Vier zauberhafte Schwestern und die geheimnisvollen Zwillinge - Sheridan Winn - E-Book

Vier zauberhafte Schwestern und die geheimnisvollen Zwillinge E-Book

Sheridan Winn

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Beschreibung

Flame, Marina, Flora und Sky freuen sich schon auf die Ferien, aber noch ist an Erholung nicht zu denken. Die Zwillinge Simon und Oliver aus Floras Jahrgang verhalten sich nämlich sehr merkwürdig. Was wissen sie über das verwüstete Büro des Schulleiters? Und haben sie etwas mit den Wieseln zu tun, die plötzlich in der Schule auftauchen? Die Schwestern müssen all ihre magischen Kräfte aufbieten, um den Jungen auf die Schliche zu kommen. Denn nicht nur das große Schulkonzert ist in Gefahr – auch eine der Schwestern gerät in den Bann der geheimnisvollen Zwillinge … Das achte spannende Abenteuer für alle Fans und Neueinsteiger

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Sheridan Winn

Vier zauberhafte Schwestern und die geheimnisvollen Zwillinge

Aus dem Englischen von Katrin Weingran

Mit Vignetten von Franziska Harvey

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungFamilienstammbaumMontag, 1. Dezember Das Büro des DirektorsDienstag, 2. Dezember Flora wird zum Direktor gerufenDienstag, 2. Dezember SchwesternMittwoch, 3. Dezember Angesengte AugenbrauenMittwoch, 3. Dezember Der SturmDonnerstag, 4. Dezember VorbereitungenDonnerstag, 4. Dezember Der Kriegstanz der WieselDonnerstag, 4. Dezember Diese Jungs sind gefährlich!Freitag, 5. Dezember Die BeobachterSamstag, 6. Dezember Grandmas FrüchtebrotSamstag, 6. Dezember Im TurmSamstag, 6. Dezember Eine schwarze StundeSamstag, 6. Dezember Der FuchsMontag, 8. Dezember In der SchuleDienstag, 9. Dezember JungsMittwoch, 10. Dezember Das KästchenMittwoch, 10. Dezember Das KonzertMittwoch, 10. Dezember KäsetoastDonnerstag, 11. Dezember In Gefahr!Freitag, 12. Dezember Die Büchse der PandoraFreitag, 12. Dezember Das DingSamstag, 13. Dezember Ein Samstag auf Cantrip TowersDanksagung

Für meine Enkelin Georgie

Montag, 1. DezemberDas Büro des Direktors

Es war die Art, wie sich die beiden Jungs bewegten, die ihre Aufmerksamkeit erweckte. Es stach ihr selbst in der hereinbrechenden Dunkelheit dieses Dezembernachmittags ins Auge. Der raumgreifende, springende Gang erinnerte sie an die Art, wie Marder hüpfen. Zwillinge. Zwei Jungen, klein für ihr Alter, mit sandfarbenem Haar, liefen so dicht am Naturwissenschaftstrakt entlang, dass sie beinah die Wand streiften. Sie waren ungefähr zehn Meter entfernt, als sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Ihre Augen wurden schmal, weil sie … ja was eigentlich wahrnahm? Eine Warnung? Etwas war merkwürdig an diesen Jungen, etwas, das sie in Erfahrung bringen musste. Den Instrumentenkasten fest umklammernd, wandte sie sich um und folgte ihnen.

Simon und Oliver waren im September an die Drysdale gewechselt und in ihrem Jahrgang. Die seltsam aussehenden Jungen, die mit keiner Menschenseele sprachen, außer miteinander, waren bei allen das Thema gewesen. Es hieß, sie wären sehr intelligent. Den Blick auf ihre Rücken geheftet, wandte Flora sich um, so als müsse sie zufällig ebenfalls in diese Richtung – was nicht stimmte. Ihr Cellolehrer erwartete sie im Musiktrakt, und sie würde zu spät zum Unterricht kommen, aber es kribbelte im Nacken von Flora Cantrip.

Die Zwillinge bogen vor ihr um die Ecke auf den Schulhof. Sie blieb stehen – es wäre zu offensichtlich gewesen, ihnen gleich zu folgen –, zählte bis drei und ging dann ebenfalls um die Ecke. Der Schulhof war leer. Kein Junge weit und breit. Sie hatten sich in Luft aufgelöst. Es war überhaupt niemand da.

Flora stand der Mund offen. Also das war wirklich seltsam.

Sie drehte sich langsam um die eigene Achse, suchte die asphaltierte Fläche in der Mitte des Schulcampus ab. Die Zwillinge konnten den Hof – gute zweihundert Meter in jede Richtung – in dieser kurzen Zeit nicht überquert haben. Flora hätte sie irgendwo unter den hohen Laternen entdecken müssen. Gegenüber, auf der Südseite des Hofs, lag die Straße, und dort waren sie nicht. Auf der Ostseite, dreihundert Meter entfernt, befand sich der Speisesaal. Dort wären sie nicht hineingegangen, weil er geschlossen war. Es hätte sein können, dass sie im Naturwissenschaftstrakt zu ihrer Linken verschwunden waren, aber der Eingang lag hundert Meter entfernt, und sie war kurz hinter ihnen gewesen. Vielleicht trugen sie ihre raumgreifenden Schritte schneller voran, als es Flora klar gewesen war.

