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Jenny hat eine Lebenskrise: Sie ist über 30, frisch getrennt von Art, der nun mit einer Influencerin liiert ist, und in ernsthafter Gefahr, ihren Job beim angesagten feministischen Online-Magazin "The Foof" zu verlieren - und jetzt zieht auch noch ihre Mutter, die Dramaqueen, bei ihr ein.
Klug, rasant, witzig und mit genauem Blick für die Tücken der Selbstwahrnehmung in Zeiten von Social Media - Emma Jane Unsworth schafft eine hinreißende Heldin, die einem sofort ans Herz wächst.
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
PROLOG: SOHO SQUARE
EINIGE MONATE ZUVOR: HALLO, WELT!
ART SAGTE
ICH GEHE
ENTWÜRFE
ES HEISST
INN. JENNYS KINDERZIMMER — NACHT
HINTER DEN KULISSEN
ES HEISST
ICH POSTE
ES HEISST
EINE GEBÄRMUTTER FÜR SICH ALLEIN
THERAPIESITZUNG NR. 1 (MONOLOG)
LIEBER JENNY-SCHATZ
LIKE OF DUTY
FOLGENDE SZENERIE
GOOGLE-SUCHE
ICH SAGTE
DIE PATATAS BRAVAS
KELLY HATTE GESAGT
UNSEXY SEXTING
WASCHUNGEN
MEIN BAD SAGTE
DIE TRENDWENDE
MEINE MUTTER SAGTE
ICH WAR ACHTZEHN
ART SAGTE
IRGENDWER SAGT
EIN RICHTIG SCHLECHTES ZEICHEN
MIA SAGT
ICH GEHE
BETRUNKENES GETWITTER
ENTWÜRFE
KLOPFKLOPF
SPRÜCHE
ICH SAGE
DIE GRÄUELTAT
ELEFANTENBABY
ART SAGTE
MEINE MUTTER SAGT
WIE ICH KELLY KENNENLERNTE
POSTEINGANG
ART SAGTE
ART SAGTE
WAS BLEIBT?
ÜBEL VERSETZT
WELTBESTE GEISTGEBERIN
#SOBINICHAUFGEWACHT
ENTWÜRFE
DER VERSTAND SCHAFFT DEN ABGRUND
ICH VERGÖTTERTE
ENTWÜRFE
ART SAGTE
DU
KOSENAMEN
FALLS
ARTS MUTTER SAGTE
ENTWÜRFE
KOMPLETT VERZWEIFELT
FREUDLOSE PHO
KEIN GEMEINSAMER ATEM
POPULAR PROBLEMS
ENTWÜRFE
IM BUS
IM AUGE BEHALTEN
OMA SAGTE
DAS GEHT MICH ALLES SO WAS VON WAS AN
GELÖSCHTE MAILS
GELÖSCHTE SMS
BURN-OUT
THERAPIESITZUNG NR. 2
KOMPLETT
APP-IDEE
ENTWÜRFE
GUCK MAL, FREIHÄNDIG
ENTWÜRFE
HALLO HALLO HALLO
WIEDER DAHEIM
GESENDETE OBJEKTE
EXPONATE A UND B
ENTWÜRFE
ANSTÄNDIGE BERÜHMTHEITEN
MEINE MUTTER
STILL-
LEBEN
ICH LASSE IHN
WIR WAREN
ENTWÜRFE
LUSTIG
HERAUSGEWACHSEN
BETREFF: NACHRICHT AUS DEM FEGEFEUER
ART SAGTE
KÖRPERARBEIT
KELLY SAGTE
FAKE NEWS
GOOGLE MICH
KOKON
EIGENTLICH
DEALS MIT FREMDEN
ZEITUNGSNOTIZ
NICOLETTE SAGT
EINE HALBE STUNDE SPÄTER
FAUST-FIZZ
IN DIESER NACHT
ES PASSIERTE EBEN NUR ZUFÄLLIG
#FROTHEH
MEINE MUTTER SAGT
DAS HERZ ÜBERWINDET IHN
KINDSKOPF
WHO YA GONNA CALL?
DER NACKTE EHRGEIZ
SOHO SQUARE
PRIMÄRE GEFÜHLE
SIE SAGT
INN. JENNYS ZIMMER — NACHT
KELLY SAGT
ERNST GEMEINTE FRAGEN
AKTZEICHNEN
ICH ENTSPANNE MICH
WIR LIEGEN
ENTWÜRFE
SEMI-STILLE NACHT
POSTEINGANG
ICH DANKE
Über das Buch
Jenny hat eine Lebenskrise: Sie ist über 30, frisch getrennt von Art, der nun mit einer Influencerin liiert ist, und in ernsthafter Gefahr, ihren Job beim angesagten feministischen Online-Magazin »The Foof« zu verlieren – und jetzt zieht auch noch ihre Mutter, die Dramaqueen, bei ihr ein.
Klug, rasant, witzig und mit genauem Blick für die Tücken der Selbstwahrnehmung in Zeiten von Social Media – Emma Jane Unsworth schafft eine hinreißende Heldin, die einem sofort ans Herz wächst.
Über die Autorin
Emma Jane Unsworth, geboren 1978, schreibt regelmäßig für Zeitungen und Magazine wie The Guardian Weekend und Grazia sowie Drehbücher fürs Fernsehen. Ihre ersten beiden Romane, Hungry, the Stars and Everything und Biester (Metrolit 2014) wurden mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Die Verfilmung von Biester feierte auf dem Sundance Filmfestival 2019 Premiere; Unsworth erhielt dafür den British Independent Film Award für das beste Drehbuchdebüt. Der vorliegende, neueste Roman, an dessen TV-Adaption sie derzeit arbeitet, stieg sofort nach Erscheinen auf die Sunday-Times-Bestsellerliste ein. Emma Jane Unsworth lebt in London.
EMMA JANE UNSWORTH
VIELLEICHT HATTEN ALL DIE THERAPEUTEN JA RECHT
ROMAN
Übersetzung aus dem Englischen von Viola Krauß
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischen Originalausgabe:»Adults«
Für die Originalausgabe: Copyright © 2020 by Emma Jane Unsworth
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2021/2022 by Bastei Lübbe AG, KölnCovergestaltung: SO YEAH Design, Gabi Braun unter Verwendung eines Motivs von © Elizabeth Dawson/shutterstock.comeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0412-0
luebbe.delesejury.de
Für meine Mum, Lorraine.Sail on, Silvergirl.
Hier sitze ich und warte auf sie, schlenkere unter der Bank mit den Beinen. Sie wird bald da sein, sie weiß, wo sie mich findet.
Adrenalin. Ich drücke meine Arme. Tippe die Zehen auf den Boden. Gott, wie ich das Warten hasse. Habe ich das all die Jahre gemacht? Auf sie warten? Vielleicht hatten all die Therapeuten ja recht. Vielleicht ist Psychotherapie ja doch nicht nur eine miese Bühnenshow, mit der man sich nicht auf Tour zu gehen traut.
Ich schaue mich um, sehe, wie die anderen plaudern und posieren und sich neu positionieren, sich an diesem kalten Freitag die Zeit vertreiben. Es sind nur noch ein paar Wochen bis Weihnachten, und die Stadt ist überall beleuchtet. Die Leute lächeln zu viel, trinken zu viel, wollen zu viel, tragen zu viel Glitzer. Nichts führt einem die Vergänglichkeit des Lebens mehr vor Augen als Glitzer.
