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Die Wurzeln der Tiefenpsychologie C.G. Jungs (1875-1961) reichen bis in die spätantike und mittelalterliche Mystik zurück. Die deutsche Romantik aktualisierte diese Quellen und öffnete ein Geisterreich aus Okkultismus und Somnambulismus, das sich in Jungs Werk schließlich zu einer romantischen Theorie des Unbewussten im 20. Jahrhundert entfaltet. Im Mittelpunkt dieser Theorie der universellen biologischen Grundlagen der Kultur steht die Lehre von den Archetypen, die Micha Brumlik an Gestalten aus Richard Wagners Musikdramen darstellt.
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Seitenzahl: 194
C.G. Jung zur Einführung
Micha Brumlik
Junius Verlag GmbHStresemannstraße 37522761 HamburgIm Internet: www.junius-verlag.de
© 1993 by Junius Verlag GmbHAlle Rechte vorbehaltenTitelfoto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, BerlinE-Book-Ausgabe Januar 2017ISBN 978-3-96060-033-6Basierend auf Print-Ausgabe:ISBN 978-3-88506-397-1Neufassung April 2004
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einleitung
I.Tiefenpsychologie und Geisterbeschwörung
II.Die romantische Theorie des Unbewußten
III.Das Leben ist das Werk – Fragmente einer Biographie
IV.Theoretische Grundlagen
1. Das Kollektive Unbewußte
2. Die Theorie der Archetypen
3. Die verschiedenen Archetypen
V.Kulturwissenschaftliche und therapeutische Aspekte
1. Therapie und Alchemie
2. Anonyme Religion aus den Quellen von Mystik und Gnosis
3. Zeitdiagnosen
VI.Systematische Rekonstruktion und weiterführende Überlegungen
1. Der Beitrag der Soziobiologie
2. Der Beitrag der freudianischen Psychoanalyse
3. Der Beitrag des Strukturalismus
4. Der Beitrag der Tiefenhermeneutik
VII. Perspektiven der postjungianischen Theorie
Anhang
Anmerkungen
Literaturhinweise
Zeittafel
Über den Autor
Gestalt und Werk Carl Gustav Jungs haben in den vergangenen Jahrzehnten wieder im Brennpunkt des öffentlichen Interesses gestanden. In Deutschland beriefen sich populäre Autoren wie Franz Alt und Eugen Drewermann auf C.G. Jung, während sein Werk in den USA den theoretischen Unterbau der New-Age-Bewegung ausmachte. Diesen erstaunlichen Erfolg hätte in den späten sechziger Jahren, als in Deutschland das Werk Sigmund Freuds im Zentrum einer Kulturrevolution stand, niemand vorauszusagen gewagt. Im Gegenteil: Jung, von dem das Gerücht umging, ein Antisemit gewesen zu sein, Freud verraten und mit dem Nationalsozialismus sympathisiert zu haben, erschien als ein konservativer Ideologe unter anderen – wie Martin Heidegger, Carl Schmitt oder Ernst Jünger. Mit dem Erlahmen des kulturrevolutionären Impulses, einer wachsenden Wissenschaftskritik und dem Entstehen eines »Selbstverwirklichungsmilieus« (Gerhard Schulze) als gesellschaftlicher Großgruppe in der Nachfolge von Klasse und Schicht, wuchs das Interesse an Theorien, die den Ausnahmezustand psychotherapeutischer Behandlung zu einer Lebensform erhoben. Das Werk Sigmund Freuds, das, all seinem inhaltlichen Konservativismus zum Trotz, einen revolutionären Kern birgt, konnte nach dem Ende der Studentenbewegung diese Aufgabe nicht übernehmen. Wo dies trotzdem versucht wurde, mußte es – wie in den Filmen Woody Allens – in Ironie enden. Der breite Strom der sogenannten humanistischen Psychologie, die mit ihren Encountergruppen, Beziehungsspielen, Wünschen nach persönlichem Wachstum und ekstatischen Erfahrungen diese Rolle übernehmen wollte, blieb aber drei gewichtigen Nachfragen des Zeitgeistes gegenüber gleichgültig.
