten zu lassen (…), der Sämmy würde einem nicht dauernd in alles reinquatschen, man wäre, mit einem Wort, sein eigener Herr. Fred malte sich aus, wie er die unbequem gewordene Gesellschaft loswerden könne, und begann nun, das ›Machtmusik‹-Ensemble für seine Pläne zu interessieren. (…)«
»Im gleichen Schrott und Trott« (1957) mit der neuen Kollegin Ursula Noack.
Allerdings hatte er »mit seinen Verpflichtungsversuchen nicht viel Glück. Rainer Penkert war ja sowieso anderweitig engagiert, Peter Timm Schaufuß hatte ebenfalls schon andere Pläne, und Ursula Noack war ohnehin nicht der Typ Frau, der Fred für die Art Kabarett, die er machen wollte, vorgeschwebt hatte. Der Einzige, mit dem er zu Rande kam, war Conny Reinhold. (…) Aber schließlich brachte Fred doch ein Ensemble zusammen: Rainer Bertram, einen jungen Schauspieler, der sich gerade auch als (Schlager-)Sänger einen Namen machte, dann Walter Breuer, den Sohn des unvergessenen Siegfried Breuer, selbstverständlich Conny Reinhold und als weiblichen Blickfang die stimm- und tanzbegabte Carin Rose. ›Scherz lass nach‹ hieß das Programm des neuen Ensembles, künstlerische Leitung, Regie, Kompositionen und am Klavier: Fred Kassen.«
Der Laden in seinen frühen Jahren – man beachte den Bullerofen in der linken Ecke.
Das Programm wurde ein prächtiger Reinfall, trotzdem vertraute Kassen darauf, auch dieses Ensemble werde sich nach einer gewissen Karenzzeit schon durchsetzen. Größere Sorgen machte dem »Stachelschwein«-Boss, dass sich schräg gegenüber seines Lokals eine andere Kneipe, der »Kleine Bauer«, befand, die ebenfalls seiner Hausbrauerei gehörte und dessen Pächter, wie er wusste, aufhören wollte. Was nun, wenn sein Kompagnon Sammy Drechsel auf die Idee verfiele, diesen Gastraum zu pachten, um ihm von der anderen Straßenseite Konkurrenz zu machen und es ihm auf diese Weise heimzuzahlen? Schnell rief Fred Kassen einen Freund bei der Brauerei an, um dem vorzubeugen. Aber zu spät. »Fred bekam kalte Füße, denn nun stand es fest: er sollte mit seinem Lokal und mit seinem Kabarett ausgehungert werden, und er wusste auch, dass er der künftigen Konkurrenz auf der anderen Straßenseite nichts würde entgegensetzen können. Was also sollte er tun? Vor einiger Zeit schon war ihm ein Lokal in Köln angeboten worden. Das Rheinland – da kam er ja her, das war seine Heimat. Vielleicht hätte er dort mit seinen Vorstellungen von Kabarett mehr Glück, war doch die Mentalität der Leute dort die gleiche, die auch er hatte.« Es war Sammy Drechsels Glück, dass ihm zu dieser Zeit grad recht viel Bargeld zur Verfügung stand, da ein Film, Hinein!, den er über die Fußballweltmeisterschaft in Schweden gedreht hatte, sich als ziemlich lukrativ erwies. »Als dazu noch zwei Freunde ihm hilfreich unter die Arme griffen, konnte Sammy, als Fred ihm androhte, den Laden zu verkaufen, kurz entschlossen selbst zugreifen. So schieden die beiden am Ende im besten Einvernehmen, und erst als er sich von den Verhandlungen und dem damit verbundenen Erfolgserlebnis einigermaßen erholt hatte, kam es Sammy zu Bewusstsein, dass er nun zwei Lokale hatte, aber nur ein Ensemble, und selbst das nicht hundertprozentig. (…) ›Also was ist?‹, fragte er die Kollegen. ›Machen wir weiter?‹ Er sprach von dem Geld, das er investiert hätte und meinte, es sei ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, ihn jetzt nicht im Stich zu lassen. Wenigstens ein Jahr sollten sie ihm noch die Stange halten. Hildebrandt und Diedrich waren sofort bereit, Havenstein erbat sich Bedenkzeit. Nur mit Ursula Herking war in keinem Falle mehr zu rechnen. Das war verständlich, denn die Herking hatte sich durch die Tournee in solche Unkosten geritten, dass sie nun wirklich etwas machen musste, wo sie dickes Geld verdiente. Dafür aber schien ihr das Kabarett denkbar ungeeignet. Die Lach- und Schießgesellschaft traf dies zu jenem Zeitpunkt nicht mehr sonderlich hart. Sie hatte sich einen eigenen Namen gemacht, war auf das Zugpferd Herking nicht mehr angewiesen und hatte in Ursula Noack eine denkbar gute Nachfolgerin gefunden.«
Und auch das zweite Zugpferd, der Vollblutschauspieler und Komödiant Klaus Havenstein, ließ sich nicht allzu lange bitten und sagte zu, noch für ein Weilchen dabeizubleiben. Die Weile hielt an bis 1962, und nach einer selbst verordneten Pause kehrte Havenstein ab 1964 noch einmal für vier Jahre zurück zum Ensemble, bis er nach »Der Moor ist uns noch was schuldig«, zur Hochzeit der Studentenunruhen in Deutschland, dem Laden endgültig den Rücken kehrte. Das jedoch nur als Darsteller und nicht als Freund. Einem anderen Freund setzte Sammy Drechsel 1959 die Pistole auf die Brust. Schon lange wurmte es ihn, dass Klaus Peter Schreiner außer für den Laden auch noch für andere Kabarett-Ensembles, etwa die »Zwiebel«, Nummern schrieb, vermeintlich sogar bessere. Den Schreiner wollte er nun exklusiv, wohlweislich vertrauend auf ein Autorengespann Hildebrandt /Schreiner, und nur noch in Ausnahmefällen sollte auf zusätzliche Texte von außen zurückgegriffen werden. Mit Zusage des künftigen Hausautors war also alles in trockenen Tüchern: ein erfolgreiches und Kontinuität garantierendes Ensemble stand, man feierte inzwischen auch auf Tourneen und den Fernsehschirmen Erfolge, mit der Lösung Sammy Drechsel als alleiniger Geschäftsführer konnten künftig Querelen wie mit Fred Kassen ausgeschlossen werden. Aber der Erfolg hatte auch eine Kehrseite.
