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Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur: 9/11? Die CIA. Die Weltherrschaft? Wahlweise in den Händen der Reptiloiden oder des Geheimclubs der Bilderberger. Die Flüchtlinge? Eine »Migrationswaffe«, um das christliche Abendland zu zerstören. Es gibt unzählige Verschwörungstheorien, und noch weit mehr Anhänger, die Stein und Bein glauben, was anderen im besten Fall ein Kopfschütteln entlockt. Kritik oder Belustigung alleine wird dem Phänomen jedoch nicht gerecht. In vielen persönlichen Gesprächen erkunden Ingo Leipner und Joachim Stall, was Verschwörungstheoretiker wirklich antreibt und wie sie zu ihren für andere »ver-rückten« Weltbildern gelangt sind. Zumal nicht nur die Betroffenen oft in einem Sumpf aus Halbwahrheiten versinken, sondern wir alle weit weniger davor gefeit sind, Fake News, kruden Theorien oder Filterblasen aufzusitzen, als wir wahrhaben wollen.
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Ingo Leipner I Joachim Stall
Ingo Leipner I Joachim Stall
Von Chemtrails, Ufos, Reptiloiden und Reichsbürgern
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1. Auflage 2019
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D-80636 München
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Redaktion: Christiane Otto, München
Umschlaggestaltung: Laura Osswald, München
Umschlagabbildung: shutterstock.com/Timelynx
Satz: ZeroSoft, Timisoara
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-86881-744-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-102-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-103-7
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Vorspann:
Kleine Betrüger, große Betrüger
Einleitung:
Wir nehmen Verschwörungstheoretiker ernst
Teil 1: Jagd auf dem Dachboden
Wir sind alle verrückt.
Kapitel 1: Einstiegsdroge
Wie schnell Menschen in Verschwörungstheorien versinken.
Kapitel 2: Sinnsuche im Weltall
… von NASA-Bildern bis zu Lebenslügen.
Kapitel 3: Alles eine Frage der Perspektive
Eigenschaften, die Verschwörungstheorien oft haben.
Kapitel 4: Einladung zu Geheimtreffen
Gespräch mit Philippe Wampfler, der im Netz Verschwörungstheoretiker traf.
Teil 2: Mit dem Fahrstuhl zu Reptiloiden
Die Gedanken sind frei … alles ist möglich
Kapitel 5: Wenn der christliche Lack blättert
Wie sich ein freundlicher Musiklehrer verwandelt.
Kapitel 6: Ufos besuchen
Unterwegs in unendliche Weiten.
Kapitel 7: »Minenfeld im Gehirn«
Von magischen Kugeln, deutschen Ostgebieten und schlafenden Schafen.
Kapitel 8: Große Einsamkeit
Versunken in Verschwörungen.
Teil 3: Vielfalt statt Einfalt
Die Wahrheit ist tot. Es lebe die Wahrheit
Kapitel 9: Unheimliche Bedrohungen …
… auf dem Weg nach Stockholm – zum Nobelpreis.
Kapitel 10: Kampf mit dem Schatten
Verschwörungstheorie beginnt in der eigenen Seele.
Kapitel 11: Wahrheitsfalle
Warum Wahrheit so gefährlich sein kann.
Kapitel 12: Medienmaschine
Zahlen, Worte, Bilder – Fake News leichter durchschauen.
Kapitel 13: Wieder aufgetaucht!
Wie Selbstreflexion ein neues Leben möglich macht.
Abspann:
Es ist wohl nie vorbei …
Danke
Über die Autoren
Endnoten
Eigentlich ging es um einen schlichten Schadensfall. Routine für die Versicherung. Völlig harmlos, vielleicht 50 Euro, damit ein Kratzer aus der Autotür verschwindet. Eigentlich … doch der Geschädigte wollte 2.500 Euro, um fast sein ganzes Auto neu lackieren zu lassen. Das erzählte uns Manfred Köhlera beim ersten Telefongespräch. Der Finanzmakler sollte den einfachen Fall bearbeiten – und kam schnell auf die »schlechte Welt« zu sprechen, mit ihren kleinen und großen Betrügern.
Damit wäre das Telefonat fast zu Ende gewesen, doch das Gespräch ging erst richtig los: Es drehte sich um gefährliche Banken oder die Machenschaften der »Bilderberger«, die Politiker zu Marionetten machen. Von einem geheimnisvollen Informanten war die Rede, der Kontakte zum Geheimdienst hatte. Bald lag die »Weltfinanzverschwörung« in der Luft … Mit anderen Worten: Wir hatten kaum mit den Recherchen zu diesem Buch begonnen, da schenkte uns der Zufall eine spannende Begegnung – wegen eines 50-Euro-Kratzers! Später sollten wir erfahren, wie Köhler in der Welt der Verschwörungen fast unterging …
Als es aber um den Lackschaden ging, war die Welt der Verschwörungstheorie noch »in Ordnung«. Wir fragten Köhler gleich am Telefon, ob wir ihn einmal anrufen dürften? Ja, kein Problem. Es ergaben sich weitere Telefonate und Treffen. Schließlich war Köhler bereit, sich verdeckt filmen zu lassen – während eines ausführlichen Interviews, in dem wir das weite Feld der Verschwörungstheorie beackerten und seine tragische Geschichte erfahren haben. Der Film ist noch in Arbeit, erste Ergebnisse präsentieren wir in diesem Buch. Was uns Köhler erzählt hat, beginnt im Teil 1 (Kapitel 1: »Einstiegsdroge«).
