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Noch heute leben zahlreiche Stämme als Jäger und Sammler in unzugänglichen Teilen der Welt. Jared Diamond, Professor für Geographie und international erfolgreicher Bestsellerautor, kennt sie aus vielen Expeditionen, die er in den letzten Jahrzehnten geleitet hat. In seinem neuen Buch entfaltet er den ganzen Reichtum ihrer verblüffend anderen Lebensweise und zeigt anschaulich, was wir heute von ihnen lernen können. Eine überraschende und unterhaltsame Lektion über die Vielfalt der Kulturen – und eine Kritik unseres modernen Selbstverständnisses. »Jared Diamond schreibt mit Witz, Esprit und großem Sachverstand.« Die Welt »Die Zivilisation hat uns reich, satt und bequem gemacht, aber nicht rundum zufrieden. Jared Diamond hilft uns zu erkennen, woran das liegt. Und nicht nur das: Er sagt uns auch, was wir besser machen können. Vorbilder gibt es genug, von Afrika bis Neuguinea.« Stern »Eine Fundgrube und ein Gedankenanreger ohnegleichen.« Financial Times Deutschland »Auf Diamond passt das überstrapazierte Wort vom Universalgelehrten genau, dazu gehört auch, dass er Autodidakt geblieben ist, um Wissenslücken bald zu schließen, wenn die sich neu öffneten. Er ist die Lernfähigkeit selbst.« Die Zeit »Wichtige Einsichten in unser traditionelles wie modernes Menschsein.« Der Tagesspiegel
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Seitenzahl: 960
Jared Diamond
Vermächtnis
Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können
Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel
FISCHER E-Books
Für Meg Taylor, mit Dank für Deine jahrzehntelange Freundschaft und dafür, dass Du mich an Deinen Einblicken in unser beider Welten teilhaben lässt.
30. April 2006, sieben Uhr morgens. Ich stehe in der Abflughalle eines Flughafens, habe den Griff meines Gepäckwagens gepackt und werde von einer Menge anderer Menschen, die ebenfalls für die ersten Flüge des Tages einchecken wollen, hin und her geschubst. Es ist eine vertraute Szene: Hunderte von Reisenden mit Koffern, Kisten, Rucksäcken und Babys stehen in parallelen Schlangen vor einer langen Reihe mit Schaltern, und dahinter arbeiten uniformierte Mitarbeiterinnen der Fluggesellschaften an ihren Computern. Andere Uniformierte verteilen sich in der Menge: Piloten und Stewardessen, Gepäckprüfer und zwei Polizisten, die zwischen den Menschen stehen und nichts anderes zu tun haben, als sichtbar zu sein. Die Prüfer röntgen die Gepäckstücke, die Mitarbeiterinnen der Fluggesellschaften hängen Etiketten an die Koffer, und Gepäckträger heben die Koffer auf ein Förderband, das sie fortbringt, damit sie hoffentlich in die richtigen Flugzeuge geladen werden. An der Wand gegenüber den Check-in-Schaltern sind Läden, die Zeitungen und Fastfood verkaufen. Weitere Gegenstände in meiner Umgebung sind die üblichen Wanduhren, Telefone, Geldautomaten, Rolltreppen zur oberen Etage und natürlich die Flugzeuge, die man durch die Fenster des Terminals sehen kann.
Die Schaltermitarbeiterinnen der Fluggesellschaft bewegen ihre Finger über Computertastaturen, blicken auf Bildschirme und drucken zwischendurch an den Kreditkartenterminals die Zahlungsbelege aus. In der Menschenmenge herrscht die übliche Mischung aus Humor, Geduld, Empörung, respektvollem Anstehen und der Begrüßung von Bekannten. Als ich in meiner Schlange ganz vorn stehe, zeige ich ein Stück Papier (meinen Buchungsbeleg) einem Menschen, den ich noch nie gesehen habe und vermutlich nie wieder sehen werde (der Check-in-Mitarbeiterin). Im Gegenzug drückt sie mir ein Stück Papier in die Hand, das mich berechtigt, über Hunderte von Kilometern an einen Ort zu fliegen, an dem ich nie zuvor gewesen bin und dessen Bewohner mich nicht kennen, meine Ankunft aber dennoch hinnehmen.
Reisenden aus den USA, Europa oder Asien würde an dieser ansonsten vertrauten Szene zuerst eine Besonderheit auffallen: Bei allen Menschen in der Halle außer mir und einigen anderen Touristen handelt es sich um Neuguineer. Als weiterer Unterschied würde dem Reisenden aus Übersee auffallen, dass als Nationalflagge die schwarzrotgoldene Flagge des Staates Papua-Neuguinea über dem Schalter hängt, die einen Paradiesvogel und das Kreuz des Südens – ein Sternbild – zeigt; auf den Schildern über den Schaltern steht nicht »American Airlines« oder »British Airways«, sondern »Air Niugini«; und die Namen der Flugziele auf den Monitoren klingen exotisch: Wapenamanda, Goroka, Kikori, Kundiawa und Wewak.
Der Flughafen, auf dem ich an jenem Morgen eincheckte, liegt in Port Moresby, der Hauptstadt von Papua-Neuguinea. Für jemanden mit einem Gespür für die Geschichte Neuguineas – auch für mich, der ich 1964 zum ersten Mal in das Land kam, das damals noch unter australischer Verwaltung stand – war die Szene vertraut, erstaunlich und bewegend zugleich. Im Geist verglich ich sie mit den Fotos der ersten Australier, die 1931 in das Hochland Neuguineas vorgedrungen waren und es »entdeckt« hatten, eine Region, in der eine Million Dorfbewohner noch Steinwerkzeuge benutzten. Auf den Fotos starren die Hochlandbewohner, die seit Jahrtausenden relativ abgeschieden gelebt hatten und nur begrenzte Kenntnisse über die Außenwelt besaßen, voller Entsetzen auf die ersten Europäer, die ihnen begegneten (Abb. 30, 31). Als ich 2006 auf dem Flughafen von Port Moresby in die Gesichter der neuguineischen Passagiere, Schaltermitarbeiterinnen und Piloten blickte, sah ich in ihnen die Gesichter der Neuguineer, die man 1931 fotografiert hatte. Die Menschen, die auf dem Flughafen um mich herumstanden, waren natürlich nicht dieselben wie auf den Fotos von 1931, aber ihre Gesichter waren ähnlich, und manche von ihnen könnten die Kinder oder Enkel der Hochlandbewohner von damals gewesen sein.
Zwischen der Szene vom Check-in 2006, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat, und den Fotos vom »Erstkontakt« aus dem Jahr 1931 besteht natürlich ein besonders augenfälliger Unterschied: Die Hochlandbewohner von 1931 waren nur spärlich mit Grasröcken bekleidet, trugen Netzbeutel auf den Schultern und hatten einen Kopfschmuck aus Vogelfedern; 2006 trugen sie die internationale Einheitskluft aus Hemden, Hosen, Röcken, Shorts und Baseballkappen. Innerhalb von ein bis zwei Generationen und innerhalb der Lebenszeit vieler einzelner Menschen in der Abflughalle hatten die Hochlandbewohner Neuguineas gelernt, zu schreiben, Computer zu bedienen und Flugzeuge zu steuern. Manche Menschen in der Halle waren vielleicht die ersten aus ihrem Stamm, die Lesen und Schreiben gelernt hatten. Ein Symbol für die Kluft zwischen den Generationen war für mich das Bild zweier Männer in der Menschenmenge: Der Jüngere, in Pilotenuniform, ging vor dem Älteren her und erklärte mir, er bringe seinen Großvater zu seiner ersten Flugreise; und der grauhaarige Großvater sah fast ebenso verwirrt und überwältigt aus wie die Menschen auf den alten Fotos.
Ein Beobachter, der sich in der Geschichte Neuguineas auskennt, hätte aber neben der Tatsache, dass die Menschen damals Grasröcke und 2006 westliche Kleidung trugen, noch größere Unterschiede zwischen den Szenen von 1931 und 2006 erkannt. Der Hochlandgesellschaft von 1931 fehlte nicht nur fabrikmäßig hergestellte Kleidung, sondern auch moderne Technologie in jeglicher Form, von Uhren, Telefonen und Kreditkarten bis zu Computern, Rolltreppen und Flugzeugen. Und auch grundlegende Dinge wie Schrift, Metall, Geld, Schulen und eine Zentralregierung gab es im Hochland Neuguineas 1931 nicht. Hätten wir nicht die Realität der neueren Geschichte hinter uns, so müssten wir uns fragen: Kann eine des Lesens und Schreibens unkundige Gesellschaft einen solchen Wandel wirklich innerhalb einer Generation bewältigen?
Mit ein wenig Aufmerksamkeit und Kenntnissen über die Geschichte Neuguineas hätte man in der Szene von 2006 noch weitere Aspekte entdeckt, die ähnlich auch auf anderen Flughäfen zu sehen wären, aber ganz anders waren als in den Szenen von 1931 auf den Fotos aus dem Hochland. In der Szene von 2006 kommt ein größerer Anteil grauhaariger alter Menschen vor, von denen in der traditionellen Gesellschaft im Hochland nur relativ wenige überlebten. Die Menschenmenge auf dem Flughafen kommt einem Besucher aus dem Westen, der noch keine Erfahrung mit Neuguinea hat, vielleicht »einheitlich« vor – alle Menschen ähneln sich mit ihrer dunklen Haut und den krausen Haaren (Abb. 13, 26, 30, 31, 32) –, in anderen Aspekten ihres Erscheinungsbildes ist sie jedoch heterogen: große Flachlandbewohner von der Südküste mit spärlichem Bart und schmalem Gesicht; kleinere Bartträger aus dem Hochland mit breitem Gesicht; und Bewohner der Inseln und des Flachlandes an der Nordküste, deren Gesichtszüge ein wenig asiatisch wirken. Im Jahr 1931 wäre es völlig unmöglich gewesen, Hochlandbewohnern sowie Flachlandbewohnern von der Süd- und Nordküste gleichzeitig zu begegnen; jede Menschenansammlung wäre in Neuguinea weitaus homogener gewesen als die Menschenmenge auf dem Flughafen im Jahr 2006. Ein Sprachforscher, der den Menschen zuhörte, hätte Dutzende von Sprachen unterscheiden können, die zu ganz unterschiedlichen Gruppen gehören: tonale Sprachen, deren Wörter sich wie im Chinesischen durch die Tonhöhe unterscheiden, austronesische Sprachen mit relativ einfachen Silben und Konsonanten, und die nichttonalen Papua-Sprachen. Auch 1931 hätte man zwar Menschen, die sich unterschiedlicher Sprachen bedienten, gemeinsam begegnen können, aber eine Versammlung, in der Dutzende von Sprachen gesprochen werden, hätte es nicht gegeben. An den Check-in-Schaltern und auch in vielen Unterhaltungen zwischen den Passagieren wurden 2006 zwei weit verbreitete Sprachen gesprochen, nämlich Englisch und Tok Pisin (auch Neomelanesisch oder Pidgin-Englisch genannt), 1931 dagegen hätten alle Gespräche im Hochland Neuguineas in lokalen Sprachen stattgefunden, die jeweils auf ein kleines Gebiet beschränkt waren.