Ich schaue Richtung Nordeingang, und genau in diesem Moment erblicke ich sie. Zerzaust sieht sie aus, zieht sich den Mantel über. Sie sucht die Bänke ab, entdeckt mich und erstarrt. Ich winke ihr zu. Sie neigt den Kopf zur Seite und zwinkert, als würde sie sich damit auf eine uralte Übereinkunft zwischen uns beiden berufen; als liefe das alles hier nach Drehbuch ab, als wäre es irgendein genialer Insiderwitz. Ich starre sie leidenschaftslos an, spiele nicht mit. Sie starrt zurück. Die Königin ist schachmatt.
Sie geht auf mich zu. Angezogen erkenne ich sie kaum. Was bei der eigenen Mutter eine ziemlich sonderbare Tatsache ist.
Es ist fünf nach zehn, und ich stehe am Frühstückstresen meines Co-Working-Space in Ostlondon an. Draußen ist es herbstlich, aber schwül, und ich habe zu viel an. Meine Achseln sind nass, und ich frage mich, ob ich mir in der Mittagspause nicht schnell ein neues T-Shirt kaufen soll. Gestern Abend habe ich das Dhal-Curry-Rezept aus einem billigen Veggie-Kochbuch ausprobiert, das ich mir in einem Charity-Shop gekauft habe, und ich sage euch, es war sensationell. Jetzt verfasse ich einen Post zu einem Croissant, der meine Persönlichkeit um einige entscheidende Facetten bereichern wird, so viel steht fest.
Ich starre auf mein Handy. Mit dem Foto bin ich einigermaßen zufrieden. Ich habe den Clarendon-Filter benutzt, um die Tiefen und Höhen zu akzentuieren, wodurch die helleren Bereiche heller und die dunkleren Bereiche dunkler erscheinen. Für den künstlerischen Touch habe ich ihm noch einen weißen Rahmen verpasst. Das Foto hat – soweit man das von Backwaren behaupten kann – etwas Überirdisches. Nur der Text erweist sich als äußerst mühsam. Mittlerweile habe ich derart viel daran herumgefrickelt, dass ich kein Gefühl mehr dafür habe, ob er Sinn ergibt. Das passiert mir ziemlich häufig. Ich grübele so oft über die Worte nach, mache mir Gedanken, wie sie bei den anderen ankommen, wie sie noch verbessert werden können, dass ihnen der ganze Schwung verloren geht. Ich kriege Lampenfieber. Für mich existiert jetzt nur noch dieses kleine Quäntchen menschlichen Daseins. Die restliche Welt ist verschwunden. Es ist wie in Alien III, als Ripley zum Alien sagt: »Du bist schon so lange in meinem Leben, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es ohne dich ist.« Früher dachte ich, damit sei das Muttersein gemeint. Heute weiß ich, dass es die sozialen Medien sind.
Ich starre auf den Bildschirm.
GEB+ÄCK, JUHU! #GEBÄCK
Ist das wirklich die perfekte Darstellung meiner gegenwärtigen Erfahrung?
Ich streiche das JUHU und das Komma.
GEBÄCK! #GEBÄCK
Ich starre erneut auf den Bildschirm. Ich versuche, zu meiner ursprünglichen Eingebung zurückzufinden; mich von ihr leiten zu lassen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Darum sollte es bei uns Mittdreißigern ja schließlich gehen: um die unablässige Befragung unser selbst. Lasst uns den Mut aufbringen, das zu ändern, was wir ändern können, und das Geld für die Therapeutin, die uns hilft, das zu akzeptieren, was wir nicht ändern können. Was möchte ich über Gebäck eigentlich wirklich sagen?Welche Gefühle löst Gebäck in mir aus? Warum ist es mir genau jetzt wichtig, dass ich das poste?
Ich lösche das Ausrufezeichen und starre auf die zwei übrig gebliebenen Wörter. Es handelt sich um ein und dasselbe Wort, nur dass eines davon mit Hashtag versehen ist. Wollen die beiden das Gleiche sagen oder jedes etwas anderes? Bringt die Wiederholung einen Mehrwert? Lohnt es sich, eines davon ohne Hashtag zu schreiben, damit die ursprüngliche Stimmung anhält, unberührt von digitalen Symbolen? Ich muss das unbedingt hinkriegen. Die Leute sollen auf den ersten Blick wissen, dass es hier um Gebäck in seiner reinsten Form geht. Um Urgebäck.
Ich lösche den Hashtag, und damit lautet der Beitrag nur noch:
GEBÄCK.
Mit oder ohne Punkt? Ein Punkt sieht immer entschieden und gebieterisch aus, aber es sieht auch irgendwie locker und lässig aus, wenn Mensch den Satz einfach so stehen lässt, so nach dem Motto: Hach, ich bin einfach so wahnsinnig busy mit meinem tollen Leben, dass ich noch nicht mal Zeit für Satzzeichen habe. Die klägliche Wahrheit aber lautet, dass ich es mit den Satzzeichen übertreibe, wenn ich gestresst/aufgeregt bin. An einem guten/schlechten Tag bringe ich es auf vier Ausrufezeichen. Ausrufezeichen sind die Satzzeichen der Wahl, um sich bei den Lesenden einzuschleimen. Mit ihnen wirken wir eifrig und zugänglich. Freu mich voll, mit dir zu reden! Mit dir!!!! Ich achte immer auf die Satzzeichen der anderen. Schickt mir ein Mensch eine Nachricht ohne Ausrufezeichen oder Küsschen, respektiere ich ihn. Und dann denke ich noch: Ist er deprimiert? Hab ich ihm irgendwas getan?
Manchmal schicken die Leute reihenweise Emojis, dann will ich sie einfach nur umarmen.
GEBÄCK
Perfekt.
Ja, ich denke, das sagt alles.
Hm.
Aber reicht das, echt?
Oh Gott. Ich weiß es. Einfach. Nicht.
»Was hätten Sie gerne?«
Panisch schaue ich auf. Ich bin an der Reihe.
»Äh …«
Ich schaue mir die Croissants auf der unebenen Steinplatte an. Und mir wird schlagartig klar, dass da etwas nicht stimmt. Ich bin mir ziemlich sicher – ich bin eine aufmerksame Beobachterin –, dass eines der Croissants von gestern ist. Es sieht starrer als der Rest aus, wie es da vorne so gekrümmt ist, als wäre es steinhart. Es hat eine deutlich andere Textur und Farbe als die anderen. Keine Ahnung, ob das auf ein höheres Alter hindeutet oder auf eine Bakterienverseuchung oder was. Wie konnte mir das nur entgehen? Ich weiß ganz genau, dass ich dieses Croissant kriegen werde, wenn ich eines bestelle.
Ich fühle mich gelähmt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin nicht imstande, ein bestimmtes Croissant zu verlangen, obwohl ich definitiv der Meinung bin, es zu verdienen. Ich kalkuliere das mal kurz. Vor mir liegen acht Croissants, und das mangelhafte ist eher auf meiner Seite als auf der Seite der Bedienung, also ist es eher unwahrscheinlich, dass ich in den sauren Apfel beißen muss. Ich atme aus. Ich beschließe, es darauf ankommen zu lassen. Diese Croissant-Erfahrung ist extrem wichtig für mich, denn sie ist … nun mal der Plan.
Ich spreche. »Ein Croissant, bitte.«
Die Bedienung nickt, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund schickt sie sich an, das CROISSANT DER VERDERBNIS aus dem vorderen Bereich zu nehmen. Ich rufe: »Oh, hey! Entschuldigung? Könnten Sie mir bitte irgendein anderes Croissant geben?« Ich sage es ängstlich, aber auch in dem unumstößlichen Wissen, dass ich das Recht auf meiner Seite habe.