»Da (…) der Mensch fast jedes Was erträgt, solange er ein Warum hat, sind wir unablässig mit der Fabrikation eines hieb- und stichfesten Warum beschäftigt. Schlägt diese Fabrikation dagegen fehl, so stürzen wir unter Umständen kopfüber ins Grauen, in den Wahnsinn, ins Erleben des Nichts.«1
Paul Watzlawick
Alle machen sich über das Thema Verschwörungen lustig. Wir nicht! Verschwörungstheorie ist eine viel zu ernste Angelegenheit, um sie Satirikern zu überlassen. Denn verschwörungstheoretisches Denken zerstört Existenzen! Es ist auf zwei Ebenen gefährlich: individuell und gesellschaftlich. Einzelne Menschen geraten in Isolation, verlieren den Kontakt zur Realität. Ganzen Gesellschaften bricht das humanitäre Fundament weg, wenn Verschwörungstheorien die Politik bestimmen. Etwa, sobald rechte Verschwörungstheoretiker die Angst schüren, Europa drohe eine »Islamisierung«, und Flüchtlinge seien eine »Migrationswaffe«.
Wie sehr Verschwörungstheorie einzelne Menschen in Mitleidenschaft zieht, haben wir bei unseren Recherchen erfahren: Wir lernten den Finanzmakler Manfred Köhler kennen, der es mit viel Mühe geschafft hat, das Tal tiefer Verschwörungen zu verlassen. Nachdem er seine Ehe an die Wand gefahren hatte. Nachdem er in Depression versunken war. Nachdem viele Illusionen geplatzt waren. Er war es, den wir am Telefon hatten, als es um einen Lackschaden am Auto ging (Vorspann: »Kleine Betrüger, große Betrüger«).
Den Pkw-Schaden hatte der Finanzmakler schnell reguliert, sein seelischer Schaden durch Verschwörungstheorie verlangte ganz andere Anstrengungen. Doch Köhler schaffte es. Wir dokumentieren seinen Weg in einem ausführlichen Interview, das drei Teile hat: Am Anfang fragen wir, warum er in Verschwörungstheorien versunken ist (Kapitel 1: »Einstiegsdroge«). Im zweiten Gespräch geht es um den gruseligen Zustand, in absurden Theorien gefangen zu sein (Kapitel 8: »Große Einsamkeit«). Und schließlich schildert der Finanzmakler, wie er sich am »eigenen Schopf« aus dem Sumpf gezogen hat (Kapitel 13: »Wieder aufgetaucht!«). Damit wird seine Geschichte zum roten Faden unseres Buches. Es ist eine Geschichte voller »Ups and Downs«, die aber Mut macht: Menschen können durch Selbstreflexion große Hürden nehmen. Daher sollte es auch im Alltag leichter sein, verschwörungstheoretische Ideen zu erkennen, ohne darin tief verstrickt zu sein.
Das ist bitter nötig. Wir trafen eine Heilpraktikerin, die uns erzählte, Bill Gates senke bewusst in Afrika den Intelligenzquotienten, indem er vergifteten Impfstoff verteilen lässt. Das habe sie aus sicherer Quelle erfahren, von einem Alter-nativmediziner auf YouTube. Eine Studentin erwähnte eine Dokumentation zu »9/11«, laut der der Tag ganz anders verlaufen sei, als allgemein bekannt ist. Das Attentat sei eine Attacke der Regierung auf die eigene Bevölkerung gewesen… dieser Bericht sei ebenfalls auf YouTube zu sehen.
Wir sind während unserer Recherchen zu zwei wichtigen Erkenntnissen gelangt:
Erkenntnis 1: Verschwörungstheoretisches Denken ist offensichtlich im Alltag vieler Menschen angekommen. Aufklärung und Rationalität? Das war gestern … Es gibt einen starken Wunsch nach der »Fabrikation eines hieb- und stichfesten Warum«, wie es Paul Watzlawick formuliert hat. Dieses Motiv bewegt uns alle – und wir wollen in diesem Buch zeigen, wie jeder von uns in der Lage ist, Verschwörungstheorien zu entwickeln. Hinzu kommt: Auf der individuellen Ebene kann es passieren, dass Verschwörungstheorien zur Existenzbedrohung werden, wenn sich Tendenzen zum Suchtverhalten zeigen. Und: Jeder von uns unterliegt der Versuchung, die Wirklichkeit umzudeuten. Mit mancher Lebenslüge lebt es sich leichter, als einen schmerzhaften Blick in die eigenen Dreckecken zu werfen (Kapitel 10: »Kampf mit dem Schatten«).
Erkenntnis 2: Es existiert eine Grauzone am rechten Rand der Gesellschaft, in der Verschwörungstheorien besonders gut gedeihen. Bedrohlich ist dabei der Anspruch auf Wahrheit! Sowohl die AfD als auch das rechtsgerichtete Magazin COMPACT werben mit dem Slogan: »Mut zur Wahrheit«. Die Szene unterscheidet zwischen »Schlaf-Schafen« und »Erwachten« …Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum unser Buch diese Grauzone rechter Ideologie besonders ins Auge gefasst hat. Unsere Sorge ist: Wer mit solcher Vehemenz DIE Wahrheit für seine Sichtweise beansprucht, entzieht sich auf Dauer jeder Diskussion – und schafft die Grundlagen einer autoritären Gesellschaft.
Damit Kommunikation nicht völlig scheitert, ist es nötig, gerade in dieser Grauzone gut zuzuhören! Wir sollten verstehen, wie die Motive dieser Menschen aussehen. Satire und das übliche Bashing werden den Gefahren nicht gerecht, die mit dem Einsickern solcher Ideen verbunden sind. Unsere Gesellschaft ist bereits infiziert, Witze über Aluhüte helfen nicht weiter.
Daher hat der Filmemacher Joachim Stall viel Zeit investiert, um Menschen mit verschwörungstheoretischen Ideen vor die Kamera zu bekommen. Der erste Kontakt war oft zufällig, es folgten viele Telefonate und persönliche Treffen, um das nötige Vertrauen aufzubauen. Seine Gespräche waren bewusst nicht konfrontativ angelegt. Es gelang ihm immer wieder, einen Raum zu schaffen, in dem tiefere Einsichten in die Psychologie der Verschwörungstheorie möglich waren. Der Journalist und Buchautor Ingo Leipner nutzte viele Aussagen von Stalls Gesprächspartnern, um durch intensive Recherchen Widersprüche auszuloten und ab und zu den wahren Kern absurder Theorien zu identifizieren. Dabei trat für ihn die folgende Erkenntnis in den Vordergrund: Wir müssen alle unsere Urteilskraft schärfen, um uns einer gemeinsamen Wahrheit zu nähern, aber aus verschiedenen Perspektiven (Kapitel 11: »Wahrheitsfalle«).
