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Trotz oder gerade wegen ihrer verschiedenen Zugangsweisen ist durch neuere Schriften von Jürgen Habermas, John Rawls oder Thomas Nagel ein neues Interesse an Religionsphilosophie entstanden, denen Micha Brumlik in einem ausführlichen Nachwort zu dieser Neuauflage seiner eigenen religionswissenschaftlichen Studien Rechnung trägt. Micha Brumlik geht es – in Auseinandersetzung mit so unterschiedlichen Denkern des 20. Jahrhunderts wie Hermann Cohen und Leo Baeck, Ernst Bloch und Herbert Mead, Hannah Arendt und Carl Schmitt – um den Nachweis, dass spezifisch jüdische Motive über den Begriff der Offenbarung hinaus einen rationellen Kern enthalten. Seine eindringlichen Reflexionen nach jüdisch-christlichen Quellen philosophischen und politischen Denkens weisen so auch der Moralphilosophie neue Wege.
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Können wir seit der Aufklärung eine universelle Moral ohne Gott denken? Lassen sich – insbesondere nach Auschwitz – Menschenrechte und Menschenwürde ohne den Rückbezug auf die jüdischchristliche Tradition gedanklich fassen? In Auseinandersetzung mit so unterschiedlichen Denkern des 20. Jahrhunderts wie Hermann Cohen und Leo Baeck, Ernst Bloch und George Herbert Mead, Hannah Arendt und Carl Schmitt geht es Micha Brumlik um den Nachweis, dass „spezifisch jüdische Motive über den Begriff der Offenbarung hinaus einen rationellen Kern enthalten, der auch jenseits konventionell gebundenen Glaubens, wenn schon nicht zu überzeugen, so doch mindestens aufzurütteln vermag“. Brumlik sucht in seinen Essays gleichzeitig nach Traditionen und Blockaden einer universellen Moral. Seine Tiefenbohrungen nach jüdischchristlichen Quellen philosophischen und politischen Denkens weisen so auch der Moralphilosophie neue Wege.
Micha Brumlik, geboren 1947 in Davos, Schweiz, lehrte Erziehungswissenschaft u. a. in Hamburg und Heidelberg. Von 2000 bis 2013 war er Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main und bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Seit 2013 ist Brumlik Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.
Zahlreiche Veröffentlichungen: Aus Katastrophen lernen? (2004), Advokatorische Ethik (2004), Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts (2006), Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot (2006) und Kritik des Zionismus (2007) bei der EVA. Entstehung des Christentums (2010) sowie Messianisches Licht und Menschenwürde. Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition (2013).
Micha Brumlik
Religionsphilosophische Versuche
Mit einem Nachwort:Das neue Interesse an Religionsphilosophie
E-Book (EPUB):
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022
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ISBN 978-3-86393-602-0
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
Neuauflage CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014
mit einem aktuellen Nachwort von Micha Brumlik
Print-Erstausgabe: © 2001 Philo Verlagsgesellschaft mbH Berlin / Wien
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In diesen Tagen, Tagen, in denen die Fertigstellung der zweiten Auflage meines Buches Vernunft und Offenbarung ihrem Ende entgegengeht, zeigt das, was gemeinhin als „Religion“ bezeichnet wird, seine wohl hässlichste Fratze. In diesem Oktober des Jahres 2014 verteidigen kurdische Milizionäre, von den USA aus der Luft unterstützt, die an der türkisch-syrischen Grenze gelegene Stadt Kobane gegen die mörderische Soldateska des „IS“. Der „IS“ aber, eine radikalislamistische Truppe, deren Anführer jedenfalls ehrlich von der absoluten Wahrheit und Gottgefälligkeit ihres Tuns überzeugt sind, verkörpert wie in einem Brennglas alle Negativa der Religion, die die moderne Religionskritik anprangerte: Intoleranz, Gewalt und Grausamkeit.
Das Vorgehen des „IS“ erinnert zum Beispiel an die sogenannten Albigenserkreuzzüge des katholischen Frankreich gegen das südfranzösische Katharertum im frühen 13. Jahrhundert. Als die von fanatischen Dominikanern aufgehetzte französische Armee dabei war, 1209 die von Katharern gehaltene Stadt Béziers zu erobern, wohl wissend, dass sich in ihren Mauern auch katholische Christen befanden, gab der die Armee begleitende päpstliche Gesandte, Abt Arnaud Amaury, folgende Parole aus: „Tötet sie alle! Gott kennt die Seinen schon“ (Caedite eos! Novit enim Dominus qui sunt eius). Daraufhin wurden sämtliche Einwohner von Béziers, Katholiken und Katharer, Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge, alles in allem 20.000 Menschen, erbarmungslos umgebracht.
Das Geschehen in Kobane und um den „IS“ scheint daher all jenen recht zu geben, die – wie der Ägyptologe Jan Assmann – nachweisen wollen, dass die Verbindung von Gottes- und Wahrheitsfrage, zumal im monotheistischen Gewande, aufgrund notwendiger Intoleranz mörderische Konsequenzen zur Folge hat. Tatsächlich: In Kobane und den Kurdengebieten an der türkisch-syrischen Grenze droht derzeit, im Oktober 2014, ein Genozid; neu an dieser Situation ist seine religiöse Begründung – das 20. Jahrhundert kannte zwar viele Formen des Genozids und des Politizids, Genozide aus vor allem religiösen Ursachen kamen jedoch kaum vor – die vorgebrachten Motive für massenhafte Morde waren rassistischer, ökonomischer oder nationalistischer Art.
Die Neuauflage meines Buches, in dem es um eine Sichtung emanzipatorischer Gehalte der jüdischen Tradition geht, ist um ein umfangreiches neues Kapitel, ein Nachwort, ergänzt worden, in dem ich mir darüber Rechenschaft abzulegen versuche, ob und wie „Offenbarung“ heute, im frühen 21. Jahrhundert, noch zu verstehen sei.
Vom Blick auf Kobane beinahe geblendet, ist kaum noch nachzuvollziehen, was ein Theologe und Religionsphilosoph, der Berliner Professor Friedrich Daniel Schleiermacher, meinte, als er 1799 in Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern schrieb, dass Religion „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ sei. Auch Karl Marx’ bekanntes Wort, „Religion“ sei „Opium des Volkes“, trifft das Phänomen digital verbreiteter Mordtaten wie das Köpfen von Menschen überhaupt nicht mehr: Hier findet sich nichts, was auch nur im Geringsten einschläfernd oder beruhigend wirken könnte. Man kann daher kaum verstehen, was es heißen soll, dass beides, sowohl diese Gräueltaten als auch das mutige Eintreten von Papst Franziskus für im Mittelmeer gestrandete Flüchtlinge, Fälle desselben Phänomens, von „Religion“, sein sollen. Hilft die vom Schweizer reformierten Theologen Karl Barth getroffene Unterscheidung von „Religion“ und „Glaube“ weiter? Und wenn ja: Wer kann, wer darf überhaupt beanspruchen, im wahren, im richtigen „Glauben“ zu sein?