Klaus Peter Schreiner schreibt: »Im Gefolge des wachsenden Zulaufs ließ es sich nicht vermeiden, dass aus dem anfangs improvisierten Unternehmen nun langsam ein Apparat wurde. Den ganzen Wirtschaftsbetrieb hatte Sammy bis zur Übernahme Fred Kassen überlassen können, aber nun war er plötzlich selber Gastronom. Das Personal war geschlossen dageblieben: zwei Kellner und die Bardame, die Beschließerin an der Theke, die seelengute Köchin Cilly und die Garderobenfrau, dazu saß hinten in einem Raum der vergammelten Wohnung ein im Dienst ausgetrockneter Buchhalter. Was dann noch fehlte, war jemand für die Abendkasse, für die Blackouts und für den Telefondienst, den bisher das Personal so nebenher mitbesorgt hatte. Aber das war keine Dauerlösung, denn im Vorbestellungsbuch standen oft so rätselhafte Dinge wie ›Zwei Karten für Emma N.‹ (die Firma MAN war gemeint) oder ›Viermal Hotel am Bassa-Tor‹. Außerdem musste dringend jemand gefunden werden, der sich hauptamtlich um die Gastronomie kümmerte, denn Sammy war mit dem künstlerischen, psychologischen und finanziellen Management des Kabaretts schon so ausgelastet, dass er kaum mehr seinem Sportreporterberuf nachgehen konnte. Und zu allem Überfluss hatte er auch noch den gegenüberliegenden »Kleinen Bauern« am Hals. Sammy löste die Personalprobleme in der Weise, dass so ziemlich alles in der großen Kabarettfamilie blieb. (…) Blieb noch das Sekretariat zu besetzen, denn die Einrichtung eines Büros war nicht mehr zu umgehen. Bisher hatte Sammy das erledigt, indem er ein paar engbeschriebene Zettel in der Jackentasche trug, auf denen alles stand, was für den Betrieb wichtig war. Aber nun nahm der Papierkram überhand: es kamen Zuschriften, Manuskripteinsendungen, Verträge. Da musste jemand her, der das bewältigen konnte.«
Irene Hildebrandt im Brautkleid an der Abendkasse bei den »Namenlosen«, 1956.
Es traf sich gut, dass Klaus Peter Schreiners Frau Seffi für diese Aufgabe bereitstand; ihre Arbeit beim Bayerischen Rundfunk für ein Hausfrauendasein aufgeben wollte sie nicht, und so kam ihr Sammy Drechsels Angebot, ihn täglich von 14 bis 18 Uhr ein wenig bei den »Lach- und Schieß«-Geschäften zu unterstützen, natürlich entgegen. Schließlich war »um die Jahresmitte 1959« nicht nur »der Apparat Münchner Lach- und Schießgesellschaft komplett«, sondern es blieb auch noch alles in der Familie. Irene Hildebrandt hatte ja zur Belustigung aller bereits zu Zeiten der »Namenlosen« selbst am Tag ihrer Hochzeit im Brautkleid an der Abendkasse gesessen, Klaus Peter Schreiner lernte seine Frau ohnedies durch Sammy Drechsel – der Seffi Weber vom Funk zum Mitstenographieren ins Lokal gebracht hatte – kennen. Bei den Blackouts, am Licht, wechselten sich die Frauen inzwischen ab, und einige Jahre später wird natürlich die zweite Irene, Irene Koss, dann verheiratete Drechsel, ebenfalls eingespannt für den Laden, und am Kartentelefon vernimmt das geneigte Publikum in der Zukunft ihre freundliche Stimme: »Münchner Lach- und Schießgesellschaft«.