Ein anderer kleiner Unterschied zwischen den Szenen von 1931 und 2006 bestand darin, dass zur Menschenmenge von 2006 auch einige Neuguineer mit einem unglückselig-verbreiteten amerikanischen Körperbau gehörten: übergewichtige Menschen, bei denen der »Bierbauch« über den Gürtel hing. Die Fotos aus der Zeit vor 75 Jahren zeigen nicht einen einzigen übergewichtigen Neuguineer: Alle waren schlank und muskulös (Abb. 30). Hätte man die Ärzte der Passagiere am Flughafen befragt, so hätte man (was man auch aus den modernen Gesundheitsstatistiken Neuguineas ablesen kann) von einer Vermehrung der Diabetesfälle erfahren, die mit dem Übergewicht gekoppelt sind, außerdem von Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Schlaganfällen und Krebserkrankungen, die noch vor einer Generation unbekannt waren.
Ein weiterer Unterschied betrifft ein Merkmal, das wir in der modernen Welt für selbstverständlich halten: Die meisten Menschen, die in der Flughafenhalle zusammengedrängt waren, hatten einander nie zuvor gesehen; sie waren Fremde, und dennoch gab es zwischen ihnen keine Kämpfe. Auch das wäre 1931 unvorstellbar gewesen: Begegnungen mit Fremden waren damals selten, gefährlich und arteten sehr häufig in Gewalt aus. Da waren zwar die beiden Polizisten in der Flughafenhalle, die angeblich für Ordnung sorgen sollten, in Wirklichkeit sorgte die Menge aber selbst für Ordnung, einfach weil die Passagiere wussten, dass kein anderer auf sie losgehen würde und dass in der Gesellschaft, in der sie lebten, noch mehr Polizisten und Soldaten bereitstanden, falls ein Konflikt aus dem Ruder lief. Im Jahr 1931 gab es weder Polizei noch staatliche Autorität. Die Passagiere in der Flughafenhalle erfreuten sich des Rechts, nach Wapenamanda oder jedem anderen Ort in Papua-Neuguinea zu fliegen oder mit anderen Verkehrsmitteln dorthin zu reisen, ohne dass sie eine Erlaubnis brauchten. In der modernen westlichen Welt ist die Reisefreiheit für uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden, früher jedoch war sie die Ausnahme. Im Jahr 1931 hatte noch kein Neuguineer, der in Goroka geboren war, das nur rund 170 Kilometer weiter westlich gelegene Wapenamanda besucht; von Goroka nach Wapenamanda zu reisen, ohne als unbekannter Fremder schon auf den ersten 15 Kilometern getötet zu werden, wäre undenkbar gewesen. Ich dagegen war gerade mehr als 11000 Kilometer von Los Angeles nach Port Moresby gereist, eine Entfernung, die viele Hundert Mal größer war als alle Strecken, die ein traditioneller Hochlandbewohner Neuguineas während seines gesamten Lebens von seinem Geburtsort aus zurückgelegt hätte.
Alle diese Unterschiede zwischen den Menschenmengen von 2006 und 1931 lassen sich kurz zusammenfassen: Die Bevölkerung des Hochlandes von Neuguinea hat in den letzten 75 Jahren im Eiltempo einen Wandel durchgemacht, der in großen Teilen der übrigen Welt Jahrtausende in Anspruch nahm. Für den einzelnen Hochlandbewohner spielten sich die Veränderungen sogar noch schneller ab: Einige meiner Freunde aus Neuguinea haben mir erzählt, sie hätten ungefähr zehn Jahre, bevor ich sie kennenlernte, die letzten Steinäxte hergestellt und an den letzten traditionellen Stammeskämpfen teilgenommen. Für Bürger der Industriestaaten sind die erwähnten Aspekte der Szene von 2006 eine Selbstverständlichkeit: Metalle, Schrift, Maschinen, Flugzeuge, Polizei und Staat, übergewichtige Menschen, angstfreies Zusammentreffen mit Fremden, eine heterogene Bevölkerung, und so weiter. Aber alle diese Aspekte einer modernen Gesellschaft sind in der Menschheitsgeschichte relativ neu. Während des größten Teils der rund 6 Millionen Jahre, seit sich die Evolutionslinien von Menschen- und Schimpansenvorfahren trennten, gab es in sämtlichen menschlichen Gesellschaften weder Metalle noch all die anderen erwähnten Dinge. Diese modernen Merkmale erschienen erst während der letzten 11000 Jahre auf der Bildfläche, und auch das nur in bestimmten Regionen der Erde.
Deshalb ist Neuguinea[1] in mancherlei Hinsicht ein Fenster zu der Welt der Menschen, wie sie praktisch bis gestern aussah, jedenfalls wenn man es an den 6 Millionen Jahren der Menschenevolution misst. (Ich betone »in mancherlei Hinsicht« – natürlich war das Hochland Neuguineas im Jahr 1931 nicht die unveränderte Welt von gestern.) Alle Veränderungen, die sich im Hochland während der letzten 75 Jahre abgespielt haben, sind auch in anderen Gesellschaften auf der Welt abgelaufen, aber im größten Teil der übrigen Welt setzte der Wandel früher und viel allmählicher ein als in Neuguinea. Aber auch »allmählich« ist relativ: Selbst in Gesellschaften, in denen die Veränderungen zuerst auftauchten, ist der zeitliche Abstand von noch nicht einmal 11000 Jahren winzig klein im Vergleich zu 6 Millionen Jahren. Grundsätzlich haben unsere menschlichen Gesellschaften erst vor sehr kurzer Zeit und sehr schnell tiefgreifende Veränderungen durchgemacht.
Warum finden wir »traditionelle« Gesellschaften so faszinierend?[2]
Zum Teil liegt es an einem rein menschlichen Interesse: Es ist faszinierend, Menschen kennenzulernen, die uns so ähnlich und in mancherlei Hinsicht so verständlich erscheinen und uns doch andererseits unähnlich vorkommen und kaum zu verstehen sind. Als ich 1964 mit 26 Jahren zum ersten Mal nach Neuguinea kam, war ich verblüfft darüber, wie exotisch die Bewohner des Landes waren: Sie sehen anders aus als Amerikaner, sprechen andere Sprachen, kleiden sich anders und verhalten sich anders. Als ich aber vielen Teilen Neuguineas und den benachbarten Inseln in den nachfolgenden Jahrzehnten Dutzende von Besuchen abstattete, die zwischen einem und fünf Monaten dauerten, und als ich dabei einzelne Neuguineer kennenlernte, machte der beherrschende Eindruck des Exotischen dem Gefühl von Gemeinsamkeiten Platz: Wir führen lange Gespräche, lachen über die gleichen Witze, haben gemeinsames Interesse an Kindern, Sex, Essen und Sport, und sind gemeinsam wütend, ängstlich, traurig, erleichtert oder überschwänglich. Selbst ihre Sprachen sind Variationen alt vertrauter, weltweit verbreiteter linguistischer Themen: Die erste neuguineische Sprache, die ich lernte (das Fore), ist zwar mit den indoeuropäischen Sprachen nicht verwandt und hat deshalb einen Wortschatz, der mir völlig unbekannt war, aber im Fore werden Verben ebenso raffiniert konjugiert wie im Deutschen, und es hat doppelte Pronomen wie das Slowenische, Postpositionen wie das Finnische und drei Adverbien des Ortes (»hier«, »dort in der Nähe« und »dort weit weg«) wie das Lateinische.
Alle diese Ähnlichkeiten verleiteten mich nach dem ersten Eindruck der Exotik Neuguineas zu dem irrtümlichen Gedanken, Menschen seien »im Grundsatz überall gleich«. Am Ende wurde mir aber klar, dass wir in einigen grundlegenden Aspekten nicht alle gleich sind: Viele meiner neuguineischen Bekannten zählen anders (nämlich nicht mit abstrakten Zahlen, sondern durch visuelle Kartierung), wählen ihre Ehepartner anders aus, behandeln Eltern und Kinder anders und haben sowohl eine andere Einstellung zu Gefahren als auch einen anderen Begriff von Freundschaft. Diese verwirrende Mischung von Ähnlichkeiten und Unterschieden ist einer der Gründe, warum traditionelle Gesellschaften für Außenstehende so faszinierend sind.
Darüber hinaus gibt es aber noch einen anderen Grund, warum traditionelle Gesellschaften interessant und wichtig sind: In ihnen finden wir noch Hinweise darauf, wie alle unsere Vorfahren über Zehntausende von Jahren hinweg und praktisch bis gestern gelebt haben. Die traditionelle Lebensweise hat uns geprägt und dafür gesorgt, dass wir heute so und nicht anders sind. Der Übergang vom Jagen und Sammeln zur Landwirtschaft begann erst vor ungefähr 11000 Jahren; die ersten Metallwerkzeuge wurden vor 7000 Jahren hergestellt; und die ersten Staatsregierungen sowie die erste Schrift entstanden vor nicht mehr als 5400 Jahren. »Moderne« Verhältnisse herrschten nur während eines winzigen Bruchteils der Menschheitsgeschichte, und auch das nur lokal; alle menschlichen Gesellschaften waren weitaus länger traditionell, als unsere heutige Gesellschaft modern ist. Für die Leser dieses Buches ist es selbstverständlich, im Laden landwirtschaftlich erzeugte Lebensmittel zu kaufen, statt jeden Tag in freier Wildbahn zu jagen und zu sammeln; wir verwenden Metallwerkzeuge statt solchen aus Stein, Holz und Knochen, haben Staatsregierungen einschließlich der damit verbundenen Justiz, Polizei und Armee, und wir können lesen und schreiben. Aber alle diese scheinbaren Notwendigkeiten sind relativ neu, und Milliarden Menschen auf der ganzen Welt leben auch heute noch teilweise auf traditionelle Weise.