Die Mundwinkel der Bedienung zucken. Langsam sagt sie: »Die sind … alle gleich.«
Ich sage: »Kann ich bitte einfach eins von hinten haben? Danke.«
Alle schauen mich an.
Sie spricht noch langsamer, als wäre ich eine Idiotin. »Aber … die sind alle gleich.«
»Das eine hat eine etwas andere Farbe, finde ich«, sage ich etwas leiser.
Sie wirft einen prüfenden Blick auf die Croissants. Auch der Typ hinter mir in der Schlange tritt nach vorn, um es sich anzuschauen. Der Barista wendet sich von seiner Gaggia ab und kommt rüber. Die Kassiererin. Alle schauen es sich an, und dann gaffen sie mich an.
»Hat mir nur irgendwie besser gefallen«, flüstere ich. »Nehmen Sie doch bitte einfach irgendeines.«
Sie lässt das Croissant in eine Papiertüte fallen, wobei sich der Boden ausbeult. Ich halte meine Karte an das Lesegerät und bete, dass es piept. Piep gefälligst, verdammtes Ding, piep, du verficktes Drecks-Kack-Ding.
Es piept. Ich stürme davon.
Ich renne aufs Damenklo, schleudere die Tüte in den Müll und heule eine Runde. Passt schon. Im WerkHaus heult andauernd irgendwer. Es gibt da diese schallisolierten Kabinen für private Telefongespräche im Empfangsbereich, aber im Grunde heulen sich die Leute dort einfach nur aus.
Als ich fertig bin mit Heulen, mache ich Pipi. Beim Abwischen achte ich wie immer darauf, ob Blut zu sehen ist.
Ich schaue auf mein Handy.
GEBÄCK.
Die Empfindung bleibt die gleiche, auch wenn sich die Realität anders dargestellt hat. Und auf die Empfindung kommt es schließlich an.
GEBÄCK.
Irgendwie ist es perfekt. Sachlich. So ganz hundert Prozent überzeugt bin ich aber noch nicht. Mir fällt etwas ein, das Suzy Brambles in ihrem »Ultimativen Insta-Guide« gesagt hat: »Nimm stets deinen ersten Entwurf.«
Ich ändere zurück zu:
GEBÄCK, JUHU! #GEBÄCK
Alles klar. Jetzt bin ich kurz davor, die Sache durchzuziehen. Jetzt braucht es nur noch einen letzten Blick von Kelly. Kelly ist meine älteste Freundin und die Social-Media-Redakteurin meines Vertrauens.
Schaust du hier bitte noch mal drauf, bevor ich es poste?
Hör auf, ich will nix mehr davon wissen, hab ich gesagt
Bitte
Jeden Tag bombardierst du mich damit, das macht mich irre. Nein
Gar nicht jeden Tag!
Fast jeden Tag, Alter
Bitte, heute ist sowieso schon alles ganz übel!!!! Ich hab gerade ein ramponiertes Croissant verkauft bekommen
Nein
Ich flehe dich an
Ich kann dieses Verhalten nicht gutheißen
Welches Verhalten???
Diesen Irrsinn. Das kann nicht gesund sein. Und nicht authentisch
Authentisch???
Neulich hast du in einem Post behauptet, wir wären zusammen aufgewachsen. Dabei haben wir uns mit 22 kennengelernt
War einfach die bessere Story! Außerdem stimmt es fast, weil wir beide im Norden aufgewachsen sind!
WTF
Charlie Chaplin hat auch mal nen Charlie-Chaplin-Doppelgänger-Wettbewerb verloren
Zweifaches WTF
Na, wir legen doch notgedrungen alle einen Filter über unser Leben, oder? Egal, was für ehrliche Menschen wir sind
Interpretiere bloß nicht zu viel rein in dein Problem. Das Leben ist kein Doppelgänger-Wettbewerb
Hab dir den Beitrag gerade geschickt. Bitte um kurzes Feedback
Fuck off
Sie wird drüberlesen. Ich weiß es. Sie weiß eh nichts mit sich anzufangen, bevor ihre Schicht an der Rezeption beginnt – außer sich Tutorials über das Entfernen von Mitessern anzuschauen, was ihr irgendwie das Gefühl zu geben scheint, das universelle Gleichgewicht sei wiederhergestellt.
Nach ein paar Minuten kommt ihre Antwort:
Alles gut. Weiß echt nicht, worüber du dir son Kopf machst
Danke dir X
Küsschen für sie! Hoffentlich kann sie mein »Danke dir« wirklich spüren. Meine an Liebreiz grenzende Galanterie. Ein paar Sekunden später schreibe ich ihr:
Hast du auch wirklich drüber nachgedacht und nicht einfach schnell was hingetippt?
Es kommt keine Antwort.
So ist Kelly manchmal. Macht komplett dicht. Richtig krass war es, als ich mit meinem Ex, Art, zusammenkam – in jenen aufregenden Zeiten heftigen Anbandelns – und sie meine Nachrichten an ihn checken sollte. Manchmal braucht es eben einfach eine zweite Meinung, oder? Wofür sind Freunde da?
Kelly stammt auch aus dem Norden. Aus Yorkshire. Sie die weiße Rose Yorks, ich die rote Rose Lancasters. Ein Engel ist sie für mich, allerdings hat sie angefangen, mich in aller Öffentlichkeit zu untergraben, was mir langsam auf die Nerven geht. Beispiel: Letzte Woche habe ich ein Foto von einer mit Laub bedeckten Parkbank gepostet, mit dem Text:
Herbst, du warst mir schon immer am liebsten
Und ihr Kommentar war:
Glaubst du, das macht dich zu einer komplexeren Persönlichkeit?
Einige Tage später habe ich die charmante Aussicht auf ein Feld gepostet, und sie kommentierte: Da ist nix zu sehen, Alter.
Nicht wirklich das, was man von einer guten Freundin erwarten würde. ABER – würde ich gefragt, wer mich am besten kennt, wer mich am meisten liebt, wen ich am meisten liebe –, nun, dann wäre die Antwort sonnenklar. Kelly fasziniert mich, so einfach ist das. Sie fasziniert mich. Wir haben uns vielleicht ein Stück weit auseinandergelebt, aber wir haben die Art von Freundschaft, die es verkraftet, wenn die andere gefühlsmäßig mal auf Abstand geht. Ganz locker und unverbindlich ist es zwischen uns. Wie bei einer offenen Beziehung.
Kelly hat einen Sohn, Sonny. Ich kenne die beiden seit zwölf Jahren, obwohl ich ihn genau genommen zuerst kennengelernt habe. 14 Jahre ist er jetzt alt. Kelly ist von ihrem Ex an der Uni schwanger geworden, mit dem sie schon bald nichts mehr anfangen konnte. Er hat inzwischen ein Kind mit einer anderen und ist ein hartgesottener Aktivist, der LKW blockiert. Kelly und er haben einmal sechs Wochen auf einem Baum ausgeharrt, während ihrer Schwangerschaft, und ungefähr zu dieser Zeit ist ihr wohl klar geworden, dass die Beziehung keine Zukunft hat. Wenn du in eine Tragetasche kacken musst und dich darüber streitest, wer mehr Snacks übrighat, weil es keinerlei elektronische Unterhaltung zum Zeitvertreib gibt, dann weißt du: In diesem Urlaub geht es um die Wurst. Aus ihrer Zeit als Anarchistin ist noch das Tattoo eines Sterns am Handgelenk übrig. (Zu einer Käseplatte hat sie allerdings nie Nein gesagt. So ist das bei den Anarchistinnen und Anarchisten – für kleine Annehmlichkeiten sind sie meist trotzdem noch empfänglich.)