Ursula Herking, Hans Jürgen Diedrich und Klaus Havenstein in einer Sissi-Parodie im Programm »Bette sich wer kann«.
»Es gibt gute Kabarettisten, es gibt bessere Kabarettisten. Und es gibt Ursula Herking«, schrieb der Rezensent der Münchner Abendzeitung nach der Premiere des zweiten Programms im Laden und bestätigte mit seinem Urteil die Bedeutung, die die Schauspielerin Ursula Herking zu Beginn für die »Lach- und Schießgesellschaft« als Aushängeschild hatte. Doch man emanzipierte sich schnell von ihr, wie eine kleine, nach den kommenden Premieren veröffentlichte Presse-Lese beweist. Schon in »Im gleichen Schrott und Trott« vertritt die Noack zum ersten Mal die Herking, und die AZ jubelt: »Pointen blitzen, volle Bonmot-Breitseiten prasseln ins Gelände, Schrapnells mit giftigen Anzüglichkeiten hinterher, darüber Pulverdampf aus purem Geist. (…) Das Triumvirat blieb das gleiche – Hans J. Diedrich, Klaus Havenstein, Dieter Hildebrandt -, nur die Dame ist neu, aber nicht unbekannt: Ursula Noack (von den ›Amnestierten‹) steht in ihrer Mitten, ein Brettl-Genie, souverän, spöttisch, mit dem spröden fraulichen Charme, der auch schwächeren Texten Stärke gibt.« Die SZ schreibt: »Um es gleich zu sagen, die Lach- und Schießgesellschaft ist heute unter den kabarettistischen Vereinigungen Münchens ohne Konkurrenz, nicht, weil sie kühner oder schärfer ist als ihre Brettl-Kollegenschaft (kühn und scharf ist sie sowieso), sondern weil sie stilistisch und atmosphärisch dem freilich immer etwas vagen Begriff ›literarischer Kleinkunst‹ effektiv am nächsten kommt. Sie hat Poesie. Sie hat Phantasie.« Und der Münchner Merkur bescheinigt der neuen Vierten im Bunde, Ursula Noack, im November 1957: »Sie tat’s hervorragend, mit Bravour und ganz eigenen Mitteln. Sie hat ein Gesicht ohne Käsekuchen-Lächeln, ist eine höchst aparte Person.«
Nach »Eine kleine Machtmusik« lässt Fred Hepp in der Süddeutschen Zeitung seiner Begeisterung freien Lauf: »Die Münchner Lach- und Schießgesellschaft spottet jeder Beschreibung von Experten über die gegenwärtige Krise des Kabaretts. (…) Nicht zu reden von der trefflichen, längst renommierten Gesellschafterin Ursula Noack und ihren neuen, doch ebenfalls brettl-erprobten Kompagnons« (Der Vertretung des Tournee-Ensembles. Anm. d. Verf.), die am Abend Dividenden zu Dutzenden ausschütteten. »Es lohnt sich reichlich, auch nach der vierten Ausschüttung, hier ein Kleinaktionär zu sein!« 1959 schließlich, »mit neuem Programm«, »Warten auf Niveau«, »im eigenen Haus am alten Platz« angekommen, fügt das 8-Uhr-Blatt der Ankündigung im Programmheft hinzu: »Sie haben, unter der Leitung von Sammy Drechsel, der Zeit ihre Schwächen abgeluchst und beweisen (…), dass alles Warten sich erübrigt, wenn das Niveau bereits unbezweifelbar vorherrscht. (…) Da saust in zwei Stunden unsere Zeit an uns vorbei wie eine erdumkreisende Sputnikrakete: Die Statistik, ohne die wir uns auf der Welt nicht zurechtfinden würden, lässt ›je eine Bombe auf den Kopf der Bevölkerung fallen‹. (…) Das zeitgemäße Kabarett, das keinen Wunsch übrig lässt, hier ist es bestechende Wirklichkeit geworden.« Für die statistische Kurzweil im Programm hatte neben Max Colpet, Oliver Hassencamp, Hans J. Diedrich und natürlich Dieter Hildebrandt, der für die an Godot gemahnende kabarettistische Leistungsschau »Warten auf Niveau« mehr als die Hälfte der Textbeiträge beisteuerte, einmal mehr Autor Klaus Peter Schreiner gesorgt. »Auf den Kopf der Bevölkerung«:
»Ursula Noack: (Steht alleine auf der Bühne und blättert in einem Buch) Statistik ist doch was Feines, was? Wenn man da so liest, was einem im Laufe eines Jahres so alles auf den Kopf fällt, wenn man nicht aufpasst … Da kriegt man beim Lesen ja direkt Kopfschmerzen! Hier zum Beispiel: Auf den Kopf der Bevölkerung fielen im Jahre 1958 3,6 Autoreifen …
Hans Jürgen Diedrich: Was liest du denn da?
Noack: Statistik.
Diedrich: Aha. Willst du’s jetzt auch mal beim Film versuchen?