Selbst in die moderne Industriegesellschaft sind Bereiche eingebettet, in denen nach wie vor traditionelle Mechanismen am Werk sind. In vielen ländlichen Gebieten der Ersten Welt, beispielsweise in dem Tal in Montana, wo ich jedes Jahr mit meiner Frau und meinen Kindern die Sommerferien verbringe, zieht man bei Meinungsverschiedenheiten auch heute noch vielfach nicht vor Gericht, sondern man legt sie mit traditionellen, informellen Mechanismen bei. Jugendbanden in großen Städten rufen nicht die Polizei, wenn sie Konflikte austragen wollen, sondern sie bedienen sich der traditionellen Methoden der Verhandlung, Gegenleistung, Einschüchterung und Kriegsführung. Einige meiner Bekannten aus Europa, die in den 1950er Jahren in kleinen europäischen Dörfern aufwuchsen, beschreiben eine ganz ähnliche Kindheit wie in einem traditionellen Dorf in Neuguinea: Jeder kannte im Dorf jeden, jeder wusste, was jeder andere tat, und äußerte seine Meinung darüber, die Menschen heirateten Partner, die nur wenige Kilometer entfernt geboren waren, und sie verbrachten mit Ausnahme der jungen Männer, die während der Weltkriegsjahre abwesend waren, ihr ganzes Leben im Dorf oder in seiner Nähe; Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Dorfes mussten so beigelegt werden, dass Beziehungen wieder hergestellt oder erträglich gemacht wurden, denn man musste für sein ganzes weiteres Leben in der Nähe der betreffenden Person wohnen. Mit anderen Worten: Die Welt von gestern wurde nicht ausgelöscht und durch die neue, moderne Welt ersetzt, sondern vieles von gestern ist uns bis heute erhalten geblieben. Das ist ein weiterer Grund, warum wir die Welt von gestern verstehen wollen.
Wie wir in den Kapiteln des vorliegenden Buches noch genauer erfahren werden, sind traditionelle Gesellschaften in vielen ihrer kulturellen Gebräuche weitaus vielgestaltiger als moderne Industriegesellschaften. Im Spektrum dieser Vielfalt haben sich zahlreiche kulturelle Normen für moderne Staatsgesellschaften weit von den traditionellen Normen entfernt und liegen an den äußersten Enden der hergebrachten Bandbreite. So behandeln beispielsweise manche traditionellen Gesellschaften ältere Menschen im Vergleich zu jeder modernen Industriegesellschaft viel grausamer, während andere ihren Alten ein weitaus befriedigenderes Leben ermöglichen; die modernen Industriegesellschaften stehen aber dem ersten Extrem näher als dem zweiten. Dennoch stützen Psychologen sich mit ihren allgemeinen Aussagen über das Wesen des Menschen meist auf Untersuchungen in unserem eigenen schmalen, atypischen Teil der menschlichen Vielfalt. Unter den Versuchspersonen, die in einer Stichprobe von Fachartikeln aus den führenden psychologischen Fachzeitschriften im Jahr 2008 untersucht wurden, stammten 96 Prozent aus westlichen Industriestaaten (Nordamerika, Europa, Australien, Neuseeland und Israel); insbesondere kamen 68 Prozent aus den Vereinigten Staaten, und bis zu 80 Prozent waren College-Studienanfänger, die sich für psychologische Studiengänge eingeschrieben hatten, das heißt, sie waren nicht einmal für die Gesellschaft ihrer eigenen Staaten typisch. Die Sozialwissenschaftler Joseph Henrich, Steven Heine und Ara Norenzayan drücken es so aus: Unsere Kenntnisse über die Psychologie des Menschen wurden zum größten Teil an Versuchspersonen gewonnen, die man mit der Abkürzung WEIRD (white, educated, industrialized, rich, democratic), was im Englischen »sonderbar« bedeutet, beschreiben kann: Menschen aus westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen, demokratischen Gesellschaften. Die meisten Versuchspersonen sind anscheinend auch nach den Maßstäben der weltweiten kulturellen Bandbreite buchstäblich sonderbar – in vielen Untersuchungen an kulturellen Phänomenen, in denen die weltweite Vielfalt umfassender eingefangen wurde, erweisen sie sich als Exoten. Zu diesen untersuchten Phänomenen gehören visuelle Wahrnehmung, Fairness, Kooperation, Bestrafung, biologisches Denken, räumliche Orientierung, analytisches und ganzheitliches Denken, moralische Überlegungen, Motivation zur Anpassung, Entscheidungsfindung und der Begriff des Ich. Wenn wir also allgemeine Aussagen über das Wesen des Menschen machen wollen, müssen wir unsere untersuchte Stichprobe von den üblichen WEIRD-Versuchspersonen (vorwiegend amerikanische Studienanfänger in Psychologie) auf das gesamte Spektrum der traditionellen Gesellschaften erweitern.
Sozialwissenschaftler können also aus Studien an traditionellen Gesellschaften mit Sicherheit Schlussfolgerungen von akademischem Interesse ziehen, wir anderen sollten aber auch praktische Dinge lernen können. Traditionelle Gesellschaften stellen eigentlich Tausende von natürlichen Experimenten zum Aufbau einer Gesellschaft dar. Sie haben Tausende von Lösungen für die Probleme der Menschen gefunden, und diese Lösungen sind anders als jene, die unsere modernen WEIRD-Gesellschaften sich zu eigen gemacht haben. Wie wir noch genauer erfahren werden, scheinen manche dieser Lösungen – beispielsweise manche Methoden, nach denen traditionelle Gesellschaften ihre Kinder großziehen, ältere Menschen behandeln, gesund bleiben, sich unterhalten, ihre Freizeit verbringen und Konflikte beilegen – mir und sicher auch vielen Lesern im Vergleich zu den normalen Vorgehensweisen in der Ersten Welt überlegen zu sein. Vielleicht können wir davon profitieren, wenn wir gezielt einige dieser traditionellen Verfahren übernehmen. Manche von uns tun das bereits, und dies ist nachgewiesenermaßen nützlich für Gesundheit und Glück. In mancherlei Hinsicht sind wir modernen Menschen eigentlich Sonderlinge; unser Körper und unsere Handlungsweisen haben es heute mit Bedingungen zu tun, die ganz anders sind als jene, unter denen ihre Evolution stattgefunden hat und an die sie sich angepasst haben.
Wir sollten aber auch nicht in das andere Extrem verfallen, die Vergangenheit romantisch zu verklären und uns nach einfacheren Zeiten zu sehnen. Viele traditionelle Praktiken sind so, dass wir uns glücklich schätzen können, sie aufgegeben zu haben – dazu gehören Säuglingsmord, die Aussetzung oder Tötung älterer Menschen, immer wiederkehrende Hungersgefahr, ein erhöhtes Risiko für Umweltgefahren und Infektionskrankheiten, aber auch die Aussicht, die eigenen Kinder sterben zu sehen und in ständiger Angst vor Angriffen zu leben. Traditionelle Gesellschaften legen nicht nur einige bessere Aspekte der Lebensweise nahe, sondern sie können uns auch helfen, manche Vorteile unserer eigenen Gesellschaft schätzen zu lernen, die wir für selbstverständlich halten.
Traditionelle Gesellschaften sind in ihrer Organisation vielgestaltiger als Gesellschaften mit Staatsregierungen. Um jene Merkmale traditioneller Gesellschaften zu verstehen, die uns weniger vertraut sind, wollen wir uns zunächst einmal an die allgemein bekannten Eigenschaften der Nationalstaaten erinnern, in denen wir heute leben.
Die meisten modernen Staaten haben eine Bevölkerung von Hunderten von Tausenden oder Millionen von Menschen; das Spektrum reicht bis zu jeweils über eine Milliarde Menschen in Indien und China, den beiden bevölkerungsreichsten Staaten unserer Zeit. Selbst die kleinsten modernen Einzelstaaten, die Inselstaaten Nauru und Tuvalu im Pazifik, haben jeweils über 10000 Einwohner. (Der Vatikan mit seiner Bevölkerung von nur 1000 Menschen gilt ebenfalls als Staat, stellt aber eine Ausnahme dar: Er ist eine winzige Enklave in der Großstadt Rom, aus der er alles Notwendige bezieht.) Auch früher hatten Staaten eine Bevölkerung im Bereich von einigen zehntausend bis einigen Millionen Menschen. Schon aus dieser großen Bevölkerungszahl können wir ablesen, wie Staaten sich ernähren müssen, welche Organisationsformen sie brauchen und warum sie überhaupt existieren. Alle Staaten ernähren ihre Bürger nicht durch Jagen und Sammeln, sondern durch Lebensmittelproduktion (Landwirtschaft und Viehzucht). Wenn man auf Garten-, Acker- oder Weideland von einigen hundert Quadratmetern Nutzpflanzen anbaut oder Vieh hält und sie auf diese Weise mit den Pflanzen- und Tierarten besetzt, die für uns am nützlichsten sind, kann man weitaus mehr Lebensmittel ernten als wenn man wilde Tiere jagt oder die Pflanzenarten (die meisten davon ungenießbar) sammelt, die zufällig auf einigen hundert Quadratmetern Waldland gedeihen. Allein aus diesem Grund konnte keine Gesellschaft von Jägern und Sammlern jemals eine so dichte Bevölkerung ernähren, dass daraus eine Staatsregierung hervorgehen konnte. In jedem Staat erzeugt nur ein gewisser Anteil der Bevölkerung – in modernen Gesellschaften mit stark mechanisierter Landwirtschaft oftmals nur zwei Prozent – die Nahrung. Die übrigen Bewohner sind mit anderen Dingen beschäftigt, beispielsweise mit Verwaltung, Produktion oder Handel; sie erzeugen ihre Lebensmittel nicht selbst, sondern leben von den Überschüssen, die von den Bauern produziert werden.