Ich widme dieses Buch Freunden, denen ich aus über Jahrzehnte währenden Debatten zum Thema Religion und Theologie Wesentliches verdanke: Hauke Brunkhorst, der, seit ich ihn kenne, seit 1970, als Gesellschaftstheoretiker im Geist einer negativen Dialektik jede vorschnell ausgerufene „Transzendenz“ und damit jeden falschen Trost kritisiert; Werner Schneider-Quindeau, der mich vor mehr als drei Jahrzehnten mit dem Denken Karl Barths vertraut gemacht hat und wesentlicher Partner in der Erneuerung des jüdisch-christlichen Gesprächs war und ist; und schließlich meinem Freund und langjährigen Mitstreiter aus der „AG Juden und Christen“ beim „Deutschen Evangelischen Kirchentag“, dem Bochumer Theologen Klaus Wengst, dessen eindringliche Exegese neutestamentlicher Schriften mir neue Horizonte eröffnet hat.
Nicht zuletzt gilt mein Dank Irmela und Axel Rütters, die sich seit Jahren meiner Bücher annehmen.
Berlin, 14. Oktober 2014
Vernunft und Offenbarung
Patriotismus und ethischer Unsterblichkeitsglaube: Hermann Cohen
Der Begriff der Offenbarung bei Steinheim und Schelling
Leo Baecks Theorie des Judentums als Vollendung der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik
Modernes Judentum und antitotalitärer Konsens
Freuds Religionskritik und die Theorie der Moral
Theologie und Messianismus im Denken Adornos
Vom theologischen Sinn des Bilderverbots
Carl Schmitts theologisch-politischer Antijudaismus
Das verkörperte ‚Sein für die Anderen‘ Zu Sartres Theorie des Judentums
George Herbert Mead und Ernst Bloch als Theoretiker des ‚Neuen‘
Trauerarbeit an der Moderne und melancholischer Messianismus
Gerechtigkeit zwischen den Generationen
Universalistische Moral ohne Gott? Emmanuel Levinas’ Ethik der Asymmetrie
Anerkennung und Erkenntnis in der geschlechtlichen Liebe Anmerkungen zu Positionen biblischen Denkens
Quellennachweise
Anmerkungen
Nachwort: Das neue Interesse an Religionsphilosophie
Anmerkungen zum Nachwort
Vernunft und Offenbarung – das Spannungsverhältnis von autonomem menschlichem Denken und geschenktem göttlichen Wort beschäftigte die abendländische Religionsphilosophie von allem Anfang an. Ist der Mensch aus eigener Kraft in der Lage, Gottes Willen zu erkennen oder ist er – letzten Endes blind und befangen – auf ein unvordenkliches göttliches Wort verwiesen, dem er vertrauen muß und darf, auch dann, wenn er ihm nicht im letzten folgen kann?
Jüdische Religionsphilosophie seit der Aufklärung – wesentlich von Kant beeinflußt – hat sich dieser Frage immer wieder gestellt und dabei den scholastischen, katholischen Weg einer natürlichen Vernunft nur bedingt akzeptiert. Umgekehrt haben sich verschiedenste nichtjüdische Denker immer wieder mit den Grundstrukturen jüdischen Denkens und jüdischer Existenz auseinandergesetzt und den Versuch unternommen, dessen Eigentümlichkeiten positiv oder negativ zu bewerten. Darüber hinaus haben oft genug jüdische Denker, auch dann und dort, wo sie sich nicht explizit mit jüdischen Themen auseinandergesetzt haben und judaistischer Kenntnisse durchaus entbehrten, in ihren Arbeiten Motive der jüdischen Tradition entfaltet, weiterentwickelt und in einigen Fällen zur Vollendung gebracht.
Die hier versammelten Beiträge aus vierzehn Jahren gehen den Spuren jüdischen Denkens in der frühen Moderne nach und sind um den Nachweis bemüht, daß spezifisch jüdische Motive über den Begriff der Offenbarung hinaus, also etwa die „Auferstehung der Toten“, das biblische Bilderverbot, die Idee eines noch ausstehenden Messias, einer unbedingten göttlichen Weisung sowie einer Solidarität der menschlichen Generationen einen rationalen Kern enthalten, der auch jenseits konventionell gebundenen Glaubens wenn schon nicht zu überzeugen, so doch mindestens aufzurütteln vermag.
Die Prägung moderner jüdischer Religionsphilosophie durch Immanuel Kant, seine Kritik der Gottesbeweise sowie seiner kategorische Morallehre ließ bei jüdischen Denkern, gleichgültig, ob orthodox oder liberal eingestellt – eine Wahlverwandtschaft zur Offenbarung der Thora am Sinai sichtbar werden.
Für Hermann Cohen, dessen nachgelassenes Werk Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums auf der Basis Kants eine intersubjektivistische Moral mitmenschlicher Verantwortung entwarf, galt dies ebenso wie für den heute nach wie vor vergessenen Salomo Ludwig Steinheim, dessen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erschienenes Werk Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe des Synagoge von Kant her biblische Schöpfungstheologie und moralische Verantwortlichkeit miteinander zu verbinden sucht. Das hier vorgelegte Kapitel zu Cohen vollzieht nach, auf welchen Wegen und Irrwegen der bekannteste Neukantianer jüdisches Ethos, kantianische Philosophie und deutsches nationales Pathos im Rahmen einer biblisch inspirierten universalistischen Moral zu vereinigen suchte. Demgegenüber wollte Steinheim sechzig Jahre früher das Gebot menschlicher Sittlichkeit ebenso kühn wie überzeugt nicht aus der praktischen Philosophie Kants, sondern aus seinem theoretischen Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft, ableiten. An Cohen und Steinheim läßt sich lernen, wie wenig auch eine aufgeklärte Moral auf das religiöse Erbe verzichten kann.
Jüdisches Denken ist gleichwohl seit den biblischen Schriften ein Denken der Geschichte – aber auch ein Denken in Geschichten, in Narrativen, ein Umstand, der in verblüffender Weise Grundüberzeugungen der aus der Romantik entstandenen verstehenden Geisteswissenschaft Wilhelm Diltheys entspricht. Leo Baeck, der letzte bedeutende Repräsentant des klassischen deutschen Judentums promovierte bei Wilhelm Dilthey. Sein Hauptwerk Das Wesen des Judentums, eine apologetische Reaktion auf die antijudaistische Abhandlung zum Wesen des Christentums des liberalen Theologen Adolf von Harnack zu Beginn des Jahrhunderts, zehrt ganz und gar von der geisteswissenschaftlichen Tradition und versucht gleichwohl, ihrem Historismus eine universalistische Moral entgegenzuhalten.
Hannah Arendt und Sigmund Freud standen beide bewußt und stolz zu ihrer jüdischen Tradition, ohne doch jüdische Denker in dem Sinne zu sein, daß sie sich in ihren Hauptwerken mit Themen der jüdischen Tradition befaßten. Als jüdisch in ihrem Denken lassen sie sich jedoch dann bezeichnen, wenn man die Auseinandersetzung mit jüdischer Existenz in der Moderne als eine ihrer zentralen Fragen betrachtet, wofür sowohl Freuds Mann Moses als auch Arendts Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft sowie ihre Aufsätze zur Verborgenen Tradition sprechen. Daß die jüdische Frage das gar nicht so geheime Leitmotiv der Ursprünge und Elemente darstellt und Freuds Mann Moses sowie die darin enthaltene Theorie der Moral aus der existentiellen Bedrohung des europäischen Judentums in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts heraus geschrieben wurden, belegt, in welchem Ausmaß allgemeine Zeitdiagnose zur Deutung jüdischer Existenz und diese wiederum zur Chiffre ihrer Epoche wird.