Noack: Ach Quatsch. Statistik ist eine Wissenschaft.
Diedrich: Ah so! Was denn für eine?
Noack: Eine angewandte.
Diedrich: Wie? Ach so, nein, ich meinte: Was tut denn die Statistik?
Noack: Die Statistik rechnet aus, was auf den Kopf der Bevölkerung fällt.
Diedrich: Wieso? Ich dachte immer, das macht die Dings da, die Me… Mete… Meteorologie?
Noack: Du bringst aber auch alles durcheinander. Es geht doch hier nicht um Regentropfen.
Diedrich: Na – was fällt denn sonst noch auf meinen Kopf?
Noack: Autoreifen zum Beispiel.
Diedrich: Waaaas?
Noack: Ja. Im Jahre 1958 zum Beispiel waren es 3,6.
Diedrich: Komisch, dass ich davon nichts gemerkt habe. Na ja, vielleicht war’n sie aus besonders weichem Gummi. – Aber was fällt denn noch auf den Kopf der Bevölkerung?
Noack: Zwei Spiegel. (…) Auf den Kopf der Bevölkerung fallen ferner drei Paar Socken.
Diedrich: Ich hab’ vier, da muss einer nur zwei haben. Das Schwein! (…)
Pass mal auf: Ein gewisser Lord Palmerston hat einmal gesagt, es gibt drei Formen der Lüge: die gewöhnliche Lüge, den Meineid und die Statistik.
Noack: Und du glaubst, das stimmt?
Diedrich: Ich glaube es nicht, ich hoffe es. (…)«
Kurz vor der Jahrzehntwende Ende 1959 ist die »Münchner Lach- und Schießgesellschaft« schon längst ein bundesdeutscher Markenartikel, und das verdankt sie vor allem der von Anbeginn an gezeigten Präsenz im Fernsehen. Unterschätzten selbst Politiker dessen Reichweite noch Mitte der fünfziger Jahre (wie auch Dieter Hildebrandt in seinem Interview erzählt, S. 121), äußerte sich auch mancher im Laden am Anfang noch skeptisch über dieses neue Medium: bis über die achtziger Jahre hinaus befeuerte die stete Fernsehpräsenz die Tournee-Erfolge wie die ausverkauften Heimspiele der »Lach- und Schieß« und umgekehrt. Natürlich wurde selbst damals schon Buch geführt über den Zuspruch, den die ausgestrahlten Sendungen beim Publikum erfuhren, auch wenn man im Prä-Privatfernsehzeitalter das Zauber- und Abschießwort Quote zum Glück noch nicht kannte. Umfrageauswertungen etwa, die der Bayerische Rundfunk unter seinen Fern-Sehern erhoben hatte, muten heute an wie Fossile der modernen Unterhaltungsindustrie; nichtsdestoweniger bescheinigen die Ergebnisse der »Lach- und Schießgesellschaft« einen Straßenfeger-Popularitätsgrad beim Publikum, wie ihn grad noch Sportsendungen, Edgar-Wallace-Verfilmungen oder Serien wie ein Vorläufer des Reality-TV, Stahlnetz, in den Sechzigern erreichen konnten.
»Der Widerspenstigen Lähmung« feierte im Oktober 1959 im Laden Premiere und wurde am 14. Dezember um 21.15 Uhr vom BR ausgestrahlt. Die Zuschauerbeteiligung lag bei 60,2 Prozent. Zustimmend äußerten sich 65 von 100 Befragten der Berufsgruppen Beamte und Angestellte, sieben aus freien Berufen, 14 Selbstständige mit kleinen oder mittleren Betrieben und fünf mit größeren Betrieben. Vergnüglich lesen sich dann die einzelnen Stimmen hinter dem Zahlenwerk. Einem Kriminalinspektor gefiel die Sendung »ganz außerordentlich«, die Ehefrau eines Verlagsvertreters fand sie »reizend« und »eine Augenweide«, eine »pfundige Sache« wurde sie für einen Inspektor, wohingegen ein Werkzeugmacher sagen »musste«, »es war nicht für alle, nur für solche, die’s verstehen, aber es hat uns sehr gut gefallen«, ein Geschäftsführer hatte »es« vorher schon mal »im Original gesehen, aber es gefiel mir genauso gut wie an Ort und Stelle«, und ein Brautausstatter attestierte den Lach- und Schießgesellen »fabelhafte Pointen«, weswegen wohl ein Werbekaufmann »heute schon« dagegen protestieren wollte, »falls man diese Live-Sendung von irgendeiner Stelle kritisieren sollte. Großartig!« Darum wohl durfte auch ein Straßenbaumeister »bis zum Schluss zusehen, obwohl es so spät wurde«. Bei so viel Zustimmung ließ sich vom Ensemble gewiss die Meckerei eines geizigen Angestellten verknusen, der für »diese satirischen Späße« »keinen Pfennig« gegeben hätte.