Nein. Sie spürte, dass die Jungen nicht im Naturwissenschaftstrakt waren, und wandte sich nach rechts. Dort, auf der Westseite des Hofes, befand sich das Verwaltungsgebäude mit dem Büro des Schuldirektors und dem Lehrerzimmer. Bis zur Eingangstür waren es ungefähr fünfzig Meter, schätzte sie. Vielleicht hatten die Zwillinge einen Termin mit dem Direktor oder einem der Lehrer, doch selbst falls dem so gewesen wäre: wie waren sie ins Gebäude gekommen, ohne dass sie sie gesehen hatte? Während Flora die Tür noch grübelnd anstarrte, öffnete sie sich, und zwei Lehrer kamen heraus. Sie warfen ihr einen kurzen Blick zu, waren aber ins Gespräch vertieft und liefen, ohne anzuhalten, weiter.

Flora spürte, wie ihre Brust eng wurde. Ihr Nacken kribbelte erneut. Etwas stimmte nicht. Sie fühlte es.

Ich kann nicht einfach hier stehen bleiben. Ich muss etwas tun, dachte sie und ging auf die Tür zu.

In der kalten Luft erhaschte sie den leisesten Hauch eines Geruchs. Einen beißenden, moschusartigen Geruch. Flora erkannte ihn sofort. Sie schnupperte, erhaschte den Geruch erneut. Zweifellos ein Marder – oder auch ein Wiesel. Sie hatte diesen speziellen Duft auf Cantrip Towers gerochen, als eine Wieselfamilie an ihr vorbei ins Wäldchen gerannt war. Was führten diese Jungs im Schilde? Hatten sie Tiere mit in die Schule gebracht und sie hier freigelassen?

Flora blieb vor der Tür des Verwaltungsgebäudes stehen und warf einen Blick auf die Uhr. Mist, sie war schon zu spät dran für ihre Cellostunde. Was machte sie hier? Die Haare in ihrem Nacken standen ihr nun dermaßen zu Berge, dass sie ihn sich unwillkürlich rieb, was aber nichts brachte. Sie kannte dieses Gefühl. Es handelte sich um ihre Intuition, und sie hatte gelernt, ihr besser nicht zu misstrauen. Etwas warnte sie, laut und deutlich.

Im nächsten Moment wurde Flora wie von einer unsichtbaren Macht vorwärtsgezogen. Sie war versucht, ihre Erdmagie zu nutzen, um sich im Boden zu verankern, bis die unsichtbare Macht von ihr abließ, aber die Neugier siegte. Sie wollte wissen, wohin die Zwillinge verschwunden waren und warum.

Flora machte einen Schritt und öffnete die Gebäudetür. Sie rechnete damit, die Planke – so nannten die Schüler der Drysdale die furchteinflößende Sekretärin des Direktors – in ihrem Vorzimmer am Eingang zu sehen. Was sollte sie sagen, wenn die große Frau ihren stechenden Blick auf sie richtete und sie fragte, was sie wollte? Sie hatte keine Ahnung. Flora drückte ihren Instrumentenkoffer noch etwas fester an sich, während ihr die Gedanken durch den Kopf wirbelten. Jetzt kam es darauf an, sich rasch etwas einfallen zu lassen. Das Verwaltungsgebäude lag schweigend da. Es schien völlig verlassen zu sein. Wieder fing Flora einen Hauch von Moschus auf. Dem Geruch folgend lief sie am leeren Büro der Planke vorbei den Flur entlang.

An der ersten Tür auf der linken Seite stand auf einer kleinen Messingtafel: Schuldirektor. Die Tür war verschlossen, aber der Geruch drang unter dem Türspalt hervor. Sie blieb stehen. Waren die Zwillinge dort drin? Sie mussten es sein und die Tiere auch. Flora sah sich um, dann legte sie ein Ohr an die Tür und lauschte. Geraschel. Jemand oder etwas bewegte sich im Zimmer. Mit klopfendem Herzen stand sie wie angewurzelt da.

»Flora Cantrip, was machst du da?«, erschallte die Stimme der Planke hinter ihr.

Flora fuhr auf dem Absatz herum. Sie blickte zu der großen Frau hoch und keuchte auf. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie wie hypnotisiert von den Haaren der Planke, die ganz oben auf dem Kopf zu einem wirren Knoten aufgetürmt waren. Mit der Frisur wirkte sie noch größer, als sie ohnehin schon war. Dann bemerkte Flora ihre Zähne, die braun und schief waren. Zu guter Letzt registrierte sie die Augen der Planke, die aussahen wie kleine schwarze Perlen.

»Ich höre?«

»Ich … ich wollte den Direktor sprechen.«

»Warum bist du nicht zuerst zu mir gekommen? Du kannst nicht einfach hier reinmarschieren. Und man lauscht nicht an der Tür des Direktors. Es gibt schließlich Regeln.«

»Entschuldigung. Mrs … äh …« Wie lautete ihr richtiger Name noch gleich? »Entschuldigung, Mrs Thorogood. Das war mir nicht klar. In der Grundschule war es anders.«

»Ihr durftet in der Grundschule an den Türen lauschen?«

»Nein, nein, das habe ich nicht gemeint.«

Die Planke hob eine Braue. Ihre kohlrabenschwarzen Augen glühten.