Die Abstraktheit des jüdischen Monotheismus mitsamt seinem Bilderverbot und einem gleichwohl anthropomorphen, personalen Gott hat Spuren bis in die moderne Ästhetik, aber auch bis in die Theorie der Intersubjektivität hinein hinterlassen. Die gleichermaßen in den dreißiger und vierziger Jahren entstandenen Schriften jener Autoren, die später unter dem Etikett „Frankfurter Schule“ firmieren sollten und im Anschluß an Hegel eine Theorie kritischer Negativität wider die bestehenden Verhältnisse präsentierten, zehrten stärker von anverwandelten Motiven jüdischer Theologie als das auf den ersten Blick deutlich wird. „Theologie und Messianismus im Denken Adornos“ gewinnen ihr volles Gewicht dann, wenn man sich noch einmal den „theologischen Sinn des Bilderverbots“ vergegenwärtigt und sich klar macht, in welchem Ausmaß sich bereits die biblischen Schriften als eine Theorie sinnlicher Intersubjektivität lesen lassen, die konträr zur Abstraktheit des platonischen Denkens steht, auch und gerade dort, wo sich dieses auf dialogische, zwischenmenschliche Beziehungen einzulassen versucht.
Der jüdische Universalismus war in der Moderne stets all jenen ein Dorn im Auge, die die konkreten Selbstbehauptungsinteressen partikularer Gemeinwesen zum Zentrum ihres Denkens machten. Dabei konnten sie oft genug von Traditionen antijudaistischen Denkens in christlicher Tradition zehren. Der den Nationalsozialisten schließlich hörige, auf seine Weise genialische deutsche Verfassungsrechtler Carl Schmitt hat sich dieser Argumentationsweisen ausgiebig bedient. Im Negativ seines Antijudaismus wird deutlich, wie das Judentum in der Moderne wahrgenommen werden konnte. Aber auch einem aus existentieller und politischer Verantwortung für die Juden eintretenden Autor wie Jean-Paul Sartre gelingt es nicht immer – nicht einmal dort, wo er sich mit dem Antisemitismus auseinandersetzt – jenen Klischees zu entgehen, die er doch kritisieren möchte.
Dabei war Schmitts Ahnung von einer Wesensverwandtschaft von Judentum und Moderne so abseitig nicht. Im Werk so heterogener Autoren wie Ernst Bloch, Franz Kafka, Walter Benjamin und Emmanuel Levinas werden Begriffe, die die Signatur der Moderne ausmachen – „das Neue“, „das Späte“, „zu Späte“, „das Jähe“ und „das Unmittelbare“ – ausdrücklich oder unausdrücklich an Gehalte der jüdischen Tradition rückgebunden. Wo Bloch seiner Ontologie des „Noch-Nicht“ und der Hoffnung einen nun in der Tat heterodoxen Begriff eines sich selbst forttreibenden Absoluten zumißt, bezieht sich Franz Kafka auf die biblische Idee des Messias, um sie gegen jeden Optimismus zu kehren und die Heils- und Hoffnungslosigkeit aller geschichtlichen Erfahrung zu demonstrieren. Die gleiche Idee wird bei Walter Benjamin zum Unterpfand einer plötzlichen Rettung, eines Auftrages an die je Gegenwärtigen, dem geschichtlichen Verlauf noch einen rettenden Abschluß zu verleihen.
Daß das Unterpfand der Rettung sich als eine Weisung zeigt, die als Spur Gottes in jedem menschlichen Antlitz unmittelbar sichtbar wird, ist die Überzeugung von Emmanuel Levinas, der von Bibel und Talmud her die ontologische Grundstruktur allen abendländischen Philosophierens und dessen Moralvergessenheit kritisiert.
Nach Levinas Überzeugung war es diese Moralvergessenheit, die das abendländische Denken zum Wegbereiter der Vernichtungslager werden ließ. In striktem Gegensatz zur theoretischen Einstellung der abendländischen Philosophie seit der griechischen Antike setzt Levinas daher auf eine unvordenkliche Praxis, die die Menschen je schon in wechselseitige Verantwortungs- und Verpflichtungsverhältnisse gesetzt hat, in Verhältnisse, die sie aufgrund ihrer theoretischen Einstellungen verdrängt haben. Indem Levinas jedoch unbarmherzig auf den durchaus zwanghaften Charakter dieser Verantwortungsverhältnisse hinweist, bleibt er der Moderne, die bewußt an der Moral leidet, treu. Kann die gebietende Stimme vom Sinai, die die Verhärtungen des menschlichen Herzens aufbrechen wollte, in diesem Sinne als Ursprung eines die Moderne überwindenden oder gar zur Vollendung bringenden Denkens verstanden werden?
„Wir leben in dem Hochgefühl des deutschen Patriotismus, daß die Einheit, die zwischen Deutschtum und Judentum die ganze bisherige Geschichte des Judentums sich angebahnt hat, nunmehr endlich als eine kulturgeschichtliche Wahrheit in der deutschen Politik und im deutschen Volksleben, auch im deutschen Volksgefühl aufleuchten werde. Wenn mit diesem Kriege die letzten Schatten verscheucht werden, welche die innere deutsche Einheit verdunkeln, dann wird über alle Schranken der Religionen und der Völker hinweg der weltbürgerliche Geist der deutschen Humanität auf der Grundlage der deutschen Nationalität, der deutschen Eigenart in seiner Wissenschaft, seiner Ethik und seiner Religion die anerkannte Wahrheit der Weltgeschichte werden.“1
Als Hermann Cohen diese Zeilen im Jahr 1915 schrieb, war er bereits siebenundsiebzig Jahre alt, gerade seit drei Jahren als emeritierter Professor aus den Diensten der Universität Marburg ausgeschieden und lehrte an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.
Der Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus hatte ursprünglich in Breslau, am Seminar Zacharias Fränkels ein rabbinisches Studium aufgenommen, sich dann aber in Berlin dem Studium der Philosophie zugewandt. Nach einer Promotion in Halle und der Habilitation in Marburg lehrte er dort rund dreißig Jahre, bis zum Jahre 1912. Hermann Cohen dürfte der einzige nichtgetaufte Jude gewesen sein, dem es gelang, während des wilhelminischen Reiches eine ordentliche Professur zu erhalten. In einer Reihe von Arbeiten zu Kant und Platon, die in den systematischen Hauptwerken Logik der reinen Erkenntnis (1902), Die Ethik des reinen Willens (1904) sowie der Ästhetik des reinen Gefühls (1912) gipfelten, begründete er das mit, was später als Neukantianismus bezeichnet wurde. Dabei orientierte sich Cohen, nicht anders als Immanuel Kant selbst, an den konstruktiven Prinzipien der Mathematik.