Noch mehr als drei Jahre später bleibt man den Lach- und Schießern gewogen – Sehbeteiligung nach der Ausstrahlung von »Halt die Presse« am 27. März 1963: 69 Prozent. Urteilsverteilung: ausgezeichnet: 53 Prozent, gut: 35 Prozent, zufriedenstellend: fünf Prozent, mäßig: sieben Prozent, sehr schlecht: null Prozent. Entsprechend dann das Urteil der Infratest-Statistiker: »Selten vermag das gesamte Abendprogramm eines Sendetages bei so breitem Publikum so viel Zustimmung finden wie an diesem Mittwoch: Nach dem Erfolg der vorangehenden Sendung ›Alle meine Tiere‹ (72 Prozent, plus 7) wurde das Münchner Kabarett (…) von den Zuschauern wiederum (d.h. wie bei fast allen seinen bisherigen Programmen) mit großer Aufmerksamkeit und viel Vergnügen, vielfach mit ausgesprochener Begeisterung verfolgt.« Verständlich, dass Sammy Drechsel angesichts des inzwischen mächtig gestiegenen Marktwerts seines Ensembles möglichen Ausreißern von Anfang an einen gut gemeinten Riegel vorschieben wollte, wie Klaus Peter Schreiner in Die Zeit spielt mit schreibt: »›Wir müssen zwei Dinge zum Prinzip erheben‹, sagte der ›Lach- und Schieß‹-Chef, ›und zwar müssen wir uns erstens rar machen, und zweitens haben wir uns als Lach- und Schießgesellschaft deutlich abzugrenzen. Wenn drei oder auch nur zwei von uns zusammen in einer Unterhaltungssendung auftreten, besteht schon die Gefahr, dass der Zuschauer diese Sendung mit uns identifiziert. Und ist sie dann noch schlecht, dann schlägt das nur auf uns zurück. Wenn wir als Ensemble, aber auch jeder Einzelne für sich einmal top sein wollen, dürfen wir uns nicht auf diese Art und Weise verzetteln. Und was ihr anfangs dabei vielleicht an Kohle einbüßt, kriegt ihr später doppelt und dreifach wieder rein, das kann ich euch garantieren.‹« Solchen Argumenten konnte sich niemand im Ensemble widersetzen, »und so blieb die ›Lach- und Schießgesellschaft‹ ein ziemlich exklusiver Markenartikel. Wer sie dennoch haben wollte, für einen Kongress etwa, eine Tagung oder so, der musste schon verdammt tief in die Tasche greifen. Für die große Öffentlichkeit jedoch war sie nur über den Bildschirm erreichbar, für die Glücklichen, die eine Eintrittskarte ergattern konnten, auch noch im ›Laden‹.«
Es ist nicht alles eitel Sonnenschein, bloß weil Fernsehen draufsteht. Eine Binsenweisheit für Mediengeschädigte anno 2006. Für so manchen Lach- und Schießgesellen bittere Erfahrung. Nicht selten kam man Sammy Drechsel und seinem Ensemble mit gut gemeinten Vorschlägen, das zu Zeigende zum eigenen Besten etwas zu entschärfen, zu kürzen, zu ändern. Doch die Münchner blieben hart, beharrten auf ihren künstlerischen Freiheiten. Wie ärgerlicher Schnee von gestern mögen solche Auseinandersetzungen aus den sechziger Jahren heute wirken. Wie weit sie gehen konnten, zeigen Erfahrungen aus den siebziger Jahren, die Dieter Hildebrandt mit seinen Notizen aus der Provinz beim Zweiten Deutschen Fernsehen machen musste, oder später mit dem Scheibenwischer beim Ersten, wo sich auch der Bayerische Rundfunk einmal aus einer Gemeinschaftsübertragung der ARD ausklinkte.