Die immer neuen Beziehungsschleifen konnten den Hunger nach Geschichten und Bildern, wie er sich etwa im Erfolg von Tolkiens Herr der Ringe niederschlug, nicht stillen.
Darüber hinaus vermochte alles Gerede von »Verständigung«, »Annahme«, »Vertrauen« und »Liebe«, das z.B. in den Konzepten der Gesprächspsychotherapie Carl Rogers erzeugt wurde, die damit in Gang gesetzte Suche nach überbordendem Sinn nicht zu befriedigen. Am Ende standen doch nur die eigene Familiengeschichte oder die Konflikte mit den Arbeitskollegen. Schließlich vermochte die humanistische Psychologie ihre Herkunft aus der akademischen Experimentalpsychologie nicht zu verleugnen und beharrte sorgfältig auf ihren Disziplingrenzen. Zu ökologischer Krise, einem neuen Blick auf die Naturwissenschaften, zu religiöser Erfüllung konnte und wollte sie nichts sagen. Als am Ende dieser Entwicklung schließlich eine »Transpersonale Psychologie« entstand, die Religion, Naturwissenschaften und individuelle Selbstverwirklichung zu integrieren versprach, artikulierte sie nur das, was Freuds Schüler und späterer Feind, Carl Gustav Jung, schon fünfzig Jahre zuvor entworfen, ausgearbeitet und gelebt hatte. Dabei war Jungs Theorie des Unbewußten zunächst alles andere als der Ausdruck einer Revolte gegen Freud und sein Werk. Dies mochte aus dem internen Blickwinkel der Freudschen Schule so erscheinen – in Wirklichkeit verhielt es sich umgekehrt. Carl Gustav Jung war der konservative Erneuerer einer großen Tradition. In seinem Werk kam die abendländische und vor allem romantische Tradition des Unbewußten zu Abschluß und Vollendung. Demgegenüber verbanden sich in Sigmund Freuds Werk der umwälzende Geist der modernen Naturwissenschaften mit der schonungslosen Aufrichtigkeit einer von allem metaphysischen Trost verlassenen Individualität. So erscheint Jung, der Rebell gegen Freud, in Wahrheit als Vertreter einer wissenschaftlichen Restauration, während das konservativ wirkende Schuloberhaupt Freud wie ein um die Wahrung seiner Fortschritte ringender Revolutionär wirkt. Es ist nicht allein Jungs zeitweiliges Sympathisieren mit dem Nationalsozialismus, sondern vor allem auch diese doppelte Verschränkung, die die Debatte zwischen Freudianern und Jungianern erschwert.
Diese Darstellung läßt sich von dem folgenden Grundgedanken leiten: Unabhängig von Jungs persönlichen, politischen und menschlichen Fehltritten ist das Programm einer romantischen Theorie des Unbewußten darzustellen und in seiner wissenschaftlichen Tragfähigkeit zu überprüfen. Da aber eine romantische Theorie des Unbewußten mit gutem Grund die einzelne schöpferische Individualität in ihren Mittelpunkt stellt, ist diese Theorie des Unbewußten in ihrer Geltung an das Leben ihres Autors gebunden.
Das Unbewußte wirkte lange Zeit unheimlich. Freuds Bemerkung, daß das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, weckt daher nicht zufällig Assoziationen an Spuk und Geister. Tatsächlich entwickelte sich die romantische Tiefenpsychologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einem politisch reaktionären Milieu, das Medien, Geisterbeschwörer und die Naturwissenschaft geradezu religiös verehrte. Dieses Milieu wird im ersten Kapitel beschrieben.
Im zweiten Kapitel geht es – in historischer Perspektive – um die Entfaltung dessen, was sich als romantische Theorie des Unbewußten bezeichnen läßt, seine Wurzeln in der spätantiken wie mittelalterlichen Mystik hat und in der deutschen Romantik des 19. Jahrhunderts artikuliert wurde.
Im dritten Kapitel werden Grundzüge einer Biographie C.G. Jungs unter dem Gesichtspunkt vorgestellt, wie sich seine Theorie durch sein Leben entfaltet hat. Dabei werden seine Beziehung zu Freud, sein Antisemitismus und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus nicht aus Gründen der Sensationshascherei im Mittelpunkt stehen, sondern weil sich daraus Aufschlüsse über besondere Probleme der romantischen Theorie des Unbewußten ergeben.
