Moderne Rattenfänger - Ingo Leipner - E-Book

Moderne Rattenfänger E-Book

Ingo Leipner

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Beschreibung

Warum Nachdenken besser als Querdenken ist Corona-Leugner, Weltraum-Fantasten, Digital-Visionäre und Businessblender – falsche Propheten und ihre Anhänger sind auch dank Social Media allgegenwärtig. Sie allein meinen zu wissen, was »das Volk« will, wie die Zukunft aussehen wird, versprechen technologische Höchstleistungen, beglücken Tausende von Followern mit Fake News und lassen Aktienkurse explodieren. Alles im Namen einer vermeintlichen Wahrheit, die für viele so verführerisch anmutet, dass Tatsachen schlicht bedeutungslos werden. Das Buch erläutert, warum wir modernen »Rattenfängern« aus Wirtschaft, Politik und Internet viel zu oft auf den Leim gehen. Es deckt die Tricks der Manipulatoren auf – und zeigt, wie wir uns dagegen wehren können. Dabei illustrieren spannende Geschichten von Wirecard über das Phänomen der Influencer bis zu Elon Musks KI-Gehirn-Schnittstelle, wie die Welt der Täuschung bereits jetzt unseren Alltag durchdringt. Ein Buch, das Augen öffnet!

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Seitenzahl: 361

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Ingo Leipner

Unter Mitarbeit von Joachim Stall

MODERNE RATTENFÄNGER

INGO LEIPNER

UNTER MITARBEIT VON JOACHIM STALL

MODERNE R@TTENFÄNGER

Querdenker, Marsstürmer und Social-Media-Helden –wie uns falsche Propheten manipulieren und der Gesellschaft schaden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2021

© 2021 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Christiane Otto

Umschlaggestaltung: Marc Fischer

Umschlagabbildung: adike/Menschenmenge, die von oben betrachtet wird

Satz: ZeroSoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-86881-860-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-364-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-363-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Einblick

Kapitel 1: Psychologie der Täuschung

Teil 1: Wenn das Gegenteil wahr ist

Teil 2: Rettung vor Raubtieren

Teil 3: Bedürfnisse wecken, wo keine sind

Teil 4: Mechanik der Kommunikation

Teil 5: Glossar der Manipulation

Kapitel 2: House of Wirecards

Teil 1: Die perfekte Teflon-Strategie

Teil 2: »Wahnwitzige Kursrallye«

Teil 3: Endspiel

Teil 4: »Kuschel-Aufsicht«

Kapitel 3: Viren, Viren, Viren

Teil 1: Von der Kunst, Gerichtsurteile zu verdrehen

Teil 2: Bärendienst

Teil 3: Quergedachte Statistik

Teil 4: Schlaf-Schafe auf der Weide

Kapitel 4: Chronik eines Rufmords

Teil 1: Fälschungsskandal – ein Drama in fünf Akten

Teil 2: Warum die Fälschungsvorwürfe?

Teil 3: Der Spiegel und seine Anspielungen

Teil 4: »Das Projekt war tot«

Teil 5: Jetzt geht’s vor Gericht

Kapitel 5: Menschenfreund

Teil 1: Eine Person öffentlicher Wohltaten

Teil 2: Privater Reichtum, öffentliche Armut

Teil 3: Steuern zahlen? Nein, Danke!

Teil 4: AGRA – der Weg zu mehr Hunger

Teil 5: Atomkraft? Ja, bitte!

Kapitel 6: Social-Media-Helden

Teil 1: Psycho-Tricks

Teil 2: »Was ist Realität, was ist Fiktion?«

Teil 3: Die Nasenkorrektur ist nur der Anfang …

Teil 4: Brandbeschleuniger

Kapitel 7: Größenwahn

Teil 1: Digitale Prophetie

Teil 2: Cyborgs auf dem Vormarsch

Teil 3: Praktizierender Transhumanist

Ausblick

Danke

Autor

Quellenverzeichnis

EINBLICK

Warum wir uns mit modernen Rattenfängern beschäftigen

»Im Jahr 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er […] gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien.«

– Brüder Grimm, »Die Kinder zu Hameln«, 1816

So beginnt sie, die berühmte Sage vom Rattenfänger von Hameln. Der Begriff »Rattenfänger« lässt uns sofort an ein großes Verbrechen denken, allerdings war der »wunderliche Mann« erst selbst Opfer einer Betrügerei. Er befreite die Stadt von Ratten und Mäusen – und die Bürger verweigerten ihm den ausgemachten Lohn. Der Rest der Geschichte ist bekannt: Der Mann ging verbittert davon, kam aber wieder zurück. Er nahm fürchterlich Rache, indem er die Kinder ab vier Jahren in einen Berg lockte, wo sie mit ihm für alle Zeiten verschwanden. »Die Eltern liefen haufenweis vor alle Tore und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen«, schreiben die Brüder Grimm.1

Die Sage war der Anstoß für uns, diesem Buch den Titel Moderne Rattenfänger zu geben. Sie gilt als großes, literarisches Beispiel, wie die Verführung von Menschen gelingen kann. Erst sind die Bürger von Hameln zu geizig, die Gier nach Geld leitet ihr Handeln. Dann pfeift der Rattenfänger auf seinem Pfeifchen, und wie auf Befehl folgen die Kinder. Da deutet sich das Symbol eines massenpsychologischen Phänomens an: die Gleichschaltung vieler Menschen durch fragwürdige Ideen. Das passiert auch heute. Moderne Rattenfänger sind überall in der Gesellschaft unterwegs und auf vielen Bildschirmen präsent. Unser Buch gibt Denkanstöße, um sie leichter zu entlarven. Wenn wir diese falschen Propheten rechtzeitig entzaubern, lässt sich in der Zukunft großer Schaden vermeiden.

Um das Auge dafür zu schärfen, erzählen wir auch Geschichten großer Täuschungen. Es sind Geschichten voller psychologischer Raffinesse, krimineller Energie und narzisstischer Verblendungskunst. Dazu haben wir das Internet umgegraben und mit Experten gesprochen, etwa aus der Philosophie, Ökonomie oder den Ingenieurswissenschaften. Auch Klassiker wie Löwenthal, Bernays oder Le Bon waren unsere Quellen, weil sie immer noch großartig darüber Auskunft geben, wie heimtückisch Manipulation Menschen treffen kann.

Zum Beispiel denkt Le Bon über religiöse Gefühle nach, die einseitig Energie freisetzen: Der Mensch sei religiös, »wenn man alle Kräfte des Geistes, alle Willensergebungen, alle Gluten des Fanatismus dem Dienste einer Ursache oder eines Wesens weiht, welches zum Ziel und Führer der Gedanken und Handlungen wird«.2 Da wird die Pfeife des Kinderfängers zum starken Symbol der Verführung – ein Pfiff, und die Kleinen folgen ihm ohne Zögern. Und einige Jahrhunderte später heißt es in der Nazi-Zeit: »Führer, befiehl! Wir folgen dir!« Eine Zeile aus dem furchtbaren Propaganda-Lied, das Goebbels 1941 für den Überfall auf die Sowjetunion komponieren ließ.