Als ich Sonny vor ein paar Monaten das letzte Mal sah, sagte ich ihm, er solle sich gefälligst keine Mädels mit langen künstlichen Nägeln auf Instagram anschauen, weil die Pornostars nachahmen würden. Er meinte, das sei Nail-Shaming. Dann erzählte er mir, dass eine Freundin in den USA an einem Verkaufsautomaten aus Versehen den falschen Knopf gedrückt und die Pille danach bekommen habe, statt etwas zu trinken, was ich ihm also überhaupt erzählen wolle? Alle sind frustriert, weil wir uns auf einen totalitären Staat zubewegen – auf eine Welt, in der die Internetnutzung auf das Begaffen der glänzenden, teigigen Gesichter unserer nicht gewählten Oberhäupter beschränkt ist –, aber wenigstens wird das unsere Kids vor Pornos retten. Hat also alles sein Gutes.
Zu Kelly meinte ich, wir müssen größeren Respekt vor den sozialen Medien haben als die jüngeren Generationen, weil wir schließlich keine Digital Natives sind. Wir sind mit den Printmedien groß geworden. Dieser Wandel bedeutete einen riesigen kulturellen und psychologischen Umbruch für uns. Mit dem E-Mailen haben wir erst angefangen, als wir an der Uni waren. Und das Internet kann dir schon böse Streiche spielen. Einmal habe ich auf eBay ein Schreibpult bestellt und bekam dann ein minikleines für ein Puppenhaus geliefert. Und ich dachte, ich hätte mit 1,99 £ ein echtes Schnäppchen gemacht. Außerdem haben wir nicht von klein auf gelernt, vor der Kamera zu stehen. Das mussten wir alles nachholen, und zwar viel zu schnell. An den Schritt in Richtung tägliches (stündliches, unablässiges) Dokumentieren kann ich mich gut erinnern. Vor Jahren hat mich eine Freundin noch in den Wahnsinn getrieben, als sie auf unserer Wanderung die ganze Zeit haltmachte, um Fotos für ihr Facebook-Profil zu schießen. Ich wollte weiterlaufen, es war total frustrierend. Ich kam mir vor wie in einem Auto, das ständig ausgeht. Jetzt bin ich diejenige, die auf die nächste Klippe kraxelt, um Empfang zu haben.
Wo wir gerade davon reden.
Jetzt heißt es wieder Zähne zusammenbeißen. Ich füge einen Last-Minute-Impuls-Hashtag hinzu. Läuft!
#leidermieserservice
Ich lade das Bild hoch. Das Warten beginnt. Es ist wie mit dem Baum, der im Wald umfällt, und kein Mensch sieht es. Gibt es dann ein Geräusch? Wenn du etwas in den sozialen Medien postest und keine Likes bekommst, existierst du dann überhaupt? Ich habe berechnet, dass bei meiner Anzahl Follower ein Post dann erfolgreich ist, wenn er ungefähr zehn Likes pro Minute bringt. Trotzdem gibt es kein Patentrezept dafür – ich habe schon alles ausprobiert. Einmal habe ich sogar einen Tagesausflug nach Heptonstall unternommen, um das Grab von Sylvia Plath zu fotografieren (literarisch, tragisch, so viele Punkte auf der Liste abgehakt!), und das hat so viele Herzchen berührt, dass sich die 100 £ für die Zugfahrkarte dicke gelohnt haben. Früher habe ich Sachen um ihrer selbst willen gemacht, heute ist die Instagramability ein entscheidender Faktor.
Beinahe eine Minute um, und immer noch keine …
Doch! Ein Like! Zwei! Und drei und vier! Danke. Der Damm ist gebrochen, jetzt wird es sexy. »Megayummie« lautet ein Kommentar. Ich spiele mit dem Gedanken, ihn zu liken. Nur ist das Liken von Kommentaren eine echte Verpflichtung. Hast du einmal damit angefangen, musst du die Sache durchziehen und bei sämtlichen Kommentaren »Gefällt mir« klicken. Am besten fängst du also gar nicht erst damit an, das sieht außerdem weniger zwanghaft aus, weniger so, als würdest du alles überwachen. Hab das hier kurz gepostet und es gleich schon wieder vergessen! Was, glaubst du ernsthaft, ich hätte nichts Besseres zu tun, als ständig diese Nichtigkeit zu aktualisieren?
Ich hoffe auf irgendwelche Likes, aber im Grunde geht es mir um die Frauen, die ich im Internet gerade bewundere. Es geht schon seit ein paar Jahren in diese Richtung, inzwischen hat es sich jedoch verhärtet. Ich will, dass diese Frauen mehr von mir wollen. Ich hoffe auf einen Namen, der mir etwas bedeutet. Ich hoffe auf ein Zeichen. Es gibt so einige Leute, deren Aufmerksamkeit ich gerne hätte. Margot Ripkin. Buzzface Cruise. Wintering Marianne. Suzy Brambles. Die von Suzy Brambles vielleicht am allermeisten. Sie folgt mir nämlich neuerdings (seit zwei Tagen! Nachdem ich ihr schon jahrelang gefolgt bin), sodass ich nun eine Verbindung zwischen uns beiden spüre. Recht so. Eng miteinander verflochten sind wir.
Suzy Brambles. Oh, Suzy Brambles, mit deinem unfreundlichen Bob und deinem schwarzen Citroën DS, deinen Kickboxing-Tutorials und Mandelaugen und Lippen, als hättest du an einem zeppelinförmigen Eis gelutscht. Was kann einem an dir nicht gefallen? Mir gefällt es. Gefällt und gefällt und gefällt es. Der erste Beitrag, der mich verzückt hat, war ein verkohlter Maiskolben auf einem Grill am Strand mit der Bildunterschrift: The adventure is already inside you. Damals hatte ich noch nicht so viel Ahnung von Abenteuer, deshalb habe ich mich vom Maiskolben auf mehreren Ebenen angesprochen gefühlt. Heute Morgen hat Suzy Brambles in Dulwich Laub aufgewirbelt. So ein verspieltes Ding! Ich habe mir das Video schon fünf Mal angesehen. Suzy Brambles postet ausschließlich in Schwarz-Weiß. Das liegt an ihrer absoluten Integrität. Ich schaue mir das Video von ihr im Park noch einmal an. Mir fällt jedes Mal etwas Neues auf, das ich an Bildkomposition, Blickwinkel und Filter bewundern kann.
Ich schaue auf die Uhr. Fast elf. Wie ist das …
»Das Erste, was du morgens anschaust, und das Letzte, was du vor dem Schlafen anschaust, ist dieses Ding da.«
Wir lagen im Bett. Es war ungefähr eine Woche vor unserer Trennung. Während des Sex schaute ich auf mein Handy. Mittlerweile ist mir bewusst, dass sich das wohl als unhöflich auffassen lässt – als beleidigend vielleicht sogar. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte: »Hör auf.«
Ich hörte auf.
Er sagte: »Jenny, irgendwie habe ich nicht das Gefühl, als würdest du mir deine ganze Aufmerksamkeit schenken.«
»Doch, tue ich!«
»Nein. Es ist, als wärst du gar nicht hier, als wäre die eine Hälfte von dir ganz woanders.«
Das war sie auch. Eine Hälfte von mir war in Kopenhagen, wo es Suzy Brambles gerade ganz großartig ging. Das Tongeschirr in dem einen Lokal sah »zum Anbeißen« aus.