Im vierten Kapitel werden dann systematisch die zentralen Begriffe dieser Theorie wie Archetypus, Anima und Synchronizität in ihrem Zusammenhang und an Gestalten aus Richard Wagners Musikdramen dargestellt.
Das fünften Kapitel setzt sich mit der Frage auseinander, ob aus der erläuterten Theorie des Unbewußten eine spezifische Form therapeutischer Technik entspringt bzw. welche im engeren Sinne klinischen Konsequenzen Jungs Theorie zieht. Darüber hinaus ist Jungs Werk zum Katalysator für breit angelegte kulturwissenschaftliche Forschungen geworden. Ihre Grenzen und Möglichkeiten werden kurz skizziert. Die kritische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem so eminenten Werk wird aber schließlich die wissenssoziologische und wissenschaftshistorische Frage nach seiner Entstehung und seinem ideologischen Gehalt einklammern und endlich fragen müssen, worin der wissenschaftliche Wahrheitsanspruch einer solchen Theorie besteht.
Das sechste wissenschaftlich und wissenschaftstheoretisch orientierte Kapitel unternimmt schließlich den Versuch zu zeigen, daß C.G. Jungs Werk – mutatis mutandis – eine fruchtbare und noch nicht entsprechend entwickelte und ausgeschöpfte Theorie der universellen biologischen Grundlagen der Kultur enthält und somit eine Brücke zwischen so unterschiedlichen Ansätzen wie Soziobiologie, strukturaler Anthropologie und kulturwissenschaftlicher Hermeneutik bauen könnte.
Carl Gustav Jungs auf der Basis einer traumatischen Lebensgeschichte erwachsenes Programm einer Reintegration von Religion und Sexualität stand bekanntlich Sigmund Freuds Programm einer Sublimation von beidem gegenüber. Reintegrations- und Sublimationsmodell, wie sie schon in dem frühen Briefwechsel1 beider einander entgegengestellt sind, unterscheiden sich einmal in der Frage der Reduzierbarkeit der Religion und zum anderen hinsichtlich der Kontingenz der Person, d.h. der Frage, ob die menschliche Entwicklung einem sinnhaften, vorgegebenen Ziel folgt oder nicht. Für Sigmund Freud stellte die Wahl der Sexualtheorie als Zentrum seines Werkes nicht nur eine zufällige, am Ende lebensgeschichtlich vermittelte Vorliebe für einen beliebigen tiefenpsychologischen Gegenstand dar, sondern jene Orientierung, die ihm allein Wissenschaftlichkeit und Aufklärung garantierte. Jung berichtet in seinen Erinnerungen von einem Gespräch mit Sigmund Freud aus dem Jahre 1910, in dem er dogmatisch auf die Sexualtheorie verpflichtet werden sollte. »Mein lieber Jung«, so Freud, »versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.« Auf Jungs Rückfrage, wogegen dies Bollwerk errichtet werden solle, habe Freud geantwortet: »Gegen die schwarze Schlammflut […] des Okkultismus.«2
Freud wußte, wovon er sprach. Schon in den frühen Studien zur Hysterie berichtet Freud von den Erscheinungen seiner Patientin:
»Ich war schon bereit«, vermerkt Freud zu einer Reihe ihm nicht signifikant erscheinender Symptome seiner Patientin, »diesen Versuch zu den mißglückten zu zählen, und dachte daran, wie ich mich unauffällig aus der Affäre ziehen könnte, als mich eine der Erscheinungen, die sie beschrieb, aufmerksam machte. Ein großes schwarzes Kreuz, wie sie es sah, das geneigt stand, an seinen Rändern denselben Lichtschimmer wie vom Mondlicht hatte, in denen alle bisherigen Bilder erglänzt hatten …« Im weiteren schilderte die Patientin die Vision einer Sonne mit güldenen Strahlen, einer riesengroßen Eidechse, »die sie fragend, aber schreckhaft anschaute, dann eines Haufens von Schlangen, dann wieder eine Sonne, diesmal mit milden, silbernen Strahlen. Weiterhin berichtete die Patientin, daß sie Mitglied der theosophischen Gesellschaft geworden sei und von sich selbst eine geringe Meinung habe.« Schließlich wird Freud klar, daß es sich bei den von der Patientin berichteten Bildern nicht um neurologisch induzierte und sinnhaft gedeutete Lichterscheinungen handelte, sondern um »Symbole okkultistischer Gedankengänge, vielleicht von den Titelblättern okkultistischer Bücher«3.