Wegen der großen Bevölkerung ist auch gewährleistet, dass die meisten Menschen innerhalb eines Staates sich gegenseitig nicht kennen: Selbst ein Bürger des winzigen Tuvalu kann nicht mit allen seinen 10000 Mitbürgern bekannt sein, und bei den 1,4 Milliarden chinesischen Bürgern wäre diese Herausforderung noch weniger zu bewältigen. Deshalb brauchen Staaten ihre Polizei, Gesetze und Moralvorschriften, die dafür sorgen, dass die ständigen, unvermeidlichen Begegnungen zwischen Fremden nicht immer wieder in Konflikte ausarten. Dieser Bedarf für Polizei, Gesetze und das moralische Gebot, freundlich zu Fremden zu sein, ergibt sich in winzigen Gesellschaften, in denen jeder jeden kennt, nicht.
Und schließlich ist es in einer Gesellschaft von mehr als 10000 Menschen nicht möglich, Entscheidungen zu fällen, auszuführen und durchzusetzen, indem alle Bürger sich zu einer persönlichen Diskussion zusammensetzen und ihre Meinung sagen. Eine große Bevölkerung funktioniert nicht ohne Führungspersonen, die Entscheidungen treffen, und ebenso braucht sie ausführende Organe, welche die Entscheidungen umsetzen, und Bürokraten, die Entscheidungen und Gesetze verwalten. Pech für alle Leser, die Anarchisten sind und von einem Leben ohne Staatsregierung träumen: Das sind die Gründe, warum ihr Traum unrealistisch ist. Sie müssten einen winzigen Clan oder Stamm finden, der sie aufnimmt, denn nur dort ist niemand ein Fremder, und Könige, Präsidenten oder Bürokraten werden nicht gebraucht.
Wie wir in Kürze genauer erfahren werden, war die Bevölkerung auch in manchen traditionellen Gesellschaften so groß, dass Allzweck-Bürokraten gebraucht wurden. Staaten sind aber noch bevölkerungsreicher und benötigen einen spezialisierten, vertikal und horizontal differenzierten Beamtenapparat. Wir Staatsbürger finden alle diese Bürokraten meist entsetzlich, aber noch einmal: Leider sind sie notwendig. Ein Staat hat so viele Gesetze und Bürger, dass Bürokraten eines einzigen Typs nicht alle Gesetze des Königs anwenden können: Es muss eine Trennung zwischen Finanzbeamten, Auto-Sicherheitsprüfern, Polizisten, Richtern, Inspektoren für die Sauberkeit in Restaurants und so weiter geben. Und auch innerhalb einer Behörde, in der nur eine solche Gruppe von Beamten tätig ist, sind wir daran gewöhnt, dass es viele Beamte gibt, zwischen denen eine hierarchische Ordnung mit mehreren Ebenen besteht: Im Finanzamt gibt es den Sachbearbeiter, der die eigentliche Steuererklärung bearbeitet; bei seinem Vorgesetzten können wir uns beschweren, wenn wir mit dem Steuerbescheid des Sachbearbeiters nicht einverstanden sind, und dieser Vorgesetzte ist seinerseits unter einem Amtsleiter tätig, der einem Kreis- oder Landesbeamten unterstellt ist, der dem Finanzminister des gesamten Staates unterstellt ist. (In Wirklichkeit ist die Sache noch komplizierter: Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich mehrere weitere Hierarchieebenen weggelassen.) Eine imaginäre Bürokratie dieses Typs beschreibt Franz Kafka in seinem Roman Das Schloss; die Anregung dazu bezog er aus der tatsächlichen Bürokratie des Habsburgerreiches, dessen Bürger er war. Wenn ich Kafkas Bericht über die Frustrationen, die sein Protagonist im Umgang mit der imaginären Bürokratie des Schlosses erlebt, vor dem Zubettgehen lese, sind Albträume in der folgenden Nacht garantiert, aber auch jeder Leser hat sicher im Umgang mit der realen Bürokratie bereits seine eigenen Albträume und Frustrationen erlebt. Es ist der Preis, den wir für das Leben unter einer staatlichen Regierung bezahlen: Kein Utopist hat jemals herausgefunden, wie man einen Staat verwalten kann, ohne dass es zumindest einige Bürokraten gibt.
Und schließlich bleibt noch ein nur allzu vertrautes Merkmal der Staaten: Selbst in den skandinavischen Demokratien mit ihrer großen Gleichberechtigung sind die Bürger politisch, wirtschaftlich und sozial nicht gleich. In jedem Staat gibt es zwangsläufig einige Führungsgestalten, die Anordnungen erteilen und Gesetze machen, und viele gewöhnliche Bürger, die den Anordnungen gehorchen und die Gesetze befolgen. Staatsbürger haben unterschiedliche wirtschaftliche Positionen (als Bauern, Hausmeister, Anwälte, Politiker, Verkäufer usw.) inne, und manche dieser Positionen bringen höhere Gehälter ein als andere. Manche Bürger erfreuen sich eines höheren gesellschaftlichen Status als andere. Alle idealistischen Bemühungen, die Ungleichheit in den Staaten so gering wie möglich zu halten – zum Beispiel Karl Marx’ Formulierung des kommunistischen Ideals »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« –, sind gescheitert.
Staaten konnte es nicht geben, solange es keine Lebensmittelproduktion gab (die ungefähr 9000 v.Chr. begann), und auch danach konnten Staaten erst dann existieren, als die Lebensmittelproduktion über Jahrtausende hinweg funktionierte und die Entwicklung einer Bevölkerungsdichte ermöglichte, die eine Staatsregierung erforderte. Der erste Staat entstand um 3400 v.Chr. im Fruchtbaren Halbmond, andere entwickelten sich in den folgenden Jahrtausenden in China, Mexiko, den Anden, Madagaskar und anderen Regionen; heute zeigt die Weltkarte, dass sämtliche Landflächen unseres Planeten mit Ausnahme der Antarktis in Staaten aufgeteilt sind. Und selbst die Antarktis ist Gegenstand einander teilweise überschneidender Territorialansprüche von sieben Staaten.
Vor 3400 v.Chr. gab es also nirgendwo Staaten, und auch in jüngerer Zeit entzogen sich noch große Gebiete der staatlichen Kontrolle, weil sie unter einfacheren, traditionellen politischen Systemen funktionierten. Die Unterschiede zwischen diesen traditionellen Gesellschaften und den Staatsgesellschaften, die uns heute vertraut sind, bilden das Thema dieses Buches. Wie sollen wir die traditionellen Gesellschaften als solche klassifizieren und über ihre Vielfalt sprechen?
Zwar ist jede menschliche Gesellschaft einzigartig, es gibt aber auch kulturübergreifende Gesetzmäßigkeiten, die einige allgemeine Aussagen ermöglichen. Zusammenhängende Trends gibt es insbesondere in mindestens vier Aspekten der Gesellschaften: Bevölkerungsgröße, Nahrungsgrundlage, politische Zentralisierung und gesellschaftliche Schichtenbildung. Mit zunehmender Bevölkerungsgröße und -dichte verstärken sich in der Regel die Bemühungen um die Beschaffung von Lebensmitteln und anderen notwendigen Dingen. Kleinbauern, die in Dörfern leben, gewinnen je Flächeneinheit mehr Nahrung als kleine Nomadengruppen von Jägern und Sammlern, und noch größer ist der Ertrag je Flächeneinheit in den mechanisierten landwirtschaftlichen Betrieben der modernen Staaten. Politische Entscheidungsprozesse werden zunehmend zentralisiert und verlagern sich von den persönlichen Diskussionen in kleinen Jäger- und Sammlergruppen zu den politischen Hierarchien und den Entscheidungsträgern. Auch die soziale Schichtenbildung nimmt zu: Die Entwicklung geht von der relativ starken Gleichberechtigung der kleinen Jäger- und Sammlergruppen zur Ungleichheit der Menschen in großen, zentralisierten Gesellschaften.
Diese Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Aspekten einer Gesellschaft sind nicht starr: In manchen Gesellschaften einer bestimmten Größe ist die Nahrungsbeschaffung, die politische Zentralisierung oder die soziale Schichtenbildung weiter entwickelt als in anderen. Wir brauchen aber eine Kurzbezeichnung für die verschiedenen Typen von Gesellschaften, die sich aufgrund solcher umfassender Trends entwickeln, wobei wir gleichzeitig die Vielfalt innerhalb der Trends anerkennen. Damit stehen wir vor einer ähnlichen praktischen Schwierigkeit wie die Entwicklungspsychologen, die sich über Unterschiede zwischen einzelnen Menschen unterhalten. Zwar ist jeder Mensch einzigartig, es gibt aber auch umfassende, mit dem Alter zusammenhängende Trends: Dreijährige unterscheiden sich beispielsweise im Durchschnitt in vielen, miteinander zusammenhängenden Aspekten von 24-Jährigen. Andererseits ist das Alter aber ein Kontinuum ohne abrupte Übergänge: Es existiert kein plötzlicher Wechsel vom »wie ein Dreijähriger sein« zum »wie ein Sechsjähriger sein«. Ebenso bestehen Unterschiede zwischen Menschen gleichen Alters. Aber trotz solcher Komplikationen halten Entwicklungspsychologen es für nützlich, allgemeine Kategorien wie »Säugling«, »Kleinkind«, »Kind«, »Jugendlicher«, »junger Erwachsener« und so weiter aufzustellen, wobei sie sich gleichzeitig der Unvollkommenheit einer solchen Einteilung bewusst sind.
Auch Sozialwissenschaftler finden es nützlich, abgekürzte Kategorien zu verwenden, über deren Unvollkommenheiten sie sich im Klaren sind. Sie stehen aber zusätzlich vor der Schwierigkeit, dass Veränderungen in Gesellschaften sich im Gegensatz zu einer Veränderung der Altersstufen rückgängig machen lassen. Bauern in einem Dorf kehren unter Umständen bei Dürre zu einer Lebensweise als Jäger und Sammler zurück, ein Vierjähriger dagegen wird sich nie wieder in einen Dreijährigen verwandeln. Und während sich die meisten Entwicklungspsychologen über die umfassenden Kategorien Säugling/Kind/Jugendlicher/Erwachsener und ihre Benennung einig sind, bedienen sich die Sozialwissenschaftler zur Beschreibung der Variationsbreite traditioneller Gesellschaften zahlreicher verschiedener Kategoriensysteme, und manche von ihnen rümpfen über die Anwendung von Kategorien ganz allgemein die Nase. In diesem Buch werde ich mich hier und da an dem Anthropologen Elman Rogers Service orientieren, der die menschlichen Gesellschaften nach zunehmender Bevölkerungszahl, politischer Zentralisierung und sozialer Schichtenbildung in vier Kategorien eingeteilt hat: Horde, Stamm, Häuptlingstum und Staat. Diese Begriffe sind zwar schon 50 Jahre alt, und seither wurden andere Termini vorgeschlagen, die Bezeichnungen von Service haben aber den Vorteil, dass sie einfach sind: Man muss nicht sieben, sondern nur vier Begriffe im Gedächtnis behalten, und es sind keine Bezeichnungen aus mehreren Wörtern, sondern nur einzelne Wörter. Man sollte aber immer daran denken, dass solche Begriffe nur nützliche Kurzbezeichnungen sind, mit denen man sich über die Vielfalt der menschlichen Gesellschaften unterhalten kann, ohne jedes Mal, wenn sie im Text vorkommen, wieder auf ihre Unvollkommenheiten hinweisen zu müssen.