Flora blinzelte und warf ihr ein kleines Lächeln zu, in der Hoffnung, die große Frau mit der schrecklichen Frisur würde ihr glauben. Ihr Herz klopfte wie wild.

»Der Direktor ist heute Nachmittag nicht da. Wenn du möchtest, kannst du morgen vorbeikommen und mit ihm sprechen.«

Flora war im Begriff, sich zu bedanken, doch ein Rascheln im Büro des Direktors lenkte sie ab. Einen kurzen Moment huschte ihr Blick zu Tür.

»Was ist los?«

Flora drehte sich errötend um. »Äh, tut mir leid. Ich dachte, ich hätte jemand darin gehört. Ich habe etwas poltern gehört.«

»In dem Zimmer ist niemand.«

Flora sah die Tür an, dann die Planke. Es war jemand darin.

»Weswegen möchtest du den Direktor sprechen?«

Flora blickte die Sekretärin an und blinzelte erneut. »Das würde ich lieber für mich behalten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Sie umklammerte den Griff ihres Cellokastens fester und atmete tief durch. »Es tut mir leid, Mrs Thorogood. Ich komme zu spät zu meiner Cellostunde. Dürfte ich jetzt bitte gehen?«

Die Planke hob die andere Augenbraue und fixierte Flora mit strengem Blick. »Dann geh. Aber lausche nicht an Türen.«

»Nein, auf gar keinen Fall. Es tut mir leid. Und vielen Dank.«

So schnell, wie sie konnte, lief Flora aus dem Verwaltungsgebäude und trat in die kalte Abendluft hinaus. Ein paar Augenblicke stand sie reglos da und starrte auf den Hof.

Das war einfach schrecklich gewesen! Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie die Situation in ihrer Vorstellung noch einmal durchlebte – und vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre.

Hinter ihr raschelte etwas dicht am Boden. Flora spürte, dass sich dort etwas bewegte, doch ihre Gedanken fuhren immer noch Achterbahn. Erst als ihr jener strenge Geruch in die Nase stieg, drehte sie sich um und spähte in die Dunkelheit.

Die Zwillinge. Was führten sie bloß im Schilde? Und wie stellten sie es an?

Dienstag, 2. DezemberFlora wird zum Direktor gerufen

Flora warf sich die ganze Nacht unruhig im Bett hin und her. Marder und Wiesel sprangen durch ihre Träume, und etliche Male wachte sie mit dem Gefühl einer bösen Vorahnung auf. Um sieben Uhr morgens war sie wie gerädert. Ihre Eltern und ihre Großmutter ließen Bemerkungen darüber fallen, wie müde sie aussähe, und sie erzählte ihnen, dass sie schlecht geschlafen hätte.

»Was ist denn los?«, fragte ihre Mutter. »Bereitet dir etwas Sorgen?«

Flora schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste.«

Sky saß neben ihr am Tisch, aß ein Frühstücksei mit Toast und schien völlig in ihrer eigenen Welt versunken zu sein. Für Sky war es ganz normal, mit den Gedanken weit weg zu sein, aber Flora kannte ihre kleine Schwester zu gut, um sie deswegen zu unterschätzen. Sky besaß die erstaunliche Gabe, bei allen den Eindruck zu erwecken, als bekäme sie nichts mit, während ihr in Wahrheit nicht die geringste Kleinigkeit entging. Flora fragte sich manchmal, ob Skys Sinnesbereich über menschliches Vermögen hinausging. Sie schien einer Fledermaus zu gleichen, geleitet von Schallwellen, die sie von überall um sich herum auffing.

Während die Schwestern die breite Mahagonitreppe ins Badezimmer im zweiten Stock des großen alten Hauses hinaufgingen, flüsterte Sky: »Warum hast du es mir nicht erzählt?«

»Was denn?«

»Dass gestern etwas passiert ist, Blödi.«

Flora gähnte. »Ich weiß auch nicht. Gestern Abend habe ich versucht, mir auf alles einen Reim zu machen, und ich wollte nichts sagen, bis ich klarer sehe.«

»Und, siehst du jetzt klarer?«

»Keine Ahnung. Es ist alles ziemlich merkwürdig.«

»Erzähl es mir schnell beim Zähneputzen. Im Auto werden wir keine Gelegenheit mehr dazu haben.«

Zwischen Zähneputzen und Mundausspülen berichtete Flora von den Zwillingen.