Die Auseinandersetzung mit dem Okkultismus sollte Freud immer wieder beschäftigen. Die XXX. Vorlesung der »Neuen Folge« befaßte sich mit »Traum und Okkultismus«, und Freud unterläßt nichts, um die vom Okkultismus geschilderten Phänomene im wesentlichen als Suggestionen, Aberglauben oder Scharlatanerie darzustellen. Schließlich geht Freud in besonderer Weise auf ihm in Analysen mitgeteilte telepathische Erfahrungen ein, um sie Stück für Stück in ihrer seelischen Bedeutung zu erläutern und nachzuweisen, daß es sich hierbei im wesentlichen um Übertragungsphänomene handelt. Am Ende freilich teilt er einen Fall mit, bei dem er selbst zu zweifeln scheint, und erwägt, ob es nicht speziell in der Interaktion von Eltern und Kindern echte Telepathie geben könne.4
Freud hat das Thema des Okkultismus sein Leben lang nicht mehr losgelassen – in einem nachgelassenen Manuskript aus dem Jahre 1921 weist er geradezu auf die Zwillingsgeburt beider – wenn man so will – Disziplinen hin:
»Es ist nicht selbstverständlich, daß das Erstarken des Interesses für den Okkultismus eine Gefahr für die Psychoanalyse bedeutet. Im Gegenteile, man sollte auf gegenseitige Sympathien zwischen den beiden gefaßt sein. Sie haben nämlich die schnöde, hochmütige Behandlung von Seiten der offiziellen Wissenschaft erfahren. Die Psychoanalyse wird noch heute als der Mystik verdächtig angesehen und ihr Unbewußtes zu jenen Dingen zwischen Himmel und Erde gerechnet, von denen sich die Schulweisheit nichts träumen lassen will. Die zahlreichen Aufforderungen zur Mitarbeit, die von Seiten der Okkultisten an uns gerichtet werden, zeigen, daß sie uns als halb zugehörig behandeln wollen, auf unsere Unterstützung gegen den Druck exakter Autorität zählen. Andererseits hat die Psychoanalyse kein Interesse daran, diese Autorität aufopfernd zu verteidigen, sie ist selbst in der Opposition gegen alles konventionell Eingeschränkte, Festgelegte, allgemein Anerkannte; es wäre nicht das erste Mal, daß sie den dunkeln, aber unzerstörbaren Ahnungen des Volkes gegen den Wissensdünkel der Gebildeten ihre Hilfe liehe. Eine Allianz und Arbeitsgemeinschaft zwischen Analytikern und Okkultisten erschiene ebenso naheliegend wie aussichtsvoll.«5
Die Einwände, die Freud im folgenden gegen eine solche Allianz erörtert, beziehen sich weniger auf okkulte Phänomene als auf die Haltungen der meisten Okkultisten, denen Freud vorhält, Überzeugte zu sein, die nach Bestätigung suchen, die Rechtfertigungen wollen, um sich zu ihrem Glauben bekennen zu können. Sie seien Gläubige, deren Glaube von der Wissenschaft im Lauf der Menschheitsentwicklung zurückgedrängt worden sei.6
»Die Analytiker«, so beschließt Freud diesen Gedankengang mit einem Bekenntnis, »sind im Grunde unverbesserliche Mechaniker und Materialisten, auch wenn sie sich hüten wollen, das Seelische und Geistige seiner noch unerkannten Eigentümlichkeiten zu berauben. In die Untersuchung des okkulten Stoffes treten sie auch nur darum ein, weil sie erwarten, dadurch die Wunschgebilde der Menschheit endgültig von der materiellen Realität auszuschließen.«7 Freud wußte, wovon er sprach – er hatte seine eigenen Erfahrungen mit derlei Phänomenen.