Wir haben den Inhalt des Buchs in drei große Teile gegliedert:
Teil 1 (»Jagd auf dem Dachboden«): Wir besichtigen Pyramiden auf dem Mars, retten uns im Dschungel vor Tigern und lügen uns selbst in die Tasche, weil wir Opfer von Selbsttäuschung werden. Das klingt verwirrend? Ist es aber nicht, denn diese Themen sind ein Teil der wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie Verschwörungstheorie funktioniert. Mustererkennung ist ein wichtiges Stichwort, genauso wie unser Bedürfnis, Handlungen oder Prozesse sinnhaft zu deuten – im Sinne von Kausalität oder Intentionalität. Watzlawick sagt: »Schlägt diese Fabrikation dagegen fehl, so stürzen wir unter Umständen kopfüber ins Grauen, in den Wahnsinn, ins Erleben des Nichts« (Kapitel 2: »Sinnsuche im Weltall«).
Außerdem beschäftigen wir uns mit den unterschiedlichen Facetten, in denen sich der Begriff »Verschwörungstheorie« zeigen kann. Das Wort ist ja schon im Ursprung negativ besetzt. Daher eignet es sich als Kampfbegriff, um die Reputation eines Gegners anzugreifen. Henrik Ibsen hat uns das Drama Die Wildente geschenkt. Das Theaterstück zeigt, wie Verschwörungstheorie auf engstem Raum erfolgreich ist – als Lebenslüge im eigenen Kopf. So beleuchten wir, wie in viele Bereichen Formen individueller und gesellschaftlicher Verblendung auftreten (Kapitel 3: »Alles eine Frage der Perspektive«).
Wenn alle verrückt sind, kann in dieser Welt nichts mehr »normal« sein, obwohl wir uns das so wünschen. Der Grund dafür ist, dass verzerrtes Wahrnehmen und Denken die scheinbare »Normalität« auf der individuellen und gesellschaftlichen Ebene bestimmen. Wir wissen nichts und glauben alles: »Anything goes!« Damit ist der Weg nicht mehr weit zu exotischen Verschwörungstheorien … Wer an sie glaubt, sitzt oft mit uns in der Straßenbahn oder verkauft Gemüse auf dem Markt.
Über solche Erfahrungen haben wir mit dem Schweizer Uni-Dozenten Philippe Wampfler gesprochen, der versucht hat, auf Facebook mit Verschwörungstheoretikern ins Gespräch zu kommen. Warum er Einladungen zu Geheimtreffen ablehnte, lesen Sie in unserem ausführlichen Interview, das wir mit ihm in Zürich geführt haben (Kapitel 4: »Einladung zu Geheimtreffen«).
Teil 2 (»Mit dem Fahrstuhl zu Reptiloiden«): In Teil 2 lassen wir uns bewusst auf »verrückte« Blickwinkel ein, die vielleicht nur aus einer neuen Perspektive gewonnen wurden, weil der Betrachter seine Position ver-rückt hat.
Wir versuchen Menschen zu verstehen, die sich eigene Welten schaffen: Wie denken sie? Was treibt sie an? Um diesen Fragen auf die Spur zu kommen, haben wir intensive Gespräche geführt. So lernten wir neben Manfred Köhler drei weitere sehr unterschiedliche Menschen kennen …
… den Musiklehrer Thomas Reinhardt, ein freundlicher Mensch, der sehr ökologisch lebt, mit Engeln Kontakt hat – und vor der Kamera Wutausbrüche gegen Moslems bekam. Er warnte auch davor, dass die Bilderberger Deutschland zerstören (Kapitel 5: »Wenn der christliche Lack blättert«).
… den Ufo-Reisenden Uwe Müller, der uns sehr verblüffte. Er hat sich aus der konventionellen Gesellschaft verabschiedet, zahlt keine Steuern, hat keinen Wohnsitz. Dafür berichtet er in einem überzeugenden Ton, wie er Ufos besucht und mit Reptiloiden spricht (Kapitel 6: »Ufos besuchen«).
… den IT-Experten Heinrich Schmieder. Mit ihm sprachen wir viel über Politik, wobei sich eine Tendenz zum rechten Rand abzeichnete: etwas Reichsbürgertum, gemischt mit Kapitalismuskritik und einem merkwürdigen Verständnis deutscher Geschichte (Kapitel 7: »Minenfeld im Gehirn«).
Uns interessierten besonders die Geschichten hinter diesen Menschen – ihre Lebensumstände, persönliche Entwicklung und individuellen Erlebnisse. Könnten wir das nicht auch selbst sein? Eine Übung in ständigem Perspektivwechsel! Die Namen sind alles Pseudonyme, um Persönlichkeitsrechte zu wahren; die Lebensumstände haben wir verfremdet. Einigen Thesen unserer Gesprächspartner mussten wir widersprechen, manchen Sachverhalt näher erläutern. Daher haben wir alle Interviews mit kurzen Texten ergänzt, die bei vielen Themen mehr Licht ins Dunkel bringen. Einige Aussagen haben wir auch unkommentiert stehen lassen, was nicht heißt, dass wir uns die Weltsicht unserer Gesprächspartner zu eigen machen.
Teil 3 (»Vielfalt statt Einfalt«): Ja, Gedanken können grenzenlos umherfliegen, das ist gut so … Bleibt aber die Frage: Wie verständigen sich Menschen vernünftig, damit Gemeinschaft gelingt? Das scheint oft unmöglich zu sein, weil die Flughöhe unserer Gedanken so unterschiedlich ist. Brauchen wir deshalb grenzenlose Toleranz? Gegenüber jeder Idee auf diesem Planeten? Inklusive Entführungen durch Ufos oder der »Flat Earth«-Theorie? Nein. Was wir brauchen, ist eine entwickelte Urteilskraft, weshalb wir jetzt die These »Anything goes!« widerrufen.