»Verflixt«, sagte Sky. »Das ist echt merkwürdig.«

»Ja, ist es, aber das Schlimmste ist, dass die Planke mich dabei erwischt hat, wie ich an der Tür des Direktors gelauscht habe!« Flora stöhnte. »Ich bin mir sicher, dass ich jemanden im Zimmer gehört habe, aber die Planke hat gesagt, der Direktor wäre nicht da. Sie hat gefragt, was ich wolle, und ich habe ihr irgendetwas aufgetischt. Sie hat gemeint, ich solle heute wiederkommen – aber was zum Henker sage ich dann bloß?«

»Du sagst … du sagst, du hättest dir überlegt, es wäre eine großartige Erfahrung für das Schulorchester, auf Europatournee zu gehen. Nach Heidelberg oder so was in der Richtung.«

»Wie bitte?« Flora guckte verdutzt. »Würde ich über so etwas nicht zuerst mit meiner Musiklehrerin sprechen?«

Sky zuckte mit den Schultern. »Nur eine Idee für den Fall, dass du dich herausreden musst.«

Flora spülte ihre Zahnbürste ab und stellte sie zurück in den Becher. Sie stöhnte erneut auf. »Es ist alles so ätzend! Was habe ich mir nur dabei gedacht?«

»Du bist deinem Instinkt gefolgt. Er hat dich noch nie in die Irre geführt.«

»Zeit zu fahren, Mädchen!«, erschallte die Stimme ihres Vaters aus dem Erdgeschoss. »Los geht’s, ihr kommt noch zu spät zur Schule!«

Die Schwestern rannten zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter. Dann rissen sie ihre Jacken und Schals von den Haken an der Garderobentür und warfen sie über. Sie schnappten sich ihre Taschen, gaben ihrer Mutter einen Abschiedskuss und folgten dem Vater hinaus in die Einfahrt. Flora setzte sich nach hinten, weil sie wusste, dass Sky nur zu gern vom Beifahrersitz aus mit ihrem Vater quatschen würde. Während der Wagen die kurvenreiche Landstraße entlangbrauste, blickte Flora aus dem Fenster auf die Felder hinaus. Es war ein trüber Wintertag, der ziemlich genau ihrer Stimmung entsprach, dachte sie und gähnte erneut. Eine Konzerttour durch Europa? Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee. Die Cantrips waren eine außergewöhnlich musikalische Familie. Die Mutter unterrichtete Klavier und Gesang zu Hause und an der Schule. Jede der Schwestern spielte mindestens zwei Instrumente. Floras Gedanken nahmen an Fahrt auf.

Ein paar Minuten später setzte ihr Vater Colin sie vor dem Schulgebäude ab. Er würde im Anschluss Sky zur Grundschule von Drysdale bringen, die einen halben Kilometer entfernt lag. Danach würde er sich auf den Weg ins Büro in der Stadt machen. Vor nicht allzu langer Zeit war es noch so gewesen, dass die vier Cantrip-Schwestern gemeinsam zur Schule fuhren und am Abend alle nach Cantrip Towers zurückkehrten. So hatten sie stets Zeit zum Reden gehabt, aber seit dem Beginn des neuen Schuljahres verbrachten Flame und Marina, die vierzehn und fünfzehn waren, die Schultage im Internat und kamen nur noch an den Wochenenden nach Hause. Die Drysdale war eine große Schule, und manchmal vergingen Tage, ohne dass Flora ihre Schwestern sah, es sei denn, sie machte sich auf die Suche nach ihnen. Sie konnte ihnen natürlich jederzeit eine Nachricht schicken, und sie dachte auf der Fahrt zur Schule darüber nach, aber die Begegnung mit der Planke konnte sich noch zu einem echten Problem mausern, und sie wollte nicht, dass Flame über sie herfiel und ihr die Leviten las. Ihre älteste Schwester war in letzter Zeit ständig schlecht gelaunt gewesen, was mit ihrem Freund zu tun haben musste, wie Flora vermutete.

Quinn, den Flame abgöttisch liebte, besaß keine magischen Kräfte, und Flame konnte ihm nicht von den ihren erzählen. Die magischen Kräfte der Cantrips, die seit unzähligen Generationen in der Familie weitervererbt wurden, waren stets geheim gehalten und nur für das Gute eingesetzt worden. Hätte Flame sich Quinn offenbart, was sie nur zu gern getan hätte, hätte sie damit riskiert, ihre Kräfte zu verlieren. Und nicht nur die. Flame war Realistin und ging davon aus, dass sie ebenso wahrscheinlich Quinn verlieren würde – denn welcher Junge wollte schon mit einem Mädchen zusammen sein, das über das Feuer gebot?

Marina und ihr Freund Zak dagegen kannten solche Probleme nicht. Der Junge mit dem Blick eines Raubvogels verfügte selbst über magische Kräfte und hatte die Schwestern wiederholt in Gefahr gebracht. Zak hatte die Kräfte der Cantrip-Schwestern gespürt, so wie sie die seinen hatten spüren können. Obwohl sie nie darüber sprachen, verstanden sie einander. Aber bei Quinn lag die Sache anders, und jetzt führte sich Flame auf wie ein gereizter Bär.

Während der Morgen voranschritt, wurde Flora langsam wacher. Sie sah die Zwillinge mit den sandfarbenen Haaren nirgends und versuchte, nicht ständig an sie zu denken. Nur die Ruhe, sagte sie sich. Alles wird gut. Und es war alles gut – bis zur Mittagspause, als die Planke auf der Suche nach ihr in den Speisesaal kam. An Floras Tisch verstummten alle, als sie sich erhob und der großen Frau zuwandte.

»Der Direktor würde dich jetzt gerne sehen«, sagte die Planke.

Verdutzt und beschämt blickte Flora sich im Saal um. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Was würden sie jetzt über sie tuscheln? Und was sollte sie dem Direktor sagen? In der hintersten Ecke des Saals entdeckte sie Marina, die sie besorgt musterte. Flames kupferfarbener Schopf drehte sich, und die zwei älteren Cantrip-Schwestern verfolgten von ihrem Tisch aus, wie Flora der Planke aus dem Speisesaal folgte.

Innerhalb kürzester Zeit hatten sie das Verwaltungsgebäude erreicht. »Bitte warte hier, bis der Direktor dich hereinruft«, sagte die Planke. »Du kannst dort drüben Platz nehmen.«

Flora tat, wie ihr befohlen. Ihre Hände verkrampften, als sie sich setzte. Sie hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Was war nur los? Was sollte sie bloß sagen?

Ich muss Ruhe bewahren. Weiteratmen. An meine Erdmagie denken. Den Boden unter den Füßen behalten. Mich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Mir Zeit lassen. Mich von meinem Gespür durch all das leiten lassen – worum auch immer es sich handeln mag.

Und da war er, Mr Agnew, und lächelte mit seinem klugen, freundlichen Gesicht auf Flora hinunter.

»Komm herein, Flora!«, sagte er. Sie folgte ihm in sein Büro und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Pult. Mr Agnew nahm dahinter Platz. Flora spürte mehr als dass sie hörte, wie die Planke hinter ihr das Zimmer betrat. Atme. Bewahre die Ruhe.

»Anscheinend bist du gestern hergekommen, um mich zu sprechen.«

»Ja, Sir.«

Der Direktor zögerte, dann sagte er mit einem kleinen Lächeln: »Und Mrs Thorogood hat dich vor meiner Tür entdeckt. An meiner Tür lauschend, wie sie sagte.«

Flora nickte. Sie erwiderte seinen Blick schweigend und wartete ab.

»Mrs Thorogood hat gesagt, du hättest jemanden in meinem Büro gehört.«

»Ja, zumindest habe ich das gedacht«, sagte Flora. Sie setzte sich etwas aufrechter hin. »Es hat geraschelt. Es hörte sich an, als würden Sachen hin und her bewegt.«

»Ja?« Er wartete.

»Es klang, als würde etwas sehr schnell im Zimmer hin und her laufen.«

»Das ist seltsam«, sagte Mr Agnew. »Die Sache ist nämlich die, Flora, die Tür meines Büros war abgeschlossen.«

»Oh.« Sie spürte, wie ihre Wangen sich röteten.

Mr Agnew schenkte ihr wieder ein kleines Lächeln und sagte: »Schon gut, Flora. Ich beschuldige dich keineswegs. Ich versuche nur zu ergründen, was passiert ist.«

»Ich bin mir sicher, dass ich jemanden im Zimmer gehört habe.«

»Da bin ich mir ebenfalls sicher.«

»Ist etwas gestohlen worden?«

Mr Agnew schüttelte den Kopf. »Nicht, soweit wir wissen, nein …« Er sah die Planke an, dann wieder Flora.

Floras Blick war fragend.

»Für uns ist klar, dass jemand im Zimmer gewesen sein muss, weil darin alles auf den Kopf gestellt war. Es sah aus, als wäre ein Hurrikan hindurchgefegt. Die Akten lagen überall verstreut. Aber die Sache ist die: Wer war es, und wie ist er hier hineingekommen?«

Flora sah den Direktor mit offenem Mund an. Die Zwillinge – was um alles in der Welt hatten sie nur angestellt?

Schließ den Mund. Konzentrier dich. Atme.

»Du wirkst überrascht, Flora.«

»Ich bin überrascht, Sir. Wie kann jemand in Ihr Büro eingedrungen sein, wenn die Tür abgeschlossen war?«

»Genau das ist das Rätselhafte daran«, sagte der Direktor und rieb sich das Kinn.

Floras Gedanken überschlugen sich. Wie waren die Jungen durch die verschlossene Tür gelangt? Einen Augenblick war sie vollkommen in ihre Überlegungen vertieft.

Hinter ihr rührte sich die Planke. Gefahr. Obacht.

Der Direktor blickte an Flora vorbei, über ihre Schulter, dann wieder zurück zu ihr. Seine Miene drückte Unbehagen aus. »Flora, hast du jemanden gesehen? Jemanden oder etwas, das dir merkwürdig vorgekommen wäre?«

»Ich? Nein, ich habe niemanden gesehen. Nur Mrs Thorogood.«

Wie hätte sie die Sache mit den Zwillingen erklären sollen? Und dennoch, den Direktor anzulügen …

Atme. Denke an deine Erdmagie. Bewahre einen kühlen Kopf.

Mr Agnew schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Soweit wir es beurteilen können, wurde nichts gestohlen – was gut ist –, das Ganze aber noch rätselhafter macht. Wie ist die Person ins Zimmer gelangt, und was wollte sie? Warum hat sie nur ein großes Durcheinander angerichtet und nichts mitgenommen?«

Flora sah in Gedanken Marder und Wiesel durch den Raum springen, über das Pult, die Vorhänge hinauf und über die Aktenschränke. Der Hörer lag neben dem Telefon, überall waren Unterlagen verstreut.

»Sind Sie sicher, dass niemand Daten von Ihrem Computer gestohlen hat?«, fragte Flora plötzlich.

Der Direktor machte einen verblüfften Eindruck. »Ich glaube, er war ausgeschaltet.« Er sah die Planke Bestätigung suchend an.