Art meinte: »Dieses ganze Online-Ding hat angefangen, total zwischen uns zu stehen.«
Beinahe hätte ich gesagt: »Ist ungeteilte Aufmerksamkeit beim Sex überhaupt notwendig?« Ist sie beim Essen doch auch nicht – und das ist ja wohl genauso wichtig wie Sex.
Ich schaute wieder auf mein Handy. Ich lächelte über Suzys Lächeln.
Art schob sich unter meinen Beinen hervor, setzte sich auf die Bettkante und zog sich das Kondom herunter. Er rieb sich das Gesicht und sagte: »Okay. Wir haben ein Problem.«
Ich kommentierte mit einem schlichten roten Herz-Emoji – der Klassiker; einfach … genug –, aktivierte den Schlafmodus und blickte ihn an. Art meinte: »Du hängst an dem Ding, wenn wir essen, du hängst an dem Ding, wenn wir fernsehen, du hängst an dem Ding, wenn wir spazieren gehen, und jetzt hängst du auch noch dadran, wenn wir Sex haben.«
»Es war aber gerade ein langsamer Part.«
»Es war Sex, Jenny. Kein Film.«
Ich blickte ihn an und versuchte es auf die niedliche Tour: »Manchmal ist es aber so wie im Kino.«
»Hmmmmmmm.«
Er zog es sehr lang, das Hmmm. Wie ein Türsummer oder eine im Glas gefangene Hornisse. Ich beobachtete, wie das Sonnenlicht an der Wand tanzte. Der Sommer war fast vorbei. Das Erste, was du morgens anschaust, und das Letzte, was du vor dem Schlafen anschaust. Es gab einmal eine Zeit – selbst in meinem Leben –, da wären diese Zeitfenster dem Liebsten vorbehalten gewesen.
Art meinte: »Bist du in irgendjemanden aus dem Internet verknallt?«
»Nein!«, antwortete ich. Was fast der Wahrheit entsprach.
Er sagte: »Mir ist da ein Zusammenhang aufgefallen: Je mehr du an deinem Handy hängst, desto weiter entfernst du dich von mir.«
Er sagte: »Ich komme gar nicht an dich ran. Du hängst mit großen Augen am Netz wie ein froher kleiner Roboter.«
Er sagte: »Nur dass du nicht froh bist.«
»Woher willst du wissen, dass ich nicht froh bin?«
»Weil du nie mit irgendwas zufrieden bist.«
Ich nahm seinen Penis in die Hand. »Vielleicht bin ich einfach so.«
zurück in den eigentlichen Büroraum. Alles Kreative hier – hauptsächlich Werbung und Medien. Hier gibt es eine Menge Linoleum. Ein Menge Dackel. Eine Menge echter Pflanzen, die wie Plastik aussehen wollen. Männer mit gut sichtbaren Taschenuhren, die sich über MacBook Airs abklatschen. Und du sorgst dich, was das wohl für die Evolution bedeuten mag.
Ich arbeite für ein Online-Magazin, The Foof, und es ist genauso furchtbar, wie es klingt. Meine Redakteurin, Mia, ist – blöderweise? Bewundernswerterweise? – in sozialer Hinsicht absolut furchtlos, was mich verdammt einschüchtert. Es ist ihr siebtes oder achtes Start-up, glaube ich. Art nannte sie eine »dämliche Stylerin« (nicht ins Gesicht). Ich will es ihr unbedingt recht machen, weil ich gefallsüchtig bin und mit Autoritätspersonen immer in eine Lehrerin-Schülerin-Dynamik gerate. Ihr solltet mich mal beim Abstrich sehen – da ist es, als würde ich der Frauenärztin meine supersaubere Vagina verkaufen wollen. Ich dachte, ich hätte Mia beleidigt, als ich ihr am Freitag erzählte, wie bescheuert ich Zahnbleaching-Gel finde, ohne zu ahnen, dass sie selbst welches benutzt (ich dachte, sie nuschelt wegen ihrer Antidepressiva) – doch dann hat sie Sonntag eines meiner Bilder geliked, und ich atmete erleichtert auf, weil ich wusste, dass alles in Ordnung ist. Samstag war nervenaufreibend – den Großteil davon habe ich damit zugebracht, mein Leben und meinen Selbstwert zu hinterfragen. Obwohl ich Mia nicht respektiere, habe ich Angst vor ihr, und beruflich betrachtet ist das am Ende etwas Gutes, weil ich sie beeindrucken möchte und deshalb alles gebe. Richtig leistungsstark bin ich nur bei Menschen, die ich beeindrucken möchte. Sonst säuft mir die Energie ab. Würde ich mich bei meiner Chefin tatsächlich wohlfühlen, brächte ich nur Schrott hervor. Leichter sozialer Terror: Das ist mein Antrieb.
The Foof hat hier ein ständiges Büro, mehr oder weniger jedenfalls. Die Rückwand entlang hängt in flauschigen rosaroten Buchstaben der Schriftzug Foof Towers. Er lässt sich bei Bedarf ganz leicht entfernen. Die Wand auch.
Ich begebe mich quer durch den Hauptraum an meinen Schreibtisch. Ich komme nicht jeden Tag, deshalb teile ich mir den Platz mit Gemma. Sie schreibt die Horoskope und die Produktbesprechungen und ist so fröhlich, dass ich sie schlagen will. (Sorry, du sollst nicht meinen, dass ich, nur weil ich was mit Medien mache, ein totaler Vollhonk bin.)
Ich setze mich und beginne, eine E-Mail zu verfassen, denn das tue ich immer nach einer unbefriedigenden sozialen Interaktion.
Betreff: Das Croissant
Sehr geehrte Frühstücksspezialistin, Königin der Körnerfresser,
du weißt genauso gut wie ich, dass dieses Croissant aus der Vorzeit stammt. Es ist von gestern übrig geblieben, deshalb wolltest du es mir andrehen. Dabei verdiene ich doch wohl ein frisches Croissant, oder etwa nicht, für diese 3,50 £? In den USA wäre eine derartige Widerspenstigkeit im Dienstleistungsgewerbe unvorstellbar. GIB MIR NÄCHSTES MAL GEFÄLLIGST EINFACH DAS CROISSANT, DAS ICH VERLANGE, DAS GEBIETET DER ANSTAND.
Mit freundlichen Grüßen
Jenny McLaine
The Foof (Kolumnistin)
es sei äußerst wichtig, Achtsamkeit in den Alltag zu integrieren. Alle paar Stunden steige ich da also mit ein, sicher ist sicher. Nachdem ich die E-Mail fertig geschrieben habe, nehme ich einen tiefen Atemzug und zähle auf Hindi bis zehn. Ich lasse mich sogar regelmäßig von einer App an meine Auszeit erinnern. Sie schreit »Take a break, Baby!« in einer Austin-Powers-Stimme (habe ich mir aus sechs verschiedenen Stimmen ausgesucht). Ein bisschen nervig zwar, aber es tut gut, zu wissen, dass sich um mich gekümmert wird.
Ich kontrolliere le status de mon croissant. Fünfunddreißig Likes. Lieber Herr im Himmel. Du machst Witze. Die Dreißiger sind unselige Zahlen, reden wir nicht drum herum.
Beim Überprüfen des Posts stelle ich fest, dass ich automatisch das WerkHaus getaggt habe, und auch wenn ich mit den morgendlichen Geschehnissen ganz und gar nicht glücklich bin, soll wegen mir bitte kein Mensch seinen Job verlieren. Mit meiner Mutter habe ich mir – mehrmals – Ein Inspektor kommt angeschaut. Ich weiß, wie sehr sich die Leute in der Gastronomie die Dinge zu Herzen nehmen können. Mein Leben ist ein Kriegsgebiet potenzieller Konsequenzen. Ich gehe zu Beitrag bearbeiten und entferne den Tag zu meinem Co-Working-Space. Zu spät! Einer aus dem WerkHaus – Joel von The Little Green Bento Den – hat einen Kommentar geschrieben:
War das die Muskelbepackte mit dem Unterbiss? Voll der Ork.
Scheiß Joel. Ich überlege, was zu tun ist. Suzy Brambles oder irgendwelche andere Prominenz soll auf keinen Fall denken, dass ich diese Gehässigkeiten gutheiße. Und in eine Diskussion mit Joel will ich auch nicht verwickelt werden, das kann Stunden dauern und meinen Puls auf 180 bringen. Mit Online-Streitereien habe ich oft genug mein halbes Gefühlsreservoir für den Tag verplempert. Außerdem gilt es, eine Kolumne zu schreiben. Das Digitale steht nämlich nicht unbedingt im Widerspruch zum Leiblichen; das alles hat sehr reale Auswirkungen auf mich.
Ich antworte Joel mit:
Wie immer sorgst du für das Miso in Misogynie, verstehe.
Bitteschön. Smart und endgültig. Jegliche Folgediskussion im Keim erstickt. Jetzt können wir uns alle entspannen.
Ich stiere auf meinen Kommentar.
Oh Gott. Der ist überhaupt nicht smart. Er ist übertrieben und ungeschickt, wie alle meine Kommentare. Gehört Miso überhaupt in eine Bento-Box? Scheißleben!
Ich lösche den Kommentar und Joels Kommentar, und gerade, als ich es bereue, Joels Kommentar gelöscht zu haben (es sieht feige aus, etwas kommentarlos zu löschen, und er ist die Sorte Arschloch, die es bemerkt und noch mal kommentiert) – lege ich den Kopf in die Hände.
»MORGEN, GESCHÄTZTE WOKE BELEGSCHAFT!«
Ich schaue auf. Mia thront über mir. Sie trägt ein blendend weißes Kleid mit einem riesigen Rollkragen, der die untere Hälfte ihres Gesichts verdeckt. Sie sieht aus wie ein viktorianischer Astronaut. Mit einer Boston-Terrier-Dame im Schlepptau. Simone hat einmal meine Initialen absolut perfekt auf den Büroboden geschissen. Nennt mich paranoid, aber es waren eindeutig ein »J« und ein »M«. Wenn das mal keine tiefere Bedeutung hatte. Was ich sagen will: Wenn der Hund dich verurteilt, weißt du, dass sein Frauchen dich verurteilt. Keine Sprachkenntnisse, und trotzdem eine teuflisch gute Kritikerin, diese Simone! Et cetera.
»Wie geht es meinem liebsten Mimöschen?«, meint Mia mit einer Stimme, die mir direkt ins Mark geht. Sie hat ein kurkumafarbiges Getränk in den Händen und eine zerfledderte Vogue.
»Ich hasse es, wenn du mich so nennst.«
»Sei kein Hater, Bébé. Im Netz sind gerade alle ganz heiß auf eine neue Drohne, die auch als Clutch dient. Beim Ausgehen wirfst du sie einfach in die Luft, und dann nimmt sie dich aus jeder Perspektive auf.«
Ich könnte Mia echt abknallen, direkt ins Gesicht könnte ich ihr schießen. Wenn mir ihre Meinung nicht so wichtig wäre.
»Ich brauche kein Andenken aus der Luft daran, wie schrecklich mein Abend war«, sagt Vivienne, die Kulturredakteurin. Vivienne ist 1,83 Meter groß und drahtig, und über ihre Armmuskeln spannen sich dicke Venen. Sie sieht aus wie die Art Frau, die eine Menge Zeit damit verbracht hat, an spanischen Stränden zu hocken und zu quarzen. Ich bin überzeugt, sie hat schon mal einen Menschen getötet. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals lächeln gesehen zu haben, und sie ist nirgends in den sozialen Medien vertreten – was sie umso bedrohlicher macht und umso heldenhafter. Vivienne und Mia sind schon seit dem Modedesign-Studium befreundet. Und es ist offensichtlich, dass Mia diejenige mit Geld und Ehrgeiz und Vivienne die Schmarotzerin mit Hirn ist. Vivienne schert sich nicht keinen Scheißdreck; sie schert sich minus Scheißdreck. Jedes Mal, wenn ich in ihrer Nähe bin, möchte ich ihr zuflüstern: »Bringst du mir bei, wie man eine Artischocke isst, Vivienne?«
»Muss ich dich einweisen lassen, Viv?«, entgegnet Mia. »Das ist die Teenie-Perspektive. Von oben sieht jede wie ein TeenieMädchen aus. Wenn du ein ganz klein wenig an der Popkultur partizipieren würdest, wüsstest du das.«
»Ich partizipiere nicht«, meint Vivienne. »Ich ziehe die Strippen.«
»Wie dem auch sei, ich habe ein Muster dieser Drohnen-Clutch bestellt«, sagt Mia. »Und die werde ich im Namen des Investigativjournalismus ausprobieren.«
Vivienne sagt: »Da wir gerade davon reden: Ich werde heute Mittag das neue israelische Restaurant bei King’s Cross okkupieren. Kann sein, dass ich ein paar Tage weg bin.«
»Jenny!«, sagt Mia, als ob ihr gerade mein Name wieder eingefallen wäre. »Wie war dein Wochenende?«
»Stressig! Paarmal was trinken gewesen, auf einer Vernissage gewesen und so.«
»Ja, hab dein Bild gesehen.«
»Oh, hast du? Super, danke«, sprudelt es aus mir hervor.
»Was war bei dir so los?«
Sie inspiziert mein Gesicht. »Ich bin … essen gegangen … und ich weiß, dass du das auch weißt, weil du ein paar andere Fotos geliked hast, die ungefähr zur selben Zeit hochgeladen worden sind. Also, warum hast du meins nicht geliked?«
Vivienne ruckelt ihren Nacken zurecht. Sie weiß, wie der Hase läuft. Sie sagt dem Hasen, wie er zu laufen hat.
»Ich hab das wohl irgendwie … verpasst? Du weißt ja, wie Insta gerne mal alles wahllos umordnet.«
»Hmm.«
In Wahrheit sieht es so aus, dass ich jeden fünften oder sechsten Beitrag von Mia like – nicht unbedingt, weil sie mir wirklich gefallen, sondern um irgendwie Hallo zu sagen und sie an meine Existenz zu erinnern. Ich will nicht fanatisch wirken. Ich dachte, ich würde meine Zuneigung ganz gut managen. Offensichtlich wohl doch nicht.
»Wie geht’s Art denn so?«, möchte Mia wissen.
»Gut! Hat viel zu tun.«
Sie faltet die Hände. Jetzt kommt’s wieder.
Sagen wir es so: Art hat eine Menge Fans. Eine Menge Damen ab einem gewissen Alter. Ich weiß, es ist nicht besonders feministisch, aber dieses Phänomen bringt meine schlimmste Seite zum Vorschein. Bei Ausstellungen, Premieren, Konzerten … Er ist der sexy kahl rasierte Fotograf. Der scharfe Gangster. Ich sehe es in ihren Augen: Er ist eine willkommene regelmäßige Ablenkung von ihren nicht Pussy-leckenden Ehemännern.