Aber noch schreiben wir die späten fünfziger Jahre, aus denen uns vieles merkwürdig muffig und sicher manches weit weg erscheinen mag, und trotzdem wurden in ihnen die Weichen gestellt für den Staat, dem heute so einige bescheinigen, dass er, inzwischen satireresistent, die Comedy- und Spaßmacherwelle auf fast allen Bühnen und Kanälen geradezu beflügelt habe. Ende der Fünfziger ist nicht nur Elvis Presley als GI im hessischen Bad Nauheim stationiert und lässt deutsche Wehrpflichtige über einen massiven weiblichen Fan-Zustrom an den dortigen Kasernentoren vor Neid erblassen; Deutschland und Frankreich arbeiten an der längst überfälligen Aussöhnung unter Federführung Konrad Adenauers und Charles de Gaulles. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg besucht ein amerikanischer Präsident, Dwight D. Eisenhower, die Bundesrepublik, und die SPD verabschiedet zum Entsetzen der Linken in ihren Reihen ihr vom Linken Herbert Wehner verantwortetes, pragmatisches Godesberger Programm. Arbeitslosigkeit ist in diesen Tagen im Lande ein Fremdwort (was Klaus Peter Schreiner dazu veranlasst, für »Der Widerspenstigen Lähmung« freche und gereimte satirische Verse zu Papier zu bringen), und Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler gelten den Deutschen nicht nur auf dem Eis als Traumpaar. 1959 veröffentlicht der spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass seinen Roman Die Blechtrommel, und Doris Day und Rock Hudson üben sich in Bettgeflüster. Das überdurchschnittliche Kinojahr beschert den Cineasten darüber hinaus neben Fellinis La Dolce Vita auch Billy Wilders Some Like It Hot, und der Teutonen Grill-Sehnsucht heißt Italien. Ähnlich eng wie an den dortigen Stränden geht’s nur noch im Laden zu, deshalb heißt es im Programmheft von »Der Widerspenstigen Lähmung«: »Wir sind räumlich beengt, und zwar genauso wie Sie, verehrte Besucher. Wir haben in unserer Kleinst-Garderobe auch nicht mehr Platz als Sie an Ihrem Tisch. Vielleicht tröstet Sie das etwas, hoffentlich! Übrigens, wir haben eines festgestellt: Je enger man aufeinander hockt, umso besser ist die Stimmung.« Vor allem, wenn Hans Jürgen »Dietsch« Diedrich Schreiners »Arbeitsamtsschimmel« zum Besten gibt:
»Dietsch rechnet umständlich: 200 000 – durch 30 000 ergibt – sechs – Komma sechs – sechs – sechs – sechs – sechs – sechs – Na, jetzt soll noch einer wagen, unsereinem nachzusagen, dass wir uns nicht redlich plagen, wenn doch diese Unterlagen ganz das Gegenteil besagen! Ich, Inspektor Arthur Klecks, bin verantwortlich für sechs Komma sechsundsechzig Leute, das ist eine ganze Meute. Rechne ich dann noch im Geiste, dass ich mehr als andere leiste, kann sich diese Zahl verschieben. Sag’n wir – grob gerechnet – sieben. Sieben Leute zu verwalten und ihr Dasein zu gestalten, das ist meine erste Pflicht.
Aber dabei bleibt es nicht. Denn ich habe eins getan: Ich entwarf aus freien Stücken einen so genannten Plan, diese Not zu überbrücken. (…) Ich und meine Amtskollegen wehren uns mit Macht dagegen, dass man – unser überdrüssig – meint, wir seien überflüssig. Heute sind wir dreißigtausend! Zwar – das Volk vernimmt es grausend, doch die Zahl beweist allein: Arbeitsämter müssen sein, selbst wenn sie nur angehalten, sieben Leute zu verwalten. (…)«
»Damned language« – die legendäre Sherlock-Holmes-Watson-Nummer mit Dieter Hildebrandt als Meisterdetektiv und Hans Jürgen Diedrich als Dr. Watson in »Überleben Sie mal«, 1962.
Einem Angestellten der heutigen Bundesagentur für Arbeit – einer von Hunderttausenden, der sich einem Heer von Millionen Arbeitslosen gegenüber sieht – mögen diese Zahlen die Tränen in die Augen treiben: 30000 Beamte versus 200 000 Beschäftigungslose; alle anderen wenden sich ungläubig mit dem Kopf schüttelnd ab. Zu verdanken hatte die junge Republik der fünfziger und sechziger Jahre diese dem Schreiner-Text zugrunde liegende Statistik dem Legende gewordenen deutschen Wirtschaftswunder, das als Wort übrigens ohne Übersetzung auch in andere Sprachen Eingang fand. Sicher tat das Kabarett außer Spott kein Übriges, solche Zahlen zu manifestieren, auch wenn ein Autor des Mannheimer Morgen im November 1959 die »Theatergründerzeit in München« ausrief. Der Grund: »das streckenweise Absacken mancher renommierten Bühne« und »die Klagen über das Fernsehprogramm«. »Die früher der Musik verschriebene Stadt München, das Schauspiel mehr als Zugabe denn als wichtigen Bestandteil betrachtend, meldet heute neben einem Opern- und einem Operettenhaus und vier Konzertsälen ganze zehn Sprechbühnen und eine stattliche, nach Konjunktur wechselnde Anzahl von Kabaretts.« Schon seit geraumer Zeit weist München die größte Bühnendichte überhaupt im deutschsprachigen Raum auf; 1959 lag »die Schwabinger ›Lach- und Schießgesellschaft‹ guter Texte halber vor der mit munteren Anpflaumungen spielenden ›Zwiebel‹ und der mit ›Millionendorfgeschichten‹ Münchner Belange durchkämmenden ›Kleinen Freiheit‹«. Da allerdings ist die Konkurrenz um einiges größer geworden. Wenngleich das Millionendorf seinen Ruf als solches, etwa mit Hochhausdebatten, in denen über die Traufhöhe neu zu errichtender und im Anschluss daran mangels Nachfrage leer stehender Büro-Nebelkratzer unter 100 Metern oder umstrittenen Prestigeobjekten der Bayerischen Staatskanzlei wie dem geplanten und nicht zu finanzierenden Transrapid, auch in Zukunft nicht loswerden wird. Gemütlich geht’s halt zu, und für den Spott sorgen weiterhin die »Zuagroasten«, nicht mehr in der »Zwiebel« oder der »Kleinen Freiheit«, dafür aber noch immer und vor allem im Laden.