»Ja, das war er«, sagte sie.

»Das würde jemanden, der in das System eindringen will, nicht aufhalten«, sagte Flora. »Er könnte Daten auf einen USB-Stick laden und sie so aus dem Büro schaffen.«

»Das stimmt.« Der Direktor seufzte schwer, dann warf er Flora ein weiteres kleines Lächeln zu. »Du hast uns sehr geholfen. Dank dir scheinen wir nun den Zeitpunkt dieses … dieses Vorfalls zu kennen.« Er zögerte, dann fuhr er fort. »Mrs Thorogood erwähnte, während du hier warst, sei ihr vor dem Büro ein starker und ziemlich merkwürdiger Geruch aufgefallen. Hast du ihn ebenfalls bemerkt?«

Damit hatte Flora nicht gerechnet. Sie nickte, unfähig zu lügen. »Es war ein starker moschusartiger Geruch, nach Nagetier.«

Der Direktor sah sie perplex an. »Das ist sehr seltsam. Ich schätze, ein Marder hätte unter der Tür hindurchgepasst …«

Flora drehte sich auf dem Stuhl um und warf einen Blick Richtung Tür. Ja, da war ein schmaler Spalt, durch den sich ein kleines Tier hätte zwängen können.

»Wer hält sich Marder, frage ich mich?«, sagte Mr Agnew. »Und warum würde jemand einen in mein Büro lassen?«

Hinter Flora wurde die Planke verdächtig unruhig.

Währenddessen dachte Flora über die Marder und ihren beißenden Geruch nach. Einen USB-Stick und sogar einen Marder bekäme man unter einer Tür hindurch – aber wie sollte das mit einem Jungen gehen? Sie blickte über die Schulter des Direktors.

Mr Agnew, der ihren Blick bemerkte, sagte: »Die Fenster waren verschlossen. Alles war verriegelt.«

Flora nickte und dachte insgeheim, dass der Direktor sehr viel besorgter war, als er zugeben wollte.

»Flora, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du nichts von all dem weitererzählen würdest.«

»Werden Sie mit meinen Eltern sprechen? Die ganze Schule hat gesehen, wie ich aus dem Speisesaal geschleift wurde. Alle werden wissen wollen, worum es dabei ging.«

Der Direktor sah verärgert zu der Planke. »Ja, das ist unglücklich gelaufen.«

»Meine Schwestern werden mich danach fragen. Was soll ich ihnen Ihrer Meinung nach sagen?«

Mr Agnew beugte sich gespannt vor. »Weswegen bist du gestern zu mir gekommen?«

Flora holte scharf Luft. Was hatte Sky noch gleich gesagt? Sie platzte heraus: »Ich habe mir überlegt, ob das Kammerorchester vielleicht auf Konzerttour nach Heidelberg gehen könnte.«

Mr Agnew sah sie überrascht an. »Solltest du das nicht lieber mit dem Musiklehrer besprechen?«

Flora hatte das Gefühl, als schwämmen ihr die Felle davon. Wie sollte sie da bloß wieder rauskommen, ohne wie eine totale Idiotin dazustehen?

»Ja, ich hatte nur gedacht … ich hatte nur gedacht, ich frage Sie, das ist alles.«

»Nun, es ist eine gute Idee, Flora, die wir im Auge behalten sollten. Ich schlage vor, du redest mit Mr Price, und wir werden darüber nachdenken. Falls dich jemand fragt, warum du aus dem Speisesaal geschleift wurdest, wie du so schön sagtest, würde ich an deiner Stelle sagen, das wir darüber gesprochen haben. Kein Grund, den Einbruch zu erwähnen.«

Beim Wort geschleift (warum hatte sie es nur verwendet?) spürte sie, wie sich der stechende Blick der Planke in ihren Rücken bohrte. Die große Frau mit dem zerzausten Dutt würde ihr gegenüber von jetzt an keine Gnade zeigen. Sie war zur Zielscheibe geworden. Der Direktor lächelte und stand auf. Er streckte die Hand aus, um Floras zu schütteln.

»Danke für deine Hilfe, Flora. Und kein Wort zu niemandem, hm?«

Dienstag, 2. Dezember Schwestern

»Was war los?«

Flame und Marina warteten vor dem Gebäude auf Flora. Der kalte trübe Tag hatte sich über die Schule gelegt wie ein grauer Schleier.

Flora betrachtete ihre große Schwester verunsichert. Flames Tonfall drückte gleichermaßen Verärgerung wie Sorge aus.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Marina. »Wir haben uns gefragt, was passiert ist. Nicht wahr, Flame?«

Flame nickte, aber ihr Blick schien unkonzentriert.

Marina kam näher. »Du wirkst durcheinander, Flora. Was ist passiert?«

Sie gingen ein paar Schritte weiter, weg von der Tür. Aus dem Augenwinkel bemerkte Flora, dass die Zwillinge sie musterten, während sie den Pausenhof überquerten.

»Diese Jungen haben etwas sehr Seltsames an sich«, sagte sie. Marina und Flame drehten sich um, und für einen Augenblick trafen sich die Blicke der Zwillinge und der drei Schwestern. Jedem, der die Mädchen beobachtet hätte, wäre aufgefallen, wie sie die Schultern durchdrückten und die Jungen aus schmalen Augen betrachteten.