Ganz klar: Wir können unser Bewusstsein schulen. Dabei schaffen wir es, unsere eigenen Scheuklappen besser zu verstehen, zumal sie enger oder weiter eingestellt sind (Kapitel 10: »Kampf mit dem Schatten«). Es gibt Wege, sich bestimmten Wahrheiten zu nähern, ohne die Subjektivität von Wahrnehmungen zu leugnen. Wie funktioniert Intersubjektivität? Auf welchem Fundament bauen wir unsere Urteilskraft auf? Diesen Fragen begegnen wir mit viel Optimismus (Kapitel 11: »Wahrheitsfalle«).
Außerdem ist »Medienmündigkeit«2 die Grundlage, Verschwörungstheorien weniger auf den Leim zu gehen. Wir schärfen unsere Sinne für »Lug und Trug« im Internet. Durch einen Blick auf übliche Medienmechanismen, zum Beispiel den Umgang mit Zahlen sowie Videos und Worten, die unterschwellig bestimmte Botschaften verbreiten. Fake News sind der kleine Bruder der Verschwörungstheorie (Kapitel 12: »Medienmaschine«).
Auf diese Weise nimmt unser Buch immer neue Wendungen: Erst zerstören wir einige Gewissheiten (Teil 1), dann tauchen wir in die Welt der Verschwörungstheorien ein (Teil 2). Schließlich befassen wir uns mit der Frage, ob wir uns über Wahrheiten verständigen können, wenn wir bewusst daran arbeiten (Teil 3). Die Arbeit an diesem Buch war eine gedankliche Fahrt durch stürmische See – ein Abenteuer, zu dem wir Sie gerne einladen möchten und das Sie hoffentlich so interessant finden wie wir.
Im Februar 2019
Ingo Leipner & Joachim Stall
Den Finanzmakler Manfred Köhler hatten wir kennengelernt, als er den Bagatellschaden an einem Auto regeln sollte. Sie erinnern sich an die 50-Euro-Schramme? Wir begleiten ihn in unserem Buch, wie er immer tiefer durch einen Morast watet, in dem absurde Ideen gedeihen. Er legt dabei einen langen Weg zurück. Sein Einstieg in den Sumpf war die sinnvolle Frage, wer unsere Finanzwelt dominiert und welche Interessen Wallstreet und Co. verfolgen. Das treibt viele Menschen um, aber für Köhler wurde daraus eine Begegnung der besonderen Art: Ihm öffnete sich eine verschwörerische Welt dunkler Geheimnisse!
Als ein merkwürdiger Informant in sein Leben tritt, weitet sich das Spektrum aus – bis in die Weiten des Weltalls: Haben etwa prähistorische Astronauten den roten Planeten besucht, um dort dieselben Pyramiden wie in Gizeh zu errichten? Die Themen werden immer schräger, die Bahnen der Verschwörer immer finsterer …
A) Gespräch mit Manfred Köhler (Teil 1)
Wie sind Sie in die Welt der Verschwörungstheorien eingestiegen?
An mein verworrenes Leben kann ich mich gut erinnern. Ich war immer auf der Suche, war immer ein Suchender. Das hat schon nach dem Abitur angefangen. Eigentlich wollte ich Gitarrenbauer werden. Da hätte ich aber drei Jahre warten müssen, außerdem gab es in dieser Zeit heftige Auseinandersetzungen mit meinen Eltern.
Dann wollte ich den Kriegsdienst verweigern. Allerdings habe ich die Anhörung und Befragung nicht bestanden, weshalb ich doch zur Bundeswehr gegangen bin. Aber ich bin gleich weit weg zur Marine, weil ich einfach alles hinter mir lassen wollte.
Wie ging es mit dem Studium weiter?
Später beschloss ich, Wirtschaft zu studieren – eigentlich durch die Freundschaft mit einer Frau, die an der Universität München eingeschrieben war. Ich habe mir das Vorlesungsbuch der Uni geholt und geschaut, was man da machen kann. So habe ich mich entschieden, Wirtschaft zu studieren (er schmunzelt).
Wie gesagt, ich war immer auf der Suche, auch nach mir selbst, war also in einem Selbstfindungsprozess. Es war auch eine Zeit, in der ich ganz tief an Gott und Jesus Christus geglaubt habe. Das war ein sehr wichtiges Element in meinem Leben. Ich habe auch missioniert und war davon völlig überzeugt. Das habe ich irgendwann gelassen (er lächelt wieder), … zumindest in der Intensität, in der ich es vorher betrieben habe. Und im Rahmen dieser Suche nach …, ja, vielleicht einer höheren Macht, wurde ich immer wieder mit bestimmten Themen konfrontiert.
Wie wurden Sie Finanzmakler?
Beruflich verdanke ich meinen Weg der Krankheit meines Vaters: Es war nicht klar, ob er sein Finanzunternehmen weiterführen würde. So schnupperte ich ein Jahr ins Geschäft hinein und merkte auch schnell, wie nett das Geldverdienen war. Dabei hatte ich auch sehr viel mit Menschen zu tun, was ich angenehm gefunden habe. Also bin ich bei diesem Job als Finanzmakler geblieben, was mir bis heute Spaß macht. Gitarrenbau, Studium, Job – so war mein Leben nicht von einer klaren Zielführung geprägt, sondern von vielen Umwegen!
Wie kamen Sie mit verschwörerischen Ideen in Kontakt?
Im Rahmen meiner Tätigkeit im Finanzbereich habe ich auch einen Vortrag von Andreas Popp gehört. Sein Buch Brot und Spiele habe ich an einem Abend aufgesaugt. Es geht um unser Geldsystem. Das kleine Büchlein hat den Ausschlag gegeben, dass ich bestimmte Dinge auf dieser Welt hinterfragt habe. Das war für mich das Schlüsselerlebnis! Das hat mich dazu gebracht, mich mit diesem Bereich der – sagen wir gleich – »Verschwörungstheorien« zu beschäftigen, wobei ich diesen Bereich am Anfang nicht so wahrgenommen habe.