Soweit wir aus archäologischen Befunden Rückschlüsse auf die Organisation früherer Gesellschaften ziehen können, lebten vermutlich alle Menschen bis vor wenigen zehntausend Jahren in solchen Horden, und für die meisten galt dies auch noch vor 11000 Jahren. Als die Europäer sich – insbesondere nach Kolumbus’ erster Reise im Jahr 1492 – über die ganze Welt verbreiteten und auf nichteuropäische Völker trafen, die in nichtstaatlichen Gesellschaften lebten, besiedelten Horden immer noch ganz Australien und die Arktis oder große Teile davon, aber auch Wüsten- und Waldregionen mit geringer Produktivität in Amerika sowie im mittleren und südlichen Afrika. Hordengesellschaften, die in diesem Buch mehrfach vorkommen werden, sind unter anderem die !Kung in der afrikanischen Kalahariwüste, die Ache- und Siriono-Indianer Südamerikas, die Bewohner der Andamaneninseln im Golf von Bengalen, die Pygmäen in den Wäldern von Äquatorialafrika und die Gartenbau betreibenden Machiguenga-Indianer in Peru. Sie alle mit Ausnahme der Machiguenga sind oder waren Jäger und Sammler.
Horden gehen allmählich in den nächstgrößeren, komplizierteren Gesellschaftstyp über. Diese Gesellschaften werden von Service als Stämme bezeichnet und bestehen aus mehreren hundert Individuen. Damit befinden sie sich, was die Gruppengröße angeht, immer noch innerhalb des Bereichs, in dem jeder jeden anderen persönlich kennt und Fremde nicht existieren. Meine Highschool hatte beispielsweise 200 Schüler. Sie alle einschließlich der Lehrer kannten sich mit Namen, was in der Highschool meiner Frau mit Tausenden von Schülern nicht mehr möglich war. Eine Gesellschaft von einigen hundert Personen umfasst mehrere Dutzend Familien; diese gliedern sich häufig in Verwandtschaftsgruppen oder Clans, die unter Umständen Ehepartner mit anderen Clans austauschen. Da ein Stamm mehr Mitglieder hat als eine Horde, braucht er auch mehr Nahrung, um seine Menschen in einer kleinen Region zu ernähren; deshalb sind Stämme in der Regel Bauern und/oder Viehzüchter, es gibt unter ihnen aber auch Jäger und Sammler, die in einer besonders produktiven Umwelt leben (beispielsweise die Ainu in Japan oder die Indianer an der Pazifikküste im Nordwesten Nordamerikas). Stämme sind meist sesshaft und leben während des ganzen Jahres oder eines großen Teils davon in Dörfern, die sich in der Nähe ihrer Gärten, Weiden oder Fischgründe befinden. Die Viehzüchter in Zentralasien und einige andere Stammesvölker praktizieren jedoch die Transhumanz, das heißt, sie treiben ihr Vieh in Abhängigkeit von der Jahreszeit zwischen verschiedenen Höhenlagen hin und her, um damit im Jahreslauf das Graswachstum in größeren Höhen auszunutzen.
In anderer Hinsicht ähneln die Stämme noch großen Horden; das gilt beispielsweise für ihre relativ egalitäre Stellung, schwache wirtschaftliche Spezialisierung, schwache politische Führung, das Fehlen von Bürokraten und die Entscheidungsfindung im persönlichen Gespräch. Ich habe in Dörfern in Neuguinea bei Versammlungen zugesehen, in denen Hunderte von Menschen auf dem Boden saßen, ihre Meinung sagten und schließlich zu einem Beschluss gelangten. In manchen Stämmen gibt es einen »großen Mann«, der als eine Art schwache Führungsgestalt fungiert, aber seine Funktion stützt sich nicht auf eine anerkannte Autorität, sondern nur auf Persönlichkeit und Überzeugungskraft. Ein Beispiel für die Grenzen der Macht eines »großen Mannes« werden wir in Kapitel 3 kennenlernen: Den angeblichen Anhängern eines Führers namens Gutelu vom neuguineischen Stamm der Dani gelang es, Gutelus Willen zu übergehen und einen an Völkermord grenzenden Angriff zu unternehmen, durch den Gutelus politisches Bündnis gespalten wurde. Archäologische Anhaltspunkte für die Stammesorganisation, beispielsweise die Überreste nennenswerter Wohngebäude und Siedlungen, legen die Vermutung nahe, dass Stämme sich in manchen Regionen bereits vor mindestens 13000 Jahren entwickelten. In jüngerer Zeit waren sie in Teilen Neuguineas und im Amazonasgebiet immer noch weit verbreitet. Zu den Stammesgesellschaften, die ich in diesem Buch erörtern werde, gehören die Iñupiat in Alaska, die südamerikanischen Yanomamo-Indianer, die Kirgisen in Afghanistan, die Kaulong in Neubritannien sowie die Dani, Daribi und Fore in Neuguinea.
Nach den Stämmen folgt als nächstkompliziertere Organisationsform das Häuptlingstum oder Stammesfürstentum mit Tausenden oder Zehntausenden von Untertanen. Eine so große Bevölkerung und die beginnende wirtschaftliche Spezialisierung erfordern eine hohe Lebensmittelproduktion und die Fähigkeit, Nahrungsüberschüsse zu erzeugen und aufzubewahren; nur so können die Spezialisten, die selbst keine Nahrungsmittel produzieren, darunter auch die Häuptlinge sowie ihre Verwandten und Bürokraten, ernährt werden. Deshalb bauten Häuptlingstümer dauerhafte Dörfer und Siedlungen mit Lagereinrichtungen, und sie waren vorwiegend nahrungsproduzierende Gesellschaften (das heißt Bauern und Viehzüchter); Ausnahmen gab es nur in den produktivsten Regionen, die Jägern und Sammlern zur Verfügung standen, so im Calusa-Häuptlingstum in Florida und in den Häuptlingstümern der Chumash an der südkalifornischen Küste.
In einer Gesellschaft von mehreren tausend Menschen ist es unmöglich, dass jeder jeden kennt oder dass persönliche Diskussionen unter Beteiligung aller stattfinden. Deshalb stehen Häuptlingstümer vor zwei neuen Problemen, die sich für Horden oder Stämme nicht stellen. Erstens müssen Fremde in einem Häuptlingstum die Möglichkeit haben, einander zu treffen, sich gegenseitig als Mitglieder desselben Häuptlingstums zu erkennen, obwohl sie sich unbekannt sind, um Empfindlichkeiten wegen territorialer Übergriffe sowie die damit verbundenen Konflikte zu vermeiden. Aus diesen Gründen entwickeln Häuptlingstümer eine gemeinsame Ideologie sowie eine politische und religiöse Identität, die sich häufig aus der angeblich göttlichen Stellung des Häuptlings ableitet. Und zweitens gibt es nun eine anerkannte Führungsgestalt, den Häuptling, der Entscheidungen trifft, eine allseits akzeptierte Autorität besitzt, für sich im Bedarfsfall das Monopol der Gewaltausübung gegenüber den Mitgliedern seiner Gesellschaft beansprucht und so dafür sorgt, dass Fremde innerhalb desselben Häuptlingstums nicht gegeneinander kämpfen. Unterstützt wird der Häuptling durch nichtspezialisierte Allzweck-Vertreter (eine Vorstufe der Bürokraten), die Tribut eintreiben, Meinungsverschiedenheiten schlichten und andere administrative Aufgaben erfüllen; im Gegensatz zu einem Staat gibt es aber noch keine getrennten Finanzbeamten, Richter und Gewerbeaufseher. (Hier kann es zur Verwirrung kommen: Manche traditionellen Gesellschaften haben Häuptlinge und wurden in der wissenschaftlichen Literatur und in diesem Buch zutreffend als Häuptlingstümer beschrieben, werden aber in den meisten populärwissenschaftlichen Schriften »Stämme« genannt; dies gilt beispielsweise für die Indianer»stämme« im Osten Nordamerikas, die in Wirklichkeit Häuptlingstümer waren.)
Eine wirtschaftliche Neuerung der Häuptlingstümer wird als Umverteilungs- oder Palastwirtschaft bezeichnet: Anstelle des einfachen, direkten Tauschhandels zwischen Einzelpersonen sammelt der Häuptling einen Tribut in Form von Lebensmitteln und Arbeitskraft ein, der zum größten Teil an Krieger, Priester und Handwerker verteilt wird, die dem Häuptling dienen. Die Umverteilung ist also die älteste Form eines Steuersystems, mit dem neue Institutionen finanziert werden. Ein Teil der Lebensmitteltribute fließt an die gemeinen Bürger zurück, denn der Häuptling ist moralisch verpflichtet, sie in Hungerzeiten zu unterstützen, und sie arbeiten beispielsweise an der Konstruktion von Bauwerken und Bewässerungssystemen für den Häuptling. Neben diesen politischen und wirtschaftlichen Neuerungen, die über die Praktiken der Horden und Stämme hinausgingen, entwickelte sich in den Häuptlingstümern auch erstmals die soziale Neuerung einer institutionalisierten Ungleichheit. Getrennte Abstammungslinien gab es zwar auch schon in manchen Stämmen, im Häuptlingstum jedoch bilden sie erbliche Ränge: An der Spitze stehen der Häuptling und seine Familie, ganz unten die gemeinen Untertanen oder Sklaven, und dazwischen (im Fall der Polynesier auf Hawaii) bis zu acht Kasten unterschiedlichen Ranges. Den Angehörigen der höheren Abstammungslinien oder Kasten ermöglichte der vom Häuptling eingetriebene Tribut ein besseres Leben, was Nahrung, Wohnung sowie besondere Kleidungs- und Schmuckstücke anging.