»Schafft er es zu unserem Umtrunk am Freitag?«
»Ich weiß es nicht genau.«
»Nicht mal auf einen winzig kleinen?«
»Einen winzig kleinen Drink?«
»Ja.«
»Ich frage ihn.«
»Ja, bitte.«
»Werde ich.«
»Danke dir.«
»Also«, fährt Mia fort. »Wie soll die Kolumne diese Woche aussehen?«
»Das Zusammenwohnen mit Frauen versus das Zusammenwohnen mit Männern. Teils ein nostalgischer Beitrag über meine Uni-Zeit.«
»Pikante Anekdoten, schonungslose Einsichten, abgerundet mit den Weisheiten einer Frau von nebenan?«
»Geht alles klar, yep!«
Sie zögert.
»Mach’s aber eher laut als leise, ja?«
»Da muss mehr Pep rein«, meint Vivienne. »Ist sonst total lame. Wie wenn jemand in der Sonntagsbeilage über Schuhe jammert.«
Mia sagt: »Na, na. Aber, ja, Jenny, es stimmt. Wir sind alle zu Tode gelangweilt von deiner Verletzlichkeit. Heb die für deine Therapeutin auf. Wir brauchen starke Stimmen, keine schwachen Hilferufe. Wir brauchen Wildheit. Mut. Gebrüll aus dem Lady-Dschungel, kein Gewinsel. Wir befinden uns an der Feminismusfront. Es gibt viel zu tun. Denk an den Namen deiner Kolumne: ›DIE ANSTRENGENDE MODERNE FRAU‹.«
Sie zieht von dannen, dreht sich aber noch mal um und sagt: »Bloß keine Hemmungen, lautet die Parole. Wie sieht das Zusammenleben von Frauen wirklich aus? Steck dieser weiblichen Utopie eine Granate in den Arsch.«
»Alles klar.«
Simone folgt Mia und bedenkt mich noch mit einem heftigen Seitenblick.
Vivienne geht in die Teeküche und fängt an, mit der Kaffeemaschine zu ringen. »Warum kaust du an deinen Fingern rum?«, fragt sie mich. »Angst?«
»Nein, ich finde sie einfach nur scheißlecker.«
Ich schaue noch einmal nach, wie viele Likes ich habe (zweiundvierzig, Zeit, sich umzubringen), und beginne mit dem Schreiben.
Etwa alle zwei Minuten höre ich auf zu tippen und lasse meine Gedanken schnelle Loopings drehen. Das, das, das, das. Zurück an die Arbeit. Ein paar Sätze. Und auf in die nächsten Runden. Das, das, das. Mir platzt gleich der Schädel.
Das denke ich:
Ich tue, was ich tun soll: schreiben. Oh, gar nicht übel. Wenn ich mich konzentriere, kriege ich einen ordentlichen Satz hin – nein, halt, er ist schrecklich, warum bin ich so schrecklich? Bin ich schrecklich, weil ich einmal mit meinem Kumpel geknutscht habe, obwohl ich in einer Beziehung war, weil ich unfähig bin, platonische heterosexuelle Freundschaft von einer gemeinsamen Basis für Geschlechtsverkehr zu trennen? Oh, und Politik ist auch so ein Ding! Ich sollte mehr Ahnung von Politik haben. Ich werde ein paar politische Dinge liken, damit die Leute denken, ich hätte Ahnung davon. Oder bin ich deshalb so schrecklich, weil ich einmal eine Zeile eines eigenen Gedichts getwittert habe, nachdem ich die ganze Nacht auf gewesen war, und einer geantwortet hat: Zieh ab und zu mal deinen Kopf aus dem Arsch, und er der Bruder eines Typen war, mit dem ich mal was hatte? Nein, ich bin schrecklich, weil einer mal – ohne direkten Bezug – eine Kolumne von mir kommentiert hat mit: DU BESITZT NULL INTEGRITÄT. Ich bin besessen von der Person, die das geschrieben hat. Wie kann sie es wagen, so richtigzuliegen? Und dann war es noch der Kommentar ganz oben, also wird es für immer das Erste sein, was unter meinem Beitrag steht – unfassbar, dass sich der aus rechtlichen Gründen nicht löschen lässt. Bah, ist diese Frau mit ihren Selbstfürsorge-Haikus furchtbar. Ihr Podcast ist in den Charts gerade auf Nummer zwei. Ich sollte auch einen Podcast machen. Bloß worüber? Politik vielleicht. Politik für Leute, die nichts von Politik verstehen vielleicht. So wie ich. Ich bin EINE VON EUCH. Ich muss einfach nur die Zeit dafür finden. Ich weiß wirklich nicht, wo die anderen die Zeit hernehmen. Ich habe noch nicht mal Zeit, diesen Satz zu …
Mein Handy gibt einen Ton von sich, ich stürze mich auf die neue Nachricht.
Es ist eine meiner Untermieterinnen. Sid.
Hey, hast du die halbe Avocado gesehen, die im Kühlschrank war? x
Ich bekomme jeden Tag solche Mikroaggressionen von ihr. Ich antworte:
Ja, hab ich zum Frühstück gegessen. Dachte, das wäre ok, weil du letzte Woche mein halbes Sauerteigbrot gefuttert hast x
Das war nicht ich, das war Jonah, wie du weißt, ernähre ich mich glutenfrei x
Er hat aber die Nacht in deinem Zimmer verbracht x
Er ist ein eigenständiger Mensch. Bin ich für seine Taten verantwortlich? x
Gut, ich kaufe dir eine neue Avocado, eine ganze x
Das nützt mir jetzt wenig, oder? Egal. Danke, dass du sie ersetzt x
Ich sage mir die ganze Zeit, dass diese Untermieterei nur für den Übergang ist, dabei habe ich keine Ahnung, wie ich es mir jemals leisten soll, in diesem Haus allein zu wohnen. Wahrscheinlich muss ich einfach noch mehr arbeiten. Ich sollte so schrägstrichmäßig arbeiten. Journalistin/Podcasterin/Politikerin. Politikerin zu sein kann ja wohl nicht so schwer sein. Heutzutage stümpern die doch eh alle rum und treten zurück. Stümpern und zurücktreten kann ich auch! Besonders gegen Bares. Ich werde darüber noch mal nachdenken, wenn ich mehr Zeit habe. Momentan habe ich drei Untermieterinnen: Sid, Frances und Moon. Sie sind alle Anfang zwanzig, das gibt mir ein super Gefühl. Wenn ich abends heimkomme, belagern sie meistens das Wohnzimmer. Neulich waren sie auf einem ganztägigen Festival in Victoria Park gewesen. Wie sie da so eingewickelt auf dem Sofa lagen, blondiert und mit Federschmuck, sahen sie aus wie eine schräge Feen-Gang. Böse Feen, die Babys töten. Diese Art Feen.
Mia kommt zu mir rüber. Sie hat meine Kolumne ausgedruckt.
»Na, sie wird zwar keine Revolution entfachen«, sagt sie. »Aber vielleicht entzündet sie die ein oder andere Fackel in ein paar ungebildeten Provinznestern. Also, hast du irgendwelche Fotos aus dieser Zeit?«
»Ich kann welche ausgraben«, antworte ich.
»Wunderbar. Und immer schön halal.«
Ich blicke meine nächste Sitznachbarin verwirrt an. Sie flüstert: »Soll eine tolle neue Redewendung sein. Ähnlich wie koscher.«
Ich nicke Mia zu. Sie macht eine Gettofaust und geht davon.