Gleichwohl ging es Cohen stets auch um Fragen der Ethik. Als einziger bekennender jüdischer Professor im Deutschen Reich mußte sich auch ein Wissenschaftstheoretiker wie er von den antisemitischen Ausfällen des bedeutenden nationalliberalen Historikers Heinrich von Treitschke getroffen fühlen, der im Jahr 1879 – mitten in der Gründerkrise des Bismarckreiches – den christlich sozialen Antisemitismus des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker mit dem schriftlich fixierten Ruf „Die Juden sind unser Unglück“ unterstützte.2
Treitschkes rassenantisemitisch unterfütterter Angriff galt allen Beteuerungen zum Trotz indessen nicht nur den aus Mittel- und Osteuropa zuwandernden Juden, sondern eben auch jenen wenigen deutschen Juden, denen es mühsam gelungen war, öffentliche Anerkennung und Reputation zu finden. „Unter den führenden Männern der Kunst und Wissenschaft“ – so hetzte Treitschke – „ist die Zahl der Juden nicht sehr groß, umso stärker die betriebsame Schaar der semitischen Talente dritten Ranges.“3
Hermann Cohen, der sich aufgrund seines einzigartigen Status und seiner fraglosen Anerkennung in der deutschsprachigen Wissenschaftlergemeinschaft jedenfalls nicht persönlich geschmäht fühlen mußte, kam Treitschke in einer persönlichen Entgegnung in einer heute unverständlichen Konzilianz entgegen: „Nicht als Sprecher einer jüdischen Partei, sondern als Vertreter der Philosophie an einer deutschen Hochschule und Bekenner des israelitischen Monotheismus“4 stellte Cohen in seinem Bekenntnis zur Judenfrage zunächst fest, daß Rassenfragen ohnehin nicht argumentativ lösbar seien und es daher nur darum gehen könne, Treitschkes Meinung, das Judentum sei lediglich die Nationalreligion eines fremden Stammes, zu widerlegen. Auf dieser Basis nämlich, so Cohen, sei „dem hartnäckigsten, zudringlichsten Verlangen nach Verständigung der Boden entzogen“.5
Indem Cohen im folgenden dennoch, seinem mutigen Bekenntnis zum Trotz, argumentativ auf Treitschke einging, kam er dem Kontrahenten weiter entgegen, als es der Sache nach geboten war. Indem Cohen als naturwissenschaftlich interessierter Philosoph die Triftigkeit der Rassentheorie nicht gänzlich in Abrede stellen wollte, blieb ihm nur noch der Ausweg, den wahren Universalismus des Judentums herauszustellen. Insofern kann Cohens Antwort auf Treitschke aus dem Jahr 1880 zugleich als Urfassung der posthum 1919 erschienenen Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums gelten. In diesem Sinne stellt Cohen den historischen israelitischen Monotheismus als eine durch die Idee der Geistigkeit Gottes und der messianischen Verheißung geprägte Religion dar, als historische Urgestalt eines menschheitlichen Projekts geschichtsphilosophischer Art. Die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren freilich in Deutschland seit etwa 1830 durch die Ablehnung jener, vor allem der hegelschen Geschichtsphilosophie gekennzeichnet.
Cohens in Abwehr von Treitschkes Judenfeindschaft konzipierte Theorie des jüdischen Universalismus nimmt das verworfene und abgelehnte Projekt einer Geschichtsphilosophie wieder auf. Wie – so läßt sich Hegels Frage reformulieren – war es möglich, daß die Vernunft in der Geschichte wirklich geworden war? Wie müssen wir handeln? – so fragten gegen Hegel liberale und sozial verantwortliche Denker wie Cohens philosophischer Förderer, der akademische Materialist F. A. Lange, die nicht glauben mochten, daß der preußische Staat die Verkörperung der Vernunft war. Was so im Denken Hegels als rückwärts gewandte Reflexion erschien, wies sich den Neukantianern als politische Aufgabe. Die Rückkehr zu Kant im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zog zugleich eine Neubelebung der Lehre vom gerechten, richtigen Handeln, der Ethik, und damit eine Abkehr vom realpolitischen Zynismus des Bismarckreiches nach sich. Diese Haltung – einschließlich ihrer Berufung auf Kant – zu artikulieren, schien Philosophen jüdischer Herkunft besonders nahezuliegen. Es ist mehr als ein Zufall, daß sich Cohen hier in einer Reihe mit Kants jüdischen Schülern seit Marcus Herz sieht, Schülern und Lesern, die eine tiefe innere Wahlverwandtschaft zwischen Kants praktischer Philosophie und der Orthopraxie des Judentums als Religion erkannten. Hermann Cohen brachte diese ebenso innige wie historisch unvermittelte Wahlverwandtschaft auf den Begriff:
„Diese idealistische Bedeutung der Sittlichkeit, kurz, was wir Deutsche als das unantastbare Heiligtum Kantischer Lehre ehren, worin alle Auffassungen sich einigen, was wir als den höchsten Schatz nationaler Weisheit allen modernen Völkern entgegen als Deutschheit hochhalten, das erscheint aus der Tiefe, aus der Gottinnigkeit, aus der Glut des sittlichen Enthusiamus der Propheten historisch unvermittelt. Die Kantische Ethik trifft zwar inhaltlich in ihrem Imperativ völlig zusammen mit dem Rigorismus der israelitischen Sittenlehre. Die Haggada, derjenige Teil des Talmuds, welcher die Sittenlehre enthält […]“6
Hermann Cohen, der sich nie taufen ließ, sah sich gleichwohl genötigt, auf christliche Motive zurückzugreifen, um die Wahlverwandtschaft zwischen Kantianismus und Judentum zu entfalten. Die Notwendigkeit dieser Argumentationsweise drängte sich Cohen durch eine Fragestellung auf, die ihrerseits von der christlich geprägten Philosophie des deutschen Idealismus vorgegeben war. Wie – so fragte sich der Kantianer Cohen – ist es möglich, daß ein gleichsam göttliches, allgemeines Sittengesetz der Vernunft endlicher, wenn auch moralisch freier Wesen entspringt, ohne daß dabei den endlichen Menschen selbst Göttlichkeit zuzusprechen ist? Die Antwort lautete in der von Hegel inspirierten, im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland als gültig angesehenen Philosophie: durch Vermittlung! Diesem Programm hing auch noch ein vermeintlich hegelkritischer Neukantianer wie Hermann Cohen an.
So bestand die Antwort auf Treitschkes Schmähschrift in dem Hinweis, daß jedenfalls die modernen, die kantianischen Israeliten mit dem modernen Christentum die entscheidenden Grundannahmen teilen. Der Preis dieser Verteidigung bestand freilich nicht nur in einer relativen Preisgabe der Eigenständigkeit des Judentums in theoretischer Hinsicht, sondern führte auch dazu, der Idee der christlichen Religion einen systematischen Vorsprung vor der Geltung der prophetischen Ehtik zuzuschreiben:
„Ein Punkt nur ist in dieser Vertiefung der Gottesidee nicht zum vollen Ausdruck gekommen, dessen dogmatische Ausgestaltung den christlichen Monotheismus von dem israelitischen unterscheidet. Es ist dies der fundamentale Gedanke, welcher die Verbindung der modernen Völker mit dem griechischen Geiste zur Erzeugung einer neuen Kultur ermöglicht hat: Die Idee des Verhältnisses von Mensch und Gott wird in der Menschwerdung Gottes verinnerlicht, und vollzieht in der dogmatischen Form der Humanisierung Gottes die kulturgeschichtliche Mission der Humanisierung der Religion.“7
Was zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts der jüdische Reformer, Kantianer und Mendelsohnschüler David Friedländer im Berlin der protestantischen Seite in seinen 1799 publizierten Hausväterbriefen skizziert hatte und was schon damals auf protestantischer Seite auf den deutlichen Widerspruch liberaler Theologen wie des Propstes Teller und Friedrich Daniel Schleiermachers gestoßen war,8 führte Hermann Cohen mehr als ein halbes Jahrhundert später gegenüber einem illiberalen und antisemitischen Historiker wie Heinrich von Treitschke aus: ein Christentum ohne Christus.