»Hm«, machte Flame.

Marina wandte sich wieder Flora zu. »Haben sie etwas damit zu tun, dass du zu Aggy gerufen wurdest?«

»Da bin ich mir ziemlich sicher, aber ich habe noch nicht herausfinden können, was genau hier vor sich geht.«

Flame senkte den Blick, musste Tränen wegblinzeln. Als Flora die feuchten Augen der Schwester bemerkte, sagte sie: »Du wirkst so unglücklich, Flame. Ist alles in Ordnung?«

»Lass sie«, sagte Marina leise und berührte warnend Floras Arm.

»Was wollte Aggy, Flora?«, fragte Flame. »Komm schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Es dauerte nicht mal zwei Minuten, bis Flora ihren Schwestern alles erzählt hatte.

»Wie um alles in der Welt konnte jemand in einen verschlossenen Raum hinein- und wieder hinausspazieren?«, fragte Flame verblüfft.

Marina zog die Nase kraus. »Generalschlüssel, um die Tür auf- und wieder zu verschließen?«

»Gut, aber wie sind sie an der Planke vorbeigekommen?«

»Ich habe es auch geschafft«, sagte Flora. »Es passierte alles so schnell.«

»Wozu betreibt man den ganzen Aufwand, in ein verschlossenes Zimmer zu gelangen, wenn man es dann nur verwüstet?«, fragte Flame weiter.

»Das gilt nur, wenn man davon ausgeht, dass nichts gestohlen wurde – und Aggy und die Planke schienen sich da nicht sicher zu sein.«

Einen Moment standen sie schweigend zusammen.

Flora schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gefühl, es hat etwas mit den Mardern oder Wieseln zu tun. Der Geruch war so stark, als ich den Zwillingen gefolgt bin.«

»Wie könnte ein Marder durch eine geschlossene Tür gelangen?«, fragte Flame. »Ist er nicht ein bisschen zu groß, um unter ihr durchzuschlüpfen?«

»Ein Wiesel könnte durch einen schmalen Spalt gelangen«, sagte Marina. »Glaubst du, die Jungs haben vielleicht irgendwie Tiere in den Raum geschleust?«

»Vielleicht«, erwiderte Flora. »Sie könnten sie in ihren Jackentaschen gehabt haben, nehme ich an. Aber wo sind die Zwillinge hin? Sie waren direkt vor mir und im nächsten Moment einfach – verschwunden!«

»Und hinter Aggys Büro befindet sich das Lehrerzimmer. Da hätte jederzeit jemand rauskommen können«, sagte Flame.

»Irgendwas haben die Zwillinge mit dem Ganzen zu tun«, sagte Flora. »Warum sonst hätten sie in das Verwaltungsgebäude gehen sollen?«

»Um dich hineinzulocken?«, schlug Marina vor.

»Mich? Warum sollten sie das machen?«

»Weil du ihnen gefolgt bist?«

»Aber ich bin ihnen gefolgt, weil ich dachte, sie führten etwas im Schilde!«

»Haben sie gemerkt, dass du ihnen gefolgt bist?«, fragte Marina.

Flora dachte einen Moment nach. »Ich weiß nicht … Sie sind in das Gebäude gegangen, ich bin hinter ihnen her. Sie sind verschwunden. Es geschah innerhalb von Sekunden. Wir drehen uns hier im Kreis.«

»Du bist also hineingegangen und hast an Aggys Tür gelauscht?«, fragte Flame.

»Ja.«

»Das war ganz schön mutig«, murmelte Marina.

»Oder bescheuert«, sagte Flora.

»Dein Instinkt hat dich noch nie in die Irre geführt.«

»Es war definitiv jemand im Zimmer. Und Aggy hat mir gerade erzählt, es hätte ausgesehen, als wäre ein Hurrikan hindurchgefegt.«

»Ich hoffe, er hat nicht angedeutet, du könntest dafür verantwortlich sein«, sagte Flame.

»Ich glaube, er war nur daran interessiert, eine Bestätigung für das zu bekommen, was ich der Planke erzählt habe. Er schien total ratlos zu sein.«

»Das überrascht mich nicht«, meinte Marina.

»Solange niemand dich beschuldigt«, sagte Flame.

Flora nickte; und bemerkte aufs Neue den Schmerz im Blick der Schwester. »Bist du dir sicher, dass alles okay ist, Flame?«

»Nicht jetzt«, mahnte Marina und berührte erneut Floras Arm.

»Im Moment geht es hier um dich«, Flames Stimme klang ruppig.

»Wir müssen in Ruhe nachdenken«, sagte Marina.