In Popps Buch geht es um das Geldsystem. Da habe ich zum ersten Mal erfahren, dass die Fed, die Federal Reserve, nicht eine USA-eigene Bank ist, sondern eine Privatbank. Ist das jetzt schon eine Verschwörungstheorie? Da geht es los! Was ist wahr, und was ist unwahr? Ich konnte es nicht nachprüfen. Ich habe es nur gelesen, habe Informationen gesammelt und versucht, mir einen Reim darauf zu machen. Dabei hat mich die Geschichte mit der Fed und dem Bankensystem sehr gefesselt, weil ich im Finanzsektor tätig war. Und besonders hat mich ein Satz von Henry Ford beeindruckt: »Würden die Menschen das Geldsystem verstehen, hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh.«
Später tauchte ein Mann in meinem Büro auf und brauchte zwei Versicherungen, eine Betriebshaftpflicht- und eine Rechtsschutzversicherung. Er hatte nämlich vor, ein Buch zu verlegen, das kein Verlag veröffentlichen wollte. Ich war verwundert, weil es ja genug Verlage gibt, und habe ihm gesagt: »Ich schließe mit Ihnen aus ethischen Gründen keine Versicherungen ab, wenn es sich um rechtsradikale oder pornografische Literatur handelt.« (Er lacht) Das hat er aber verneint. Ich habe dann den Namen Jan van Helsing erwähnt und dass wir darüber sprechen könnten, wenn es sich um ein Buch dieser Art handeln würde. Da war er ganz erstaunt, und es hat sich herausgestellt, dass er Jan van Helsing persönlich kannte.
DIE FED MACHT KEIN GEHEIMNIS DRAUS …
Mit ein paar Klicks lässt sich das scheinbare Geheimnis lüften, das im Internet oft um die Federal Reserve (Fed) gemacht wird. Die US-Zentralbank ist dezentral organisiert, was zunächst widersprüchlich erscheint. Aber: Die Vereinigten Staaten wurden 1913 in zwölf Bereiche aufgeteilt, für die jeweils eine »Reserve Bank« zuständig war. Damit wollten die Gründer erreichen, dass regionale Schwerpunkte in der Geldpolitik möglich sind. Die Federal Reserve schreibt auf ihrer Website: »Geschäftsbanken sind Mitglieder im ›Federal Reserve System‹ und halten jeweils Aktienanteile an ihrer regionalen ›Reserve Bank‹. Sie wählen auch sechs der neun Direktoren.« Diese Direktoren dienen als Verbindung, und zwar »zwischen der Federal Reserve und dem privaten Sektor«. An der Fed-Spitze steht das Board of Governors, deren Mitglieder der US-Präsident nominiert.
Ganz offen heißt es weiter: »Die dezentrale Struktur des Systems weist eine Mischung aus privaten und öffentlichen Charakteristika auf. Sie lagen in der Absicht der Erfinder des Systems und bleiben bis heute wichtige Eigenschaften.«3 Auf diese Weise dokumentiert die Fed selbst, wie sie als öffentliche Institution nicht nur Einflüssen der Privatwirtschaft ausgesetzt ist, sondern dafür institutionalisierte Kanäle aufgebaut hat. Kein Geheimnis, aber durchaus ein guter Grund für kritische Fragen …
Dieser Mann wurde mit seiner Weltsicht sehr wichtig für Sie, oder?
Ja, mit diesem Mann erhielt ich eine völlig neue Informationsquelle. Er gab an, ein früherer Mitarbeiter des BND zu sein, ein russischer Militärattaché. Er sprach fünf bis sechs Sprachen, war sehr intelligent. Mit diesem Mann habe ich mich sehr oft getroffen. Er ließ mir häppchenweise Informationen zukommen, die mich völlig gefesselt haben. Das ging bis zu NASA-Bildern vom Mars, die zeigen, dass die Pyramiden von Gizeh auch dort oben auf dem Mars stehen. So kam also auch die Außerirdischenthematik hinzu (er lächelt).
Übrigens waren die Treffen immer im Wald, nicht auf freiem Feld, und ohne Handy, weil dieser Mann davon überzeugt war, dass er beobachtet oder verfolgt wird. Er hat gesagt, die Satelliten hören sowieso unsere Gespräche ab. Mit ihren Richtmikrofonen könnten die jedes Gespräch über große Entfernungen abhören, wenn sie es wollen. Als ehemaliger BND-Mitarbeiter wisse er das. Er wurde außerdem ehrenhaft aus dem BND entlassen, weil er nicht mehr mitmachen wollte. Das waren seine Worte. Ob das alles stimmt, weiß ich ja nicht.
Warum haben Sie diesem Mann vertraut?
Zum Beispiel hat er mir gezeigt, wie man mit einem abgeschalteten Handy abgehört werden kann. Da wurde es für mich realistisch, das war keine Verschwörungstheorie mehr. Er hat mir verschiedene Dokumente gezeigt, die ich natürlich nicht auf ihren Wahrheitsge-halt prüfen konnte, aber bei mir entwickelte sich ein tiefer Glaube. Ich war davon überzeugt, dass das alles wahr ist: Die Welt war brutal schlecht und wir alle werden verar… und zu Marionetten gezüchtet, die nur noch am Gängelband laufen.