Die Akzeptanz und Überzeugungskraft dieser Gedankenfigur sollte nach Cohens Willen den Juden ihren Platz in einer christlichdeutschen Gesellschaft sichern: „Ich hoffe gezeigt zu haben“, beschließt Cohen diesen Passus, „daß der Religionsgehalt des israelitischen Monotheismus mit dem in geschichtlichem Geiste gedachten Christentum vereinbar und zur Volksgemeinschaft zureichend sei.“9
Freilich kann sich die Aufgabe einer Vermittlung von Judentum und Deutschtum nicht im Gedanken eines Christentums ohne Christus erschöpfen – als historisch konkrete, vermittelnde und vermittelte Tat hat sie sich der Konkretion anzunehmen: dem damaligen deutschen Staat.
Die Bevölkerung dieses Staates, des Bismarckreichs, schien freilich vor allem aus Protestanten und sonstigen blutmäßigen Deutschen zu bestehen, aus mehreren Nationalitäten, ja sogar mehreren Rassen. Daher sieht sich Cohen in seiner Auseinandersetzung mit Treitschke über seine theologisch-systematischen Argumente hinaus gezwungen, auf die Rassentheorie einzugehen beziehungsweise die Bedeutung von Rassen für die Bildung einer Nation zu untersuchen. Dabei distanziert sich Cohen scharf von dem kulturalistisch-liberalen, allem Blutsdenken abgeneigten, ebenfalls jüdischen Begründer der „Völkerpsychologie“, Moritz Lazarus, der den Rassegedanken zur Erklärung des Wesens von Völkern für überflüssig hielt. Cohens Äußerungen zur Rassenfrage lassen an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig:
„Mit gesundem Menschengefühl wird man die Frage, ob in einem Volke Rasseneinheit wünschenswert und in gewissen Minimalgrenzen erforderlich sei, unbedenklich bejahen […]. Wir müssen erkennen, daß der Rasseninstikt mitnichten simple Barbarei ist; sondern ein natürliches, national berechtigtes Verlangen. Barbarei wird Nationalgefühl, wenn es zu politischer und nationaler Ausschließung solcher Mitbürger degeneriert, die kein anderes Vaterland haben noch wollen.“10
Cohen meinte, Treitschke zugeben zu müssen, daß alle Juden das deutsche, germanische Aussehen subjektiv wünschten, und baute daher auf eine soziale Annäherung, ein Konnubium, das endlich zur Angleichung der Rassenunterschiede führen sollte. Für ihn bestand kein Zweifel daran, daß „wir Juden anzuerkennen haben, daß das Ideal nationaler Assimilation, als solches, von Geschlecht zu Geschlecht bewußter angestrebt werden soll“.11
Da Cohen aus prinzipiellen, der Authentizität des Gewissens verpflichteten Gründen gegen Konversionen zum Christentum eintrat, mußte er schließlich eine Lebensform befürworten, die sich aus damaliger Perspektive tatsächlich als deutsch-jüdische Symbiose bezeichnen ließe, nämlich für interkonfessionelle Ehen, in denen die Partner aus aufgeklärten Kulturprotestanten oder israelitischen, ethischen Monotheisten bestehen. Dabei war es nicht einmal nötig, Spekulationen oder Zukunftsprojektionen zu betreiben. Eine schlichte Bestandsaufnahme des real existierenden Judentums in Deutschland seit der französischen Revolution reichte dazu in jeder Hinsicht aus. Und zwar sowohl für die Form des Gottesdienstes als auch bezüglich der Lehrinhalte des deutschen Judentums:
„Unsere israelitische Religion, wie sie uns heute lebendig erfüllt, ist tatsächlich eine kulturgeschichtliche Verbindung mit dem Protestantismus bereits eingegangen; nicht nur, daß wir jene Tradition der Kirche, so wie die des Talmud mehr oder weniger bestimmt und unverblümt als unverbindlich abgeworfen haben; sondern viel tiefer in allen geistigen Fragen der Religion denken und fühlen wir im protestantischen Geiste.“12
Diese vergleichsweise frühen Stellungnahmen wurden später – in der posthum erschienenen Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums – doch so weit revidiert, daß uns der späte Cohen nicht mehr als ein Deutscher mosaischen Glaubens erscheint, sondern als das, was die zeitgenössische, zwischen Zionismus und Assimilationismus hin- und herschwankende Debatte als „Nationaljudentum“ bezeichnet hat. Auffälligerweise kommt diese Position an der Erörterung einer Frage zum Ausdruck, die es mit einer vermeintlich rein theologischen, ganz unpolitischen Thematik zu tun hat, nämlich der Thematik von „Unsterblichkeit und Auferstehung“. Es scheint unzweifelhaft, daß diese Frage einem kantianisch gesonnenen Philosophen, dem es um eine vernünftige Religion ging, besondere Schwierigkeiten bereiten würde, geht es doch hier um weder erfahrungswissenschaftlich noch moralisch einholbare Wünsche und Bekenntnisse; jedenfalls dann, wenn man sich – wie Cohen es in seinen letzten Lebensjahren tat – ernsthaft auf die biblischen und rabbinischen Quellen einließ und sich nicht mit einer einfachen Wiederholung kantischer Positionen begnügte. Nach Kant waren ja die Begriffe „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ vernunftnotwendige regulative Ideen einer vom Sittengesetz geleiteten autonomen Individualität.