Ein neues Jahrzehnt, die Swinging Sixties, beginnt, und das leichtfüßig-improvisiert wirkende, aber in Wahrheit gut einstudierte und auf solider Textgrundlage basierende Kabarett der »Lach- und Schießgesellschaft« präsentiert man weiterhin in doppeldeutige Titel verpackt: »Tour de Trance«, »Wähl den, der lügt«, »Überleben Sie mal«, »Halt die Presse«, »Krisen-Slalom« oder »Schuld abladen verboten« heißen bis 1965 die Programme. Und in diese Zeit fällt zwar noch keine Mondlandung, aber die deutsche Teilung wird durch den Bau der Mauer mehr als nur symbolisch zementiert, die Beatles verdrängen die Rock’n’Roller und bereiten ganz anderen musikalischen Spielarten den Boden; der greise Kanzler Konrad Adenauer nimmt (für viele: endlich) seinen Hut und überlässt das bestellte Feld seinem Säer, dem vormaligen Wirtschaftsminister und Vize Ludwig Erhard; Marlene Dietrich, für viele noch immer »Vaterlandsverräterin«, kommt nach Deutschland, der blonde Hans, Hans Albers, der ungezählte Frauen zumindest im Geiste in Seemanns Bräute verwandeln konnte, stirbt. Die Antibabypille kommt auf den Markt. John F. Kennedy wird zum Berliner, und die Schulbubenlektüre schlechthin, Karl May, wird verfilmt. Was aber besonders im Laden einige Aufmerksamkeit gefunden haben sollte: 1963 wird die Fußballbundesliga ins Leben gerufen. Dem Ensemble bescherten die sechziger Jahre einen neuen Mitstreiter, Jürgen Scheller, eine Kooperation mit den Berliner »Stachelschweinen«, den Schwabinger Kunstpreis, einen kollabierenden Sammy Drechsel sowie die Vermählung desselben mit der Chefansagerin des NDR, Irene Koss.
1960 wurde der Intendantenstuhl beim Bayerischen Rundfunk neu besetzt. Der Termin für die Fernsehausstrahlung des aktuellen Programms »Tour de Trance« stand zu dem Zeitpunkt längst fest, vereinbart worden war der 5. Juli. Kurz vor der Sendung gab es im Laden Besuch. Ein Dr. Helmut Oeller stellte sich vor und überreichte dem verdutzten Sammy Drechsel eine Liste mit beanstandeten Punkten am Programm. Dass er mit ihr keine Freunde gewinnen konnte, hatte der neue Stellvertreter des Fernsehdirektors sicher erwartet, dass er mit seinem Waschzettel überhaupt kein Land gewinnen sollte, sprich, dass seitens der Lach-und Schießer jedwedes Begehren auf Streichung strikt abgelehnt wurde, bis hin zur der Option, den Auftritt ganz abzublasen, hatte der Herr allerdings nicht erwartet.
Von insgesamt 15 Programmen der »Lach- und Schießgesellschaft« wurden Langspielplatten produziert – von »Bette sich wer kann« bis zum »Der Abfall Bayerns« im Jahr 1972.
Der 5. Juli kam, pflichtschuldig wurde »Tour de Trance« in den Studios des BR geprobt, dann wartete man ab, exakter: die Ensemblemitglieder und ihr Regisseur machten es sich auf in die Garderobe beorderten Liegestühlen bequem. Nachmittag und früher Abend verstrichen, der Tagesschau folgte die Wetterkarte. Und besagtem Dr. Oeller war schon längst der Schweiß ausgebrochen. »›Jetzt nehmen Sie doch endlich Vernunft an!‹«, zitiert Klaus Peter Schreiner den aufgebrachten Rundfunkmann und gibt die Szenerie in seiner 1976 veröffentlichten Geschichte der »Lach- und Schießgesellschaft« wie folgt wieder:
»›Wir sind unbestechlich‹, variierte Hildebrandt eine Pointe von früher, ›wir dürfen nichts annehmen.‹ ›Schauen Sie doch mal auf die Uhr, Doktor!‹, sagte Sammy aus seinem Liegestuhl, ›solange ich nicht am Regiepult sitze, kann die Sendung nicht losgehen.‹ Dr. Oeller wurden die Knie weich. Da kam eine Verantwortung auf ihn zu, die er alleine nicht tragen mochte.« Er wollte sich telefonisch Rückendeckung vom Intendanten holen, doch dessen Apparat war belegt. »Bedrohlich näherten sich die Uhrzeiger der 20-Uhr-15-Marke, auf den Bildschirmen erschien die Wetterkarte. (…) ›Guten Abend, meine Damen und Herren‹, sagte die Ansagerin auf dem Bildschirm, ›der Bayerische Rundfunk begrüßt Sie zum Abendprogramm des Deutschen Fernsehens …‹ Im Studio tat sich nichts, die Gäste wurden schon unruhig. Jetzt konnte wirklich nur noch der Intendant helfen, und Dr. Oeller drehte erneut die Wählscheibe. Ein Glück – Freizeichen! ›Ja was ist denn?‹, meldete sich Intendant Wallenreiter, ›warum geht’s denn nicht los?‹ ›Die Herren treten nicht auf‹, klagte Dr. Oeller, ›sie erkennen die von uns beanstandeten Punkte nicht an.‹ ›Ja zum Donnerwetter, dann erkennen sie sie eben nicht an! Aber nun fahren Sie doch endlich ab!‹
Die LPs fanden starke Beachtung, besonders die vier Gemeinschaftsprogramme»Berlin ist einen Freiplatz wert« mit den Berliner »Stachelschweinen«.Der Reinerlös dieser NDR/SFB-Produktionen zur Eröffnung der Fernsehlotterie »Ein Platz an der Sonne« ging an das Hilfswerk Berlin.