Religiös anmutender Fanatismus kann auch völlig andere Formen annehmen. Erich Fromm schreibt 1979 über eine »Fortschrittsreligion«, die aus drei Komponenten besteht: »unbegrenzte Produktion«, »absolute Freiheit« und »uneingeschränktes Glück«.3 Doch die moderne Gesellschaft scheitert immer deutlicher bei dem Versuch, diese drei Versprechen einzulösen. Damit wird Fromm einer der ersten Kritiker der Wachstumsökonomie, zumal er feststellt: »Unser Eroberungsdrang und unsere Feindseligkeit haben uns blind gemacht für die Tatsache, dass die Naturschätze begrenzt sind und eines Tages zur Neige gehen können und dass sich die Natur gegen die Raubgier der Menschen zur Wehr setzen wird.« Doch Blindheit ist eine der besten Voraussetzungen, damit falsche Propheten Erfolg haben.4

Waldbrände in Griechenland und der Türkei, überall kranke Fichten und Buchen in Deutschland, tödliche Überschwemmungen im Ahrtal … trotzdem predigen falsche Propheten unverdrossen, es kann alles so bleiben, wie es ist. Der Status quo ist lukrativ, er bietet noch zu viele Profite – und manche Wähler freuen sich, wenn sie die Komfortzone nicht verlassen müssen. Lieber in Blindheit Strom und Wärme aus Kohlekraftwerken genießen, als den Tatsachen des Klimawandels ins Auge sehen.

Hinzu kommt das Phänomen der Ambivalenz. Viele Eltern fragen sich im Sommer 2021: »Soll ich mein Kind gegen Corona impfen lassen, oder nicht?« Die Gesundheitsminister der Länder beschließen, solche Impfungen für Jugendliche ab zwölf Jahren anzubieten. Die Ständige Impfkommission (STIKO) spricht keine generelle Empfehlung aus, weil die Datenlage zu dünn ist. Erst im Laufe des Sommers ändert sie nach längerer Zeit ihre Position. Zwei staatliche Ebenen, zwei gegensätzliche Aussagen. Die reine Ambivalenz – und ein Fest für Rattenfänger! Sie greifen die Menschen in ihrer Unsicherheit an, geben klare Antworten auf eine ambivalente Situation und erzeugen so Sicherheit. Ein kurzer Pfiff ertönt – und alle wissen, wohin sie zu marschieren haben.

Das Buch ist in sieben große Bereiche gegliedert, die sich unterschiedlich dem Thema nähern. Sie lassen sich daher unabhängig voneinander lesen.

Kapitel 1 / »Psychologie der Täuschung«: Wir dröseln wesentliche Strategien auf, wie Manipulation im Alltag funktioniert, und fragen uns, welchen Schutz es dagegen gibt.

Kapitel 2 / »House of Wirecards«: Der Vorstandsvorsitzende Markus Braun träumte bei der Wirecard AG von Reichtum und Macht. Er wurde zum falschen Propheten, als er begann, mit offenbar betrügerischen Methoden seine Ziele zu verfolgen, inklusive einer Teflon-Strategie, um die Öffentlichkeit zu täuschen. Wie diese Strategie Erfolg hatte, zeigen wir in diesem Kapitel.

Kapitel 3 / »Viren, Viren, Viren«: Der Biologe Stefan Lanka behauptet, es existieren keine Viren. Mit dieser Position agiert er im Hintergrund der Bewegung »Querdenken«. Am Beispiel von Gerichtsprozessen zeichnen wir nach, wie Lanka als falscher Prophet auftritt. Denn: Er verdreht locker ein paar Tatsachen und liefert »Alternativen Medien« passendes Futter.

Kapitel 4 / »Chronik eines Rufmords«: Es dauerte 13 Jahre, bis ein Gericht in Bremen endgültig »Stopp« sagte. Prof. Alexander Lerchl darf keine Fälschungsvorwürfe mehr erheben, die er lange Zeit gegen eine mobilfunkkritische Untersuchung in Stellung gebracht hat (REFLEX-Studie). Eines der Opfer war eine Laborantin, die weltweit als Fälscherin verleumdet wurde. Lerchl, ein falscher Prophet? Ja, weil er eisern an seinem Kurs festgehalten hat, obwohl Kommissionen und Gerichte keine Beweise für Fälschungen fanden. Ein echter Wissenschaftskrimi, den wir für Sie aufgeschrieben haben.

Kapitel 5 / »Menschenfreund«: Bill Gates ist eine Reizfigur, nicht nur für Verschwörungstheoretiker. Er glaubt fest an die Kraft des Kapitalismus und setzt auf Atomenergie, um den Klimawandel zu bekämpfen. Dabei betreibt er seine Stiftung als Wohlfahrtskonzern, in dem nur er das Sagen hat. Gibt es eine demokratische Legitimation für milliardenschwere Philanthropie? Nein. So erleben wir bei Bill Gates eine ungeahnte Konzentration von Macht – deren Folgen wir in diesem Kapitel beschreiben.

Kapitel 6 / »Social-Media-Helden«: Sie manipulieren Menschen, die sich noch nicht richtig wehren können. Ihre Zielgruppe sind Kinder und Jugendliche, die besonders leicht Werbebotschaften zum Opfer fallen. Die Rede ist von Influencern, der Speerspitze der Werbeindustrie, die mit Psycho-Tricks versucht, die Wachstumsökonomie am Laufen zu halten. Dazu beuten Influencer das Seelenleben ihres Publikums aus. Wie sie das geschickt machen, haben wir für Sie analysiert.

Kapitel 7 / »Größenwahn«: Der Transhumanismus will Menschen weit über sich hinauswachsen lassen – durch Nanobots in der Blutbahn oder Implantate im Gehirn, die kognitive Leistungen ankurbeln. Ihre falschen Propheten wie Ray Kurzweil schwärmen von »ewiger Jugend« und »Unsterblichkeit«. Auch Elon Musk verfolgt ein transhumanistisches Programm, wenn er mit Neuralink eine Schnittstelle im Kopf einpflanzen will, um später mit der globalen Künstlichen Intelligenz (KI) zu kommunizieren … Klingt das für Sie auch nach Größenwahn? Dann lesen Sie dieses Kapitel! Sie werden schnell merken, wie weit diese Ideen bereits in unseren Alltag eingedrungen sind.

An das Ende des Buches haben wir einen Ausblick gesetzt (»Einfachheit fördert geistigen Reichtum«). Denn die falschen Propheten haben einen gemeinsamen Nenner: Sie stehen oft für den Status quo, von dem sie stark profitieren. Das bedeutet, sie agieren in reaktionären Mustern, um die letzten Reste einer Welt auszubeuten, die gerade auseinanderfällt, sozial, ökonomisch und ökologisch. Gehen wir ihnen nicht mehr auf den Leim, sind gesellschaftliche Veränderungen möglich, die zu einer sozialökologischen Transformation der Gesellschaft führen. »Geistiges Wachstum tritt an die Stelle ökonomischen Wachstums«, lautet unsere These.

Schwierig? Unmöglich? Warum nicht … Wir bleiben optimistisch und versuchen weiterhin, den heutigen Herausforderungen zu begegnen. Dazu haben wir uns gerade intensiv mit falschen Propheten auseinandergesetzt. Je mehr Menschen das machen, desto schwächer wird ihr Einfluss. Das wäre ein erster Schritt, um gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben, wie er auch schon Erich Fromm vorschwebte. Eines Tages werden die falschen Propheten ihre Macht verlieren – und keine Kinder mehr in Bergen verschwinden.

Ingo Leipner

PS: Ohne die Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Joachim Stall wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Seine Ideen, Recherchen und kritischen Überlegungen haben den Text wesentlich geprägt.

Interviews im Original

Außer für das Buch ist auch viel Material für unseren Film entstanden; alle Interviews mit Experten wurden mit der Kamera geführt. So sind die Gespräche in fast voller Länge dokumentiert - und wir stellen sie bearbeitet zum Download zur Verfügung.

Hier die Adresse unserer Website:

https://www.ecowords.de/bücher/moderne-rattenfänger/

KAPITEL 1

PSYCHOLOGIE DER TÄUSCHUNG

Manipulation, Verblendung und Täuschung. In diesem Kapitel geht es um die Methoden der falschen Propheten. Wie wird manipuliert? Welche Methoden sind im Einsatz? Wie können wir uns dagegen schützen?

Wir machen einen Abstecher in den Bundestagswahlkampf 2021, geprägt von der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands (Teil 1). Dabei lernen Sie Leo Löwenthal kennen, der schon 1949 über Manipulationen durch politische Agitatoren nachgedacht hat. Darauf erklärt uns Daniel Kahneman, wieso unser Gehirn anfällig für Täuschungen aller Art ist (Teil 2). Und: Wir treffen Edward Bernays, er gilt als Großmeister der »Public Relation«. Seine Erkenntnisse aus den 1920er-Jahren sind heute noch aktuell (Teil 3). Schließlich erfahren Sie, dass es Schutz vor Manipulation geben kann, wenn Sie auf die »Meta-Ebene« achten (Teil 4). Ein Glossar gibt von A bis Z Auskunft über Techniken der Manipulation (Teil 5).

TEIL 1

WENN DAS GEGENTEIL WAHR IST

Wie Verdrehungen von Tatsachen selbstverständlich sind – und Politiker das im Wahlkampf ausschlachten

Die Wassermassen hatten sich erst durch viele Orte gewälzt, Straßen verwüstet sowie ganze Häuser und Autos weggerissen. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Über Nacht waren Teile von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zum Katastrophengebiet geworden. Das geschah im Juli 2021, als ein nie gekannter Sturzregen Flüsse und Bäche übers Ufer treten ließ. Gleichzeitig war Bundeswahlkampf! So schoss auch die Rhetorik mancher Partei über jeden Damm hinaus.

Schauen wir uns als Einstieg in dieses Kapitel ein Posting der AfD an:

»Der Klimahysterie kann man nicht entgehen: zu kalt => Klimakatastrophe, zu warm => Klimakatastrophe, […] Niedrigwasser => Klimakatastrophe, Hochwasser => genau!«

Strohmann

Diesen Tweet veröffentlichte Jörg Nobis am 15. Juli 20211 als Reaktion auf die Unwetterkatastrophe. Er sitzt für die AfD im Landtag von Schleswig-Holstein und hat diesen interessanten »Strohmann« in die Welt geschickt. Der »Strohmann« ist die erste rhetorische Figur, der wir in der Welt der Manipulation begegnen. Sie wird eingesetzt, um Argumente der Gegenseite so stark zu verbiegen, dass sie leichter anzugreifen sind.

»Mit einem Strohmann verzerrt man die Position des Gegenübers, um es besser widerlegen zu können«, erklärt Dr. Adem Mulamustafić.2 Er ist Philosoph und hat sich intensiv mit Rhetorik und Manipulation beschäftigt. Wie der »Strohmann« funktioniert, zeigt uns der AfD-Abgeordnete Nobis: Er belegt alle Klima-Aktivisten mit dem negativen Sammelbegriff der »Klimahysterie«. Daraufhin macht er deren Sorgen lächerlich, indem er auf den »Strohmann« einschlägt und die angebliche Hysterie ad absurdum führt. Zuspitzen, absichtliche Fehler einbauen, Fakten weglassen – das alles zeichnet einen guten »Strohmann« aus. So kann Nobis seinen Anhängern signalisieren: Egal was passiert, der Klimawandel muss euer Leben nicht verändern.

Kein Anteil am Klimawandel

Rosinen picken

Der Bundessprecher der AfD, Jörg Meuthen, wählte am 15. Juli 2021 einen ähnlichen Weg, um dieselbe Botschaft zu vermitteln.3 Kein Wissenschaftler könne heute sagen, welchen Anteil der Mensch am Klimawandel hat, schrieb er auf Facebook. Außerdem habe es »verheerende Hochwasserlagen« in Europa und besonders in Deutschland ja auch früher schon gegeben. Meuthen weiter:

»Wem sagt beispielsweise noch das Pfingst-Hochwasser aus dem Jahr 1999 etwas? […] Und noch viel weniger Menschen werden sich an eine Hochwasserkatastrophe im Schwarzwald im Jahr 1959 erinnern […].«

Der Slogan dazu: »Ökopopulistischer Unfug von Göring-Eckardt & Söder ›Kalt, warm, nass trocken – immer ist´s die Klimakrise‹.«

Wie es auch bei Nobis der Fall ist, läuft es bei Meuthen darauf hinaus, dass er die Klimakrise der Gegenwart relativiert. Maßnahmen dagegen seien »ökopopulistischer Unfug«. Meuthen will seine Argumentation untermauern, indem er nach historischen »Rosinen« pickt, das heißt, er sucht willkürlich nach Hochwasser-Ereignissen in der Vergangenheit, die auch katastrophal gewesen sind. »Was da erzählt wird, kann stimmen«, sagt Mulamustafić. »Aber es handelt sich lediglich um eine selektive Auswahl von Fakten – und es wird dann so getan, als ob diese genannten Fakten alleine ausreichen, um die eigene Position zu stützen.« Die Methode: Einfach aus einer großen Menge die Daten heraussuchen, die eine eigene Behauptung belegen. Alle anderen Fakten sind auszublenden.

Diese Vorgehensweise ist uns oft begegnet, wir haben sie unter anderem in diesen Kapiteln dokumentiert:

Kapitel 3

/ »Viren, Viren, Viren« (

S. 91

)

Kapitel 4

/ »Chronik eines Rufmords« (

S. 125

)

Kapitel 6

/ »Menschenfreund« (

S. 157

)

Kapitel 7

/ »Größenwahn« (

S. 219

)

Übrigens: Die Übergänge vom »Rosinen picken« zum »Strohmann« bauen sind fließend.

Davon kann Anton Hofreiter ein Lied singen. Er ist Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag (Bündnis 90/Die Grünen). Im Februar 2021 äußerte er sich zur Wohnungsbaupolitik, und zwar in einem Interview mit dem Spiegel4: »Einparteienhäuser verbrauchen viel Fläche, viele Baustoffe, viel Energie, sie sorgen für Zersiedelung und damit auch für noch mehr Verkehr«, so Hofreiter. In Städten gebe es »gigantische Wohnungsnot«, in anderen Regionen würde der Wert von Häusern »in den Keller« gehen. Deshalb sollten Bebauungspläne für eine effiziente Nutzung des knappen Raums in Ballungsgebieten sorgen, damit bezahlbarer Wohnraum entsteht. Und dann die klare Aussage: »Natürlich wollen die Grünen nicht die eigenen vier Wände verbieten.«

Rosinen und Strohmänner

Eigentlich sind das alles bekannte Fakten, aber der Bundestagswahlkampf warf seine Schatten voraus, er ließ die Gemüter hochkochen, aus wahltaktischem Kalkül. Die Konkurrenz musste Hofreiter nur bewusst falsch verstehen. Sie pickte die »richtigen« Rosinen heraus und schickte ihre »Strohmänner« ins Rennen. Hier eine kleine Auswahl von Aussagen, die plötzlich die Diskussion beherrschten, obwohl Hofreiter etwas völlig anderes gesagt hatte:

»Die Grünen wollen den Menschen den Traum vom Eigenheim madig machen.« (Daniel Föst / bau- und wohnungspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion).

»Die Grünen wollen die Freiheit von immer mehr Bürgern einschränken! Jetzt sprechen sie sogar ganz ungeniert von Enteignungen.« (Christoph Ploß / Hamburger CDU-Vorsitzender).

Hofreiter zeige »wieder einmal exemplarisch für die Grünen deren gestörtes Verhältnis zum Eigentum und der Lebensrealität im ländlichen Raum«. (Christian Hirte / CDU-Bundestagsabgeordneter).

Die drei Zitate belegen, wie die Grünen in eine Ecke gedrängt wurden, in der sie ursprünglich nicht gestanden hatten. »Das wurde bewusst verzerrt«, so Mulamustafić. Die politische Konkurrenz drehte die Informationen zur Wohnungsbaupolitik in eine bestimmte Richtung – und baute einen »Strohmann« mit Aussagen auf, die kein Grüner geäußert hatte. Dazu pickte sie sich Versatzstücke heraus, die aus dem Spiegel-Interview stammten. Das Ergebnis: Große Teile der Bevölkerung mussten Hofreiter als »Bedrohung für Hab und Gut« erleben. Am Ende hatte sich der GrünenPolitiker für Sätze zu rechtfertigen, die er nie gesagt hatte.

Spirale der Perfidie

Doch die Spirale der Perfidie drehte sich im Frühjahr 2021 weiter, sie entfaltete in der Öffentlichkeit eine eindrucksvolle Eigendynamik. Was als Windböe begann, wurde zum gut inszenierten Sturm.

Am 19. April 2021 wurde Annalena Baerbock die Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen – und damit zum natürlichen Feind(bild) der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM). Diese Initiative schreibt sich offiziell auf die Fahnen, die Soziale Marktwirtschaft zu verteidigen. Finanziert wird sie durch die Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie.

Die Organisation wurde in der Vergangenheit bekannt für marktradikale Thesen, die sie mit wenig Skrupel platziert. So bemerkte Dieter Schnaas in der WirtschaftsWoche, dass die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) auf den politischen Markt nichts mitbrächte, »was die Initiatoren der Sozialen Marktwirtschaft im Jahr 1957 im Sinne hatten: weder Ehrlichkeit noch Fairness, schon gar nicht Ritterlichkeit und Maß«.5 Ein klares Urteil!

So greift die Initiative auch immer wieder in Bundestagswahlkämpfe ein – zugunsten von wirtschaftsnahen Kandidaten. Kein Wunder, dass Baerbock schnell ins Visier geriet. Die INSM startete gegen sie eine Anzeigenkampagne: Die Kanzlerkandidatin im grünen Gewand als Moses-Verschnitt, zwei Gesetzestafeln aus Stein in den Händen, rote Wolken im Hintergrund. Slogan: »Wir brauchen keine Staatsreligion.« Oder: »Grüne Verbote führen uns nicht ins gelobte Land.« Doch der Teufel steckt im Detail; die wahre Demagogie zeigte sich in den zehn Geboten, eingeritzt in die Steintafeln. Als viertes Gebot war dort zu lesen: »Du darfst nicht schöner wohnen.«

Warum ist diese Zeile so kritisch zu bewerten?

Wecken von Assoziationen

Schöner Wohnen – das ist der Titel einer populären Zeitschrift, der sich tief im kollektiven Gedächtnis der Deutschen eingebrannt hat. Der Titel steht für die kreative Gestaltung der eigenen vier Wände, für Freude und Lebensqualität. Und das alles wollen die Grünen dem Bürger wegnehmen! Diese Assoziation steckt in der kurzen Zeile: »Du darfst nicht schöner wohnen!« Allerdings ins Negative gewendet, um den Grünen zu schaden. So hat sich aus Hofreiters Interview im Spiegel ein schädliches Narrativ entwickelt, fortgesponnen durch andere Medien, aufgegriffen vom politischen Gegner und in pure Demagogie gewendet – durch die INSM. Diese Initiative inszeniert bewusst solche Kampagnen, »um Menschen mit einer Vorliebe zu politischen Kurzschlüssen bei ihren Vorurteilen abzuholen: Ideologie! Verbotspartei! Veggie-Day! Tempolimit! Meine Freiheit! Mein Lebensstil!«, so bringt es Schnaas in der WirtschaftsWoche auf den Punkt.

Armin Laschet als Klimakämpfer

Nach AfD und Grünen wollen wir noch einen Blick auf die konservativen Mitbewerber werfen: Armin Laschet war in diesem Sommer in den Überschwemmungsgebieten unterwegs – als NRW-Ministerpräsident und Kanzlerkandidat der CDU. Dabei demonstrierte er, wie leicht Politiker von Pippi Langstrumpf lernen (»Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt«). Seine Technik war die »Dekontextualisierung«, also die Fähigkeit, Fakten aus dem Zusammenhang zu reißen, damit sie zur eigenen Politik passen. Die Erkenntnis verdanken wir dem ARD-Magazin Monitor.6 Laschet sprach am 16. Juli 2021 in die Kameras: »Deshalb ist NRW eines der Länder, das am meisten tut, um gegen den Klimawandel zu kämpfen, CO2-Werte zu senken.« Dazu gehört auch der Ausbau Erneuerbarer Energien – und Laschet sagte schon am 11. Juli 2021: »Im letzten Jahr gab es den größten Windenergie-Zubau an Land in Nordrhein-Westfalen.«

Dekontextualisierung

Das stimmt, wenn wir den weiteren Kontext ignorieren. Daher nennt sich diese Technik der Manipulation »Dekontextualisierung«, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. In diesem Fall will Laschet den Eindruck erwecken, er sei ein Kämpfer gegen den Klimawandel. Doch Monitor blendet eine Grafik ein, die den Ausbau der Windenergie in NRW zeigt:

2013:

109 Anlagen

2017:

323 Anlagen (Laschet wird Ministerpräsident)

2019:

37 Anlagen

2020:

93 Anlagen

Das bedeutet: Nach dem Amtsantritt von Laschet ging der Ausbau der Windenergie drastisch zurück, auf rund ein Zehntel der Anlagen im Jahr 2017. Da muss kein kausaler Zusammenhang bestehen, da Genehmigungen für Windräder einiger Jahre bedürfen. Aber: 2017 waren es deutlich mehr Anlagen als 2020 – und die Aussage des »größten Windenergiezubaus an Land« (Laschet) verliert an Kraft, wenn wir diesen Kontext heranziehen.

Bisher haben wir uns einige politische Beispiele angeschaut. Jetzt wollen wir die Vogelperspektive einnehmen, um die grundlegenden psychischen Mechanismen zu verstehen, die einer gelungenen Manipulation zugrunde liegen. Dabei hilft uns ein Klassiker, der schon 1949 erschienen ist: Falsche Propheten von Leo Löwenthal (1900–1993). Er gilt als Pionier der Massenkommunikationsforschung und beobachtete, wie in den 1930er- und 1940er-Jahren politische Agitatoren in den USA in Erscheinung traten.

Aus diesen Erfahrungen leitete er Grundsätze der Manipulation ab, die bis heute brandaktuell sind. Eine zentrale Erkenntnis: »Der Agitator geht seine Zuhörer nicht von außen her an; vielmehr gibt er sich wie jemand aus ihrer Mitte, der ihre innersten Gedanken formuliert. Er rührt das auf und drückt das in Worte aus, was in ihnen schlummert.«7 Mit anderen Worten: Der Agitator nutzt bewusst die »Vorliebe zu politischen Kurzschlüssen« (Schnaas)8, um Vorurteile zu aktivieren.

Keine neuen Lösungen

So beginnt die Arbeit des Agitators: Er will keine neuen Lösungen anbieten, er ist nicht daran interessiert, in einer Sachdebatte andere Bürger zu überzeugen. Der Agitator verschafft sich Zutritt zur Seele der Menschen, die er in seinen Bann ziehen will. Er erforscht ihre Abgründe, sucht in den Tiefen der Psyche nach unerfüllten Wünschen und triebhaften Strukturen. »Der bewusste oder unbewusste Zweck seiner Aktivitäten ist die Verhaltensmodifizierung seiner Zuhörer, so dass sie zu widerstandslosen Aufnahmeorganen für seinen persönlichen Einfluss werden«, so Löwenthal.9

Tagträume als Ausweg

Dieser Einfluss kann verheerende Wirkungen entfalten: »Keine Beschwerde, kein Ressentiment ist zu gering, um [vom Agitator] nicht wahrgenommen zu werden«, schreibt der Wissenschaftler. Der öffentliche Manipulator rückt die »übertriebene Emotion« in den Mittelpunkt seines Handelns.10 Er verzichtet völlig darauf, sachlich auf die Unzufriedenheit der Menschen einzugehen, »vielmehr präsentiert er deren Beschwerden in einem verzerrenden, fantastischen Prisma«. Es geht nicht mehr um eine »gezielte, intellektuelle Anstrengung«.11 Der Agitator kennt einen viel bequemeren Weg: Er erlaubt es seinen Anhängern, sich »Phantasien und Tagträumen hinzugeben, in denen sie ihre leidenschaftliche Wut gegen angebliche Feinde ausleben können«.12

Misstrauen, Abhängigkeit

Löwenthal stellt fest: »Misstrauen, Abhängigkeit, Ausgeschlossensein und Enttäuschung vermischen sich zu einem Grundzustand des modernen Lebens: der Malaise, des Unbehagens«.13 Diese Unzufriedenheit nutzt der Agitator aus; geistige Heimatlosigkeit und das Bewusstsein der Isolation sind weit verbreitet. Hinzu tritt oft eine gewisse Verwirrung »angesichts der scheinbar unpersönlichen Mächte und Kräfte«, denen sich viele Menschen hilflos ausgeliefert sehen.

Keine Lösung anstreben

Wie schon gesagt: Der Agitator will nicht eine wirkliche Lösung anstreben, dafür bietet er seinen Anhängern einen »Verführungsakt«. Er zeigt ihnen »einen Ausweg aus einem Zustand ständiger Unterdrückung in Form irrationaler Ausbrüche«. Der Agitator findet die Malaise schon vor, er steigert sie aber noch, »in dem er den Weg zu ihrer Überwindung blockiert«. Außerdem ist vielen Menschen ein moralischer Kompass verloren gegangen, was das Niveau der Gewalt anhebt:

»Autorität tritt jetzt offen als Gewalt auf, und als Gegenkraft formiert sich sozusagen eine Phalanx aller verdrängter Impulse, die sich gegen die Tore der Psyche wirft und nach Wegen der Befriedigung sucht.«14

Der geschickte Agitator nutzt diese brisante Lage für seine Zwecke, indem er weitere Ressentiments schürt. Statt über die wahren Ursachen des Unbehagens aufzuklären, konserviert er die Vorurteile im Bewusstsein seiner Anhänger. »Das bringt ihn in die vorteilhafte Situation, die falschen Ansichten seiner Zuhörer nicht korrigieren zu müssen, sich vielmehr von deren ›natürlicher‹ Strömung tragen lassen zu können«, stellt Löwenthal fest.15

Verzerrung der Situation

Ressentiments schüren

Dabei gibt der Agitator vor, »ein treuer Anwalt des sozialen Fortschritts« zu sein. Tatsächlich ist er nur daran interessiert, das Unbehagen seiner Zuhörer am Köcheln zu halten. »In Wirklichkeit«, so Löwenthal, »verarbeitet und modifiziert er nur diejenigen Gefühle der Zuhörerschaft, in denen sich ihr Unbehagen manifestiert. Er kristallisiert und festigt diese Gefühle und verzerrt die objektive Situation.«16

Fazit: Erinnern wir uns an die Postings der AfD. Beide Autoren knüpfen an den tiefen Wunsch an, dass sich nichts in unserem Leben verändern soll. Hochwasser? Hat es schon immer gegeben … alles andere ist »Klimahysterie«. Hauptsache, unsere Komfortzone des Wohlstands wird nicht gefährdet. Etwa durch eine konsequente Klimapolitik, die auch Opfer verlangen könnte. Es ist die Sehnsucht nach scheinbarer Stabilität – ohne Klimawandel, Flüchtlinge und soziale Probleme. Sie schafft den Resonanzboden für Botschaften, die Meuthen und Nobis ins Bewusstsein der Wähler pflanzen.

Keine Verantwortung für Klimawandel

Dabei greifen sie geschickt auf bestehende Ressentiments zu, wie es Löwenthal bereits 1949 beschreibt. Sie festigen das Gefühl, keine Verantwortung für den Klimawandel übernehmen zu müssen. Dazu lenken sie den Spott ihrer Anhänger auf »Ökopopulisten«, die bei jedem Tropfen Wasser hysterisch reagieren. So liest es sich zwischen den Zeilen, wobei der politische Gegner auch direkt verunglimpft wird: »Ökopopulistischer Unfug von Göring-Eckardt & Söder«, heißt es bei Meuthen.

Argumentum ad hominem

Dabei geht es nicht um eine sachliche Auseinandersetzung, sondern lediglich um die Diskreditierung anderer Politiker. »Argumentum ad hominem« nennt das die Argumentationstheorie – das ist die Attacke gegen die Persönlichkeit eines anderen Menschen. Diese negative Figur ist uns häufig aufgefallen, zum Beispiel im …

Kapitel 3

/ »Viren, Viren, Viren« (

S. 91

)

Kapitel 4

/ »Chronik eines Rufmords« (

S. 125

)

Empörung statt Argumente

Vor diesem Hintergrund macht Löwenthal deutlich, dass der Agitator kein Interesse daran hat, Unzufriedenheit auf »definierbare Ursachen« zurückzuführen: »Was übrig bleibt«, schreibt der Wissenschaftler, »ist einerseits das subjektive Unbehagen und andererseits der persönlich dafür verantwortliche Feind.« Gegen ihn lassen sich Wut und Ärger mobilisieren, was eine sachliche Debatte überflüssig macht. Empörung statt Argumente – so funktioniert Wahlkampf, wie es auch die INSM mit ihrer Baerbock-Moses-Kampagne vorgeführt hat. Dabei sind die Probleme auf der Sachebene übermächtig und verlangen nach intensiven Debatten, die schlicht verweigert werden. Ein Trauerspiel der Demokratie.

TEIL 2

RETTUNG VOR RAUBTIEREN

Bewusst oder unbewusst: Zwei Wege der Manipulation, die beide zum Ziel führen

Es wird geschummelt, getäuscht und manipuliert. Beim Lügen biegen sich oft die sprichwörtlichen Balken. Und die letzte US-Regierung unter Donald Trump schuf den paradoxen Begriff der »Alternativen Fakten«. Ein aussichtsloser Wettkampf: »Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht«, schreibt Mark Twain.17 Und so jagt eine Manipulation die andere, seit die Evolution den Menschen auf diesen Planeten gestellt hat. Wir täuschen – und werden getäuscht. Außerdem haben digitale Medien das Potenzial vervielfältigt, Lug und Trug zu erzeugen. Warum sind wir so täuschungsanfällig? Warum lassen wir uns immer wieder blenden?

Das alles geschieht, weil sich in der Geschichte der Menschheit das Gehirn in einer speziellen Form entwickelt hat. Was dabei herausgekommen ist, hat der Psychologe Daniel Kahneman erforscht, der 2002 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt. Daher blättern wir jetzt in seinem großen Werk Schnelles Denken, langsames Denken, das uns auf die richtige Spur bringt.18

Kahneman verweist darauf, dass die Psychologie seit Jahrzehnten zwei Arten des Denkens untersucht:

System 1:

Es »arbeitet automatisch, schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung« (»schnelles Denken«).

System 2:

Es »lenkt die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten, die auf sie angewiesen sind, darunter auch komplexe Berechnungen« (»langsames Denken«).

Nun zu den Details der unterschiedlichen kognitiven Vorgehensweisen:

System 1: Es kann viel mächtiger sein als System 2, es produziert viele Eindrücke und Emotionen und ist Sitz unserer Intuition, was uns zum Beispiel in brenzligen Situationen eine schnelle Flucht erlaubt. Mit seinen »automatischen Operationen« ist System 1 in der Lage, erstaunlich komplexe Muster zu schaffen. Sie sind »die Hauptquellen der expliziten Überzeugungen und bewussten Entscheidungen von System 2«, wie der Psychologe ausführt.

System 2: Wer gerade System 2 nutzt, kann oft subjektiv »Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration« erleben, so Kahneman. Im Alltag identifizieren wir uns mit System 2, das wir mit einem bewussten und logischen Denken verbinden. Wir glauben, frei über unser Leben entscheiden zu können. System 2 hat erst die Fähigkeit errungen, schrittweise Gedanken zu entwickeln. Außerdem hat dieses rationale System die Möglichkeit, Impulse und Assoziationen aus System 1 zu unterdrücken.

Impulskontrolle

Dafür setzt unser Gehirn im System 2 die »Impulskontrolle« ein, sie ist eine exekutive Funktion des Frontallappens im Stirnhirn.19 Die Psychologie kennt ein weiteres Wort für dasselbe Phänomen: »Inhibitionskontrolle«. Das heißt: Menschen sind in der Lage, aus einer Vielzahl von Informationen die wesentlichen auszuwählen – und zugleich ungeeignete Alternativen zu unterdrücken. Das hilft uns, auf gelernte Muster zurückzugreifen, um komplexe Situationen zu bewältigen. Dabei verhindert die »Impulskontrolle« spontane Fehlentscheidungen, die schnell auftreten, wenn wir uns lediglich von seelischen Impulsen steuern lassen.

So kommt es immer auf das Zusammenspiel der beiden Systeme an: »Die Arbeitsteilung zwischen System 1 und System 2 ist höchst effizient: Sie minimiert den Aufwand und optimiert die Leistung«, so Kahneman.20 Das kann eine Frage des Überlebens sein, etwa bei der Begegnung mit Raubtieren im Dschungel. Wer aus dem Augenwinkel sieht, dass ein Tiger auf ihn losstürmt, nimmt die Beine in die Hand und hält sich nicht lange damit auf, die Situation zu analysieren. Kräftiges Fauchen, blitzende Zähne, Fell mit schwarzen Streifen … das reicht als Signal! Die Psychologin Prof. Karen Douglas schreibt dazu: »Die Überempfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen ist evolutionär sinnvoll, besonders seit sich Menschen in einer Umwelt entwickeln, die voller Freunde, Feinde oder gefährlicher Raubtiere ist. So werden Menschen wach, wenn sie mit ihrer Umgebung interagieren.«21 Es sei entscheidend für »das physische und soziale Überleben«, zweideutige Momente richtig einzuschätzen und auf gefährliche Situationen schnell zu reagieren. Da hat System 1 eindeutig seine Stärken, weil es uns intuitiv aus dem Moment handeln lässt. Die Psychologie nennt das auch »Heuristik« (griechisch »heureka«: »Ich habe es gefunden«). Mit dieser Technik schaffen wir es, trotz begrenzten Wissens in kurzer Zeit eine Lösung zu finden, die uns etwa vor Tigern rettet.

Was aber im Dschungel nützlich ist, kann in anderen Situationen zur Falle werden. Nämlich dann, wenn andere Menschen uns auf der unbewussten Ebene manipulieren wollen. Was das mit System 1 + 2 zu tun hat, wird jetzt diskutiert.

Dem Philosophen Dr. Adem Mulamustafić sind wir schon im letzten Abschnitt begegnet. Er hat mit seinem Kollegen Till Hopfe die Firma ProArgument gegründet, um Kunden zu trainieren, »analytisch zu denken, erfolgreich zu argumentieren & Manipulationen zu erkennen und abzuwehren«, wie sie auf ihrer Website schreiben.22 Wir haben sie im Berliner »IntercityHotel« getroffen, um noch mehr über die Manipulierbarkeit der Menschen zu erfahren.

Zwei Arten der Manipulation

Die zwei Philosophen haben auch Kahneman studiert, sie knüpfen bei ihrer Arbeit direkt an den Psychologen an. Till Hopfe erklärt: »Wir unterscheiden immer zwei Arten von Manipulation. Auf der einen Seite die logische Manipulation, die mithilfe von Denkfehlern funktioniert.« Sie greift System 2 an und lässt sich benutzten, um auf einer bewussten Ebene zu täuschen, etwa beim Austausch von Argumenten in einer Diskussion. »Da lassen sich Scheingründe anführen«, so Hopfe, »um im Gespräch zu tricksen, etwa mit der Figur des ›Strohmanns‹.«

Neben dieser logischen Manipulation gibt es auch die »psychologische Manipulation«, die »einen Zugriff auf unbewusste Heuristiken« darstellt, wie Hopfe erklärt. Sie ist ein Angriff auf System 1. Warum kann das so gut funktionieren? »Wir folgen«, so Hopfe, »intuitiv solchen Heuristiken als Daumenregel, wenn wir nicht genug Zeit haben, länger nachzudenken.«

Ungebetener Gefallen

Ein Beispiel: die Strategie des »ungebetenen Gefallens«. Der Chef kommt ins Büro und spricht einen Mitarbeiter an. Ob er nicht schon Schluss machen wolle? Er habe das Projekt doch prima gemanagt. Der Mitarbeiter freut sich – und die Woche darauf schnappt die Falle der Reziprozität zu. Wir sind alle unbewusst darauf geeicht, Gefallen erwidern zu wollen. Das macht uns zu sozialen Wesen und leider auch manipulierbar. Denn der Chef fragt jetzt den Mitarbeiter, ob er ein weiteres Projekt übernehmen kann. Da fällt ein »Nein« schon schwerer. Hopfe: »Der springende Punkt ist, dass im System 1 unsere Intuition manipuliert wird. Verhängnisvoll ist es, wenn wir automatisch Regeln folgen, die uns nicht bewusst sind. Damit entzieht sich die Manipulation unserer Reflexion.«

Schlüsse aus bekanntem Fall

Schwache Analogie

Anders dagegen läuft eine »logische Manipulation« ab: Sie richtet sich gegen System 2, das langsam und bewusst arbeitet. Dabei ist die Analogie eine oft eingesetzte Technik: »Das sind Vergleiche, um aus einem bekannten Fall Schlüsse zu einem noch unbekannten Fall zu ziehen, bei dem wir noch nicht wissen, wie wir ihn beurteilen sollen«, erläutert Hopfe. Ein treffendes Beispiel hat die Initiative Practice ins Netz gestellt:23

»Waffen sind wie Hämmer – sie sind beides Werkzeuge, mit denen man jemanden töten kann. Wenn wir den Kauf von Waffen einschränken, sollten wir auch den Kauf von Hämmern einschränken!«

Das ist eine Analogie, die den freien Verkauf von Waffen fördern soll. Aber: »Sind beide Fälle nicht ähnlich genug«, so Hopfe, »handelt es sich um eine schwache Analogie, was aber nicht gleich auffällt, wenn Informationen fehlen. Wer das bewusst in Kauf nimmt, manipuliert die Öffentlichkeit.« Wie es in diesem Fall eine fiktive Waffenlobby versucht ...

Es gibt subtile Analogien, deren Absurdität nicht sofort erkennbar ist. Zwei Beispiele aus unseren Recherchen:

»Uli Hoeneß sitzt seit Juni 2014 ein, Elisabeth Kratochvil nicht.«

»Jedenfalls sollten wir Atomkraftwerke – wie wir es ja schon beim Auto getan haben – verbessern.«

Den Vergleich mit Uli Hoeneß hat ein Gericht als Verletzung von Persönlichkeitsrechten eingestuft (Kapitel 4 / »Chronik eines Rufmords«). Atomkraftwerke wie Autos verbessern? Die Idee stammt von Bill Gates – und hält einer näheren Betrachtung nicht stand, was wir ausführlich diskutieren (Kapitel 5 / »Menschenfreund«).

Bei Kahneman finden sich unzählige Beispiele, wie die »psychologische Manipulation« bei System 1 abläuft (»Schnelles Denken«). Das passiert oft unbemerkt und sehr wirksam, etwa beim sogenannten »Priming«.24

Kahneman erläutert diesen Mechanismus: Wer gerade das Wort eat (essen) gehört oder gelesen hat, vervollständigt das Fragment s__p viel eher zu soup (Suppe) als zu soap (Seife). »Wir nennen dies einen ›Priming-Effekt‹ (Bahnungseffekt) und sprechen davon, dass die Vorstellung ›essen‹ die Vorstellung ›Suppe‹ bahnt, während ›waschen‹ die Vorstellung ›Seife‹ bahnt«, so der Psychologe.25

»Asyltourismus«

Priming und Framing

Derselbe Effekt stellt sich automatisch ein, wenn wir das Wort »Asyltourismus« hören: Es geht nicht mehr um menschliches Leid oder Lebensgefahr, wenn sich Flüchtlinge aufs Mittelmeer wagen. Unser Unterbewusstsein fängt an zu funken, und es stellen sich plötzlich Assoziationen zu Sonne, Palmen und Strandurlaub ein. Hopfe erläutert uns diesen Vorgang: »Hier werden wir dahin gelenkt, Asylsuchende als Touristen, als eine Art ›Urlauber‹ zu betrachten. Damit entsteht gezielt für Asylanten ein negatives Narrativ. Plakate mit Urlaubsbildern unterstützen die Aussage bildlich, was zu einer Verzerrung der Realität führt.«

Die Botschaft: Eigentlich wollen Flüchtlinge lediglich Urlaub in Europa machen, am besten in der »sozialen Hängematte«. Eine alte Formulierung, die ebenfalls Priming-Charakter hat. Mit dem Begriff »Asyltourismus« hat der Ministerpräsident Markus Söder 2018 versucht, in Bayern CSU-Wähler zu gewinnen. Allerdings verabschiedete er sich bald von dieser Formulierung, als er damit auf scharfe Kritik stieß.26

»Priming« löst manipulative Prozesse aus, die zum »Framing« führen können (»Frame« heißt auf Englisch »Rahmen«). Der Begriff »Asyltourismus« lässt sich so als Deutungsrahmen verstehen, der allgemein vorgibt, wie Meldungen zu Flüchtlingen einzuordnen sind.

»Priming« und »Framing« sind heimtückische Instrumente der Manipulation. Sie sprechen die unbewussten Schichten des Menschen an, was Kahneman auf diese Weise beschreibt: »Wie Kräuselwellen auf der Oberfläche eines Teichs breitet sich die Aktivierung durch einen kleinen Teil des riesigen Netzwerks assoziierter Vorstellungen aus.«27

Finstere Schichten der Seele

»Bis zum Erbrechen«

Aktiviert werden finstere Schichten der Seele. Die ständig wiederholte Rede von »Flut, »Welle«, »Asyltourismus«, oder »Migrationswaffe« erfolgt in einer Dauerschleife, wofür die Argumentationstheorie einen Begriff kennt: »argumentum ad nauseam« (wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt: »bis zum Erbrechen«). So werden Slogans »eingehämmert«, bis sie viele Menschen akzeptieren oder keinen Widerspruch mehr wagen. Die Agitatoren bereiten so den Boden vor, um Flüchtlingen die Menschenwürde abzusprechen.

Die nächste Stufe der Eskalation: Wer Flüchtlinge um ihre Menschenwürde betrügen will, greift zum Vokabular des Unmenschen (Ratten, Schmeißfliegen, Parasiten). Solche Metaphern tauchen seit Jahrhunderten auf, oft in einem antisemitischen Kontext. Beispiel: Die Wehrmacht veröffentlichte 1944 ein Schulungsheft mit dem Titel »Der Jude als Weltparasit«. Parasiten sind eine Gefahr für die Hygiene; die Nazis arbeiteten auch mit dem Begriff »Volksschädling«, um nonkonformes Verhalten zu brandmarken. Die gedankliche Vernichtung von Ungeziefer bereitet den Weg vor, um Menschen zu vernichten. »Die Barbarei der Sprache ist die Barbarei des Geistes, es gibt da keinen Unterschied«, schreibt Dolf Sternberger 1957.28

Menschenwürde absprechen

Beim Thema »Flüchtlinge« gehen die Emotionen oft hoch. Schnell fliegen starke Thesen über den Tisch, etwa wie der »Flüchtlingsurlaub« in Europa. Mulamustafić und Hopfe haben da einen guten Tipp: Wer sagt denn, dass wir bei solchen Diskussionen eine »Bringschuld« haben – und Flüchtlinge automatisch verteidigen sollten? Etwa in dem Sinne, dass wir erklären müssen: Warum machen Flüchtlinge keinen Urlaub in Europa?

Sobald kontroverse Thesen auf den Tisch kommen, ist vielmehr derjenige in der Bringschuld, der das umstrittene Thema angeschnitten hat. Der Ball lässt sich so geschickt in die andere Spielhälfte befördern. »Mein Gegenüber muss erst die eigene These mit guten Gründen ausstatten, bevor ich ernsthaft darauf reagiere«, so Hopfe. Wer auf diese Weise eine Umkehr der Beweislast vollzieht, ist nicht mehr der vollen Wucht einer populistischen These ausgeliefert. Also lautet die Gegenfrage: Was spricht dafür, dass Flüchtlinge in Europa Urlaub machen? Gibt es da eine Statistik? Und schon nimmt das Gespräch einen neuen Lauf.

Fazit: Leo Löwenthal hatte uns gezeigt, wie Agitatoren in unsere Seele einfallen, um Ressentiments zu mobilisieren. Ihr Ziel ist die Empörung, die blind macht für rationale Argumente und dafür sorgt, dass wir unbewusster Manipulation auf den Leim gehen. Ein paar Jahrzehnte später lieferte uns Daniel Kahneman das neuropsychologische Rüstzeug, um diese Prozesse besser zu verstehen: Das schnelle System 1 ist anfällig für »psychologische Manipulationen«, das langsame System 2 fällt »logischen Manipulationen« zum Opfer.

Wir kennen aber auch die »Impulskontrolle« als wichtige Funktion im Gehirn. Daher sollten wir bereits Kinder so erziehen, dass nicht jeder Wunsch automatisch in Erfüllung geht. Dann lernen sie, wie hilfreich die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub ist. Und es sinkt die Wahrscheinlichkeit, unter anderem auf »Influencer« hereinzufallen, die Verführer der Moderne (Kapitel 6 / »Social-Media-Helden« / S. 193).

Wie tückisch die Angriffe auf das schnelle System 1 sein können, hat sich auch gezeigt, als wir uns mit »Priming« und »Framing« beschäftigt haben. Wer diese Klaviatur beherrscht, kann tief in die Psyche hineinwirken, indem er einen Rahmen für menschenverachtende Propaganda schafft. Umso wichtiger ist es, über diese Zusammenhänge Bescheid zu wissen. Damit unsere Demokratie nicht noch mehr Schaden nimmt.

TEIL 3

BEDÜRFNISSE WECKEN, WO KEINE SIND

Manipulationen sind in der Wirtschaft selbstverständlich – und niemand stößt sich mehr daran

Stellen Sie sich vor: Sie hatten eine gute Geschäftsidee und haben einen kleinen Laden eröffnet. Die Artikel gehen schnell über den Tresen, Sie haben bei den Leuten einen Nerv getroffen. Dabei ist es völlig egal, was Sie verkaufen. Ihr Unternehmen wächst und wächst, weitere Filialen kommen hinzu, in Ihrer Heimatsstadt und im Umland. Nach außen läuft alles glänzend, Sie holen mehrere Investoren ins Boot, die eine hohe Rendite erwarten. Allmählich stehen Millionensummen auf dem Spiel …

Doch eines Tages beginnt Ihre Expansion kommerziell ins Leere zu laufen, immer größere Verluste stellen sich ein, die Sie aber in Ihrer Buchhaltung verstecken. Sie wollen sich selbst keine Fehler eingestehen und auf keinen Fall darauf verzichten, die glanzvolle Rolle des erfolgreichen Geschäftsmanns zu spielen. Dazu ist es besonders wichtig, nicht Ihre Investoren zu vergraulen. Sonst bricht Ihr Kartenhaus zusammen, das lediglich vom Glauben an aufgeblasene Zahlen zusammengehalten wird. Sie fangen an, Rechnungen zu fälschen … Dann passiert es: Ein Journalist der Lokalzeitung hat Kopien aus Ihrer Buchhaltung zugespielt bekommen. Er schreibt einen ersten Artikel, in dem er die Vermutung äußert, Ihr Geschäft beruhe auf »heißer Luft«.

Da Sie etwas zu verbergen haben, gehen Sie zum Gegenangriff über. Sie stellen sich als Opfer einer Kampagne dar, die darauf ausgerichtet ist, Ihnen und der lokalen Wirtschaft zu schaden. Wem wird die Öffentlichkeit glauben? Dem großen Star der lokalen Wirtschaft oder einem kleinen Journalisten? Außerdem halten viele Menschen gerne daran fest, dass Sie ein großartiger Geschäftsmann sind. Sie hören, was sie unbedingt hören wollen … Auch die Aufsichtsbehörden sind auf Ihrer Seite, die Staatsanwaltschaft eröffnet sogar ein Verfahren gegen den Journalisten – wegen übler Nachrede. Auf diese Verbündeten können Sie bauen. Ihre Strategie heißt »Täter-Opfer-Umkehr«. Sie verwandeln sich in das Opfer einer skandalösen Berichterstattung – und der Journalist wird zum bösartigen Täter, obwohl er nur seinen Job gemacht hat.

Täter-Opfer-Umkehr

Aufstieg und Fall der Wirecard AG

Warum erzählen wir diese Geschichte? Sie spiegelt wichtige Aspekte des größten Wirtschafsskandals wider, der Deutschland je erschüttert hat: Aufstieg und Fall der Wirecard AG, an ihrer Spitze Markus Braun, der inzwischen in Untersuchungshaft sitzt. Er war ein Meister der »Täter-OpferUmkehr«.

Was Braun auch beherrschte: Er erzählte überall die Geschichte eines Unternehmens, das in der Lage war, ewiges Wachstum in riesigen Schritten zu garantierten. Bis zu 30 Prozent im Jahr!29 Das ließ den Aktienkurs in die Höhe schießen. Ein weiterer Klassiker kann uns erklären, wie solche Phänomene möglich sind: Gustave Le Bon (1841–1931). Der französische Soziologe schuf das Fundament für die Wissenschaft der Massenpsychologie; er veröffentlichte 1895 die Studie Psychologie der Massen, aus der wir hier zitieren.30

Wunder statt Vernunft

Was hat uns Le Bon zur Wirecard AG zu sagen? Zunächst macht er uns darauf aufmerksam, dass wir niemals die »Massenphantasie« beeindrucken, wenn wir auf Verstand, Vernunft oder Logik setzen. »Alles, was die Massen bewegt stellt sich in Form eines packenden und klaren Bildes dar […]: einen großen Sieg, ein großes Wunder, ein großes Verbrechen, eine große Hoffnung.« Und Braun vollbrachte »große Wunder«, die Anleger setzten »große Hoffnungen« auf sein Unternehmen. Am Ende schrumpfte alles auf ein »großes Verbrechen« zusammen, das lange Zeit niemand sehen wollte. Warum? Le Bon gibt eine mögliche Antwort. Der Soziologe nennt als Merkmale für ein Individuum, das in der Masse aufgeht:

Schwund bewusster Persönlichkeit

»Schwund der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft der unbewussten Persönlichkeit, Orientierung der Gefühle und Gedanken in derselben Richtung durch Suggestion und Ansteckung. Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen.«

Kaufen Sie Wirecard-Aktien, sofort! Dann sind Sie Teil einer Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht! So tritt ein, was auch Le Bon gesehen hat: »Das Individuum ist nicht mehr es selbst, es ist ein willenloser Automat geworden.« Ein seelischer Zustand, der Menschen heimsucht, seit es Börsen gibt: »Vermutlich, weil bei der Entstehung von Blasen so etwas wie das Gefühl der eigenen Überlegenheit eine Rolle spielt. Es ist ein trunken machender Gedanke, wenn man davon überzeugt ist, etwas besser zu wissen als die herrschende Meinung«, so der Nobelpreisträger und US-Ökonom Robert Shiller gegenüber Spiegel online.31 Eine Blase bildete sich auch bei der Wirecard-Aktie, platzte mit einem lauten Knall – und der Kater war bei vielen Anlegern gewaltig.

Wie sahen die Täuschungsmanöver bei der Wirecard AG im Detail aus? Das lesen Sie im Kapitel »House of Wirecards« (S. 53), ein spannender Wirtschaftskrimi.

Hype um Tulpen

Wie der Wert von Tulpen explodierte

Ende des 16. Jahrhunderts entstand in Holland ein kommerzieller Handel mit Tulpen.32 Ein gewaltiger Hype um die Blumen setzte zwischen 1630 und 1637 ein, weil sie als besonders dekorativ und exotisch galten. Die Preise kletterten in astronomische Höhen – und am Ende brach 1637 der Markt zusammen, mit großen wirtschaftlichen Schäden. Diese Tulpen-Spekulation war die erste große, dokumentierte Blase, die in der Wirtschaftsgeschichte geplatzt ist.