Cohen nimmt sich der Problematik einer vernunftgemäßen Rekonstruktion der Begriffe von Unsterblichkeit und Auferstehung zunächst dadurch an, daß er – in beinahe sprachanalytischer Manier – die bei diesem Komplex in Frage kommenden Begriffe sorgfältig voneinander unterscheidet. So ist der Begriff der „Seele“ weder historisch noch systematisch zwingend mit dem Begriff der „Unsterblichkeit“ verbunden, noch ist der Begriff der „Seele“ selbst ganz eindeutig. Zu alledem kommt noch hinzu, daß „Unsterblichkeit“ und „Auferstehung“ ebenfalls unterschiedliche Bedeutungen haben und unterschiedlichen Kontexten entstammen. Ein theoretisch interessierter Rückblick auf die allgemeine Kulturgeschichte seit der Antike ergibt zunächst, daß man unter „Seele“ sowohl das Prinzip animalen Lebens als auch das Prinzip sittlichen Lebens verstehen kann. Vor dieser Unterscheidung erscheint Cohen schon der aus dem Persischen kommende biblisch rabbinische Glaube an eine leibliche Auferstehung als eine Herabsetzung des Gedankens der Unsterblichkeit, „denn sie ist die Auferstehung des Leibes, während die Unsterblichkeit nur die der Seele ist und sein soll“.13
Läßt sich unter biblischen Voraussetzungen dann überhaupt noch von „Auferstehung“ sprechen? Ist diese Vorstellung nicht notwendig mit dem Begriff einer leiblich gebundenen Seele verknüpft? Cohen löst dieses Problem, indem er einerseits den Begriff der Unsterblichkeit der Seele strikt an die Seele des einzelnen Individuums bindet, den Begriff der „Auferstehung“ aber, ganz im Einklang mit den prophetischen Quellen, insbesondere bei Hesekiel, an den Gedanken der Auferstehung des Volkes knüpft. „Die Unsterblichkeit“, so kann Cohen dann formulieren, „gewinnt die Bedeutung des geschichtlichen Fortlebens des Individuums im geschichtlichen Fortbestand seines Volkes.“14
Dieser geschichtliche Fortbestand gewinnt sein Gewicht vor dem Hintergrund von Cohens Theorie des Messianismus, die er selbst strikt von jeder Eschatologie abhebt, um ihm eine präsentische Deutung einer immanenten, durchaus auch politischen Entwicklung zum Besseren des Menschengeschlechts zu geben. An dieser Stelle kann Cohen ganz im Einklang etwa mit Kants Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte oder den anderen kleineren geschichtsphilosophischen Schriften eine zwar wissenschaftlich und erkenntnismäßig nicht einholbare, aber doch vernünftig begründete Lehre von der sittlichen Höherentwicklung der Menschen im Laufe der Geschichte übernehmen und für seinen Messianismus, mit dem er 1914 etwa den Eintritt Deutschlands in den Krieg begründete, reklamieren. Ist mit dieser Verlagerung des Auferstehungsbegriffs auf das kollektivgeschichtliche Schicksal des jüdischen Volkes, ja mehr noch, auf die geschichtliche Versittlichung aller Völker, auch der Skandal des Todes und der Wunsch nach Unsterblichkeit erledigt? Nach Cohens eigenen Voraussetzungen nicht, da ja die Unsterblichkeit stets die Unsterblichkeit der individuellen Seele ist. Hier kommt nun alles darauf an, die „Seele“ nicht als Prinzip animalischen Lebens, sondern als Prinzip der Sittlichkeit zu betrachten. Dabei nutzt Cohen den biblischen Begriff der Heiligkeit, den er als einen Aufruf, als einen Imperativ zu einem gottgemäßen Leben liest: „Ihr sollt mir sein“, heißt es im 2. Buch Mose 19,6, „ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk.“ Heiligkeit erscheint so als das Ideal eines sittlichen Lebens – wer heilig geworden ist, hat sich in seinem Leben den sittlichen Geboten Gottes geweiht:
„Wie aber nun die sittliche Heiligkeit zum religiösen Begriffe der Heiligkeit wird, wie denn Gott nicht mehr für das Opfer, sondern nur für die Aufgaben der Sittlichkeit zum Urbilde der Heiligkeit wird, so muß der Begriff des Lebens sich auch über die Grenzen des irdischen Lebens hinaus erweitern. Auch auf das Sterben muß sich das Menschenleben erstrecken. Der Tod kann nicht schlechthin mehr als das Ende des Lebens betrachtet werden. Er muß den Gedanken nahelegen, daß er nur ein Übergang sei zu einem anderen Leben. Denn die Heiligkeit ist ja das Ideal des Lebens geworden. Die Heiligkeit hat aber auch den Menschen als Individuum hervorgebracht. Der Mensch hat die Aufgabe und die Kraft der Buße, also der Selbsterneuerung und der Wiedergeburt. Und der heilige Gott wird demgemäß zum Gotte der Erlösung und der Versöhnung.“15
Freilich kommt Cohen alles darauf an, die Idee von der Unsterblichkeit der Seele im Rahmen einer sittlichen Wiedergeburt von allen mythischen und mystischen Vorstellungen zu reinigen. Weder stellt die postulierte Wiedergeburt der Seele eine etwas andere Fortsetzung des irdischen Lebens dar, noch geht es um eine Verschmelzung der Seele mit Gott, die ja die Differenz zwischen Gott und Mensch aufheben und damit dem Monotheismus widersprechen würde. Wenn die menschliche Seele ihre Verbindung zu Gottes Geist sucht und sich in guten Taten heiligt, in guten Taten, die zu tun Gott als Geist der menschlichen Seele auferlegt hat, wird jetzt deutlich, daß es der vom Menschen in seiner Seele angenommene Geist Gottes ist, der unsterblich ist, wobei wiederum dieser Geist Gottes als Geist von Gott, aber nicht mystisch als göttlicher Geist verstanden werden darf. Die Unsterblichkeit des Geistes hat dann aber ihren Ort im geschichtlichen Wirken eines Volkes und damit des ganzen Menschengeschlechts, gerade so wie die Seele – wenn überhaupt – in den biologischen Prozessen der Fortpflanzung und Vererbung fortdauert. Unsterblichkeit des Individuums ist daher in sittlicher Hinsicht ganz biblisch die „Einsammlung zu den Vätern“, sofern diese Väter ganz ohne Eschatologie Heilige in einem messianischen Prozeß sind:
„Dadurch ist der Mensch der Beschränkung auf das biologische Einzelwesen enthoben, nicht minder aber auch derjenigen auf das empirische Geschichtswesen. Denn der Begriff der Geschichte und der geschichtlichen Erfahrung hat sich jetzt über die Schranken der Vergangenheit und der Gegenwart hinausgehoben, und nur in die Zukunft und in die Entwicklung zu ihr ist das eigentliche Dasein, die eigentliche Wirklichkeit des Menschenlebens und der ganzen Völkergeschichte gelegt.“16
Dieser Gedanke einer Auferstehung ins geschichtlich Zukünftige, einer Weiterung ins Messianische, einer Vollendung der sittlichen Individuen in und zu „Allheitsindividuen“ erfüllt erst den Begriff der Individualität und ermöglicht erst die Vorstellung einer messianischen Menschheit. Nur in einer befreiten Menschheit erfüllen sich die Individuen, und nur durch sich sittlich höherbildende und ihre Aufgaben von Generation zu Generation lehrende Individuen kommt eine befreite und geläuterte Menschheit ihrem Begriffe nah. An genau dieser Nahtstelle hat dann die jüdische, die alttestamentliche Lehre von der Unsterblichkeit über die allgemeinen Bestimmungen der Ethik hinaus ihren Ort:
„Die Religion dagegen“ – und „die Religion“ ist für Cohen die jüdische Religion – „verwertet den ethischen Begriff des Allheitsich, den der Messianismus erfordert. Und diese Verbindung der messianischen Zukunft des Menschengeschlechts mit ihrem providentiellen Ursprung in den Erzvätern des Monotheismus bringt die jüdische Unsterblichkeitslehre zur unzweideutigen Geltung. Sie sind die geschichtlichen Vertreter des messianischen Menschengeschlechts, zugleich aber vertreten sie, als Stammvater, den biologischen Untergrund der Fortpflanzung und Vererbung.“17
Mit dieser Gedankenfigur wurde es Cohen möglich, seiner jüdischen Existenz in einem deutsch und protestantisch bestimmten Staatswesen einen guten, geschichtsphilosophisch begründeten Sinn zu geben – als Erbe einer biologisch beglaubigten messianisch-universalistischen Kultur, deren Abkömmlinge, in einem ethischen Sozialismus und einer die Welt sittlich pazifizierenden Großmacht lebend, eine hervorragende Aufgabe vertraten. Obwohl Cohen in seiner letzten Schrift den Auferstehungsglauben des Christentums stark kritisiert und obwohl er dem Judentum eine noch weniger als das Christentum auf Verdienste abzielende Glaubenshaltung zuschreibt, ist heute unübersehbar, in welchem Ausmaß er von den kantischen, den protestantischen Wurzeln der neueren deutschen Kultur zehrt. Immerhin: Einen Begriff der Erbsünde lehnt Cohen ebenso ab wie den Gedanken einer jenseitigen Strafe oder einer jenseitigen Belohnung. Daß aber die Individuen ihr Leben nicht führen sollten, um glücklich zu werden, war ihm zur unbefragbaren Voraussetzung geworden, weshalb er denn für die Todesangst und ihre Ausdrucksweisen nur wenig Verständnis hatte: „Die Hoffnung auf das Wiedersehn in jenem Leben ist das Symptom für alle jene Komplikation der empirischen Individualität.“18
Spätestens hier wird deutlich, in welchem Ausmaß der deutsche Jude und Kantianer Hermann Cohen unbemerkt und unreflektiert einige intellektuelle Voraussetzungen der Bismarckschen Staatsgründung mitträgt. Ohne einen Gedanken daran, daß es in diesem Reich auch Katholiken gab, ohne Erwähnung des einem ethischen Sozialisten eigentlich geläufigen Umstandes, daß es auch einen atheistischen Universalismus gibt,19 geriet ihm die Beziehung zum deutschen Protestantismus zum Kern seines politischen Denkens und seiner Interpretation des Judentums. Daß Hermann Cohen sich, dem Zionismus ebenso abgeneigt wie dem Chauvinismus, schließlich auf den bizarren Pfad eines universalistisch-messianischen Bekenntnisses für Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg begab und er damit zu einem der hervorragendsten Vertreter der den Ideen von 1789 entgegengesetzten Ideen von 191420 wurde, wird auch an dem zu Beginn des Ersten Weltkrieges publizierten Schreiben an die Juden Amerikas deutlich. In diesem Du sollst nicht einhergehen als ein Verleumder. Ein Appell an die Juden Amerikas betitelten Schreiben heißt es unverblümt: „Nicht jeder Jude weiß es, aber jeder Jude soll es wissen: Die innere religiöse Entwicklung unserer Religionsverfassung verdanken wir nur Deutschland.“21 Diese Einsichten – so meint Cohen – sollten jeden Juden auf der Welt an die Seite des kriegführenden Deutschland treiben, das mit seinem Waffengang sowohl die praktischen Interessen der Juden wahrnähme als auch einen welthistorisch-messianischen Auftrag erfülle:
„Liebe Brüder in Amerika! Ihr werdet mich jetzt verstehen, wenn ich Euch sage: Jeder Jude des Abendlandes hat neben seinem politischen Vaterland als das Mutterland seiner modernen Religiösität, wie seiner ästhetischen Grundkraft und damit des Zentrums seiner Kulturgesinnung, Deutschland zu erkennen, zu verehren und zu lieben. Ich habe die Überzeugung, daß auch in jedem gebildeten russischen Juden diese Pietatät für die deutsche Bildung lebendig ist. Und ich habe daher auch die Zuversicht, daß er unseren deutschen Waffengang mit Rußland aus seinem jüdischen Herzen heraus begleiten muß.“22
Aus einer jüdischen Perspektive rechtfertigt Cohen den Krieg gegen Rußland vor allem mit der Rechtlosigkeit der russischen Juden, denen noch nicht einmal das allgemeine Schulrecht zugestanden sei. Dem Aufruf eines englischen Juden, mit den Juden Rußlands gegen Deutschland zu kämpfen, mag Cohen daher nur noch mühsam gebremsten prophetischen Zorn entgegensetzen. In dieser Weltstunde dürfe wohl die Frage aufsteigen, ob etwa das Weltgericht über Rußland hereinbreche,
„nicht zuletzt aus der Rücksicht auf seine unverhüllten Maßregeln zur Austilgung des jüdischen Volkes. Jeder Jude, der von der Kulturkraft und daher von dem Lebensrecht seiner Religion überzeugt ist, muß sich glücklich schätzen, wenn sein Patriotismus ihm wenigstens Neutralität in diesem Krieg auferlegt. Er muß uns deutsche Juden aber beneiden“, so hebt Cohen hervor, „daß wir für unser Vaterland kämpfen, getragen zugleich von der frommen Zuversicht, daß wir mit dem größten Teil unserer Glaubensgenossen seine Menschenrechte erkämpfen werden. Deutschland, das Mutterland der abendländischen Judenheit, das Land der Geistesfreiheit und Sittenzucht, Deutschland wird mit seinem Siege Gerechtigkeit und Völkerfrieden in der Welt begründen. Darüber können wir“ – so schließt sein Aufruf an die Juden Amerikas – „auf diplomatische Zusicherungen verzichten. Wir vertrauen auf die Logik unseres Geschickes und unserer Geschichte.“23
Auf der Basis dieser Voraussetzungen, das heißt auf der Basis eines eigentümlichen Gemisches von rigoroser universalistischer Moral, partiellen Konzessionen an das Rassedenken und einer Deutung des prophetischen Judentums, das in seinem Sinn gerade die Zerstreuung unter die Völker als metageschichtlichen Sinn jüdischen Schicksals akzeptieren mußte, konnte Cohen die damals entstehenden zionistischen Gedanken, etwa Martin Bubers, nur ablehnen. Die Sammlung der Juden und die Beschränkung auf eine womöglich religiös inspirierte Nationalstaatsgründung in Palästina mußten in dieser Perspektive als Verrat am prophetischen Messianismus erscheinen. In doppelter Frontstellung sowohl gegen die ihm als relativistisch erscheinenden Ansichten Moritz Lazarus’, der ihm in seiner Ablehnung der Rassenlehre gewichtige materialistische Einsichten preiszugeben schien, als auch gegen Martin Bubers Partikularismus beharrt Cohen auf dem Gedanken einer jüdischen Nation als weltweiter Kulturnation. Dieses Beharren beruhte, wie kurz darauf sein Eintreten für das kriegführende Deutschland, auf dem, was man als „historisches Bewußtsein“ bezeichnet, was aber in Cohens Variante wenig anderes war als eine Variante geschichtsphilosophischen Fortschrittsglaubens. Wenn Cohen am Ende seines Appells an die amerikanischen Juden von der „Logik“ der Geschichte und des Geschickes der Juden spricht, so handelt es sich dabei nicht um eine nachlässige façon de parler, sondern um ein wohlüberlegtes geschichtsphilosophisches Argument.