»Bleib wachsam, Flora«, riet Flame. »Komm, Marina, es ist Zeit, uns fürs Hockey umzuziehen.«

Marina umarmte Flora rasch. »Pass auf dich auf, Schwesterchen.«

Flora sah ihren Schwestern hinterher, als sie über den Hof davongingen. Flame, deren Haltung normalerweise so stolz und aufrecht war, ließ die Schultern hängen. Es hatte bestimmt mit Quinn zu tun. Darum ging es bei dem Ganzen. Quinn, der dunkelhaarige, gutaussehende Freund, in den Flame bis über beide Ohren verliebt war, der aber keine magischen Kräfte besaß. Und Flame, der aufrichtigste Mensch der Welt – zumindest kam es Flora mitunter so vor –, die es nicht ertrug, zu lügen. Nicht, dass Quinn sie je danach gefragt hätte. »Hast du magische Kräfte?«, war normalerweise nicht die Sorte Frage, die ein Freund einem stellte. Zumindest ging Flora davon aus, sie war erst dreizehn und hatte noch nie einen Freund gehabt. Ihre Schwester war innerlich zerrissen – so viel wusste Flora. Würde Flame Quinn den Rücken kehren oder ihren Kräften? Floras Herz wurde schwer bei dem Gedanken. Kein Wunder, dass ihre Schwester so unglücklich aussah.

 

An diesem Abend kam Sky in Floras Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Erzählst du mir jetzt, was passiert ist?«, fragte sie und setzte sich zu Flora aufs Bett.

Flora klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte, und richtete sich auf. »Das hatte ich vor.«

Die beiden Schwestern saßen mit angezogenen Knien da, den Rücken an die Wand gelehnt.

Sky schauderte. »Es ist eiskalt hier drin. Warum können wir hier oben keine Heizung haben, die auch funktioniert?«

»Es ist ein altes Haus mit einer alten Heizung, deswegen. Mach mal Platz.« Flora zog die Decke über sie beide, und sie schmiegten sich aneinander.

Im Erdgeschoss saßen ihre Eltern und ihre Großmutter in der Bibliothek vor dem Kaminfeuer. Da sie ihnen schon eine gute Nacht gewünscht hatten, mussten die Schwestern nicht mehr fürchten, dass jemand ihr Gespräch mithören könnte. Cantrip Towers war ein großes Haus, aber Ottalie, ihre Mutter, besaß das Gehör einer Fledermaus. Seit sie vor zwei Jahren von der Magie erfahren hatte, waren die Schwestern besonders darauf bedacht, dass ihr keine Unterhaltung darüber zu Ohren kam. Ottalie glaubte nicht an Magie und zog es vor sich einzubilden, ihre Töchter hätten dieses Kapitel ihres Lebens hinter sich gelassen.

»Es ist komisch, dass Flame Mum wegen ihrer Kräfte anflunkern kann, Quinn aber nicht«, sagte Sky.

»Ich glaube nicht, dass es Flame leichtfällt zu flunkern, egal, um wen es sich handelt. Woher wusstest du eigentlich, dass ich an Flame gedacht habe?«

»Ich kann deine Gedanken hören«, sagte Sky.

»Kannst du nicht!«

»Kann ich doch. Habe ich gerade getan.«

»Sie sieht so unglücklich aus.«

Sky zog die Nase kraus. »Einen Freund zu haben scheint furchtbar kompliziert zu sein.«

Flora seufzte. »Magische Kräfte zu haben macht alles kompliziert.«

»Also, erzähl schon.«

Sky umarmte die Decke, die über ihren Knien lag, und hörte aufmerksam zu, während Flora ihr die Geschichte des abgeschlossenen Zimmers erzählte. Als Flora verstummte, sagte sie: »Hm.«

Sky schien tief in Gedanken versunken zu sein.

Nach einer Weile sagte Flora: »Das ist alles, was du zu sagen hast? Hm? Normalerweise redest du wie ein Wasserfall.«

»Ich denke nach.« Sky wandte sich Flora mit ernster Miene zu. »Wusstest du, dass es in Tibet Mönche gibt, die durch Wände gehen können?«

»Ja und?«

»Vielleicht können diese Jungen durch Wände gehen.«

»Sie sind keine tibetischen Mönche. Davon mal abgesehen, warum sollten sie es tun?«

»Das ist die zweite Frage. Wie und warum.«

Flora fuhr sich mit den Fingern durch die wuscheligen braunen Haare und gähnte. »Es war schrecklich, auf die Tour von der Planke einkassiert zu werden. Eine Menge Leute haben mich danach gefragt, was los war.«

»Was hast du ihnen erzählt?«

»Ich habe gesagt, ich hätte Aggy wegen der Konzerttour gefragt.«

»Und, hast du?«

»Ja.«

»Und?«

»Er war ein bisschen überrascht. Hat gedacht, eine solche Sache würde ich zuerst mit Mr Price besprechen.«

»Wenigstens hat es dir eine Ausrede geliefert.«

»Stimmt.« Flora gähnte erneut.

Sie schwiegen eine Weile. Sky hatte das Gesicht in den Händen vergraben, die lockigen blonden Haare fielen nach vorn und verdeckten es wie ein Vorhang. »Warum: vielleicht einfach, weil sie es konnten. Wie: ich weiß es nicht, aber ein paar Menschen, zugegebenermaßen sehr wenige Menschen, können tatsächlich durch Wände gehen.«

»Die Wandlung von Materie«, sagte Flora. »So wird es genannt. Aber unter einer Tür hindurchzugelangen, wäre viel einfacher, meinst du nicht?«

Sky hob den Kopf, ihre grauen Augen waren groß wie Untertassen, und ihre Stimme klang aufgeregt. »Vielleicht war es eine Mutprobe?«

»Oder ein Spiel – obgleich Marina gemeint hat, sie wollten mich vielleicht in das Gebäude locken.«