Im Sommer 1898 explodierte im Eßzimmer des Sommerhauses einer gutbürgerlichen Basler Familie, der Bottminger Mühle, ein siebzig Jahre alter Eßtisch aus Nußbaum. Die im Hause Anwesenden hörten aus ihrem Speisezimmer einen Knall wie einen Pistolenschuß und eilten zum Ort des Geschehens. Einer der Beobachter erinnerte sich später daran, daß die Tischplatte bis über die Mitte durchgerissen war – »und nicht etwa an einer geleimten Stelle, sondern durch das gewachsene Holz«8. Vierzehn Tage später explodierte in der gleichen Wohnung ein schweres Buffet, in dem sich auch ein Brotmesser befand, dessen Klinge zerbrochen war – ein Bruch, den sich ein konsultierter Messerschmied nicht anders als durch Einwirkung von Gewalt erklären konnte.9
Elf Jahre später, Ende März 1909, besuchte der durch diese Ereignisse lebhaft inspirierte Beobachter einen nach langen Kämpfen endlich seine akademische Anerkennung findenden Wiener Nervenarzt, einen innovativen Mediziner, dessen Überlegungen zum Unbewußten und zur Rolle zumal der kindlichen Sexualität bei der Pathogenese psychischer Krankheiten ihn zur umstrittenen Berühmteit machten. Doch wurde der freundschaftliche Besuch, den Carl Gustav Jung und seine Frau Emma Sigmund Freud in der Wiener Berggasse abstatteten, von einem merkwürdigen Ereignis überschattet. Der Besucher berichtete später, daß sich sein Zwerchfell während des Besuchs wie glühendes Eisen angefühlt habe und weiter: »[…] in diesem Augenblick ertönte ein solcher Krach im Bücherschrank, der unmittelbar neben uns stand, daß wir beide furchtbar erschraken. Wir dachten, der Schrank fiele über uns zusammen. Genauso hatte es getönt. Ich sagte zu Freud: ›Das ist jetzt ein sogenanntes katalytisches Exteriorisationsphänomen‹. ›Ach‹, sagte er, ›das ist ja ein leibhaftiger Unsinn.‹ ›Aber nein‹, erwiderte ich, ›Sie irren, Herr Professor. Und zum Beweis, daß ich recht habe, sage ich nun voraus, daß es gleich nochmals so einen Krach geben wird!‹ Und tatsächlich, kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, begann der gleiche Krach im Schrank […].«10 Freud antwortete auf die Angelegenheit am 16. April des Jahres brieflich:
»Nun fürchte ich, bei Ihnen wieder in den Vater zurückzufallen, wenn ich von meiner Relation zu dem Klopfgeisterspuk spreche, muß es aber tun, weil es doch anders ist, als sie sonst glauben könnten. Ich leugne also nicht, daß Ihre Mitteilungen und Ihr Experiment mir starken Eindruck gemacht haben. Ich nahm mir vor, nach Ihrem Weggang zu beobachten, und gebe hier die Resultate wieder. In meinem ersten Zimmer kracht es unausgesetzt, dort wo die zwei schweren ägyptischen Stelen auf den Eichenbrettern des Bücherkastens aufruhen, das ist also zu durchsichtig. Im zweiten, wo wir es hörten, kracht es sehr selten. Anfangs wollte ich es als Beweis gelten lassen, wenn das während Ihrer Anwesenheit so häufige Geräusch sich nach Ihrem Weggang nie wieder hören ließe – aber es hat sich seither wiederholt gezeigt, doch nie im Zusammenhang mit meinen Gedanken und nie, wenn ich mich mit Ihnen oder mit diesem speziellen Problem beschäftigte. (Auch jetzt nicht, füge ich als Herausforderung hinzu.)«11
Im besagten März 1909, auf den Freud in seinem Brief anspielt, hatte Carl Gustav Jung den ersten Teil seiner vielversprechenden Karriere als Assistenzarzt am Burghölzli und Privatdozent an der Zürcher Universität eben abgeschlossen, während der neunzehn Jahre ältere Sigmund Freud bereits seine Traumdeutung (1900), die Psychopathologie des Alltagslebens (1904) sowie die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) publiziert hatte. Jahre zuvor, 1895, hatte Freud gemeinsam mit Joseph Breuer die Studien zur Hysterie veröffentlicht – Frucht einer Reihe schwieriger Behandlungen, die Freud und Breuer in den achtziger und frühen neunziger Jahren durchgeführt hatten. Die Krankheit der später berühmt gewordenen ersten Patientin Breuers, Anna O. – es handelte sich um die später in Neu-Isenburg wirkende jüdische Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim –, begann ihrerseits mit kontrollierten Wachträumereien, der schließlich nach einer Zwischenphase neurologischer Störungen »eine Periode andauernden Somnambulismus«12 folgte. Freud behandelte 1889 wegen ähnlicher Symptome eine später »Emmy v. N.« genannte Patientin, indem er sie hypnotisierte, was bald einen »vollkommenen Somnambulismus«13 zur Folge hatte.