Häuptlingstümer vergangener Zeiten erkennt man deshalb archäologisch (manchmal) an Monumentalbauwerken sowie an Anhaltspunkten wie einer ungleichen Verteilung der Grabbeigaben auf Friedhöfen: Manche Toten (Häuptlinge sowie ihre Angehörigen und Bürokraten) wurden in großen Grabstätten beigesetzt, die im Gegensatz zu den schmucklosen Gräbern der gemeinen Untertanen mit Luxusgegenständen wie Türkisen oder geopferten Pferden angefüllt waren. Aus solchen Indizien ziehen Archäologen den Schluss, dass Häuptlingstümer sich lokal ungefähr seit 5500 v.Chr. entwickelten. In der Neuzeit, unmittelbar bevor auf der ganzen Welt nahezu allgemein die Autorität von Staatsregierungen eingeführt wurde, waren Häuptlingstümer in Polynesien, großen Teilen des mittleren und südlichen Afrika, den produktiven Regionen im Osten und Südwesten Nordamerikas, in Mittelamerika sowie in Südamerika außerhalb der Staaten im heutigen Mexiko und in den Anden weit verbreitet. Zu den Häuptlingstümern, die in diesem Buch erörtert werden, gehören die Bewohner der Mailu- und Trobriandinseln in der Region Neuguinea sowie die Calusa- und Chumash-Indianer Nordamerikas. Aus den Häuptlingstümern entwickelten sich (ungefähr seit 3400 v.Chr.) durch Eroberung oder erzwungene Verschmelzung die ersten Staaten; die Folgen waren eine größere, oftmals ethnisch gemischte Bevölkerung, spezialisierte Zuständigkeitsbereiche und Hierarchieebenen von Bürokraten, stehende Armeen, eine viel größere wirtschaftliche Spezialisierung, die Entstehung von Städten und andere Veränderungen bis hin zu den verschiedenartigen Gesellschaften unserer modernen Welt.
Könnten Sozialwissenschaftler sich mit Hilfe einer Zeitmaschine einen Überblick über die Welt zu einem beliebigen Zeitpunkt vor ungefähr 9000 v.Chr. verschaffen, so würden sie überall Menschen finden, die sich ihren Lebensunterhalt als Jäger und Sammler sicherten; sie lebten in Horden und möglicherweise manchmal bereits in Stämmen, aber es gab weder Metallwerkzeuge noch eine Schrift, Zentralregierungen oder wirtschaftliche Spezialisierung. Wären die Sozialwissenschaftler dann im 15. Jahrhundert wiedergekommen, als die Verbreitung der Europäer auf andere Kontinente gerade am Anfang stand, hätten sie festgestellt, dass Australien als einziger Kontinent noch ausschließlich von Jägern und Sammlern besiedelt war, die meist in Horden und in manchen Fällen möglicherweise in Stämmen lebten. Der größte Teil Eurasiens, der Norden Afrikas, die größten Inseln im Westen Indonesiens, große Teile der Anden sowie Teile von Mexiko und Westafrika waren hingegen bereits von Staaten besetzt. Zahlreiche Horden, Stämme und Häuptlingstümer gab es noch in Südamerika außerhalb der Anden, im gesamten Nordamerika, Neuguinea, in der Arktis und auf den Pazifikinseln. Heute ist die ganze Welt mit Ausnahme der Antarktis zumindest nominell in Staaten unterteilt, in manchen Regionen bleiben staatliche Regierungen allerdings wirkungslos. Die Regionen der Erde, in denen sich die größte Zahl von Gesellschaften ohne wirksame staatliche Kontrolle bis ins 20. Jahrhundert erhalten hat, waren Neuguinea und das Amazonasgebiet.
Parallel zu der kontinuierlichen Zunahme von Bevölkerungszahl, politischer Organisation und intensiver Nahrungsmittelproduktion, die sich von den Horden bis zu den Staaten hinzog, verliefen andere Trends wie eine zunehmende Abhängigkeit von Metallwerkzeugen, eine Weiterentwicklung der Technologie, wirtschaftliche Spezialisierung, Ungleichheit der einzelnen Menschen und Schrift; außerdem kam es bei Kriegsführung und Religion zu Veränderungen, von denen in den Kapiteln 3, 4 und 9 ausführlich die Rede sein wird. (Wie gesagt: Die Entwicklung von den Horden zu den Staaten fand weder überall statt noch war sie unumkehrbar oder linear). Diese Entwicklungen, insbesondere die Zunahme der Bevölkerungszahl, die politische Zentralisierung sowie die verbesserte Technologie und Waffenausstattung der Staaten im Vergleich zu einfacheren Gesellschaften versetzten die Staaten in die Lage, traditionelle Gesellschaften zu erobern, zu unterwerfen, zu versklaven, in sich aufzunehmen, zu vertreiben oder ihre Mitglieder in Gebieten, die sie für sich beanspruchten, auszulöschen. Deshalb mussten sich Horden und Stämme in der Neuzeit auf Regionen beschränken, die für staatliche Siedler unattraktiv oder schwer zugänglich waren wie die Kalahariwüste als Siedlungsgebiet der !Kung, die Wälder Äquatorialafrikas für die Pygmäen, die abgelegenen Gebiete des Amazonasbeckens für die amerikanischen Ureinwohner und Neuguinea für die Neuguineer.
Warum lebten die Menschen um 1492, zur Zeit von Kolumbus’ erster Atlantiküberquerung, in den verschiedenen Teilen der Welt in so unterschiedlichen Gesellschaften? Zu jener Zeit standen manche Bevölkerungsgruppen (insbesondere in Eurasien) bereits unter staatlicher Verwaltung mit Schrift, Metallwerkzeugen, intensiver Landwirtschaft und stehenden Armeen. Vielen anderen Völkern fehlten diese Kennzeichen der Zivilisation, und sowohl die australischen Ureinwohner als auch die !Kung und die Pygmäen in Afrika hatten sich noch in vielerlei Hinsicht eine Lebensweise erhalten, die bis 9000 v.Chr. für die ganze Welt charakteristisch war. Wie können wir solche auffälligen geographischen Unterschiede erklären?
Viele Menschen haben dafür noch heute eine Erklärung, die früher allgemein vorherrschte: Danach spiegeln sich in solchen regional unterschiedlichen Erscheinungsformen angeborene Unterschiede in der Intelligenz der Menschen, ihrer biologischen Modernität und ihrer Arbeitsmoral wider. Nach dieser Vorstellung sind Europäer angeblich intelligenter, biologisch höher entwickelt und fleißiger, während australische Ureinwohner, Neuguineer und andere Völker, die heute in Horden oder Stämmen leben, weniger intelligent, primitiver und weniger ehrgeizig sind. Für solche vermeintlichen biologischen Unterschiede gibt es aber keine Belege, abgesehen von dem Zirkelschluss, dass moderne Horden- und Stammesvölker weiterhin primitive Technologie, politische Organisationsformen und Methoden der Nahrungserzeugung verwenden und demnach angeblich biologisch primitiver sind.
In Wirklichkeit ergibt sich die Erklärung für die unterschiedlichen Gesellschaften, die in der modernen Welt nebeneinander existieren, aus Unterschieden in der Umwelt. Politische Zentralisierung und gesellschaftliche Schichtenbildung wurden durch eine Zunahme der Bevölkerungsdichte vorangetrieben, und deren Triebkraft wiederum waren die Entwicklung und Intensivierung der Nahrungsmittelproduktion (Landwirtschaft und Viehzucht). Überraschend wenige wilde Pflanzen- und Tierarten eignen sich für die Domestikation und damit für die Umwandlung in Nutzpflanzen und Vieh. Diese wenigen wilden Arten konzentrierten sich nur in ungefähr einem Dutzend kleinen Regionen der Erde, deren menschliche Bevölkerung deshalb bei Lebensmittelproduktion, der Erzeugung von Nahrungsüberschüssen, Bevölkerungswachstum, technologischem Fortschritt und staatlichen Strukturen einen entscheidenden Vorsprung hatte. Wie ich in meinem früheren Buch Arm und Reich ausführlich dargelegt habe, sind solche Unterschiede die Erklärung dafür, warum die Europäer, die in der Nähe der Region (dem Fruchtbaren Halbmond) mit den wertvollsten domestizierbaren wilden Pflanzen- und Tierarten lebten, sich am Ende über die ganze Welt verbreiteten, während die !Kung und die australischen Ureinwohner dies nicht taten. Im Zusammenhang des hier vorliegenden Buches bedeutet das, dass die Menschen, die noch heute in traditionellen Gesellschaften leben oder bis vor kurzem in solchen Gesellschaften zu Hause waren, biologisch moderne Völker sind, die aber zufällig in Regionen mit wenigen domestizierbaren Pflanzen- und Tierarten lebten; ansonsten ist ihre Lebensweise aber auch für die Leser dieses Buches von Bedeutung.
Im vorherigen Abschnitt ging es um allgemeine Aussagen über Unterschiede zwischen traditionellen Gesellschaften, das heißt über Unterschiede, die systematisch mit unterschiedlicher Bevölkerungszahl und Bevölkerungsdichte, den Mitteln der Nahrungsbeschaffung und der Umwelt zu tun haben. Die allgemeinen Trends, von denen dort die Rede war, gibt es zwar, aber die Vorstellung, man könne alles in einer Gesellschaft aufgrund dieser materiellen Bedingungen voraussagen, wäre absurd. Man denke beispielsweise nur an die kulturellen und politischen Unterschiede zwischen Franzosen und Deutschen, die in keinem offenkundigen Zusammenhang mit dem Unterschied zwischen der Umwelt in Frankreich und Deutschland stehen – diese Unterschiede sind nach den Maßstäben der weltweiten Variationsbreite bestenfalls gering.
In der Wissenschaft verfolgt man mehrere Ansätze, um die Unterschiede zwischen Gesellschaften zu verstehen. Jeder davon ist nützlich, um Aufschlüsse über einige Unterschiede zwischen manchen Gesellschaften zu gewinnen, eignet sich aber zum Verständnis anderer Phänomene nicht. Einen auf die Evolution gestützten Ansatz habe ich im vorherigen Abschnitt bereits erörtert: Man sucht nach allgemeinen Merkmalen, in denen sich Gesellschaften unterschiedlicher Bevölkerungszahl und -dichte unterscheiden, während sie bei Gesellschaften mit vergleichbarer Bevölkerungszahl und -dichte ähnlich sind; außerdem zieht man Rückschlüsse auf Veränderungen, die sich mit dem Wachsen oder Schrumpfen einer Bevölkerung einstellen, oder beobachtet sie manchmal auch unmittelbar. Im Zusammenhang mit der evolutionären Methode steht ein Ansatz, den man als anpassungsorientiert bezeichnen könnte: Danach dienen manche Merkmale einer Gesellschaft der Anpassung, und sie versetzen die Gesellschaft in die Lage, vor dem Hintergrund ihrer materiellen Bedingungen, ihrer physikalischen und sozialen Umstände sowie ihrer Größe und Dichte effizient zu funktionieren. Beispiele sind die Tatsache, dass alle Gesellschaften von mehr als einigen tausend Menschen Führungsgestalten brauchen, und das Potential solcher großen Gesellschaften, die notwendigen Lebensmittelüberschüsse für die Ernährung solcher Anführer zu produzieren. Dieser Ansatz führt dazu, dass man allgemeine Aussagen formuliert und den Wandel einer Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Umstände und Umweltbedingungen interpretiert, in denen sie lebt.
Den Gegenpol zu diesem ersten Ansatz bildet der zweite: Danach betrachtet man jede Gesellschaft aufgrund ihrer besonderen Geschichte als einzigartig und interpretiert kulturelle Merkmale als unabhängige Variablen, die nicht von materiellen Voraussetzungen abhängen. Unter der praktisch unendlichen Zahl von Beispielen möchte ich einen Extremfall aus einem der in diesem Buch beschriebenen Völker erwähnen, weil er besonders dramatisch ist und definitiv nichts mit materiellen Bedingungen zu tun hat. Die Kaulong, eine von mehreren Dutzend kleinen Bevölkerungsgruppen südlich der Wasserscheide auf der Insel Neubritannien östlich von Neuguinea, praktizierten früher das rituelle Erdrosseln von Witwen. Wenn ein Mann starb, suchte die Witwe ihre Brüder auf, damit diese sie erwürgten. Sie wurde nicht wie bei einem Mord gegen ihren Willen erdrosselt, und andere Mitglieder der Gesellschaft übten auch keinen Druck auf sie auf, diese ritualisierte Form des Selbstmordes zu begehen. Sie war vielmehr mit der Sitte aufgewachsen und befolgte sie auch selbst, wenn sie Witwe wurde; dabei drängte sie ihre Brüder (oder, wenn sie keine Brüder hatte, ihren Sohn) energisch, die erhabene Verpflichtung zu erfüllen und sie trotz ihres natürlichen Widerwillens zu erdrosseln; wenn es dann geschah, fügte sie sich völlig.
Kein Wissenschaftler hat jemals behauptet, die Witwentötung bei den Kaulong habe für die Gesellschaft dieses Volkes einen Nutzen oder diene den langfristigen (posthumen) genetischen Interessen der erdrosselten Witwe oder ihrer Verwandten. Kein Umweltforscher konnte irgendein Merkmal in der Umwelt der Kaulong benennen, das die Sitte nützlicher oder verständlicher machen würde als nördlich der Wasserscheide von Neubritannien oder weiter östlich oder westlich im Süden der Insel. Ich kenne mit Ausnahme des verwandten Volkes der Sengseng, die Nachbarn der Kaulong sind, weder in Neubritannien noch in Neuguinea irgendeine andere Gesellschaft, die das rituelle Erdrosseln von Witwen praktiziert. Offenbar muss man die Sitte also als unabhängiges kulturelles Merkmal betrachten, das sich aus unbekannten Gründen gerade in dieser Region Neubritanniens entwickelt hat und irgendwann vielleicht durch die natürliche Selektion unter den Gesellschaften (das heißt dadurch, dass andere Gesellschaften in Neubritannien, die das Erdrosseln von Witwen nicht praktizieren, deshalb einen Vorteil gegenüber den Kaulong haben) ausgemerzt worden wäre, sich aber über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg erhalten hatte, bis es durch äußeren Druck und Kontakt mit Fremden ungefähr 1957 abgeschafft wurde. Jedem, der mit irgendeiner anderen Gesellschaft vertraut ist, werden auch weniger extreme charakteristische Merkmale einfallen, die keinen erkennbaren Nutzen für die jeweilige Gesellschaft haben oder sogar schädlich zu sein scheinen und eindeutig keine Folge der örtlichen materiellen Bedingungen sind.
Ein weiterer Ansatz zum Verständnis der Unterschiede zwischen Gesellschaften schließlich besteht darin, dass man kulturelle Überzeugungen und Praktiken erkennt, die regional weit verbreitet sind und sich historisch in der fraglichen Region ausgebreitet haben, ohne dass ein eindeutiger Zusammenhang mit den lokalen materiellen Bedingungen besteht. Bekannte Beispiele sind die nahezu allgemein verbreiteten monotheistischen Religionen und die nichttonalen Sprachen in Europa, die in krassem Gegensatz zur Häufigkeit nichtmonotheistischer Religionen und tonaler Sprachen in China und den angrenzenden Teilen Südostasiens stehen. Über die Ursprünge und die historische Ausbreitung der jeweiligen Formen von Religion und Sprache in den einzelnen Regionen wissen wir eine Menge. Mir wäre aber nicht bekannt, dass es überzeugende Gründe dafür gäbe, warum tonale Sprachen in einer europäischen Umwelt ihren Zweck weniger gut erfüllen sollten oder warum monotheistische Religionen sich von ihrem Wesen her vielleicht nicht für die Umwelt in China und Südostasien eignen. Religionen, Sprachen und andere Überzeugungen und Praktiken können sich auf zweierlei Weise ausbreiten. Zum einen können sich die Menschen verbreiten und ihre Kultur mitnehmen, wie es die europäischen Auswanderer in Amerika und Australien taten, wo sie europäische Sprachen und Gesellschaften nach europäischem Vorbild installierten. Die zweite besteht darin, dass Menschen die Überzeugungen und Praktiken anderer Kulturen übernehmen: Die modernen Japaner übernahmen beispielsweise den westlichen Kleidungsstil, und moderne Amerikaner essen heute Sushi, ohne dass westliche Emigranten Japan oder japanische Emigranten die Vereinigten Staaten überrollt hätten.
Ein anderer Aspekt, der in meinen Erläuterungen in diesem Buch immer wieder auftauchen wird, ist die Unterscheidung zwischen unmittelbaren und letzten Erklärungen. Um diesen Unterschied zu verstehen, können wir uns vorstellen, wie ein Paar nach zwanzigjähriger Ehe zum Psychotherapeuten kommt, weil es sich scheiden lassen will. Auf die Frage des Therapeuten »Was führt Sie nach zwanzig Jahren plötzlich zu mir, und warum streben Sie die Scheidung an?« erwidert der Mann: »Sie hat mich mit einer schweren Glasflasche ins Gesicht geschlagen. Mit so einer Frau kann ich nicht leben.« Die Frau räumt ein, sie habe ihn tatsächlich mit der Flasche geschlagen, und das sei der »Grund« (das heißt die unmittelbare Ursache) für das Zerwürfnis. Der Therapeut weiß aber, dass Schläge mit Flaschen in einer glücklichen Ehe nur selten vorkommen, und erkundigt sich nach den eigentlichen Gründen. Die Frau sagt: »Ich konnte seine vielen Affären mit anderen Frauen nicht mehr ertragen, deshalb habe ich ihn geschlagen. Eigentlich sind die Affären der Grund, warum wir uns getrennt haben.« Darauf räumt der Mann die Affären ein, aber nun fragt sich der Therapeut, warum dieser Mann im Gegensatz zu den meisten glücklich verheirateten Männern Affären hat. Darauf antwortet der Mann: »Meine Frau ist ein kalter, egoistischer Mensch, und ich wollte eine Liebesbeziehung zu einem normalen Menschen; die habe ich in den Affären gesucht, und das ist die tiefere Ursache für unsere Trennung.«
In einer Langzeittherapie würde der Therapeut nun in der Kindheit der Frau nachforschen, warum sie so kalt und egoistisch geworden ist (wenn es wirklich stimmt). Aber schon diese kurze Version der Geschichte zeigt, dass Ursachen und Wirkungen in Wirklichkeit meistens Kausalketten sind, wobei manche Ursachen näher liegen und andere grundsätzlicherer Natur sind. In diesem Buch werden uns viele solche Ketten begegnen. Ein Stammeskrieg (Kapitel 4) zum Beispiel hat seine unmittelbare Ursache vielleicht darin, dass die Person A aus einem Stamm der Person B aus einem anderen ein Schwein gestohlen hat; A rechtfertigt die Tat mit einer tieferen Ursache (Bs Vetter hatte versprochen, ein Schwein von As Vater zu kaufen, hat aber nicht den vereinbarten Preis bezahlt); und die letzte Ursache des Krieges ist Dürre, Ressourcenknappheit und Bevölkerungsdruck, die dazu führen, dass beide Stämme nicht genügend Schweine besitzen, um sich davon zu ernähren.
Das also sind die weitgefassten Ansätze, mit denen man in der Wissenschaft versucht, in den Unterschieden zwischen den Gesellschaften der Menschen einen Sinn zu finden. Betrachten wir nun einmal, wie Wissenschaftler unsere Kenntnisse über traditionelle Gesellschaften gewonnen haben. Wir können die Informationsquellen ein wenig willkürlich in vier Kategorien einteilen; jede davon hat ihre Vor- und Nachteile, und die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Die naheliegendste Methode ist die, mit der auch die meisten Informationen in diesem Buch gewonnen wurden: Man schickt ausgebildete Sozialwissenschaftler oder Biologen für kurze oder längere Zeit zu einem traditionellen Volk, und dort konzentrieren sie sich im Rahmen einer Studie auf ein bestimmtes Thema. Diese Methode unterliegt aber einer wichtigen Einschränkung: In der Regel können Wissenschaftler sich erst dann bei einem traditionellen Volk niederlassen, wenn dieses »befriedet«, durch eingeschleppte Krankheiten dezimiert oder durch eine staatliche Regierung erobert und ihrer Herrschaft unterworfen wurde; all das bedeutet eine beträchtliche Veränderung im Vergleich zum früheren Zustand des Volkes.
Eine zweite Methode ist der Versuch, hinter die jüngsten Veränderungen moderner traditioneller Gesellschaften zu blicken, indem man noch lebende, des Schreibens unkundige Menschen nach ihrer mündlich überlieferten Geschichte fragt und auf diese Weise rekonstruiert, wie ihre Gesellschaft vor einigen Generationen ausgesehen hat. Eine dritte Methode bedient sich ebenfalls der Rekonstruktion aufgrund mündlicher Berichte und versucht ein Bild der traditionellen Gesellschaft vor dem Besuch moderner Wissenschaftler zu zeichnen. Dieses Mal bedient man sich jedoch der Berichte von Entdeckern, Kaufleuten, reisenden Beamten und missionierenden Sprachforschern, die in der Regel früher in Kontakt mit traditionellen Völkern gekommen sind als die Wissenschaftler. Die so gewonnenen Berichte sind zwar in der Regel weniger systematisch, weniger quantitativ und wissenschaftlich nicht so streng wie die Aufzeichnungen fachspezifisch ausgebildeter Freilandforscher, zum Ausgleich bieten sie aber den Vorteil, dass die von ihnen beschriebene Stammesgesellschaft sich weniger stark gewandelt hat als bei der späteren Untersuchung durch Wissenschaftler. Die letzte Quelle von Informationen über Gesellschaften in der entfernten Vergangenheit, die keine Schrift besaßen und nicht in Kontakt mit schreibkundigen Beobachtern gekommen sind, bieten die archäologischen Ausgrabungen. Sie haben den Vorteil, dass man mit ihrer Hilfe eine Kultur aus einer Zeit rekonstruieren kann, lange bevor sie mit der modernen Welt in Kontakt kam und durch sie verändert wurde – allerdings um den Preis, dass kleine Einzelheiten (beispielsweise Namen und Motive der Menschen) verloren gehen und dass es mit viel mehr Unsicherheiten und Mühe verbunden ist, aus den physischen Ausdrucksformen, die sich in archäologischen Fundstätten erhalten haben, gesellschaftliche Schlussfolgerungen zu ziehen.
Für Leser (insbesondere Wissenschaftler), die mehr über diese verschiedenen Quellen der Informationen über traditionelle Gesellschaften erfahren möchten, stelle ich auf Seite 535 im Anmerkungsteil am Ende dieses Buches eine ausführliche Erörterung zur Verfügung.
Das Thema dieses Buches sind potentiell alle Aspekte der menschlichen Kultur bei allen Völkern der Welt während der letzten 11000 Jahre. Eine so weitgefasste Beschreibung würde aber einen Band von mindestens 2397 Seiten erfordern, den niemand lesen würde. Aus praktischen Gründen und um ein Buch von lesbarer Länge zu schreiben, habe ich deshalb unter den Themen und Gesellschaften, über die ich berichte, ausgewählt. Damit möchte ich meine Leser anregen, selbst mehr über Themen und Gesellschaften in Erfahrung zu bringen, die ich hier nicht behandle, und dazu andere hervorragende Bücher zu Rate zu ziehen (von denen ich viele im Anmerkungsteil zitiere).
Was die Auswahl der Themen angeht, habe ich mich für neun Gegenstände in elf Kapiteln entschieden; damit möchte ich ein Spektrum der Wege beschreiben, auf denen wir unsere Kenntnisse über traditionelle Gesellschaften anwenden können. Zwei Themen – Gefahren und Kindererziehung – betreffen Bereiche, in denen wir als Einzelne einige praktische Aspekte der traditionellen Gesellschaften in unser eigenes, persönliches Leben integrieren können. In diesen beiden Bereichen haben die Praktiken mancher traditioneller Gesellschaften, bei denen ich gelebt habe, meine eigene Lebensweise und meine Entscheidungen am stärksten beeinflusst. Drei Themen – der Umgang mit älteren Menschen, Sprachen und Mehrsprachigkeit sowie eine gesundheitsfördernde Lebensweise – betreffen Bereiche, in denen manche traditionellen Praktiken uns Vorbilder für unsere individuellen Entscheidungen liefern können, aber auch für eine Politik, die unsere Gesellschaft als Ganzes übernehmen könnte. Ein Thema – die friedliche Beilegung von Meinungsverschiedenheiten – ist als Vorschlag für eine Vorgehensweise unserer Gesamtgesellschaft vielleicht nützlicher, als wenn wir es als Leitfaden für unser individuelles Leben betrachten. Im Zusammenhang mit allen diesen Themen muss uns klar sein, dass es nicht einfach ist, Praktiken aus einer Gesellschaft in eine andere zu übernehmen oder sie daran anzupassen. Selbst wenn wir beispielsweise gewisse Methoden der Kindererziehung in einer traditionellen Gesellschaft bewundern, erweist es sich für uns unter Umständen als schwierig, diese Praxis auf die Erziehung unserer eigenen Kinder anzuwenden, wenn alle anderen Eltern um uns herum ihre Kinder so behandeln, wie moderne Eltern es gewöhnlich tun.
Was das Thema der Religion angeht, so rechne ich nicht damit, dass irgendein einzelner Leser oder eine Gesellschaft sich aufgrund meiner Erörterung der Religionen in Kapitel 9 eine bestimmte Stammesreligion zu eigen macht. Die meisten von uns machen aber im Laufe ihres Lebens eine oder mehrere Phasen durch, in denen wir uns um Antworten auf unsere eigenen Fragen nach der Religion bemühen. In einer solchen Lebensphase finden es manche Leser vielleicht nützlich, über das breite Spektrum verschiedener Bedeutungen nachzudenken, die Religion während der Menschheitsgeschichte in verschiedenen Gesellschaften hatte. Die beiden Kapitel über Kriegsführung schließlich behandeln einen Bereich, in dem Kenntnisse über traditionelle Praktiken uns nach meiner Überzeugung helfen können, den Nutzen staatlicher Regierungen im Vergleich zu traditionellen Gesellschaften besser einzuschätzen. (Man sollte beim Gedanken an Hiroshima oder Schützengräben nicht sofort in Empörung verfallen und sich dann einer Diskussion über den »Nutzen« staatlicher Kriegsführung verschließen; das Thema ist komplizierter, als es zunächst den Anschein hat.)
Natürlich lasse ich mit dieser Auswahl viele zentrale Themen der Gesellschaftswissenschaft weg, darunter Kunst, Kognition, kooperatives Verhalten, Küche, Tanz, Geschlechterbeziehungen, Verwandtschaftssysteme, den umstrittenen Einfluss der Sprache auf Wahrnehmung und Denken (Sapir-Whorf-Hypothese), Literatur, Ehe, Musik, Sexualpraktiken und anderes. Zu meiner Verteidigung möchte ich noch einmal wiederholen, dass dieses Buch keine umfassende Darstellung der menschlichen Gesellschaften sein soll, sondern sich aus den genannten Gründen auf wenige Themen beschränkt; die übrigen Bereiche werden in hervorragenden Büchern aus dem Blickwinkel anderer theoretischer Rahmenbedingungen erörtert.
Was meine Auswahl der Gesellschaften angeht, so ist es in einem kurzen Buch natürlich nicht möglich, Beispiele aus allen traditionellen Kleingesellschaften der ganzen Welt anzuführen. Ich konzentriere mich deshalb vorwiegend auf Horden und Stämme von Kleinbauern sowie auf Jäger und Sammler, lege aber weniger Gewicht auf Häuptlingstümer und noch weniger auf entstehende Staaten – die zuerst genannten Gesellschaften unterscheiden sich einfach stärker von unserer eigenen, und anhand der Gegensätze können wir mehr von ihnen lernen. Ich nenne mehrfach Beispiele aus einigen Dutzend solcher traditioneller Gesellschaften aus der ganzen Welt. Auf diese Weise, so meine Hoffnung, kann der Leser sich ein vollständigeres, nuancierteres Bild von diesen wenigen Dutzend Gesellschaften machen und erkennen, wie ihre verschiedenen Aspekte zusammenpassen – wie beispielsweise Kindererziehung, der Umgang mit alten Menschen, Gefahren und Konfliktlösung in derselben Gesellschaft ihren Ausdruck finden.
Manchen Lesern wird vielleicht auffallen, dass ein unverhältnismäßig großer Anteil meiner Beispiele aus Neuguinea und von den benachbarten Pazifikinseln stammt. Das liegt teilweise daran, dass ich diese Region am besten kenne und dort die meiste Zeit verbracht habe. Es hat aber auch einen anderen Grund: Neuguinea steuert tatsächlich einen unverhältnismäßig großen Anteil zur kulturellen Vielfalt der Menschen bei. Es ist die alleinige Heimat von 1000 der ungefähr 7000 Sprachen der Erde. Es beherbergt die größte Zahl von Gesellschaften, die auch in moderner Zeit noch außerhalb der staatlichen Kontrolle liegen oder erst seit kurzer Zeit unter ihrem Einfluss stehen. Seine Bevölkerungsgruppen repräsentieren eine große Vielfalt traditioneller Lebensweisen von nomadisierenden Jägern und Sammlern über Seefahrer an Küsten und auf Inseln bis hin zu Spezialisten für Sagopalmen im Tiefland sowie sesshaften Gartenbauern und Schweinezüchtern im Hochland. Die Größe ihrer Gruppen liegt zwischen wenigen Dutzend und 200000 Menschen. Wie aber leicht zu erkennen ist, erörtere ich auch ausführlich die Beobachtungen anderer Wissenschaftler an Gesellschaften auf allen bewohnten Kontinenten.
Karte 1: Siedlungsgebiet von 39 Gesellschaften, die in diesem Buch vorkommen.
Um Leser nicht durch die Länge und den Preis dieses Buches von der Lektüre abzuschrecken, habe ich Fußnoten und Literaturbelege für einzelne Aussagen im Text weggelassen. Stattdessen sammle ich die Anmerkungen am Ende des Textes in einem eigenen, kapitelweise aufgebauten Literaturverzeichnis. Die Teile dieses Abschnitts, die Literaturstellen für das ganze Buch und den Prolog nennen, stehen am Ende des Textes. Literaturangaben für die Kapitel 1 bis 11