Ich hole meinen Laptop hervor und beginne, meine alten eingescannten Fotos durchzugehen, lande aber bei den Fotos von mir und Art. Bei einem Foto von meiner Mutter und Art in einer Bar bleibe ich hängen. Sie haben sich gegenseitig den Arm um die Schulter gelegt. Ich weiß noch, wie sie an diesem Abend hineingeplatzt ist – in Stöckelschuhen – und geschrien hat (fairerweise muss ich sagen, dass sie immer schreit – oder nein, sie spricht laut und deutlich, wie eine Schauspielerin): »Ich muss mich unbedingt setzen – meine VERFICKTEN FÜSSE bringen mich um.« Die ganze Bar glotzte sie an – was natürlich ihre Absicht war.
Art fand sie toll. Angeber, die beiden.
»Du hast den gleichen Witz wie sie«, hat Art mehr als einmal gesagt.
Ich persönlich gehe jedoch davon aus, dass der Apfel ein bisschen weiter weg vom Witzestamm gefallen, ein gutes Stück über das Witzefeld gerollt und schließlich am Fuße des Witzegipfels zum Liegen gekommen ist.
Wie dem auch sei – an diesem Abend war sie unglaublich nett zu ihm. Zu nett. Sie war noch nie zu irgendwem, den ich ihr vorgestellt habe, nett gewesen. Aber an Art klebte sie von Anfang an regelrecht dran. Als er auf die Toilette ging, meinte ich zu ihr: »Du scheinst … ihm unbedingt gefallen zu wollen. Ist doch sonst nicht deine Art.«
Schließlich hat sie unzählige Male zu mir gesagt: Darling, welche Frau braucht einen Mann, wenn sie ein freistehendes Haus, einen Personal Trainer und einen Teeautomaten hat?
»Was meinst du mit: Ist doch sonst nicht deine Art?« Sie setzte eine Unschuldsmiene auf. Ich eine höhnische. »Zu meinen Freunden warst du sonst immer total unhöflich.«
»Mir gefällt seine Energie. Sie ergänzt deine ganz gut. Und meine.«
Ich lehnte mich zurück. »Willst du dich etwa an ihn ranschmeißen? Weil, wenn das der Fall ist, dann steuerst du auf ein grauenhaftes Klischee zu.«
»Pah, haha! An ihn ranschmeißen – was für eine Vorstellung.«
»Du hast dich tatsächlich eben als ›Teenie-Mutter‹ bezeichnet. Genau das waren deine Worte.«
»Ich glaube nur, dass er gut für dich ist. Mehr nicht.«
»Ich bin gut, so wie ich bin. Mich muss niemand besser machen.«
»Das weiß ich doch. Aber ich weiß auch, wie …«
»Wie was?«
»Wie man sich manchmal fühlt.«
Damit meinte sie wohl »einsam«, dachte ich, wollte sie aber nicht drängen, außerdem würde Art gleich zurück sein. Doch wie sollte sich diese Frau einsam fühlen, wo sie doch ständig von Geisterstimmen belehrt und belästigt wird, die in ihren Kopf einfallen wie wilde Kleinkinder, so behauptet sie zumindest. Einmal habe ich sie gefragt, wie sie es schafft, abzuschalten. Daraufhin zwinkerte sie und prostete mir mit ihrem Glas Gin zu.
Sie legte mir die Hand auf den Arm. »Aber du musst mit ihm seine Jugend durchforsten. Lass ihn nicht ausweichen. Lass nicht zu, dass seine eigenen … toxischen Erfahrungen ihm im Weg stehen bei … Erfahrungen mit dir.«
»Danke. Aber ich brauche keine Beziehungsratschläge von einer Frau, die seit den Neunzigern keine Beziehung mehr hatte.«
»Na, und wie nennst du das hier?«
»Was denn?«, fragte ich verwirrt.
Sie wedelte zwischen uns beiden mit der Hand hin und her.
»Du und ich? Ha! Ich meine eine richtige Beziehung. Eine Romanze.«
»Eine Romanze. Hilfe.«
Ein paar Beziehungen hatte sie allerdings schon, vor vielen Jahren – und in die hat sie jedenfalls genügend Gefühle investiert, um eifersüchtig zu sein. Habt ihr’s bequem? Dann fange ich jetzt einfach mal an.
Vor langer Zeit, als die Liebe noch analog war, kannte meine Mutter einen Mann namens Roger. Roger, der Theaterproduzent, lautet sein richtiger Titel. Und der muss bei Männern wie ihm definitiv verwendet werden, sonst taugen sie nichts. Wie die meisten Männer meiner Mutter war Roger verheiratet und lebte in London, war aber beruflich viel unterwegs. Als er zum ersten Mal bei uns übernachtete, kam ich runter und täuschte Kopfschmerzen und Durst vor, Fiebrigkeit (vor Neugier). Ich war dreizehn.
Sie war gerade in der Küche und bereitete irgendeinen kühlen Longdrink zu, für ihren heißen Typen.
Bei meinem weiß gekleideten Anblick im Türrahmen fing er an: »Oh, hallo. Du bist bestimmt Jenny.«
Ich nickte und nahm am Sofaende Platz, neben der geschwungenen Kobralampe, die zu den Lieblingsstücken meiner Mutter gehörte. Ich lächelte Roger erwartungsvoll an. Ich hatte noch so viel zu lernen. Mir gefielen seine Arme in dem Kurzarmshirt. Ich war noch in einem Alter, in dem ich Muskeln vertraute.
»Wie alt bist du?«, wollte ich wissen.
»Vierzig.«
»Wow.« Wie wahnsinnig, wie unerreichbar alt. Er sah klug und reich aus und so, als ob er schon viel rumgekommen wäre. Ich hingegen war noch nicht mal aus der Nachbarschaft herausgekommen. Ich zog die Füße hoch und verschränkte die Beine so, dass sie eine Raute bildeten – mit freundlichem Gruß an Roger und alle aufregenden Männer dieser Erde!
Ich hörte die Gläser in ihren Händen klingeln. Ich drehte mich nicht um. Ich saß, die Augen auf Roger geheftet, da, wartete, zählte. Zwei Sekunden, drei. »Wie viel Uhr haben wir, Fräulein?« Ihre Hände umklammerten meine Schultern und schoben mich in den Flur.
»Du bist zu alt, um so dazusitzen.«
Sie wollte mich zum Weinen bringen. Ich wollte losjubeln. Vermutlich, weil ich das Gefühl hatte, dass wir endlich kurz vor etwas Echtem standen. Mit ihrer Wut beschützte sie mich nicht mehr – wie wenn ich früher zu nah an die Straße gerannt oder in Geschäften verloren gegangen war. In ihren Augen war neben der Wut auch Angst zu sehen, aber ich erkannte noch ein drittes Gefühl – eines, mit dem sie sich nicht sonderlich wohlfühlte, das sie aber nicht unterdrücken konnte. Aha! Aha haha! Oh, die erbarmungslosen Erleuchtungen des Kindes, mit denen es seiner Grenzwächterin entgegentritt. Sie war mein Endmonster, die Hürde zwischen mir und einem höheren Level; einer Welt draußen; und ich würde sie irgendwann besiegen, das wusste sie. Diese goldenen Wachstumsschübe – sie kommen wie die Seefahrer, geben alles, nehmen alles.
Und eines Tages kam Roger nicht mehr.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Die Sache hat ihren Lauf genommen«, gab meine Mutter zur Antwort. »Wie es alle Beziehungen mit Männern tun sollten.«
Ich suchte in ihren Augen nach der Lüge. Sie starrte zurück, wie sie es immer tat, mit leicht verengten Augen. Ich habe ihr schon so oft in die Augen geschaut, in die echten und in die auf Fotos, um mich selbst zurück in die Vergangenheit zu transportieren. Und wie sieht es mit ihrer Vergangenheit aus?