Aus Katastrophen lernen? - Micha Brumlik - E-Book

Aus Katastrophen lernen? E-Book

Micha Brumlik

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Beschreibung

Was kann es heißen, aus der Geschichte zu lernen? Kann zeitgeschichtliche Bildung, das Lehren der Geschichte des Holocaust, zum Paradigma für das Lernen aus der Geschichte werden? Lassen sich durch das Lehren dieser Geschichte die Vermittlung und Festigung moralischer Werte wie Toleranz und gegenseitige Achtung fördern? Micha Brumlik erörtert diese Fragen, die für die öffentliche Gedenkkultur von entscheidender Bedeutung sind, sowohl systematisch als auch auf der Basis empirischer Studien. Er reflektiert das Funktionieren von Geschichtsschreibung sowie die individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen von Erinnerung und historischem Verstehen und fragt nach den Bedingungen, unter denen eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust stattfindet. Damit stellt Aus Katastrophen lernen? zugleich eine Einführung in die Didaktik zeitgeschichtlicher Bildung dar, deren Grundlagen hier systematisch entfaltet werden.

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Micha Brumlik, 1947 in der Schweiz geboren, lebt seit 1952 in Deutschland. Er ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe Universität sowie Direktor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u. a.: Mein Israel (Hg.); Umkämpftes Vergessen; Schrift, Wort und Ikone; Gerechtigkeit zwischen den Generationen; Die Gnostiker (PHILO 2000); Vernunft und Offenbarung (PHILO 2001); Bildung und Glück (PHILO 2002); Advokatorische Ethik (PHILO 2004).

Micha Brumlik

Aus Katastrophen lernen?

Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: nach Entwürfen von Gunter Rambow, Berlin

Print-Erstausgabe: © 2004 Philo & Philo Fine Arts GmbH, Berlin Wien

EPUB:

ISBN 978-3-86393-603-7

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Fernstenliebe im Zeitalter der Extreme

Welt- und Lebensgeschichte(n)

Philosophien der Geschichte

Das Unterrichten des Ununterrichtbaren

Aus der Katastrophe lernen?

Danksagung

Fernstenliebe im Zeitalter der Extreme

Am Mittag des 9. November des Jahres 1923, eines verhangenen, regengrauen Tages, formierte sich in der Münchner Innenstadt ein einige Tausend Menschen zählender Demonstrationszug, an dessen Spitze der in Zivil gekleidete ehemalige Generalquartiermeister des kaiserlichen Heeres, General Ludendorff, und Adolf Hitler im Trenchcoat, eingerahmt von seinen Adjutanten und Mitkämpfern Ulrich Graf und Max Erwin von Scheubner-Richter, gingen. Bei dem schließlich folgenden Schußwechsel mit der Landespolizei am Odeonsplatz, der Hitlers Versuch einer Nachahmung von Mussolinis Marsch auf Rom scheitern ließ und dem vierzehn Nationalsozialisten und drei Polizisten zum Opfer fielen, riß der von einer Kugel tödlich getroffene Max Erwin von Scheubner-Richter, bei dem sich Hitler beinahe schutzsuchend eingehängt hatte, diesen mit zu Boden und renkte ihm den Arm aus. Scheubner-Richter, eine vermeintlich marginale Nebenfigur, war einer der frühesten Anhänger Hitlers in München, dem er sich bald nach seiner Rückkehr nach Deutschland anschloß und den er juristisch sowie politisch beriet. Während des Ersten Weltkrieges war Scheubner-Richter Vizekonsul des Deutschen Reiches im Osmanischen Reich, in Erzerum, und machte sich bei seinen Vorgesetzten, namentlich dem Konsul von der Schulenburg in Erzerum und dem Konsul Dr. Bergmann in Trapezunt, dadurch unbeliebt, daß er zugunsten der von den Deportationsplänen der jungtürkischen Ittihad und Terraki Partei bedrohten Armenier zu intervenieren versuchte.1 Er hatte – eine Art Vorläufer von Oskar Schindler – zehn armenischen Ordensschwestern einen sicheren Transport von Erzerum nach Konstantinopel verschafft und sie damit vor der Deportation gerettet. Wer war dieser Mann, der einerseits begrenzt Menschlichkeit bewies, um auf der anderen Seite zum geistigen Initiator eines weiteren Menschheitsverbrechens zu werden?