Sammy flitzte in die Regie, die Kabarettisten fegten ins Studio. Dort hatte sich inzwischen herumgeflüstert, worum es ging. Der Auftrittsapplaus war entsprechend stark. Und als ziemlich zu Beginn des Programms mit lautem Knall ein Scheinwerfer zerbarst, improvisierte Hildebrandt: ›Jetzt ist der Oeller geplatzt!‹ Der Jubel kannte keine Grenzen. (…) Mag sein, dass die Technik keine Seele hat, Humor jedenfalls hat sie zuweilen.« Der Auftritt des Münchner Kabaretts, der »von den Zuschauern wiederum (d.h. wie bei fast allen seinen bisherigen Programmen) mit großer Aufmerksamkeit und viel Vergnügen, vielfach mit ausgesprochener Begeisterung verfolgt« wurde, konnte seinen Lauf nehmen.
Die Illustrierte Stern veröffentlicht im Mai 1961 einen Artikel über die »Lach-und Schieß«, der zwar in der Darstellung seiner Fakten zum Teil recht frei verfährt, aber anschaulich einen Grund aufführt, warum das Ensemble so großen Publikumsanklang findet: »Am 8. Mai 1961, abends um zwanzig Uhr fünfundvierzig, beginnt im Deutschen Fernsehen der Bundestagswahlkampf – und zwar auf der Bühne eines Kabaretts. Die vier Leute, die ihn hier vor der Kamera eröffnen, würden sich zwar nie selbst anmaßen, so etwas wie das Fieberthermometer des deutschen Volkes zu sein. Aber sie sind es. Denn sie sind Leute wie wir, und sie bringen teils scharf pointiert, teils hintergründig ironisch und gelegentlich auch einmal ausrutschend das zum Ausdruck, was der Bundesbürger angesichts der sich mehrenden Peinlichkeiten der Wahlauseinandersetzungen empfindet: tiefes Unbehagen. Die vier auf der Bühne sind zwar keine Politiker, wohl aber die gefürchtetsten und beliebtesten Hofnarren unserer Zeit: die ›Münchner Lach- und Schießgesellschaft‹.« Das Programm heißt »Wähl den, der lügt«, und der Satz »Sie sind Leute wie wir« bringt den weitere Jahrzehnte währenden Erfolg der drei bis vier Herren und ein bis zwei Damen auf den Punkt. Das Misstrauen in die (Berufs-)Politik hat nicht nur hier zu Lande eine berechtigte Geschichte; mit der »Lach- und Schießgesellschaft« anerkannte man eine Instanz, die denen nicht nur auf die Finger schaut, sondern uns das Wort aus dem Mund nimmt.
Das Stammensemble – Ursula Noack, Dieter Hildebrandt, Hans Jürgen Diedrich und Klaus Havenstein zu ersten Mal mit ihrem neuen Kollegen Jürgen Scheller (Mitte) in »Überleben Sie mal«, 1962.
Nach »Wähl den, der lügt«, 1961, erbittet sich Publikumsliebling Klaus Havenstein Kabarettferien bei Sammy Drechsel für zwei Programme, um sich wieder mal am Theater, hier den Münchner Kammerspielen, zu betätigen, zusätzlich lockt ihn das Angebot für eine Quiz-Reihe beim Fernsehen. Als Nachfolger hat Sammy Drechsel, diese »hinreißende Mischung aus Genie, levantinischem Halbstarken, notorischem Schürzenjäger, Manager und preußischem Feldwebel« (Stern), den Berliner Günter Pfitzmann und – als erste Option – den Wahl-Hamburger Jürgen Scheller im Auge. Auch wenn für den aus gutem preußischem Potsdamer Hause stammenden Scheller eine juristische Karriere näher zu liegen schien, wurde dieser nach kanadischer Kriegsgefangenschaft Schauspieler, ein Berufszweig, welchen seine Familie eher mit dem Gedanken »Hängt die Wäsche weg!« in Verbindung brachte, als mit einer redliches Einkommen versprechenden, anständigen Arbeit, überliefert Klaus Peter Schreiner.