Die Vorstellung, daß bewußt induzierter oder spontan auftretender Somnambulismus eine Art via regia, ein Königsweg zu jenen dem Hellbewußtsein nicht zugänglichen Bereichen der menschlichen Seele sei, war spätestens Ende des 19. Jahrhunderts in der Psychiatrie gang und gäbe.
Der »Somnambulismus« selbst war ein Phänomen, das bis Ende des ersten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts unter Medizinern und der gebildeten Welt Furore gemacht hatte. Unter dem Eindruck der von Mesmer begründeten Theorie des tierischen Magnetismus wurden schon 1811 von einem Arzt namens Kluge in seinem Werk Darstellung des animalischen Magnetismus sieben Grade des sogenannten »magnetischen Schlafs« unterschieden:
»1. Grad – Wachsein: rein physisch-magnetischer Zustand mit einem Gefühl erhöhter Wärme. Die Sinnenwelt bleibt unverändert in der Sphäre des Gewöhnlichen.
2. Grad – Halbschlaf: gestörte Sinnlichkeit: Das Auge entzieht sich der Herrschaft des Willens.
3. Grad – magnetischer Schlaf: geschlossene Sinnlichkeit; Versunkenheit in sich selbst.
4. Grad – Somnambulismus: Erwachen innerhalb des magnetischen Schlafs, Bewußtsein und Äußerungsvermögen. Eine Kommunikation ist jedoch nur zwischen der magnetisierten Person und Menschen, mit denen sie in der Beziehung des magnetischen ›Rapports‹ steht, möglich. Der Rapport besteht üblicherweise zwischen Magnetiseur und Patient(in). Doch ist es auch möglich, daß der Magnetiseur einen Rapport zwischen Patient(in) und einer dritten Person herstellt. Der oder die Somnambule nimmt keine Erinnerung an diesen oder einen der folgenden Zustände in den gewöhnlichen Wachzustand mit.
5. Grad – Clairvoyance: Erhöhtes, hellesehendes Bewußtsein. Sinnesverlegung: Hören und Sehen durch das Sonnengeflecht im Oberbauch oder durch die Fingerspitzen, Sehen des eigenen Körperinneren oder bei Personen, mit denen ein Rapport hergestellt wurde.
6. Grad – Ekstase: Zustand einer höheren Verbindung mit der gesamten Natur, Überwindung von Raum und Zeit, Wahrnehmung entfernter, vergangener und zukünftiger Dinge.