Der promovierte Ingenieur wurde als Baltendeutscher in Riga geboren. Zu Beginn des Krieges wurde er als Angehöriger des diplomatischen Dienstes ins Osmanische Reich entsandt. Nach dem Ende des Krieges ins Baltikum zurückgekehrt, wurde er im Zuge des Bürgerkrieges zwischen Roten und Weißen zeitweilig von den Kommunisten inhaftiert. Danach kehrte er nach Deutschland zurück, nahm 1920 am Kapp-Putsch teil, um sich schließlich in München niederzulassen, wo er seine ausgezeichneten Kontakte zum Hause Wittelsbach wie zur antibolschewistischen, russischen Emigration, unter anderem der Gattin des Kronprätendenten Großfürst Kyrill, nutzte, um – wie Ian Kershaw berichtet2 – Geldmittel einzuwerben, die für Ludendorff bestimmt waren und auch der NSDAP zuflossen. Scheubner-Richter gründete 1921 in München eine „Wirtschaftliche Aufbau Korrespondenz über Ostfragen und ihre Bedeutung für Deutschland“, die sich intensiv mit den Vorgängen in Rußland befaßte, und organisierte einen Kongreß der weißen Emigration, der sich sowohl gegen die Bolschewiki als auch gegen die westlich ausgerichteten Kadetten wandte. Als im September des Jahres 1923 Reste ehemaliger Freikorps mit der NSDAP verschmolzen, wurde Scheubner-Richter Geschäftsführer der neuen Dachorganisation, die sich „Kampfbund“ nannte und für die er im Rahmen einer Denkschrift ein „Aktionsprogramm“ entwarf, in dem es hieß: „Die nationale Revolution darf der Übernahme der politischen Macht nicht vorausgehen, sondern die Besitzergreifung der polizeilichen Machtmittel des Staates bildet die Voraussetzung für die nationale Revolution.“3 Damit war erstmals der Gedanke einer Revolution von oben im Rahmen der Legalität, aus dem Herzen des Staates heraus zum politischen Programm formuliert.

Neben dem eines natürlichen Todes gestorbenen antisemitischen Ideologen Dietrich Eckart war der beim Putsch erschossene Scheubner-Richter eine jener Personen, die der ansonsten menschenverachtende Hitler als unersetzbar bezeichnet hatte. Scheubner-Richter, das sei schließlich vermerkt, war nicht nur ein fanatischer Gegner der Bolschewiki, sondern, natürlich, auch ein überzeugter Antisemit. Fragt man nun nach den Motiven, die ihn dazu veranlaßt hatten, verfolgten und von der mörderischen Deportation bedrohten Armeniern zu helfen, so stößt man auf eine ideologische Disposition, die ihn in Konflikt mit dem im Osmanischen Reich abgeordneten deutschen Militär geraten ließ – seine nationalsozialistischen Hagiographen schreiben ihm zu, die Verfolgung und Ausrottung der Armenier durch die jungtürkische Ittihad und Terraki Partei als „zu asiatisch“ empfunden zu haben. Scheubner-Richter – so zu urteilen wird man im Rückblick nicht umhin kommen – tat in der Türkei des Jahres 1915 aus den falschen Motiven das Richtige: Die rassistische Abwertung ihrer Verfolger führte dazu, daß er wehrlosen Menschen half.

Daß den genozidalen, zentral geplanten Ausrottungsmaßnahmen der jungtürkischen Ittihad und Terraki Partei mindestens anderthalb Millionen Armenier zum Opfer fielen, bestreitet außer der heutigen türkischen Regierung und einigen ihr botmäßigen Wissenschaftlern niemand mehr4 – die Methode indes, mit der die Menschen massenhaft umgebracht wurden, war noch nicht die des Konzentrations- oder Vernichtungslagers, sondern jene Praxis, die im Augenblick des Untergangs auch das nationalsozialistische Deutschland wählte: der Todesmarsch. Die „Umsiedlung nach Osten“ wurde von den jungtürkischen Drahtziehern des Genozids als humanitäre Maßnahme getarnt. Eine nicht ganz zeitgenössische, auf den Zeugnissen von Überlebenden beruhende Quelle vergleicht Praktiken des humanitären Kriegsvölkerrechts mit den Deportationen:

„Die Evakuierten des Krieges wurden zu ihrem eigenen Schutz aus der Todeszone weggeführt. Selbst im Feindesland ließ man ihnen Pflege und Hilfe angedeihen. Sie verloren die Hoffnung nicht, binnen einer traurigen, aber absehbaren Frist wieder heimkehren zu dürfen. Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten mußte. Sie waren einem weit schrecklicheren, einem ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat.“5 Dieser Feind – so Franz Werfels Reflexion auf dieses Verbrechen – zielt bewußt auf die existentiellen Wurzeln des Menschen:

„Manchen stimmt schon das Wechseln seiner Wohnung traurig. Ein verlornes Stück des eigenen Lebens bleibt immer zurück. Für jedermann ist es eine große Entscheidung, seine Stadt mit einer andern, sein Lebensland mit einem neuen zu vertauschen. Selbst der Gewohnheitsverbrecher legt den Weg in die Gefangenschaft, ins Gefängnis schwer zurück. Aber rechtloser als ein Verbrecher sein, der doch den Schutz des Gesetzes genießt! Ausgetrieben werden von einem Tag zum andern, aus der Wohnstätte, von der Arbeit, aus dem im jahrelangen Fleiß Geschaffenen. Dem Haß überliefert! Ungerüstet auf asiatische Landstraßen geworfen, abertausende Meilen Staub, Stein und Morast vor sich! Zu wissen, man werde nie wieder ein menschenwürdiges Nachtlager finden, nie wieder an einem menschenwürdigen Tisch essen und trinken. Dies aber ist noch nichts. Unfreier sein als ein Sträfling! Zu den Verfemten, den Vogelfreien gehören, die jeder ungestraft töten kann. Eingepfercht in ein schleichendes Rudel von Elenden, in das wandernde Konzentrationslager, wo niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf.“6