B) Zinskritik als Lockmittel
»Besonders hat mich ein Satz von Henry Ford beeindruckt: ›Würden die Menschen das Geldsystem verstehen, hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh.‹ «
Manfred Köhler im Interview
Das Zitat von Henry Ford fällt häufig, wenn das moderne Finanzsystem zur Diskussion steht. Auch der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck nimmt diese Worte als Sprungbrett, um kritische Gedanken zu formulieren:
»Es ist ganz und gar nicht gut, wenn Bürger einen wichtigen Wirtschaftssektor nicht hinreichend verstehen oder verstehen können […], weil ganze Teilbereiche der Gesellschaft auf kaum durchschaubare Art miteinander verflochten sind.«4
Gauck stellt außerdem fest: »Selbst Experten haben nach eigenem Bekunden oft nicht nachvollziehen können, was auf den Finanzmärkten tatsächlich vor sich ging.« Womit der ehemalige Bundespräsident auf die Weltfinanzkrise 2008 anspielt …
Unser Gesprächspartner Manfred Köhler arbeitet in der Finanzbranche, und sein Sprungbrett in die Welt der Verschwörungen war das Buch Brot und Spiele, das Andreas Popp geschrieben hat. Er betreibt die Website wissensmanufaktur.net (Institut für Wirtschaftsforschung und Gesellschaftspolitik). Der Begriff »Institut« ist rechtlich nicht geschützt. Viele Organisationen nutzen ihn, ohne eine universitäre Forschungseinrichtung zu sein. Das gilt auch für die Wissensmanufaktur.
Popps Buch erschien 2004 und setzt sich unter anderen kritisch mit dem heutigen Geldsystem auseinander. Eine Kritik, die sich auch in Popps aktuellem »Plan B« findet, der sich auf seiner Website nachlesen lässt.5 Popp nennt das bestehende System eine »zinsbehaftete Schuldgeldschöpfung«, die sich in der Hand eines »privilegierten privaten Bankensystems« befindet. Stattdessen fordert er eine «gemeinnützige öffentliche Zentralbank« – mit einem entscheidenden Element: der Umlaufsicherung! Sie bewirke, »dass Geld auch ohne Zinsen ständig im Umlauf bleibt. Einer Umlaufgebühr kann man leicht entgehen, wenn man sein Geld im Fluss hält, es also verleiht. Die Gebühr wird (…) nur dann fällig, wenn jemand den Geldfluss behindert, indem er große Summen der Realökonomie vorenthält.«
Es geht um das Schlachten einer heiligen Kuh der Ökonomie – der Zinseszinslogik, die durch ihr exponenzielles Wachstum Schulden und Guthaben weltweit explodieren lässt. Eine ziemlich alte Idee, die auf die »Freiwirtschaftslehre« von Silvio Gesell (1862–1930) zurückgeht:
»Unsere Waren faulen, vergehen, brechen, rosten, und nur wenn das Geld körperliche Eigenschaften besitzt, die jene unangenehmen verlustbringenden Eigenschaften der Waren aufwiegen, kann es den Austausch schnell, sicher und billig vermitteln, weil dann solches Geld von niemand, in keiner Lage und zu keiner Zeit den Waren vorgezogen wird.«6
Gesells Konsequenz: »Wir müssen also das Geld als Ware verschlechtern, wenn wir es als Tauschmittel verbessern wollen.« Daher sprechen Freiwirte auch von »Schwundgeld«, Popp bezeichnet es als »fließendes Geld«. Eine Umlaufsicherung würde die ursprüngliche Geldfunktion stärken, nämlich Tauschmittel für ökonomische Transaktionen zu sein.
Das Fernsehen strahlte Dezember 2018 Das Wunder von Wörgl aus (ORF und SRF). Der Spielfilm zeichnet ein historisches »Schwundgeld-Experiment« nach, das in der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre erfolgreich war – und seitdem fast in Vergessenheit geraten ist.7 Bürgermeister Michael Unterguggenberger bringt Wörgls lokale Wirtschaft wieder in Schwung, indem er Geld mit Umlaufsicherung einführt.
Gut, das sind unkonventionelle Gedanken zur Ökonomie. Damit befindet sich Popp eigentlich in bester Gesellschaft, wenn es um Kritik am Kapitalismus geht. Andere kritische Ökonomen schlagen in ähnliche Kerben. So zeigen Nouriel Roubini und Stephen Mihm in ihrem Buch Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft, »wie in einer jahrzehntelangen Entwicklung ein internationales Finanzsystem aufgebaut wurde, das durch und durch Schrott war.«8 Roubini gilt als einer der wenigen Ökonomen, die das globale Finanzdesaster 2008 vorausgesehen hatten …
Popp tummelt sich aber noch auf anderen Feldern der Politik: Auf seiner Website sind viele Videos zu sehen, unter anderen sitzt er mit Vera Lengsfeld und Eva Herman vor der Kamera.9
Herman war 1988 bis 2006 Nachrichtensprecherin der Tagesschau. Sie arbeitete bis 2007 auch als TV-Moderatorin für den Norddeutschen Rundfunk (NDR). Ihre ehemaligen Arbeitgeber bezeichnet sie inzwischen als »Systemmedien«; die Gesellschaft sieht Herman auf einer »Einbahnstraße von Gesinnungsterror und Meinungsdiktatur«10. Lengsfeld war in der DDR Bürgerrechtlerin, saß von 1990 bis 2005 im Deutschen Bundestag und kritisiert scharf die Flüchtlingspolitik Angela Merkels.
Im Video sprach Lengsfeld mit Popp und Herman über die »Gemeinsame Erklärung« (März 2018), die aus zwei Sätzen besteht: »Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.« Zu den Erstunterzeichnern gehörten neben der Initiatorin Lengsfeld unter anderem Henryk M. Broder, Thilo Sarrazin oder Matthias Matussek.
Beschädigung Deutschlands? Illegale Masseneinwanderung? Die Wortwahl lässt aufhorchen, genauso wie die weiteren Aussagen, die Eva Herman in einem Kommentar trifft, ebenfalls auf Popps Website. Herman schreibt über die Flüchtlingsströme 2015 (»Einwanderungs-Chaos: Was ist der Plan?«):
»Lediglich einer geringen Anzahl von Menschen dürfte dabei klar sein, dass sie inzwischen selbst als Betroffene in einem zum Kriegsgebiet erklärten Land leben, welches nun von unzähligen Asylsuchenden, Stück für Stück, eingenommen wird. Eine subversive, perfide Kriegsstrategie, die auch schon das alte Rom einst vernichtete. Auch damals sah die Bevölkerung ihrem Untergang gleichermaßen tatenlos zu.«11
Zwar stellt die ehemalige Fernsehmoderatorin fest, »der Widersacher« wäre nicht in »den Millionen fliehenden Migranten« zu finden. Aber »der Feind« sei aktiv »in vielerlei subtiler Form an bislang für die meisten Leute unbekannten Nahtstellen«. Weiter heißt es: »Europa wird geflutet mit Afrikanern und Orientalen. Unsere alte Kraft, unsere christliche Kultur, Glaube und Tradition, werden zerstört, die Identität der einzelnen Völker aufgeweicht und, Schritt für Schritt, abgeschafft. Ein irreparabler Vorgang.«
Das geschähe bisher unbemerkt, zum Beispiel würden in Radio und Fernsehen »bunte Werbespots laufen, die ein sorg-loses Leben vorgaukeln.« Deutschland sei zwar zum »Umsturzland« geworden, aber »die Masse schläft.« Es fielen keine Bomben, auch stünden keine Panzer »vor den Stadttoren«. Aber Herman ist sich sicher:
»Der Sprengstoff kommt auf andere Weise daher, nämlich in Form fremdländischer Menschen, die vor Kurzem, wie auf Knopfdruck organisiert, plötzlich massenhaft hierzulande einzubrechen begannen. Sie entwickeln sich zunehmend zur Waffe gegen die einheimische Bevölkerung, indem man den Fremden unter anderem überraschende Rechte einräumt (…).«
Wer aber ist »der Feind«, der angeblich Menschen zu »Sprengstoff« macht? Es sind »mächtige Globalbestimmer«! Konkreter drückt sich Herman nicht aus, bringt aber »amerikanische Organisatoren« ins Spiel, »die die Schlepper- und Schleuserbanden finanzieren, welche die Asylanten von Afrika und Arabien nach Europa bringen.« Auch der russische Präsident Wladimir Putin habe »vor dieser Art Kriegsführung der US-Administration« gewarnt …
Die Ex-Fernsehmoderatorin fragt sich: »Welches Interesse sollten diese Leute eigentlich haben, um nun auch Europa in Brand zu setzen? Warum wird die ganze Welt destabilisiert?« Das geschehe bereits seit Jahrzehnten, die Schlinge ziehe sich zu. Der Plan werde »unbeirrt« abgearbeitet, »ob es uns gefällt oder nicht«.
Schließlich spekuliert Herman, Smartphones könnten ebenfalls »zum großen Plan gehören«. Denkbar wäre in naher Zukunft, dass sie »jenes Horn für einen jeden Dschihad-Kämpfer darstellen, in welches weltweit, vor allem und gerade auch in Deutschland, auf Kommando zum Halali geblasen wird. Dann Gnade uns allen Gott.«
Die ehemalige TV-Moderatorin liefert uns bereits viele Zutaten für eine Verschwörungstheorie:
Es gibt einen »großen Plan« und »mächtige Glo balbestimmer«.
»Fremdländischen Menschen« wird ihre Menschenwürde abgesprochen – Herman bezeichnet sie als »Sprengstoff« und »Waffe gegen die einheimische Bevölkerung«.
Im Rückblick entdeckt sie Muster und unterstellt absichtsvolles Handeln. Was sehr unwahrscheinlich ist, angesichts von historischen Prozessen, die oft verkettet sind, ohne einen gewollten, kausalen Zusammenhang aufzuweisen.
Es fehlt auch nicht eine anonyme Macht im dunklen Hintergrund, die alle Strippen fest in der Hand hält. »Cui bono?« – so lautet seit dem Römischen Reich die entscheidende Frage, die auch Herman aufwirft: »Wem nützt das alles?« Klar: Den Nutzen haben unbestimmte »Globalbestimmer«, die ein Interesse an einem brennenden Europa entwickeln (müssen).
Unser späterer Gesprächspartner Thomas Reinhardt wird das etwas schlichter ausdrücken: »Einfach einen Haufen Ausländer rein ins Land! Es gibt bald überhaupt kein deutsches Volk mehr! Nur noch Mischlinge!« (s. Kapitel 5).
Der Begriff »Sprengstoff« (Herman) weckt Assoziationen, fordert zur Gegenwehr auf, und in diesem aufgewühlten Klima skandieren Demonstranten »Wi-der-stand, Wi-der-stand«. Dabei vereinnahmen sie begrifflich auch den »Widerstand« im »Dritten Reich« – und berufen sich indirekt auf das Widerstandsrecht im Grundgesetz.
Es ist eine unheimliche Erzählung, die Herman im Internet verbreitet. Das führt uns zum modischen Begriff des »Narrativs«, also einer »interessengeleiteten Erzählung, die Ereignisse in einer Sinnklammer einbettet und dadurch das Denken, Handeln und Wahrnehmen von Gesellschaften lenkt.«12 Das schreibt Dr. Burchardt, der dazu feststellt, solche Narrative hätten »weniger Wahrheitswert als vielmehr eine Steuerungsfunktion«. Der Akademische Rat bringt die Funktionsweise dieser gesellschaftlichen Erzählungen auf den Punkt: »Sie funktionieren, weil sie permanent wiederholt werden und virale Ausbreitung finden, ohne dass die Frage nach der Autorenschaft und den blinden Flecken gestellt würde. Die Verfänglichkeit der Narrative resultiert dabei aus dem legitimen Bedürfnis der Menschen nach Sinnzusammenhängen.«
Fazit: Kritik am Kapitalismus gibt es aus vielen Richtungen, das bestehende Geldsystem stellen auch etablierte Ökonomen in Frage. Wer also »Plan B« von Popp liest, kann durchaus Sympathien für manche Ideen entwickeln. Aber: In welchem Umfeld gedeihen diese Gedanken? Wie sieht der Dunstkreis aus, in dem sich Popp und seine Kollegen bewegen? Warum taucht Vera Lengsfeld auf, die vor einer Beschädigung Deutschlands durch Flüchtlinge warnt? Und wieso steigert sich der Sirenengesang immer weiter, bis zu den schrillen Tönen einer Eva Herman, die Europa mit »Afrikanern und Orientalen geflutet« sieht?
Und dann formuliert Popp selbst in einem Video als Ziel: »Gender-Mainstreaming, Kita-Wahn, Globalisierung, rassistische Reinhaltungs- oder Vermischungspolitik usw. werden glasklar als systemische Dogmen entlarvt.«13 Versteht das jemand? Kein Wunder, dass Michael Butter die Wissensmanufaktur zu den »rechtspopulistischen Alternativmedien« zählt, »die in den letzten Jahren so viel Auftrieb erfahren haben.«14 Dabei singen diese Medien alle ein ähnliches Lied, ihr Narrativ prägt bereits den gesellschaftlichen Diskurs auf vielen Ebenen – bis zu den Wahlerfolgen der AfD, die auf den Wellen der Ressentiments segelt, wie sie Hermans Verschwörungstheorie zum Ausdruck bringt.
A) Mars macht mobil
Aufregende Nachrichten: 1976 beherrschte ein Ereignis die Schlagzeilen, das besonders Menschen begeisterte, die prähistorische Astronautik für möglich halten. Zum Beispiel Erich von Däniken, der seit Jahrzehnten zu beweisen versucht, dass mythologische Gottheiten eigentlich interstellare Raumfahrer waren: »Vor vielen Jahrtausenden landeten Außerirdische auf der Erde. Unsere Vorfahren waren Steinzeitmenschen, die hatten keine Ahnung von Technik. Sie meinten irrtümlich, die Außerirdischen waren Götter.«15
Was war im Weltall geschehen? Die NASA hatte zwei Raumsonden zum Mars geschickt. Viking 1 und 2 waren 1975 auf Cape Canaveral (Florida) gestartet, sie brauchten für ihre Reise etwa ein Jahr. Die erste Sensation war der »Touch-down« auf dem Mars! Zum ersten Mal in der Geschichte landeten irdische Raumschiffe auf dem roten Planeten.
Jede Sonde bestand aus zwei Teilen; eine Einheit blieb in der Umlaufbahn, der sogenannte »Orbiter«. Das Landemodul wurde zur Oberfläche des Planeten geschickt, um unter anderem mögliche Spuren von Leben zu suchen. Dabei brachten biologische Experimente ans Tageslicht16: Es gab unerwartete und rätselhafte chemische Prozesse im Marsboden. Aber es ließen sich keine eindeutigen Beweise finden, dass lebendige Mikroorganismen in der Erde bei den Landeplätzen existieren. Die Biologen der Marsmission erklärten das mit der Eigenschaft des Planenten, »sich selbst zu sterilisieren«. Das bedeutete, dass lebende Organismen sich im Marsboden nicht entwickeln können. So durchdringt beispielsweise das ultraviolette Licht der Sonne die Oberfläche und der Boden ist extrem trocken.
Dann kommt aber im »Fact Sheet« der NASA ein Satz, der die Aufmerksamkeit bestimmter Forscher weckte: »Die Frage bleibt offen, ob es zu einer Zeit in ferner Vergangenheit Leben auf dem Mars gegeben hat.«17 Zu diesen Forschern zählt auch Vincent DiPietro (Autor des Werks Unusual Mars surface features von 1988). Er vertritt die These: »Es gibt einige signifikante Entdeckungen, die auf die Möglichkeit hindeuten, dass es ein intelligentes Leben auf dem Mars vor rund 1,5 Millionen Jahren gegeben hat.«18
Vorhang auf für die zweite Sensation: Viking 1 überflog eine Region, die »Cydonia« genannt wird. Die Raumsonde suchte nach einem Landeplatz für Viking 2. Dabei schoss sie faszinierende Fotos von der Mars-Oberfläche – eines der Bilder wurde berühmt: das »Mars-Gesicht«. Dabei handelt es sich um einen stark erodierten Inselberg, der 3 Kilometer lang und 1,5 Kilometer breit ist.19 Er erinnert an ein menschliches Gesicht, das in den Sternenhimmel schaut. Diese Merkmale hat er entdeckt, indem er die Originalbilder der NASA mit einer speziellen Software zur Bildanalyse untersuchte.
Doch damit nicht genug: Das Mars-Gesicht war nur der Anfang einer kosmischen Welle, die immer neue Theorien durchs Weltall spülte: Bücher wurden publiziert, Kongresse fanden statt, Plots für Science-Fiction-Filme entstanden. An der Spitze stand Richard Hoagland, der ein Buch mit dem Titel: The Monuments of Mars: A City on the Edge of Forever veröffentlichte, das sich mit verlorenen Zivilisationen auf dem Mars beschäftigte. Diese »Stadt am Rand der Ewigkeit« siedelte er auch in der Region Cydonia an. Hoagland glaubte, Beweise für eine »Festung«, eine »künstliche Klippe« sowie eine »fünfseitige Pyramide« gefunden zu haben. Die Pyramide würde menschliche Proportionen aufweisen; ihr Kopf zeige »direkt auf das berühmtere Mars-Gesicht«. 20
Besonders die Mars-Pyramiden inspirierten weitere Theorien, die um interstellare Raumfahrt in ferner Vorzeit kreisen. Die Idee: Prähistorische Astronauten fliegen erst zum Mars, um dort ihre Monumente zu errichten. Dann statten sie der Erde einen Besuch ab – und lassen die Pyramiden in Ägypten und Südamerika zurück. Hoagland weist auf eine Ähnlichkeit hin, die er zwischen dem Mars-Gesicht und der Sphinx von Gizeh erkannt haben will.
Die NASA beurteilte das Bild deutlich anders: »Es zeigt erodierte Landformen, die an Tafelberge erinnern. Die gewaltige Felsformation in der Mitte ähnelt einem menschlichen Kopf – geformt durch Schatten, die zur Illusion von Augen, Nase und Mund führen.«21