7. Grad – Entzückung: Abermaliges Zurücksinken in sich selbst.«14
Carl Gustav Jung jedenfalls kam nach der Erfahrung explodierender Möbelstücke in seiner Wohnung vor dem Hintergrund von Überlegungen zur Telekinese sowie der magnetischen Kraft zumal von Pubertierenden auf den Gedanken, die Explosion des Möbels als Wirkungen eines jungen Mädchens, einer entfernten Verwandten aus der Familie seiner Mutter mit dem Namen Helly Preiswerk zu identifizieren. Helly Preiswerk15 (1881-1911) stand in dem hier interessierenden Zeitraum gerade in ihrer Pubertät und stammte zudem aus einer Familie, in der ohnehin spiritistische Sitzungen abgehalten wurden. Carl Gustav Jung untersuchte die entfernte Verwandte systematisch in den Jahren 1899 bis 1900. Erst die spätere Forschung hat gezeigt, daß Jungs Beziehungen zu Helly Preiswerk durchaus älter waren und daß erste Seancen Helly Preiswerks mit Jung schon 1895, also drei Jahre vor den unheimlichen Ereignissen stattgefunden haben.16 Zu vermerken ist zudem, daß Jung seiner entfernten Cousine bereits 1896 Justinus Kerner Seherin von Prevorst geschenkt hatte.17 Auf der Basis dieser Gespräche mit Helly Preiswerk fertigte Jung 1902 seine bei dem Zürcher Psychiater Eugen Bleuler eingereichte Dissertation Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene an, die sich mit den unter induziertem Somnambulismus produzierten Erzählungen Helly Preiswerks befaßten. Offiziell nahm Jung seine Untersuchungen an Helly Preiswerk erst 1899/1900 auf – unterschlug also in seiner Dissertation, daß er die Versuchsperson kannte und ihr einschlägige Deutungsmuster vorgegeben hatte.
Im Rückblick ist nicht zu entscheiden, ob Jung und seine Cousine gleichsam hysterisch – in einer folie à deux – nachgespielt haben, was beide bei Kerner gelesen hatten, oder ob es sich hier um authentische Phänomene handelte. Es ist lediglich festzuhalten, daß mit dem Buch Justinus Kerners über Friederike Hauffe, Die Seherin von Prevorst, ein gleichsam paradigmatischer Fall für diese Art eines romantisch-medizinischen Umgangs vorlag.
Die von Justinus Kerner, über den sogleich noch mehr mitzuteilen ist, beobachtete Friederike Hauffe war – wie bereits angedeutet – keineswegs die einzige berühmte Somnambule jener Zeit. So machte der Dichter Clemens von Brentano die stigmatisierte Nonne Anna Katharina Emmerick (1774-1824) durch seine Protokolle am Krankenbett berühmt18, während das Familienleben des Berliner Theologen Daniel Friedrich Schleiermacher durch die Zuneigung seiner Frau zu einer weithin bekannten Somnambulen, einer Frau Fischer, zunächst geprägt und dann nachhaltig beeinträchtigt wurde.19
Die Somnambulen waren also ein ambivalentes Phänomen: Einerseits waren sie – übrigens ausnahmslos Frauen – durch psychische und auch schwerste körperliche Symptome stigmatisiert, andererseits galt diese bis ins Krankhafte erhöhte Empfindlichkeit zugleich als Ausweis einer zugespitzten ungewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeit, die durch bestimmte Behandlungstechniken – die magnetischen Striche – in Maßen so gelenkt werden konnte, daß Erkenntnisse zu gewinnen waren, die den normalen Sinnesorganen verschlossen blieben. Somnambule waren nicht nur Patientinnen, sondern eben auch Heilerinnen und Künderinnen. Die späten Jahre des bekannten protestantischen Philosophen und Theologen Daniel Friedrich Schleiermacher waren durch den Umstand getrübt, daß seine Jahrzehnte jüngere Frau Henriette, vorher Witwe eines jungen Mannes, dem Einfluß einer Somnambulen namens Karoline Fischer verfiel, die Schleiermacher nach vergeblichen Konsultationen bei Schulmedizinern zunächst mit der Bitte um Behandlung anhaltender schwerer Magenschmerzen aufgesucht hatte. Später dann wurde Frau Karoline Fischer in Schleiermachers Haus aufgenommen und sollte dort den Tageslauf der Familie prägen. Eine Biographie Schleiermachers schildert die Umstände so: Schleiermachers
»Stiefsohn, Ehrenfried, verbrachte einen großen Teil seiner Jugendzeit in der Stube der häufig Bettlägerigen. Schleiermacher war nicht mehr Herr im eigenen Hause. Er mußte seine Frau mahnen, wenigstens zum Mittagessen und zur Teestunde ihren hausfraulichen Pflichten nachzukommen. Das Übel vergrößerte sich, als Henriette Schleiermacher die Tochter der medialen Frau ins Haus nahm und dadurch die Haushalte gleichsam vereinigte. Lud Schleiermacher Freunde und Bekannte ins Haus, trieb Karoline Fischer sie durch ihre unerträgliche Konversation in die Flucht […]. Die Bindung Henriettes an Karoline Fischer überdauerte Schleiermachers Tod.«20
Das war in den Jahren 1807 bis 1822. Die bekannteste Somnambule des neunzehnten Jahrhunderts, Friederike Hauffe (1801-1829), die durch das gleichnamige Buch des schwäbischen Arztes und Dichters Justinus Kerner bekannt gewordene »Seherin von Prevorst«21 wohnte geraume Zeit (1787-1829) ebenfalls im Hause ihres Arztes. Friederike Hauffe, das wird sich zeigen, war in jedem Fall das Leitmedium bei der Geburt der Tiefenpsychologie aus der Geisterbeschwörung. Die Lektüre von Kerners Bericht sollte gerade in Leben und Werk von Carl Gustav Jung eine zentrale Rolle spielen.