Diese Passage stammt aus Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, den Werfel im November 1933 in Österreich und der Schweiz publizierte und der im Januar 1934 im Deutschland Hitlers verboten wurde. Neben seinen immer wieder – sofern man sie auf das jüdische Schicksal bezieht – geradezu unheimlich wirkenden prophetischen Passagen besticht Werfels Roman aller oftmals blumigen Sprache zum Trotz durch eine präzise Analyse des Schicksals der Vertriebenen, Entrechteten und Ermordeten des 20. Jahrhunderts, eine Analyse, die in ihrer Eindringlichkeit das vorwegnimmt, was Hannah Arendt später in ihrem Buch Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft entfalten sollte. Indem Werfel die Armenier als schleichendes Rudel von Elenden in einem wandernden Konzentrationslager, in dem niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf, und ihr Schicksal als das von Verfemten, Vogelfreien darstellt, die jeder ungestraft töten kann, hat er vor mehr als siebzig Jahren diagnostiziert, was an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert mit Verzögerung, aber umso schmerzhafter sichtbar geworden ist: Im Lager, im Konzentrationslager vollzieht und vollendet sich die politische Logik der Moderne.

Am 22. August 1939, kurz vor dem Angriff auf Polen, versammelte Adolf Hitler seine Generäle, um ihnen seine Pläne bezüglich eines Krieges gegen Polen zu eröffnen. Im Hinblick auf das künftige Schicksal Polens äußerte Hitler: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“7

Das kurze 20. Jahrhundert, das – so der Historiker Eric Hobsbawm8 – Jahrhundert der Extreme, begann im September des Jahres 1914 mit dem Ausbruch des später so genannten Ersten Weltkrieges und endete 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer. Dieses Jahrhundert sah eine in der ohnehin an Grausamkeiten nicht armen Geschichte der Menschheit geradezu unwahrscheinliche Ballung von Leid, Tod und massenhaftem Mord: Die Abermillionen Toten des Stalinismus gingen der in ihrer Unmoral und technischen Perfektionierung einzigartigen Ermordung der europäischen Juden durch den deutschen Nationalsozialismus voraus, auf sie wiederum folgten die 20 Millionen Toten der chinesischen Revolutionen, der millionenfache Klassenmord der Roten Khmer in Kamputschea an einem großen Teil ihrer eigenen Bevölkerung und in den Übergangszonen zwischen 20. und 21. Jahrhundert die genozidalen Massaker im jugoslawischen Krieg sowie die Ermordung von etwa 800.000 Tutsi durch Teile der Hutu in Ruanda. Diese Aufzählung ist durchaus unvollständig und ließe sich in vielen Hinsichten erweitern: die nationalsozialistischen Genozide an Sinti und Roma, die von Stalin angeordneten Mord- und Deportationsaktionen an Tschetschenen und Tataren reihen sich in diesen Totentanz ebenso ein wie der Vernichtungskrieg des faschistischen Italien gegen Äthiopien und die Gasattacken Saddam Husseins gegen die irakischen Kurden.

In diesem „kurzen Zwanzigsten Jahrhundert“ haben sich die die politische Geschichte der Moderne seit der Französischen Revolution prägenden Weltanschauungen des progressiven Veränderns und konservativen Verharrens, der universalistischen Verbreitung und der partikularistischen Einschränkung von Werten vor dem Hintergrund tiefgreifender sozialstruktureller Umbrüche so radikalisiert, daß sich schließlich im Zweiten Weltkrieg zwei totalitäre Weltanschauungen, der linkstotalitäre Stalinismus und der rechtstotalitäre Nationalsozialismus, gegenüberstanden. Zugleich erwies sich dieses Jahrhundert, in dem sich die Industrialisierung mindestens in Europa und Nordamerika auf ihren Höhepunkt zubewegte, als jenes Jahrhundert, das eine weltgeschichtlich bisher ungekannte Entfesselung der Destruktivkräfte erfuhr. Der Höhe-, genauer gesagt der Tiefpunkt dieser Entwicklung war jener von Hunderttausenden Deutschen und Angehörigen anderer Völker an sechs Millionen europäischen Juden begangene Massenmord, den wir uns als „Holocaust“ zu bezeichnen angewöhnt haben. Dieses präzedenzlose Verbrechen, das sich durch die Errichtung von Tötungsfabriken zur Ermordung von Juden auszeichnete, ist ohne jeden Zweifel ein, wenn nicht das Ereignis der deutschen Nationalgeschichte, einer Nationalgeschichte, die ohnehin erst im 19. Jahrhundert begann. In der Erfindung von Tötungsfabriken, der aktiven Vorreiter- und Täterrolle breiter Schichten eines hochgebildeten Bürgertums sowie der Mitläuferschaft von Millionen unpolitischen Landsleuten war dieses Verbrechen, der Holocaust, weltgeschichtlich bisher singulär. Betrachtet man die nationalsozialistischen Verbrechen indes im Kontext der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Kontext der Vollendung der Nationalstaaten, der sozialen Revolutionen und des imperialen und kolonialen Ausgreifens Europas sowie schließlich im Kontext des – wie Ernst Nolte es in apologetischer Absicht bezüglich des Nationalsozialismus ausdrückte – „Weltbürgerkrieges“ zwischen Faschismus und Kommunismus, so weicht ihre Singularität auffallenden strukturellen Übereinstimmungen mit anderen Massenverbrechen.

Der Politologe Rudolf Rummel hat berechnet, daß dem, was er im Unterschied zum juristischen Begriff des Genozids politologisch als „Demozid“ – das ist der Mord an Menschen oder Völkern durch eine Regierung, einschließlich Genozid, Politizid und Massenmord – bezeichnet, im 20. Jahrhundert etwa 170 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.9 Ausgehend von der Zahl der Opfer, stellt Rummel eine makabre Hierarchie der von ihm so bezeichneten „Dekamegamörder“ auf: An erster Stelle steht die Sowjetunion 1917-1987 mit 128 Millionen Opfern, gefolgt vom kommunistischen China mit 35 Millionen Toten, den deutschen Nationalsozialisten mit 21 Millionen Ermordeten und schließlich den nationalchinesischen Kräften der Kuo Mintang, die zehn Millionen Menschen zu Tode brachten. Rummel zählt weiter auf: etwa sechs Millionen Tote durch die japanische Aggression, zwei Millionen Opfer der Roten Khmer, fast zwei Millionen durch die Jungtürken ermordete Armenier, 1,6 Millionen Opfer der Vietnamesen, beinahe anderthalb Millionen Deutsche, die im Zuge der Westverschiebung Polens und der Aussiedlung aus der Tschechoslowakei ums Leben kamen, anderthalb Millionen Menschen, die als Bengalen von den pakistanischen Militärs massakriert wurden und schließlich etwa eine Million Menschen, die den politischen Verfolgungen im Nachkriegsjugoslawien zum Opfer fielen. Sieht man von absoluten Zahlen ab und bezieht die Todesrate auf die Größe der Bevölkerung sowie die Dauer der jeweiligen Schreckensherrschaft, so ergeben sich andere Rangfolgen. Rummels ebenso wichtiges wie problematisches Buch verdiente eine eigene Debatte – unabhängig von seinen Deutungen lassen jedoch seine sorgfältig aufgestellten Todesstatistiken kaum eine andere Möglichkeit zu, als den Nationalsozialismus in einem anderen als dem rein nationalgeschichtlichen Zusammenhang zu betrachten. Darauf hat bekanntermaßen die Totalitarismustheorie schon seit langem hingewiesen.

In ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft sprach Hannah Arendt das Thema vor mehr als fünfzig Jahren an:

„Entscheidend für den Rassebegriff des Zwanzigsten Jahrhunderts sind die Erfahrungen, welche die europäische Menschheit in Afrika machte und die erst durch den ‚scramble for Africa‘ und die Expansionspolitik in das allgemeinere Bewußtsein Europas eindrangen. … Der Rassebegriff der Buren entspringt aus dem Entsetzen vor Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein schienen und gespensterhaft, ohne alle faßbare zivilisatorische oder politische Realität, den schwarzen Kontinent bevölkerten und übervölkerten. Aus dem Entsetzen, daß solche Wesen Menschen sein könnten, entsprang der Entschluß, auf keinen Fall der gleichen Gattung Lebewesen anzugehören. Hier, unter dem Zwang des Zusammenlebens mit schwarzen Stämmen, verlor die Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprungs des Menschengeschlechts, wie die christlich-jüdische Tradition des Abendlands sie lehrt, und der Wunsch nach systematischer Ausrottung ganzer Rassen setzte sich umso stärker fest, als es offenbar war, daß im Gegensatz zu Australien und Amerika Afrika viel zu übervölkert war, als daß die dort erprobten Lösungen des Eingeborenenproblems je ernstlich in Frage kommen könnten.“10

Irrt man sich, wenn man in Arendts Genealogie von Rassismus und Massenvernichtung aller Hellsicht zum Trotz einen apologetischen Unterton hört? Gleichwohl: So spekulativ diese Überlegungen auch sein mögen, so sehr hat sich doch mindestens – jenseits dieser Theorie – herumgesprochen, daß der nationalsozialistische Judenmord Vorläuferverbrechen kennt, die in Deutschland entweder gut bekannt waren, wie der jungtürkische Genozid an den Armeniern 1915, oder in Deutschland erdacht und exekutiert wurden, wie der sich jetzt zum hundertsten Male jährende Genozid an den Herero in Deutsch-Südwestafrika 1904. Mit beiden Verbrechen tritt auf den Plan, was für das Jahrhundert der Extreme in den unterschiedlichsten Kontexten typisch werden sollte: erstens die massenhafte Tötung nicht nur von Kombattanten im Laufe kriegerischer Handlungen, die politisch gewollte Ermordung von Zivilisten also, die typischerweise entweder hinter der Front oder in Bürgerkriegen stattfand; zweitens die systematische Errichtung eines rechtsfreien, nur der politischen oder persönlichen Willkür unterliegenden Raumes, in dem Personen, die nicht unmittelbar getötet werden sollten, vorerst eingesperrt und oft genug ökonomisch ausgebeutet wurden: das Lager; drittens die ebenfalls politisch beabsichtigte Entwurzelung ganzer Völker aus ihren angestammten Territorien: die Vertreibung.

Vernichtung, Lager und Vertreibung stehen allesamt im Dienste dessen, was neuerdings als „Biopolitik“ bezeichnet wird, also der politisch gewollten Umwandlung von rechtsfähigen Personen in bloße Angehörige der biologischen Gattung „Mensch“, in „Menschenmaterial“, mit dem dann nach Belieben verfahren werden kann. Dabei geht es in den meisten Fällen um die Entfernung der zu „Menschenmaterial“ herabgewürdigten Personen aus einem bestimmten geographischen Raum. Alles politische Handeln stößt nämlich an – oder beruht auf – zwei Grenzen, die nicht politischer, kultureller oder symbolischer Art sind, sondern deren anthropologische und physikalische Voraussetzungen darstellen: diese natürlichen Grenzen werden durch menschliche Körper sowie den von ihnen zu reproduktiven Zwecken besiedelten geographischen Raum gesetzt. Die Vernichtungspolitik im Jahrhundert der Extreme zeichnet sich gegenüber älteren biopolitischen Maßnahmen, wie den Ausrottungsfeldzügen der Assyrer, den Massakern der Kreuzritter und Tamerlans oder auch der Conquista Lateinamerikas, dadurch aus, daß sie oft einem präzisen zweckrationalen Plan folgte und auf jeweils höchstem technischen Niveau durchgeführt wurde. In Analogie zu einer berühmten Unterscheidung von Karl Marx ließe sich hier von einer Dialektik von Destruktivkräften und Destruktionsverhältnissen sprechen. Während Marx die von ihm formulierte Dialektik zur Erklärung von politischen Revolutionen dient, wonach Revolutionen wahrscheinlicher werden, wenn die Produktivkräfte den Produktionsverhältnissen nicht mehr angemessen sind, scheint es sich bei der destruktiven Dialektik umgekehrt so zu verhalten, daß der Massenmord wahrscheinlicher wird, wenn eine Passung von Destruktionsverhältnissen und Destruktivkräften erreicht ist.

Es ist mehr als nur ein unerhebliches Detail, wenn auch deutlich weniger als ein Argument zur Gleichsetzung der Exterminationspolitik der Bolschewiki mit der Shoah, wenn die Forschung inzwischen zeigen kann, daß die Gaskriegserfahrung des Ersten Weltkrieges sowie ein messianischer Utilitarismus, dem Leben und Würde des einzelnen nichts galten, auch die frühe sowjetische Politik bestimmten. So erklärte etwa der linke Bolschewik Sinowjew 1918: „Um uns von unseren Feinden zu befreien, brauchen wir unseren eigenen sozialistischen Terror. Etwa 90 der 100 Millionen Einwohner des sowjetischen Rußlands müssen wir auf unsere Seite bringen. Den anderen haben wir nichts zu sagen. Sie müssen vernichtet werden.“11 Im Juni 1921, während des russischen Bürgerkrieges, ordnete der General der Roten Armee, Tuchatschewski, etwa folgendes an: „Die Reste der zerschlagenen Banden und einzelne Banditen versammeln sich weiterhin in den Wäldern… Die Wälder, in denen sich die Banditen verstecken, sind mit Giftgas zu räumen. Alles ist so zu berechnen, daß die Gaswolke in den Wald eindringt und alles, was sich darin versteckt, ausrottet. Der Inspektor der Artillerie hat unverzüglich die erforderlichen Mengen Giftgas und die für solche Operationen kompetenten Fachleute zu stellen.“12 Der Vollständigkeit halber sei angefügt, daß auch Lenin und Trotzki ganz selbstverständlich für die Einrichtung von Konzentrationslagern plädierten: In einem Telegramm vom 10. August 1918 befahl Lenin, „die Kulaken, Priester, Weißgardisten und andere zwielichtige Personen in Konzentrationslager außerhalb der Stadt einzusperren.“13

Während also die Destruktivkräfte dem entsprechen, was aus der Ikonographie des Totalitarismus bekannt ist: Maschinengewehr, Wachturm, Stacheldraht und Eisenbahn mit ihren Viehwaggons, erweisen sich die Destruktionsverhältnisse als eine parasitäre Form des sich entwickelnden Rechtsstaats: als der auf dem Schema des Polizeirechts beruhende Maßnahmestaat im ansonsten rechtsfreien Raum der Kolonie. Konzentrationslager unterscheiden sich von normalen Gefängnissen dadurch, daß dort kein Recht, auch nicht das eingeschränkte Recht eines autoritären oder diktatorischen Staates gilt, sondern einzig die Willkür einer ihrerseits nicht rechtlich verfaßten politischen Polizei.

Die postkoloniale „Rassenfrage“, wie sie heute im angelsächsischen Raum diskutiert wird, scheint für die deutsche Gesellschaft deshalb weniger von Bedeutung zu sein, weil das Deutsche Reich mit dem Ende des Ersten Weltkrieges seine überseeischen Kolonien verlor und mithin die historische Erinnerung an den deutschen Rassismus – wie er sich etwa bei der genozidalen Niederschlagung des Hereroaufstandes im Jahre 1908 tatsächlich vollzog14 – weitgehend getilgt wurde. Vor allem aber ließ die in einer Hinsicht durchaus zu Recht vertretene Hypothese von der Singularität der vom nationalsozialistischen Deutschland betriebenen Vernichtung der europäischen Juden – Yehuda Bauer spricht von einem präzedenzlosen Verbrechen15 – wissenschaftliche Thesen, wonach es die in den europäischen, zumal afrikanischen Kolonien geübten Praktiken der Unterdrückung und Ausrottung16 gewesen seien, die schließlich die Handlungsanweisung für die Massenvernichtung der europäischen Juden abgegeben hätten, als Meinungen von Einzelgängern erscheinen. Das scheint sich heute zu ändern.17

Wenn in der seriösen Forschung derzeit allerdings überhaupt ein Vorbild für die Massenvernichtung der Juden herangezogen wird, dann geht es um den von der jungtürkischen Regierung an den Armeniern begangenen Genozid in den Jahren 1915/16, an dem die deutsche Militärmission in der Türkei mindestens mitwissend beteiligt war.18 Es scheint erwiesen, daß Hitler vom Genozid an den Armeniern gewußt und ihn im Zusammenhang mit Maßnahmen gegen die europäischen Juden erwähnt hat. Freilich führt die Genealogie der Massenvernichtung zunächst nach Afrika. So führte General von Trotha 1904 in Deutsch-Südwestafrika einen erklärten Vernichtungs- und Rassekrieg und trieb etwa 30.000 Herero auf Todesmärschen ebenso in die Wüste, wie das später die Jungtürken mit den Armeniern tun sollten. Ab 1905 richtete das deutsche Kolonialregime Konzentrationslager für gefangene Herero ein, die von deutschen Firmen zum Eisenbahnbau eingesetzt wurden und – einzigartig in der kolonialen Welt – gezielt der Vernichtung durch Arbeit dienten.19 Heute gewinnt die schon früh von einem wissenschaftlichen Außenseiter20 aufgestellte Hypothese von der Vorbildfunktion der deutschen Kolonialkriege für den von ihm als „deutscher Faschismus“ bezeichneten Nationalsozialismus immer stärker an Plausibilität. Immerhin nahmen Rassehygieniker und Lehrer nationalsozialistischer KZ-Ärzte wie Josef Mengele, die bekannten Eugeniker Theodor Mollisson und Eugen Fischer, ihre ersten Forschungen an Eingeborenen während des Kolonialkrieges in Deutsch-Südwestafrika vor.21

Damit steht die Frage nach dem Verhältnis von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus auf der Tagesordnung, also die in der neueren Theoriebildung übrigens erstmals von Hannah Arendt erörterte Frage nach der Bedeutung des kolonialen Ausgreifens Europas nach Afrika für rassistische und totalitäre Politik in Europa.

„Schwarze Gestalten hockten, lagen, saßen zwischen den Bäumen, lehnten sich gegen die Stämme, krümmten sich am Boden, von dem trüben Licht kenntlich und unsichtbar gemacht, in allen Stellungen des Schmerzes, der Verlassenheit und der Verzweiflung… Diese dahinsterbenden Schatten waren frei wie die Luft – und beinahe so dünn. Dann, als ich nach unten blickte, sah ich ein Gesicht neben meiner Hand. Die schwarzen Knochen lagen längelang da, eine Schulter lehnte gegen den Baum, und langsam hoben sich die Augenlider, und die in tiefen Höhlen liegenden Augen sahen zu mir hoch, riesengroß und leer, eine Art blindes, weißes Flackern aus den Tiefen der Augäpfel, das langsam wieder erlosch… und überall lagen welche, in allen erdenklichen Haltungen schmerzverkrümmter Erschöpfung wie auf jenen Bildern, die ein Massaker oder die Pest zeigen.“22

Das ist weder eine Schilderung aus dem befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen noch eine aktuelle Reportage aus der Hauptstadt des heutigen Liberia, aus Monrovia. Die zitierte Passage findet sich in Joseph Conrads erstmals vor etwas mehr als hundert Jahren erschienenem Roman Herz der Finsternis, in dem sich Conrad mit den Folgen der kolonialistischen Ausbeutung des Kongogebietes durch den belgischen König Leopold II. befaßt. Tatsächlich hat in den Jahren der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in der Regierungszeit Leopolds, also von 1885 bis 1908, im Kongo das stattgefunden, was wir heute zumindest als „Genozid“, wenn nicht gar als einen „Holocaust“ bezeichnen würden. Durch Mord, Hunger und Krankheit und infolgedessen zurückgehende Geburtenraten wurde die Bevölkerung um 50 Prozent, das heißt um zehn Millionen Menschen, dezimiert.23

Kolonialismus und Sklaverei sind nicht miteinander identisch – wohl aber war die koloniale Unterwerfung des afrikanischen Kontinents eine notwendige Bedingung für die Ausbildung des transatlantischen Sklavenhandels. Wenn es zutrifft, daß der moderne europäische und nordamerikanische Staat von allem Anfang an theoretisch und praktisch auf Rassekonzepten aufbaute, dann trifft dies für ihrer Kolonien benommene Staaten wie Deutschland ebenfalls zu.24 Es muß also das Verhältnis zwischen kolonialer Landnahme, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, Sklavenwirtschaft und beiderseits des Atlantiks befindlichen Nationalstaaten untersucht werden.

Mit Blick auf den modernen französischen Nationalstaat sind die Verhältnisse eindeutig. Der 23. August des Jahres 1791 – inzwischen zum weltweiten Gedenktag an die Sklaverei erklärt – führt in das revolutionäre Frankreich zurück. Dort hatte sich schon im Frühjahr 1790 ein Kolonialkomitee der verfassunggebenden Versammlung konstituiert, das die Interessen der Pflanzer auf Santo Domingo vertrat. In diesem Gremium hatten abolitionistische Gruppen keinerlei Einfluß. Nach öffentlichen Diskussionen, die gleichwohl zugunsten der Abolitionisten auszugehen schienen, erklärte eine Delegation der neugegründeten Patriotischen Armee aus Bordeaux sowohl dem Jakobinerklub als auch der verfassunggebenden Versammlung insgesamt, daß der westindische Sklavenhandel für das Wohlergehen Frankreichs unerläßlich sei und von ihm die Existenz von fünf Millionen französischen Bürger abhänge. Nach längeren Verhandlungen im Vorfeld bestätigte die Konstituante am 15. Mai 1791, daß in den französischen Kolonien auch „unfreie Personen“ existierten – die Öffentlichkeit diskutierte allenfalls die Frage „freier farbiger Menschen“ und ihrer bürgerlichen Rechte: Die Kinder freier Farbiger sollten ebenfalls frei sein. Diesen Debatten zum Trotz ging der Sklavenhandel weiter und Sklavenhalter erhielten zusätzliche Vergünstigungen der Regierung für jeden importierten Sklaven. Nach weiteren Erörterungen sprach sich die Konstituante schließlich im Grundsatz gegen die Sklaverei aus und legte fest, daß jede Person, gleich welcher Hautfarbe, auf französischem Boden frei sei, beschloß aber zugleich, daß die französischen Kolonien, „obwohl Teil des französischen Reiches, nicht der Geltung dieser Verfassung unterliegen“.25

Mit dieser Ausnahmeregelung kam zum ersten Mal in der demokratischen Verfassungsgeschichte die Strukturlogik dessen in Gang, was spätestens mit dem Ersten Weltkrieg seine schrecklichste Form annahm: das Konzentrations- oder Vernichtungslager. Das Lager nämlich wurde zu einem Raum, „der sich“ – wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben gezeigt hat – „öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“26 Das Lager ist demnach ein Territorium, das zwar außerhalb der normalen Rechtsordnung liegt, aber gleichwohl kein Außenraum der jeweiligen Herrschaftssphäre ist. Das Lager entkleidet seine Insassen jeglichen rechtlichen, politischen Status und reduziert sie auf ihr nacktes Leben, es ist der rechtsfreie Raum par excellence, jener Raum, dessen Insassen straffrei getötet werden dürfen, in dem sich nacktes Leben und nackte Macht unvermittelt gegenüberstehen. Das Lager, und das ist für ein Verständnis seines Wesens entscheidend, ist kein Gefängnis. Die Ordnungen des Lagers gehen nicht aus dem Strafrecht hervor, sondern aus dem Ausnahme- und Maßnahmerecht, bzw. dem Kriegsrecht, sofern es nicht humanitäres Kriegsvölkerrecht war. „Rechtsgrundlage“ – wenn man das überhaupt so nennen will – der nationalsozialistischen Konzentrationslager war die sogenannte „Schutzhaft“: eine präventiv wirkende Polizeimaßnahme, die in Preußen ihrerseits aus einem Gesetz über den Belagerungszustand hervorgegangen ist. Welches war der Status ihrer Insassen und wie ließ er sich legitimieren? Wie plausibel ist die Überlegung, daß „die Kolonie“ in diesem Sinne der Strukturlogik des „Lagers“ entsprach?

Sklavenrecht27 konnte nach Maßgabe der modernen Rechtsentwicklung – die seit Hobbes und Rousseau davon ausging, daß jedes Recht und damit alle Gesetze auf einem Konsens der Rechtsetzenden, die zur Rechtsgemeinschaft gehören, beruht und sogar ein Zwangsrecht ein Recht sei – nur auf der Zustimmung aller Teilnehmer der Rechtsgemeinschaft beruhen. Nennt man derartige Rechtsinstitute „bürgerliches Recht“, so würde sich ein bürgerliches, ein öffentliches Gesetz, das die Sklaverei zu rechtfertigen suchte, von selbst ad absurdum führen:

„Welches bürgerliche Gesetz“, so fragt schon Diderots Enzyklopädie, „könnte verhindern, daß ein Sklave sich der Knechtschaft entzieht, da er doch nicht zur Gesellschaft gehört und folglich kein bürgerliches Gesetz ihn betrifft. Er kann nur durch ein Familiengesetz, durch das Gesetz des Herrn, das heißt durch das Gesetz des Stärkeren festgehalten werden.“28 An anderer Stelle, wo die Enzyklopädie sich in einem weiteren Artikel mit dem Thema des Handels mit „Negern“ auseinandersetzt, stellt sie fest: „Man versucht das Abscheuliche dieses Handels, der im Widerspruch zum Naturrecht steht, damit zu rechtfertigen, daß man behauptet, diese Sklaven fänden beim Verlust ihrer Freiheit ihr Seelenheil…“29

Der intensivierte transatlantische Sklavenhandel, der Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Import von Sklaven aus Westafrika nach Portugal begonnen hatte, war ein Ergebnis des chronischen Arbeitskräftemangels in den Plantagen der Neuen Welt, mit anderen Worten, der für diese Form extensiven Wirtschaftens zu geringen Immigration aus den Mutterländern.30 Indem der transatlantische Sklavenhandel das in der europäischen Kultur seit langem bekannte Institut der Sklaverei unauflöslich mit dem Rassengedanken verknüpfte und diesen neuen Rassengedanken erstmals an schwarzhäutigen Menschen aus dem afrikanischen Kontinent erprobte, schuf er dort die Voraussetzungen für eine nach Europa reimportierte Form kolonialer Politik. Die spätere gesamteuropäische Umsetzung totalitärer Politik bedurfte freilich – mit Maschinengewehr, Stacheldraht und Eisenbahn, wie sie erstmals in den Kolonien, in Kuba und in Deutsch-Südwestafrika eingesetzt wurden – nicht nur der entsprechenden Destruktivkräfte, sondern mit dem modernen polizeilichen Maßnahmerecht auch der entsprechenden organisatorischen Verhältnisse.

In dieser Perspektive begann das 20. Jahrhundert auf Kuba und endete auf Kuba. Als kubanische Unabhängigkeitskämpfer 1895 gegen die spanische Kolonialherrschaft rebellierten und in ersten Gefechten die spanische Armee besiegten, schlug der Armeechef der Insel dem spanischen Regierungschef vor, „die Landbevölkerung in städtischen Ballungsräumen zu rekonzentrieren“. Der zuständige Militärgouverneur ließ an der schmalsten Stelle Kubas eine militärische Sperrlinie errichten, durch die eine nur für das Militär gangbare Trasse verlief, die rechts und links mit dem zwanzig Jahre zuvor in den USA erfundenen Stacheldraht gesichert wurde. Um den Rebellen ihre Unterstützung zu nehmen, wurde den Einwohnern der betroffenen Landstriche verboten, sich jenseits ihrer Dörfer aufzuhalten – Maßnahmen, die durch standrechtliche Erschießungen und Massendeportationen nach Afrika und Spanien ergänzt wurden. Dieses Vorgehen wurde allmählich auf ganz Kuba ausgedehnt. Immerhin sollten die an den Stadträndern rekonzentrierten Menschen theoretisch ausreichende Unterkünfte und angemessene sanitäre Einrichtungen erhalten. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus: Die verbliebenen ländlichen Gebiete waren gebrandschatzt, die Unterkünfte der Rekonzentrierten waren voll von bis auf die Knochen abgemagerten, todkranken Menschen, die sich von den Abfällen der spanischen Truppen ernährten. Ein US-amerikanischer Beobachter beschrieb die „Rekonzentrierten“: „Sie sind aus ihrer Heimat verschleppt worden, sie leben auf stinkendem Boden, atmen ungesunde Luft, trinken verdorbenes Wasser und ernähren sich von verfaulter Nahrung, wenn sie überhaupt welche finden. Wer soll sich da noch wundern, daß die Hälfte von ihnen bereits tot ist und daß ein Viertel derer, die noch leben, so krank ist, daß keinerlei Hoffnung mehr besteht.“ Nach konservativen historischen Schätzungen kamen damals 200.000 Menschen um – die Greuel der spanischen Armee ließen die USA schließlich in Kuba intervenieren und die Unabhängigkeit der Insel herbeiführen. In diesem Zusammenhang pachteten die USA die Bucht von Guantanamo Bay, deren exterritorialer Status heute dazu dient, die auf unklarer und somit völkerrechtswidriger Rechtsgrundlage zunächst in Käfigen eingesperrten Taliban und Al Quaida-Kombattanten auf unbestimmte Dauer unter menschenunwürdigen Bedingungen zu inhaftieren.

Um nicht mißverstanden zu werden: Die Rekonzentrationslager der Spanier mit ihren brutalen und erniedrigenden Grausamkeiten sind mit den bei aller Rechtswidrigkeit wahrscheinlich korrekt geführten Lagern der USA nicht gleichzusetzen; was sie allerdings miteinander verbindet, ist ihre herrschaftliche Logik, nämlich ein Raum zu sein, der sich nach Agamben „öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“31