Religion war für Cohen ein Teil der allgemeinen kulturellen Entwicklung der Menschheit, einer Entwicklung, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Den Zionismus lehnte Cohen nicht nur deshalb ab, weil er ihm zu sehr an utilitaristischen Zwecken eines glücklicheren Lebens und zu wenig am Rigorismus des Sittengesetzes orientiert war („Die Kerls wollen glücklich sein […]“), sondern aus der geschichtsphilosophischen Überzeugung heraus, daß er hinter das von den Propheten erreichte Niveau moralischer Universalität zurückfalle. Wo Theodor Herzl etwa aus dem Antisemitismus der Dreyfusaffäre die Konsequenz eines jüdischen Staates zog, beglaubigte Cohen den „geschichtlichen Sinn des Abschlusses der Dreyfusaffäre“:
„Wir dürfen in der Zuversicht leben, daß unser Leiden zu einem glorreichen Abschluß kommt; glorreich nicht etwa nur für uns, sondern für die ganze Menschheit. Es muß Recht auf Erden werden; die Gerechtigkeit darf nicht im Stande der Gnade und Toleranz bleiben. Wie unserem französischen Märtyrer, unserem Glaubensbruder in der französischen Armee, die Ehre wieder hergestellt wird, weil die heilige Gerechtigkeit es erfordert, so dürfen wir ein gleiches Schicksal für alle unsere Märtyrer erhoffen. Und für unsere religiöse Gesamtheit erkennen wir zuversichtlich den Zusammenhang unseres Martyriums mit dem Siege der Wahrheit und mit dem wahrhaften sittlichen Heile dere Menschheit.“24
Nun sind derlei Meinungen, als politische und religiöse Äußerungen aufs Ganze des deutschen Judentums des neunzehnten Jahrhunderts bezogen, alles andere als ungewöhnlich.
Systematisch stellt sich freilich bei dem methodologisch und wissenschaftstheoretisch versierten Autor des Prinzips der Infinitesimalmethode und seiner Geschichte aus dem Jahre 1883 die Frage nach der Legitimität der Neuformulierung einer Geschichtsphilosophie. Insofern sich nun die jüdische wie auch jede andere Religion in der Geschichte entfaltet hat, „Religion“ aber wie „Geschichte“ ein Begriff ist und alle Begriffe in der Vernunft ihren systematischen Ursprung haben, kann die Aufgabe einer zeitgemäßen Religionsphilosophie in nichts anderem bestehen, als den „Begriff der Religion durch die Religion der Vernunft zur Deckung“ zu bringen.25 Kaum anders als Hegel in seiner Philosophie der Geschichte beharrt auch Cohen auf dem Verfahren einer vernunftgeleiteten Konstruktion der Geschichte, und zwar so, daß ein vernünftiger Begriff von Religion im Reich der geschichtlichen Entwicklung genau die Elemente auffindet, die er ohnehin systematisch zu konstruieren hätte. Gerät damit das geschichtliche, kulturelle, religiöse Material zur blanken Illustration einer auch unabhängig von ihm zu konstruierenden sittlichen Wahrheit? Das ist für den späten Cohen deshalb nicht der Fall, weil auf der Basis seiner Voraussetzung in der Geschichte die menschliche Vernunft immer schon am Werke ist und somit nichts anderes als deren Wirken zutage bringt. Alleine aus diesem Grund hält es Cohen für legitim, die Religion der Vernunft ausgerechnet aus den Quellen des Judentums zu konstruieren:
„Dieser Allgemeinheit, welche zur Grundbedingung sonach für die Religion der Vernunft wird, scheint es nun aber zu widersprechen, daß wir aus den Quellen des Judentums die herleiten wollen: die der geschichtlichen Wirklichkeit ihren einzelnen Erscheinungsformen gegenüber Notwendigkeit verleiht, das ist ja gerade die Allgemeinheit, die sich trotz allen sozialen Hemmnissen und trotz allen Unzulänglichkeiten in der Geschichte der Völker dennoch hindurchzuringen vermöge, und die in diesem Ringen und Sich-an-das-Licht-des-Tages-bringen einen Fortschritt und insbesondere eine Kontinuität vollziehe, in welcher der Sinn der Geschichte sich begründet, in welcher die Geschichte zur Geschichte der Vernunft wird.“26
Cohens stärkstes Argument für diese geschichtsphilosophische Betrachtungsweise besteht somit in seiner Annahme des psychischen und sozialen, somit realen Wirkens der auf Allgemeinheit zielenden Vernunft, des Organs der Gesetze. Das Wesen der Vernunft besteht für Cohen in dem, was er mit einer heute wenig glücklich wirkenden Beleihung eines neutestamentlichen Begriffs als „Gesetzlichkeit“ bezeichnet. Diese „Gesetzlichkeit“, das heißt die Fähigkeit der Menschen zur Bildung allgemeiner Begriffe und zur formalen Überprüfung von Unstimmigkeiten, stelle zugleich das Band zwischen der menschlichen und einer anderen Vernunft dar. Über diese Vernunft kann freilich nur eine begrifflich angeleitete Untersuchung der Religion Aufschluß geben. Dabei geht Cohen realistisch und induktiv vor, das heißt von ihrem Inhalt und ihrem Umfang aus, die Cohen mit einer folgenschweren Entscheidung beide als „Mensch“ bestimmt.27 So ist ein Weg gewiesen, den Menschen seiner – wie Cohen es ausdrückt – „empirischen Zweideutigkeit“ zu entreißen.28 Dabei ist Cohen die Differenz von „Gott“ hier und „Religion“ dort wohl bewußt, ebenso wie der Unterschied zwischen „Religion“ und „Ethik“. Beide gehen vom Menschen aus und beziehen sich auf ihn. Der Beitrag der Ethik besteht demnach darin, den Menschen seiner Individualität zu entreißen und ihn einer Selbstreflexion anheimzugeben, die im Gedanken und Bezugspunkt der „Menschheit“ gipfelt. Nach Maßgabe der Ethik erkennt sich das Individuum erst in der Menschheit und erfüllt sich die Menschheit in der Individualität. Daß die Menschheit alleine kein vollständiges Symbol der Individualität sein kann, sondern es hierzu einer vermittelnden Übergangsgröße bedarf, ist einem im immer noch von Hegel geprägten akademischen Milieu Deutschlands lehrenden jüdischen Philosophen zweifelsfrei gewiß:
„Alle methodische Gefahr ist jetzt von der Ethik entfernt. Die Individualität des Menschen, die sie in der Menschheit begründet, ist alles Scheins der Paradoxie enthoben: der Staat bildet die Vermittlung zwischen dem empirischen Individuum und der Idee der Menschheit, zu deren Träger der Mensch wird. An der Individualität des Staates, an welcher der empirische Mensch mit allen Fasern seines Herzens Anteil nimmt, deren Rhythmus sein eigener Pulsschlag gleichsam nachzittert, realisiert sich das Wunder, welches in der ethischen Lehre von der Menschheit als der Erfüllung des Menschen zu liegen scheinen könnte.“29
Hätte es Hermann Cohen dabei belassen, wüßten wir nicht zu sagen, wo die Abweichung zu Hegels Rechts- und Geschichtsphilosophie, wo genau der spezifische Beitrag seines Denkens aus den Quellen des Judentums läge.
Die Vermittlung zwischen Individuum und Menschheit in der Gestalt des Staates übergeht den für Cohen ganz offensichtlichen Umstand, daß das einzelne Individuum neben der gleichsam vertikalen Vermittlung zur Menschheit hin noch einer zweiten Vermittlung bedarf, einer Vermittlung, in der der Mensch nicht nur als autonomes Individuum, sondern als vom Leiden betroffener, sinnlicher, konkreter Mitmensch auftritt, als ein Wesen, dessen sittliche Bildung und Entwicklung unter Voraussetzungen steht, über die es selbst nicht verfügt. Hier entdeckt Hermann Cohen lange vor der Dialogphilosophie Martin Bubers, lange vor Franz Rosenzweigs sprachlicher Philosophie der Existenz den „Menschen als Mitmenschen“.30