Justinus Kerner, dessen Buch über die »Seherin von Prevorst«22 Carl Gustav Jung seiner Cousine Helly Preiswerk lange vor Beginn der Untersuchungen geschenkt hatte, lebte von 1786 bis 1862 als erfolgreicher und berühmter Bade-, dann Oberamtsarzt in Schwaben. Von der Aufklärung und der naturwissenschaftlichen Medizin geprägt, erwarb er sich durch heroische Selbstversuche ermöglichte Verdienste bei der Erklärung und Heilung der Wurstvergiftung, des Botulismus. Als Vorläufer der tiefenpsychologischen Diagnostik entwickelte Kerner eine Vorstufe des Rohrschachtestes, die von ihm sogenannte »Klecksographie« Kerner, der als Kind seinerseits durch den Magnetiseur Eberhard Gmelin von einem Magenleiden kuriert wurde, war nicht nur mit Schlegel und Beethoven bekannt, sondern auch mit ausnahmslos allen namhaften schwäbischen Dichtern, mit Uhland, Schwab, mit Tieck und Mörike, aber auch mit anderen Romantikern wie Tieck und Arnim.23 Kerner behandelte den psychotischen Hölderlin und begann ab 1826 die geistersehende, somnambule Friederike Hauffe, geborene Wanner, zu behandeln, die – nach ihrer Heirat – am Grabe eines Jugendfreundes erstmals Erscheinungen hatte. Als Hauffe 1826 zu Kerner nach Weinsberg kam, bot sie »ein Bild des Todes, völlig verzehrt, sich zu heben und zu legen unfähig«24. Kerner behandelte die Patientin, die pünktlich jeden Abend um sieben Uhr in einen magnetischen Schlaf fiel, etwa dreitausend Mal25, wobei er Verträglichkeitsexperimente mit verschiedenen Mineralien aber auch – der naturwissenschaftliche Einfluß ließ keineswegs nach – mit Wurstgift mit ihr anstellte. Kerner nahm die Kranke, die 1829 starb, 1827 in sein Haus auf und schenkte ihr noch im gleichen Jahr ein Buch des Bonner Professors Müller über »Phantastische Geistererscheinungen und Gesichtstäuschungen«26. Während ihrer Behandlung entwickelte Kerner auf der Basis des Mesmerismus eine Theorie des Nervengeistes, die die Patientin ihrerseits dazu bewog, eine eigene Apparatur, den Nervenstimmer, zu entwickeln. Unter »Nervengeist« verstand Kerner eine feinstoffliche Substanz, die das vegetative Nervensystem durchströmte und von Kerner als jene Kraft angesehen wurde, durch welche »die Seele mit dem Leib und der Leib mit der Welt verbunden«27 sei. An einer Stelle seines Berichts, der in gebildeten Kreisen damals das war, was man als einen Bestseller bezeichnet, resümiert Kerner Erfahrungen, die Friederike Hauffe beim Berühren verschiedener Pflanzen gemacht hatte: