Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren - Hilal Sezgin - E-Book

Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren E-Book

Hilal Sezgin

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Beschreibung

Allein unter achtzig Tieren: ein Buch über die Fülle und das Glück des Lebens und einen wertschätzenden Umgang mit Nutztieren Seit anderthalb Jahrzehnten lebt Hilal Sezgin auf dem Land. In ihrem bewegenden Memoir erzählt sie davon, wie es ist, einen Lebenshof zu betreiben, sich um eine Art Tieraltersheim zu kümmern, in dem die Schafsoma Arthrose und das Kaninchen Schnupfen hat. Sie berichtet davon, wie beglückend aber auch fordernd es ist, sich um achtzig alte und pflegebedürftige Tiere zu kümmern. Und sie reflektiert darüber, was es heißt, immer für andere da zu sein, Fürsorge zu übernehmen – und wie sie dabei an Grenzen gerät, nicht zuletzt ihre eigenen. Ein berührendes, bewegendes, hingebungsvoll erzähltes, so kundiges wie kenntnisreiches Buch über das Leben im Einklang mit der Natur und anderen Wesen.

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Seitenzahl: 410

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Hilal Sezgin

Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren

Inhalt

Zur Einleitung

Kapitel 1 

Das Haus am Waldrand

Kapitel 2 

Ein Zahnarzt für Schafe

Kapitel 3 

Die beiden Kekse

Kapitel 4 

Essen auf Rädern

Kapitel 5 

Nougats Geschichte

Kapitel 6 

Schneckensommer

Kapitel 7 

Das Nahen der Wölfe

Kapitel 8 

Mit Blaulicht unterwegs

Kapitel 9 

Schafe retten

Kapitel 10 

Toffees Geschichte

Kapitel 11 

Die Idee der Lebenshöfe

Kapitel 12 

Der Löwe im Garten

Kapitel 13 

An den Säumen

Kapitel 14 

Das große Kribbeln

Kapitel 15 

Merlins Geschichte

Kapitel 16 

Vom Baby zur Seniorin

Zum Schluss

Dank & Widmung

Über die Autorin

Zur Einleitung

Wir machen in unserem Dorf schon Scherze, weil wir diesen Satz so oft wiederholen, aber: Heute könnte der letzte sonnige Tag in diesem Jahr sein. Gewiss, das haben wir bereits gestern gesagt und unseren Nachmittagskaffee auf der Terrasse getrunken, während uns das erste Herbstlaub um die Nase geweht ist. Und weil wir es auch vor einer Woche dachten, haben wir uns endlich zu der lange geplanten Wanderung um diesen Bach durchgerungen, der angeblich vor Ottern nur so überquillt und in dem wir dann keinen einzigen Otter erblickt haben.

Dennoch: Heute könnte wirklich der letzte Tag sein, und das Leben in Garten, Wald und Weiden zeigt sich in seiner ganzen Fülle.

Es ist Anfang September. Die Schwalben im Stall haben gerade ihre dritte und letzte diesjährige Brut aufgezogen, sodass auf allen Balken befiederte schwarze Kugeln sitzen, die bei jedem vorbeifliegenden erwachsenen Vogel ihren Schnabel zu einer signalgelben Futterschleuse aufreißen. Die Rosen tragen noch die eine oder andere Blüte, gleichzeitig beginnen die Hagebutten und Eicheln bereits zu reifen. Die Disteln und Brennnesseln werden krautig, und bestimmt beginnt der eine oder andere Igel allmählich zu überlegen, unter welchem Holzstapel oder undurchdringlichen Bewuchs er sich im kommenden Winter zurückziehen könnte. In der Sonne ist es noch so warm, dass man sich unwillkürlich nach Schatten umblickt, aber im Schatten beginnt man gleich zu frösteln.

Gerade hat es zu tröpfeln begonnen. Die Schafe, die vor einigen Stunden zum Frühstücken auf die Weide gezogen sind, suchen erst einmal unter einigen Buchen Zuflucht und warten. Dann aber legt der Regen noch eine Schippe drauf, und unter den kleinen Leuten breitet sich ungewöhnliche Hast aus: zurück in den Stall, und zwar sofort! In einer schnurgeraden Diagonalen ziehen sie über die Weide heimwärts, bilden eine Reihe aus neunundzwanzig braunen, schwarzen und weißen Leibern, die Bäuche von frischem Gras gerundet, auf grazil wirkenden Beinen. Einige von ihnen tragen zwei, drei oder gar vier Hörner. Kein bisschen gleicht die hiesige Herde einem Zug aus gleichförmigen weißen Wölkchen, sondern sie ist kunterbunt gemischt: Da haben sich zierliche, haselnussbraune Kamerunschafe mit schwarz-weiß gepunkteten Vierhornschafen gepaart, später kamen noch eine silbrige Heidschnucke und zwei karamellbraune Coburger Fuchsschafe hinzu.

Begleitet und manchmal tyrannisiert wird der Trupp von einer kleinen, schwarzen, kugelrunden Ziege. Zur Strafe für ihr unkooperatives Betragen hat sie nie einen richtigen Namen erhalten. Die Enden ihrer beiden langen Hörner musste ich mit Tennisbällen, Isoliermaterial und Ducttape präparieren. Die Ziege kann nämlich recht ruppig sein, wenn sich ein Schaf bei ihrem Nahen nicht demütig genug wegduckt.

Nur mit einem Schaf geht die Ziege zärtlich um, und das ist das Joylein. Sie sehen ihn auf dem Cover: einen großen, dunklen Hammel mit weißen Tupfern und freundlichem Gemüt. Joylein, damals noch besorgniserregend schmächtig, war einst das erste Lamm, das ich mit der Flasche zufütterte, weil seine Mutter es alleine nicht schaffte.

Von Kindheit an Katzenfreundin, war ich jahrelang auf der Hut gewesen, mich nicht in eine Crazy Cat Lady zu verwandeln – und dann hat mich dieses kleine Schaf unversehens in die Rolle einer Crazy Sheep Lady eingeführt! Als es wenige Monate alt war, musste ich Joylein in einer Tierklinik operieren lassen. Und nach wie vor haben wir eine besonders enge Verbindung, schon weil seine gesundheitliche Konstitution täglich ein wenig zusätzliche Pflege erfordert. Trotz seines erschwerten Starts ins Leben ist Joylein inzwischen nämlich einer der ältesten Bewohner des Stalls, gemeinsam mit besagter Ziege. Immer wieder stehen sie zusammen, ein sehr ungleiches Paar in Aussehen und Charakter, und reiben einander zärtlich mit den Köpfen hinter den Ohren und an den Wangen.

Angeblich werden Schafe ungefähr fünfzehn Jahre alt, aber zum Glück weiß Uroma Erna das nicht, denn sie ist bereits zwanzig, und manchmal benötigen ihre Gelenke entsprechende Medikamente. Der kleine Christopher, der eifrig angetrippelt kommt, um seine Extraportion Kraftfutter entgegenzunehmen, ist wegen seiner altersbedingten Hauterkrankung in einen umgeschneiderten Hundemantel gehüllt. Als der Schafstall Ende des neunzehnten Jahrhunderts erbaut wurde, fuhren durch die mächtige Toröffnung Wagen die Ernte ein; heute hängt darüber ein Schild mit der Aufschrift »Schafaltersheim«.

Von der Lämmeraufzucht zum Schafaltersheim, dazwischen liegen bald fünfzehn Jahre. Denn so lange ist es her, dass ich, die einstige Großstadtpflanze, beschloss, meinen Jugendtraum vom Landleben zu verwirklichen, und von Frankfurt am Main in ein 500-Seelen-Dorf in der Lüneburger Heide zog. Ich richtete mich in einem hellen, freundlichen Backsteinhaus am Waldrand ein, lernte das Dorfleben zu schätzen und übernahm von den Nachbarn eine Schafherde, die im Laufe der Jahre zu einem kleinen Lebenshof mit achtzig Tieren anwuchs. In der Stadt hatte ich schon lange die Allgegenwart grauer Häuserwände beklagt und den Anblick von Grün vermisst; nun war ich endlich allseits von Vegetation und freundlichem Getier umgeben und kam an vielen Tagen aus dem Staunen nicht heraus, dass es sich hier draußen lebte wie dem Vernehmen nach einst in Bullerbü.

Ich erlebte die Geburt von Lämmern mit und zog einige von ihnen mit der Flasche auf, lernte Werkzeuge, Utensilien und Begriffe zu benutzen, von deren Existenz, geschweige denn Anwendung ich in der Stadt nichts geahnt hatte. Und so atmeten meine ersten Jahre auf diesem Hof durch alle Jahreszeiten hindurch den Duft von Frühling und Sommerzeit, drehten sich ums Lernen, Wachsen und Erblühen.

Inzwischen ist das Leben auf dem Lande durch die Corona-Pandemie wieder stärker in Mode gekommen. Erschöpfte Großstädter:innen haben sich ein zweites Zuhause auf dem Land geschaffen, und die deutsche Gegenwartsliteratur hat mehrere Dorfromane vorzuweisen, deren städtische Protagonist:innen sich im Ringen mit dörflicher Flora und Fauna erproben.

Dieses Erproben bejahe ich von Herzen, denn ich denke, dass es im Dorf mindestens ebenso viel zu entdecken gibt wie in der Stadt. Doch möchte ich Sie zur Sicherheit vorwarnen, dass Sie hier kein Buch darüber erwartet, wie man erste Spatenstiche im neu erworbenen Garten tut oder in fröhlichem Planungsüberschwang Möglichkeiten skizziert, wo man welche Zelte aufschlagen könnte. Ich dagegen habe in meinem Dorf bereits feste Wurzeln geschlagen. Bei mir wird nicht mehr fantasiert oder entworfen, sondern vieles zum zigsten Mal wiederholt, viel geschuftet und oft genug nur eben so bewältigt. Der hiesige Frühling ist längst in den Sommer übergegangen, den Spätsommer gar, es naht der Herbst; und der bringt andere Themen, Herausforderungen und Freuden mit sich.

Aber darf ich Ihnen etwas verraten? Meine Lieblingsjahreszeit war schon immer … der Herbst. Wenn dieses ganze manische Wachsen, Drängeln und Knospenexplodieren des Frühlings vorbei ist. Vorbei auch die sommerliche Verpflichtung, im Volltempo rauschende Feste zu feiern, in Biergärten herumzuhängen und sich an allen Fronten zu amüsieren; stattdessen dürfen wir jetzt dabei zusehen, wie die Dinge nicht mehr wachsen, sondern reifen. Wenn sich der Buchenwald im Mai in sein phänomenal zart leuchtendes Grün einkleidet, will man natürlich immer, dass er zartgrün bleibt; aber wenn der Herbst mit den roten und gelben Blättern kommt, denkt man: Aha, das ist es, worauf wir hinauswollten! Im Frühjahr macht man Ausflüge in die Apfelblüte, aber die Köstlichkeit beim Auflesen, Herunterschütteln und Bevorraten von Äpfeln ist nicht zu übertrumpfen. Die Kürbisse werden groß und intensiv orange, man hört überall Eicheln auf den Boden ploppen und stellt sich vor, dass alle Tiere, groß und klein, im Überfluss schwelgen.

Zugegeben, die Liebe zum Herbst lässt sich nicht nahtlos aus dem metaphorischen Bereich auf unser tatsächliches Altern übertragen. Wer als Autorin übers Älterwerden oder, vornehm: übers Reifen, schreibt, sieht auf beiden Seiten des Weges gewisse Gefahren: Einerseits will man dem allerorten herrschenden »Jugendlichkeitskult« etwas entgegensetzen, indem man von fitten und rundum glücklichen Senioren erzählt – und andererseits verführt genau das auch dazu, das Älterwerden zu sehr zu idealisieren und das Sprechen über die Schattenseiten zu tabuisieren. Als ob man nicht wirklich Einschränkungen, Schmerzen und Verluste erleben würde! So gibt es zwar zweifellos viele Freuden, die man intensiver und ungestörter genießen kann, wenn man, wie zum Beispiel ich, fünfzig ist. Doch wir reifen nicht bloß und lernen, Unspektakuläres intensiver zu genießen, sondern wir werden auch … nun ja, einfach älter. Wenn wir unter leichtem Ächzen gemütlich die Beine hochlegen, ist es nicht immer, um im Zen-Modus den Röstkastanien im Feuer zuzusehen, sondern manchmal schlicht auch Arthrose. Ich habe welche, und meine Schafe haben welche. Diese ganze Reifungs- und Herbstmetapher hat also ihre Tücken. Und trotzdem denke ich, dass man vom Herbst auch in warmem Ton erzählen kann, definitiv! Das Altern hat seine Tücken, aber es hat auch Boni, seine Freuden und seine Würde.

Die nächste Gefahr einer Idealisierung: Tiere zu retten und zu versorgen, mit ihnen zusammenleben, klingt für viele Menschen zunächst wunderbar. Immer wieder schreiben mich Leute an mit den Worten: »Sie leben meinen Traum!« – Es stimmt: Was ich tue, empfinde ich als sinnvoll und erfüllend. Aber jede, die einmal mit einem Tier zusammengelebt hat, kennt das: Man erlebt so viel Freude, so viel Liebe; und mit dem Fortschreiten der Jahre mischt sich immer mehr Sorge in die schönen Momente und droht sie gelegentlich zu dominieren … Immer deutlicher werden mir auch die vielen Ungewissheiten, die sich auftun, wenn man anderen Wesen zu helfen versucht und doch eigentlich dasRichtige, das Beste für sie tun will. Nur, was ist denn das Richtige, wenn man den Betreffenden nicht nach seinen Wünschen befragen kann? Wie gut kann ich mich in ein anderes Wesen hineindenken? Gehe ich oft über seine tatsächlichen Bedürfnisse hinweg? Kann man lernen, andere, präzisere, neue Fragen zu stellen und anders hinzuhören?

Ich habe im Alter von dreizehn Jahren aufgehört, Fleisch zu essen, lebe seit über einem Jahrzehnt vegan und befasse mich seit dreißig Jahren mit philosophischer Tierethik; aber ich kann wirklich nicht behaupten, ich hätte, was den idealen Umgang mit Tieren angeht, die Weisheit mit Löffeln gefressen. Nach wie vor kratze ich mir hie und da ein Spänchen Weisheit mit dem Zahnstocher aus einer vielschichtigen Realität, die ihr Wissen nicht leichtfertig preisgeben will.

Wer sich um viele andere Lebewesen kümmert, erfährt dabei jeden Tag sowohl die menschliche Macht als auch deren Grenzen: unsere Macht insofern, als wir so viel Verantwortung haben, wenn wir über das Leben dieser Tiere und bisweilen sogar über den Zeitpunkt ihres Todes entscheiden.

An unsere Grenzen wiederum werden wir ständig erinnert, weil wir dabei nur eines mit unverrückbarer Sicherheit wissen: dass selbst der mächtigste Mensch nicht über Wachstum und Tod verfügen kann.

Als Autorin habe ich mir jedenfalls vorgenommen, dieses Buch redlich zwischen den genannten zwei Gefahren hindurchzunavigieren: Weder will ich die hiesigen Geschehen zu einer einzigen Kette instagramtauglicher Highlights stilisieren noch darf ich mich allein auf die Mühen und Tiefpunkte konzentrieren. Denn den Blick nur auf die negativen Seiten des Alterns zu richten, wäre nicht richtig; wir würden die Gegenwart verfehlen, wenn wir sie ständig für das schmähten, was wir bedauern oder vermissen. Klüger wäre es, Erinnerungen an Vergangenes und den Genuss daran zu bewahren – und gleichzeitig die Fülle dessen zu würdigen, was jetzt ist.

Dazu müssen wir vermutlich eine bestimmte Form von Wertschätzung lernen und kultivieren. Wenn ich zum Beispiel noch einmal genauer die oben geschilderte Szene betrachte und meiner inzwischen nicht mehr ganz so jungen Truppe zuschaue, wie sie sich nach Einsetzen des Regens in den Stall zurückzieht … Manche bewegen sich flinker, manche steifer; drei tragen ein Jäckchen, und die allerletzte kleine Dame humpelt, wirkt ansonsten aber ganz frohgemut. Und ich erinnere mich an dieselbe »Gang« vor vierzehn Jahren und denke: Es fällt so leicht, ein Lamm zu lieben! Mit diesen süßen Bäh-Lauten, den noch unkoordinierten, aber euphorischen Sprüngen, dem Propellern des Schwänzchens, wenn es bei der Mutter trinkt. Jeder findet Lämmer niedlich, sogar Menschen, die Lämmer essen. Aber ein altes Schaf ist auch schön. Bloß sehen wir so selten alte Schafe, Rinder, Hühner, dass wir ihren Anblick und ihre sichtbare Fragilität nicht gewöhnt sind.

Wir haben ja bereits unsere Schwierigkeiten mit dem eigenen Altern, den eigenen Schwächen und denen anderer Menschen! Wir neigen dazu, sie und uns dann als Beeinträchtigte anzusehen, die zum Beispiel kahler sind als früher oder manche Bewegungen nicht mehr vollbringen, als von Krankheiten oder schwierigen Erlebnissen Gezeichnete; dabei sollten wir sie und uns als Persönlichkeiten würdigen, die schon viel erlebt haben, und wertschätzen, was sie und wir derzeit zu erleben und noch zu leisten vermögen.

Was unsere körperliche Existenz und deren Erleben angeht, sind wir Menschen nah mit den (anderen) Tieren verwandt. Wir fürchten oder genießen ähnliche Dinge, werden durch ähnliche Faktoren stärker oder auch zu Fall gebracht. Manchmal werde ich gefragt, was ich durch das Leben mit den Schafen gelernt habe. Ich merke dann, dass ich dies schwer beantworten und die oben angesprochene Wertschätzung nicht in wenigen abstrakten Worten erklären kann. Doch das macht eigentlich nichts. Schließlich handelt es sich ja nicht um feststehende »Erkenntnisse«, sondern um Bemühungen, Rückschläge und Lernprozesse. Und genau von denen möchte ich im Folgenden erzählen.

Kapitel 1 

Das Haus am Waldrand

Als ich noch in der Redaktion der Frankfurter Rundschau arbeitete, kam eines Morgens meine Kollegin Ina Hartwig mit einer gefalteten Zeitung in die Konferenz, auf deren Titelseite ein Landhaus abgebildet war: Eher langgezogen als in die Höhe geschossen, mit Fachwerkbalken und dazwischen Backstein und mit ein paar Giebelfenstern. »Genau das wäre mein Traumhaus«, sagte ich zu ihr, meiner Jugendsehnsucht eingedenk. Ina lachte und sagte: »Na, dann würdest du dich in der Heimat meiner Kindheit sehr wohl fühlen.« Sie war in der Lüneburger Heide aufgewachsen, wenige Kilometer von dort, wo ich jetzt lebe.

Ich war etwas verwundert. Die Lüneburger Heide klang für mich, ehrlich gesagt, gar nicht so wahnsinnig anziehend oder gar romantisch. Ich assoziierte damit karge Vegetation, konservative Heimatliteratur und endloses (für mich langweiliges) Wandern … Irgendwie ist es verrückt, dass ich, halb durch absichtsvolles Suchen und halb durch Zufall, tatsächlich hier mein Zuhause gefunden habe!

Und auch meine heutigen Besucher sind oft überrascht, wenn sie die hiesige Gegend sehen; es gibt anscheinend ein paar Missverständnisse bezüglich des Stichworts »Lüneburger Heide«. So ist es zwar nicht ganz falsch, dabei an weitgehend baumlose, leicht gewellte Landschaften zu denken, deren Bewuchs von August bis Mitte September purpurfarben blüht und die von vereinzelten Wacholderbüschen durchsetzt sind. Doch zum einen ist diese Landschaft, die uns so urtümlich, geradezu archaisch und »natürlich« anmutet, genau genommen das Ergebnis einer ökologischen Jugendsünde der Menschheit, nämlich Folge jungsteinzeitlicher Überweidung. Zum zweiten sieht die hiesige Gegend oft gar nicht mehr so aus, sondern gleicht den anderen modernen Kulturlandschaften Niedersachsens, beinhaltet also Ackerflächen voll Getreide, Mais und Rüben, grüne Weiden und bewirtschaftete Mischwälder.

Und so steht nun etliche Kilometer von dem nächsten Stückchen purpurnen Heidekrauts entfernt, dafür eingekuschelt zwischen solche Weiden und einen Buchenmischwald, das Haus, in dem ich seit gut vierzehn Jahren lebe. Obwohl es ohne Fachwerk auskommt, ähnelt es in vielem dem Haus auf der damaligen Zeitung; weil geeigneter Stein hier rar ist, wurde es aus rotem Backstein gemauert; nach vorne hin besitzt es ein romantisches großes Erkerfenster. Insgesamt erweckt es den Eindruck, als wäre es schon hundert Jahre alt, was aber nur für einige Balken und für Teile des Mauerwerks stimmt; sie gehörten einst zu einer Stellmacherei, in der Kutschen und Gerätschaften repariert wurden, und beherbergten später Ochsen. In seiner heutigen Form wurde mein Zuhause vor kaum dreißig Jahren von Grund auf neu erbaut, mit dicken Mauern, die im Winter die Wärme und im Sommer die Kühle halten, und mit dänischen Sprossenfenstern, die einen behaglichen Eindruck erwecken.

Durch alle Fenster blicke ich auf Bäume, manche davon stehen sogar recht nah am Haus. In der Pappel, in deren Krone ich beim Schreiben schaue, turnen im Frühsommer Scharen von aufgeplusterten, tollpatschigen Starenkindern herum. Zu anderen Zeiten fliegen Dutzende von Spatzen in die Buchsbaumhecke ein und aus, als wären sie Wassertropfen und die Hecke ein Schwamm; Eichhörnchen jagen einander die Buchen und Eichen hinauf und hinunter. Von einem nahe gelegenen Teich fliegen Libellen herüber, dünner als ein Essstäbchen, aber so lang wie eine menschliche Handfläche, und schillern in Opalblau und Smaragdgrün. Gelbe Schnirkelschnecken sind alle möglichen und unmöglichen Halme und Baumstämme hochgekrochen, und jetzt im Altweibersommer breiten sich unzählige Spinnennetze zwischen Gräsern und Zweiglein aus und wirken im Sonnenlicht ungeheuer dekorativ, bevor abends dichter Nebel aus den Wiesen aufsteigt und sie allesamt bis zum nächsten Vormittag einhüllt.

Als ich einzog, waren die Buchsbäumchen auf beiden Seiten des Wegs zur Haustür noch kleiner als ein Fußball, die Buchenhecke wurde durch einige zarte Schößlinge angedeutet. Beide Hecken sind heute für Menschen und menschliche Blicke undurchdringlich und haben sich mit vielen pinkfarben und weiß blühenden Rosen zu einer imposanten Mauer vereinigt. Ich bin, vorsichtig ausgedrückt, nicht wahnsinnig eifrig im Zurückschneiden all dieses Bewuchses, und einigen meiner Freund:innen und auch meinem Vermieter bereitet dies bisweilen etwas Kummer (dem Erstere recht deutlich und Letzterer zum Glück nur sehr dezent Ausdruck verleihen). Dass Handlungsbedarf besteht, wurde mir erst im letzten Sommer so richtig klar, als ich von der Küche aus zwei alte Damen mit äußerst betrübten Gesichtern vor meinem Haus stehen sah und dessen Erscheinungsbild kommentieren hörte. Ich ging zu ihnen hinaus und fragte, was sie bedrücke. »Wie schade, dass dieses schöne Haus nicht mehr bewohnt ist!«, sagte die eine.

»Aber ich wohne doch darin!«, sagte ich, mehr als nur ein wenig empört.

Die beiden erkannten ihren Fauxpas und verkrümelten sich höflich, während ich versuchte, mein geliebtes Zuhause mit ihren Augen zu sehen.

Eine Portion Fantasie und guten Willen vorausgesetzt, war es nicht unmöglich, hinter den Ästen zweier schnell gewachsener Pappeln und hinter der voluminösen Hecke à la Dornröschen die Umrisse eines Hausdachs zu erspähen. Ich finde es besonders heimelig so, weil es nach einem Ausflug in die Stadt jedes Mal Freude macht, hinter dem vermeintlichen Wildwuchs das eigene Zuhause wiederzufinden.

Auch die vielen bunten Punkte auf den Küchenfenstern zeugen nicht etwa von Vandalismus oder einer Kindertagesstätte (wie einmal jemand anders vermutete), sondern wurden von mir nach viel Herumprobieren zum Schutz der Vögel, die seither tatsächlich viel seltener gegen die Scheiben fliegen, mit Fensterfarbe aufgetragen. Demselben Zweck dient auch der Umstand, dass die Fensterscheiben so gut wie nie richtig geputzt sind, jedenfalls nicht auf beiden Seiten gleichzeitig, sondern meist im Schichtverfahren. Zugegeben, es wäre vielleicht nicht ganz aufrichtig zu sagen, dass dies der einzige Grund für den Zustand der Fenster ist, aber: Ein wenig Dreck auf dem Glas ist für die Vögel besser erkennbar, und oft genug war mir die Freude am durchsichtigen Glas schnell vergangen, weil ständig jemand Gefiedertes mit dem Kopf dagegen knallte.

Haben Sie nun den Eindruck, dass Flora und Fauna auf diesem Grundstück vielleicht etwas aus dem Ruder geraten sind? Nun, dann führe ich Sie einmal ins Haus, und bitte fallen Sie nicht in Ohnmacht. Der Flur wird eventuell nicht ganz dem entsprechen, was Sie sich von einem regulären Haushalt erwarten – denn dies ist eben kein regulärer Haushalt, sondern das Hauptquartier einer wild durcheinandergewürfelten Wohngemeinschaft mit mehreren Dutzend Angehörigen verschiedener Spezies und, wie gesagt, teils fortgeschrittenen Alters.

Auch wenn schon etliche Erdklumpen den Boden zieren, wäre es nett, wenn Sie beim Eintreten Ihre schmutzigen Schuhe auszögen, aber bitte versuchen Sie, dabei nicht über die Gummistiefelparade zu stolpern. (Zu meiner Verteidigung: Die vielen Schuhe gehören nicht alle mir, sondern auch den diversen Helfer:innen, die gelegentlich vorbeikommen; und natürlich haben sie alle unterschiedlich große Füße.) Ihr Portemonnaie und den Autoschlüssel – nein, Sie brauchen den Wagen nicht abzuschließen, so etwas tun nur Städter! – können Sie auf dem großen Tisch links ablegen, wenn Sie ein Plätzchen dafür finden. Ich gebe zu, das ist nicht immer ganz einfach zwischen all dem Blauspray, der Gartenschere, der Klauenschere, der Haushaltsschere, der Verbandsschere, dem Polsterverband für Pferde, den ich für Schafe verwende, der Packung Knäckebrot, auf dem ich den Schafen ihre Medikamente serviere, der Infusionslösung, den Mullbinden, den jodhaltigen Auflagen, den verschiedenen Sorten von Bandagen, mit denen Verbände und Umschläge fixiert werden; zwischen zwei Fläschchen Augentropfen und Joyleins vier Kilo Zinksalbe, die ich inzwischen direkt auf diesem Flurtisch aufhebe, weil ich es leid bin, ständig welche aus der Vorratskammer zu holen, der zweiten Verbandsschere, den Latexhandschuhen, dem Klemmbord, auf dem verzeichnet ist, welche Füße wann wieder behandelt werden müssen – na ja, und all dem anderen Kram.

Unübersehbar hat sich meine Inneneinrichtung in die geradezu entgegengesetzte Richtung entwickelt wie die von etlichen meiner Freund:innen, die sich Minimalist:innen nennen. Sie versuchen nämlich, ihren Haushalt immer weiter zu verkleinern, sie rangieren Dinge aus und vermeiden es, neue anzuschaffen. Sie träumen von Tiny Houses und davon, ihren ökologischen Fußabdruck zu minimieren.

Letzteres zählt natürlich auch zu meinen Zielen, und in anderen Lebensbereichen erreiche ich es hoffentlich besser. Ich reise fast nicht, kaufe kaum neue Kleidung, esse nichts von Tieren – aber dann kommen halt all diese Scheren, Schüsseln, Verbandsstoffe, Fieberthermometer, Sägen, Schrauben wieder ins Spiel und verunstalten mir die schmeichelhafte Bilanz. Deren unkontrollierter Vermehrung musste ich mich irgendwann fügen, und ganz abgesehen von meinen eigenen Anschaffungen schleppen auch Freund:innen und Helfer:innen Schuhe (siehe oben), alte Klamotten (»zum Arbeiten geht das noch«), überzähliges Handwerkszeug und wundersam geformtes Altmetall (Haken, Winkel, Adapter, Aufsätze) an und deponieren all dies einstweilen bei mir für den Fall, dass ich sie mal brauche. Auf die Weise werden diese Menschen spielend leicht zu Minimalist:innen, während ich mich für meine überbordende Dingwelt geniere.

Ich hätte Ihnen diese Problematik natürlich nicht sofort auf die Nase binden müssen. Ich hätte Ihnen von anderen, gefälligeren, dem menschlichen Gast freundlicher entgegenkommenden Details meines Hauses erzählen können: von den warmen Farben, in denen die Wände gestrichen sind, oder von den vielen Bücherregalen, in denen man sich lesenderweise verlieren kann. Von den Sofas und Sitzgelegenheiten, die überall bereitstehen, und den Unmengen von dicken und dünnen und flauschigen Decken, mit denen man sich jeder Jahreszeit entsprechend einkuscheln kann. Von der Küche, deren Tisch so absurd hoch ist, dass man sich ein wenig als Kind fühlt, auf dem sich aber hervorragend Ellenbogen abstützen, Tee- und Kaffeetassen abstellen und hoch emotionale und tiefsinnige Gespräche führen lassen, und von der Terrasse, die im Sommer stets von Blumendüften umweht wird (mal Holunder, mal Rose, mal Linde, mal Geißblatt) und von der man einen freien Blick hat auf die Weiden, den angrenzenden Wald, die Bäume am Horizont, auf die Schafe und auf die benachbarten Pferde, nicht aber Häuser. Von der Terrasse und eigentlich von jeder Stelle aus, die man vom Haus in wenigen Schritten erreichen kann, kann man den Anblick von Gräsern und Blattwerk, Grün und Blüten förmlich trinken, und über einem weitet sich der norddeutsche Himmel.

Aber wissen Sie, all das sind genau die Dinge, von denen man träumt, wenn man aufs Land zieht. Diese Dinge füllen die Hochglanzmagazine, die vom Leben auf dem Lande handeln, und es ist entsprechend auch ein stets strahlendes, einrichtungskompatibles, handhabbares Leben. Mit diesen Dingen habe auch ich mich im Geiste schon umgeben gesehen, als ich in Frankfurt beschloss, aufs Land zu ziehen. Das Grün, die Natur, den großen Stall aus Backsteinfachwerk mitsamt den Schafen hatte ich mir letztlich nur als Kulisse gedacht, vor der Gedanken, Geschichten und Bücher entstehen würden, die selbst von Erde, Wunden, Grasflecken und Mist gänzlich unberührt blieben.

Nicht vorhergesehen hatte ich, dass alle, aber auch wirklich alle meine Mützen und Jacken von Heuhalmen geziert sein würden und dass ich Tastatur bedienender Weichling von der vielen körperlichen Arbeit so viel stärker werden und nötigenfalls schwere Gegenstände, Schafe und wehrhafte Gänse anheben und herumtragen würde. Dass mir meine Mutter, die mich in früheren Jahren zum Geburtstag mit fünfbändigen Ausgaben zur historischen Frauenforschung (oder Ähnlichem) beschenkt hatte, nun einen sogenannten Kipper spendieren würde, also einen Anhänger, den man mittels Hydraulik hochfahren und bequem wieder leeren kann; dass ich damit in gedrosseltem Tempo und mit kaum verhohlenem Stolz die Dorfstraße entlangfahren und die Blicke und Kommentare alteingesessener Landwirte einsammeln würde: »Oh, da hast du aber einen guten Kipper!« Und dass ich sogar lernen würde, dieses Ding rückwärts zu rangieren, nach zugegebenermaßen viel Wut- und Trotzanfällen (»Ich werde es nie lernen!«), die die erwähnten Dorfbewohner zum Glück nicht mitbekamen.

Ebenso wenig hatte ich geahnt, dass ich in heißen Sommern bisweilen um fünf Uhr morgens aufstehen würde, um die Stalltüren gegen die Morgensonne zu verschließen (nachts reiße ich zum Lüften alles auf), oder dass ich im Winter neben einem Schafpatienten Wache sitzen würde, der wegen der krassen Minustemperaturen mit einem Wärmestrahler aufgewärmt werden musste. (Man kann ein krankes Schaf nicht einfach mit ins Haus nehmen, weil es ohne die vertraute Herde panisch wird, und man kann einen Wärmestrahler nicht unbeaufsichtigt im Stall lassen, weil er sonst die Einstreu entflammen könnte.) Nicht vorhergesehen hatte ich, dass ich mir einen kleinen weißen Lieferwagen kaufen und mit alten Matratzen auspolstern würde, um Schaf-Notfälle in die 140 Kilometer entfernte Klinik zu bringen, und dass ich einer Gans namens Gwenny eine Tablette verabreichen und von dem dazugehörigen Ganter zum Dank so in den Daumen gebissen würde, dass mir der Hausarzt Antibiotika verordnen musste und mir eine zackige Narbe blieb.

Naiverweise hatte ich geglaubt, dass ich von meinem schönen Landsitz aus weiterhin völlig frei in alle Richtungen und alle Großstädte ausschwärmen könnte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass eine alleinstehende Person, die dreißig bis achtzig Tiere versorgt, natürlich nie »Wochenende« oder sonstwie »frei« hat. Längst aber arrangiere ich sämtliche Termine so, dass sie sich mit den Schafsterminen (Heulieferung, Ausmisten, Tierarztbesuche) nicht in die Quere kommen, und schaue mir die Wettervorhersagen daraufhin an, wann ein guter Tag fürs Klauenschneiden sein würde oder für den Zahnarzt – den der Schafe, meine ich, nicht meinen. Für den Zahnarztbesuch zum Beispiel sollte man keinen heißen Tag wählen, weil die kleinen Patienten vor dem Anwerfen des Schleifgeräts in eine leichte Narkose versetzt werden und ihre Körpertemperatur dann nicht so zuverlässig regulieren können. Und für die Klauenpflege ist es gut, wenn die Schafe vorher eine Zeit lang auf einer nassen oder feuchten Wiese gelaufen sind, dann werden nämlich die Klauen weicher; wenn man mitten in einer Trockenperiode an so ein Schaffüßchen ranmuss, empfiehlt es sich, selbiges einige Stunden vorher mit einem feuchten Tuch und einer Plastiktüte zu umwickeln.

Und wenn man die Plastiktüten gut festgebunden hat – am besten mit einem selbsthaftenden, elastischen, farbigen Tape, um die Blutgefäße nicht einzuschnüren – dann halten sie über Nacht oder sogar vierundzwanzig Stunden. Wenn man es allerdings nicht so perfekt hinbekommen hat oder das Schäfchen es houdinimäßig geschafft hat, sich die Dinger wieder abzustrampeln, darf man in den nächsten Tagen fleißig mit gesenktem Kopf den Stall durchpflügen und die Weide absuchen; und dabei findet man an den sonderbarsten Stellen rote, gelbe oder türkisfarbene Papierblumen, nass und in Tüten.

Ein paar Meter weiter erblickt man dann eventuell eine sonderbare, hellgraue Kugel; eigentlich zu perfekt kugelförmig für etwas, das in der Natur gewachsen ist, und erstaunlich schwer, wenn man es in die Hand nimmt … Und dann dämmert einem: Ach, da ist ja endlich der Tennisball, den die Ziege im letzten Sommer verloren hat!

Natürlich prangt am Horn der Ziege längst ein neuer Tennisball, und damit man immer auf solche Situationen vorbereitet ist, müssen auch sie in dem ehemaligen Gästezimmer, heute Werkzeugkammer oder Futterkammer genannt, bevorratet werden: Tennisbälle und Kartuschen mit diversen Silikon- und Montageklebern und dicke Rollen von Tape in mehreren verschiedenen Festigkeitsgraden und Farben. Ein Materiallager mit Ersatzteilen für alles und jedes gehört zu einem Lebenshof einfach dazu – nehmt das, ihr Minimalisten!

Kapitel 2 

Ein Zahnarzt für Schafe

Über die Zähne von Schafen hatte ich mir die längste Zeit meines Lebens nie Gedanken gemacht, in der Stadt schon gar nicht, aber auch nicht in den ersten Jahren auf dem Lande. Es gibt auch kein Lehrbuch für die Haltung von alten Schafen, in dem man darauf hingewiesen würde, dass Schafszähne ebenso von Verfall, Bruch und Fäulnis bedroht sind wie die vermutlich aller anderen Spezies. Genau genommen werden Seniorenschafe in Büchern zur Schafshaltung einfach gar nicht erwähnt, stattdessen ist meist ein Kapitel dazu enthalten, wie man Schafe schlachtet, verwertet oder verwurstet, denn üblicherweise werden Schafe mit spätestens fünf, sechs Jahren getötet.

Und selbst wenn es, wie mir zumindest ein Tierarzt erzählte, immer mehr Menschen gibt, die alte Tiere weiterleben lassen und versorgen, tut sich bei Diagnose und Therapie immer wieder Neuland oder zumindest wenig beschrittenes Land auf. »Solche Werte habe ich noch nie gesehen«, ist ein Satz, den ich regelmäßig höre, wenn ich bei einem kränkelnden Schaf eine Blutuntersuchung in Auftrag gegeben habe, gelegentlich sogar: »Mit den Werten dürfte es eigentlich gar nicht mehr leben!« Aber dann folgt oft die Einschränkung, dass eine normale Großtierpraxis nun einmal wenig Erfahrung mit alten Schafen sammeln kann.

Unsere Unvertrautheit mit alternden Tieren ist auch der allgemeinen Schieflage geschuldet, die so vieles im Verhältnis von Menschen und Tieren bestimmt. Wie leicht wir vergessen, wie eng wir verwandt sind! Und wie viel wichtiger wir unser Leben, unsere Sorgen und unsere Ziele zumeist nehmen als die ihren! Wir gehen davon aus, dass sie Hunger besser ertragen können und länger den Durst; wir denken, dass sie an die Trauer um früh verlorene Kinder irgendwie »gewöhnt« sind und dass sie Schmerzen besser »wegstecken«. Wenn ein Mensch sich einen kleinen Splitter im Finger zuzieht, wird desinfiziert, die Pinzette geholt, behutsam und mitfühlend herumpräpariert; wenn ein Fisch einen Angelhaken im Schlund hat und mit seinem ganzen Körpergewicht daran hängt, wird behauptet, dass der Fisch das kaum spürt und der Vorgang für den beteiligten Menschen sogar entspannend ist. »Wie Meditation«, sagt manch passionierter Angler.

»Wir und zumal die Gesicherten und Privilegierten unter uns sind stets geneigt, insgeheim zu denken, all die, denen das Glück weniger gewogen war als uns, seien schlichtere Gemüter, die unter ihrem Unglück am Ende so sehr gar nicht leiden oder es zumindest nicht so lebhaft empfinden wie wir, wenn uns ihr Schicksal trifft«, schreibt die amerikanische Philosophin Christine Korsgaard in ihrem Buch Tiere wie wir, und diese Form von Ignoranz gegenüber »schlichteren« Gemütern« trifft Menschen in anderen Teilen der Welt ebenso wie Mitglieder anderer Spezies.

Wir erwerben solchen Hochmut im Laufe unserer Sozialisation, sowohl den Rassismus als auch den Speziesismus; so nennen wir Tierrechtler:innen die Geringschätzung und Missachtung (anderer) Tiere. Diese speziesistische Sozialisation macht nur leider auch nicht vor uns Tierfreund:innen und Veganer:innen halt. Ich zumindest nehme mich dabei keinesfalls aus. Um nicht den eigenen Vorurteilen und eingespielten Hierarchien auf den Leim zu gehen, muss man im Umgang mit Tieren ständig die eigene Wahrnehmung überprüfen: Fasse ich ein Tier – beim Scheren oder Klauenschneiden – zu grob an, weil ich es mir so bei anderen abgeguckt habe, und ginge es auch anders? Könnte ich eine Medikamentengabe, die normalerweise mit Zwang abläuft, auch durch Kooperation erreichen? Achte ich darauf, ob ein Tier Schmerzen hat, auch wenn es mir dies nicht sagen kann?

Was die Wahrnehmung von Schmerz und Krankheit angeht, machen insbesondere Schafe es ihrem Menschen nicht gerade leicht. Manchmal kann man ihnen am Gesicht ansehen, dass etwas nicht stimmt, der Blick ist nicht klar, irgendwie wirken sie angespannt. Oft aber beißen sie auch lange die Zähne zusammen und versuchen sich in der Herde zu verstecken, um keine Angriffsfläche für einen Fressfeind abzugeben. Wenn ein Schaf allerdings gar im Stall liegen bleibt, während alle anderen längst auf der Weide sind, dann ist es meist schon schwer krank. Man muss die Tiere genau beobachten, um Kleinigkeiten im Verhalten zu bemerken, die auf ein Unwohlsein hindeuten könnten – und dann kann es natürlich trotzdem sein, dass ausgerechnet dieses Schaf ausgerechnet heute Lust hatte, etwas einmal anders zu tun.

Ich erinnere mich, wie ich einmal zwei Tage vor Weihnachten einen riesigen Aufriss veranstaltete, weil mein lieber Hammel Josh mehrmals so sonderbar lang an der Tränke gestanden hatte. Die bevorstehenden Weihnachtsfeiertage waren insofern relevant, als alle mir bekannten und erreichbaren Labore eine Woche lang Pause machen würden; wenn ich aber eine Urin- und eine Blutprobe bis zum Abend in die Tierärztliche Hochschule (Tiho) nach Hannover bringen würde, würden sie noch vor Weihnachten untersucht.

Natürlich hatten sich auch alle anderen Tierhalter:innen entschieden, vor Weihnachten für alle fraglichen Kandidaten noch rasch den Tierarzt zu konsultieren, und so fand ich auf die Schnelle keinen, der schon einmal einem Schaf Blut abgenommen hatte. Ich konnte aber einen befreundeten Kleintierarzt überreden, es zu versuchen, und ich muss sagen, er und Josh nahmen die Sache wirklich sehr sportlich. Nach ungefähr einem halben Dutzend Versuchen an vielerlei von Joshs Gliedmaßen gelang es, ein Röhrchen mit seinem Blut zu füllen.

Die Urinprobe nahm ich selbst, die Details muss ich nicht ausführen – es waren unter anderem eine Suppenkelle und ein Frischhaltebeutel involviert –, und dann fuhr ich bei Dunkelheit los, durch den vorweihnachtlichen Nebel, der sich bis Hannover verdichtete, wo ich dann in einer ans Dickens’sche London erinnernden Szenerie durch die Gänge der Tiho stolperte, an einer großen toten Kuh vorbeikam und schließlich meine Proben beim Nachtdienst des Labors abgeben konnte.

Die Proben waren negativ, also in dem Sinne: Es war alles okay. Josh war kerngesund. Weitere minutiöse Beobachtungen während der Weihnachtstage ergaben, dass er sich bloß eine neue Form des Trinkens angewöhnt hatte, die länger dauerte als normales Trinken, aber möglicherweise mehr Spaß machte: Er pustete in die Tränke hinein und schlürfte langsam vom Rand etwas weg. Ich habe noch ein Video davon.

Mit allzu argwöhnischen Augen, könnte man daraus folgern, sollte man seine Lieblinge eben auch nicht betrachten, jedenfalls darf man nicht jede Eigenheit oder Laune als ein zwingendes Anzeichen für etwas Bedrohliches ansehen. Was aber bedeutet wann was? Auch nach vielen Jahren Schafsbetreuung kann ich das nicht sagen. Das Lavieren zwischen Nachlässigkeit und Alarmismus bleibt eine ständige Herausforderung, ich fahre auf Sicht und mache vermutlich in beide Richtungen ähnlich viele Fehler: Manchmal übersehe ich etwas, und oft rufe ich den Tierarzt in falschem Alarm.

Tierarzt Jens jedenfalls fragt mich immer, wenn ich aufgeregt wegen eines potenziell kranken Schafs anrufe, erstens danach, welchen Eindruck es mache, und zweitens: »Hast du schon Fieber gemessen?«

»Nein, Jens, hab ich nicht, du weißt doch, wie groß das Joylein ist, ich kann ihn nicht alleine festhalten und hinten noch das Thermometer …«

Wir wiederholen diesen Dialog jedes Mal, mit unterschiedlichen Namen natürlich, und meine Einwände sind Jens jedes Mal völlig egal. »Ich muss jetzt noch ein Pferd wieder auf die Beine stellen, dann komme ich – aber bis dahin hast du Fieber gemessen!«

Ich muss sogar zugeben, dass diese Pädagogik Wirkung gezeigt hat, denn inzwischen kann ich tatsächlich bei fast allen Schafen alleine die Temperatur messen oder etwas anspruchsvollere Spritzen verabreichen, bei denen es mir anfangs nicht gelungen ist, weil die Patienten so viel Kraft haben und doppelt so viele Beine wie ich Arme. Und da ich nicht bemerkt habe, dass mir seitdem weitere Arme gewachsen wären, gehe ich davon aus, dass sich Menschen und Schafe aufeinander einstellen. An meinem Dialog mit Jens hat das allerdings nichts geändert.

Außer dem Fieberthermometer habe ich mir im Laufe der Jahre noch ein weiteres Hilfsmittel zugelegt, um den Zustand der Tiere etwas objektivierbarer zu erfassen, nämlich eine Waage. Es handelt sich um eine große Waage mit Metalloberfläche, wie sie im Wartezimmer vom Tierarzt steht, damit Hunde- und Katzenhalter:innen während der Langeweile des Wartens etwas zu tun haben. Und ich versichere Ihnen, dass nichts, was ich an Bemühungen, einen widerstrebenden Hund auf eine solche Waage zu bugsieren, in langer Wartezimmererfahrung mitbekommen habe, auch nur entfernt an das Gezappel herankommt, das man beim Schafewiegen erleben darf. Zumal Schafe es hassen, mit den Klauen Metall zu berühren, und auch der Gummimatte nicht wirklich trauen, bei der man ja sieht, dass sie auf dem gruseligen Metall liegt.

Hat man sich aber eine Wiegepraxis angewöhnt und schafft es, sie über die Jahre so halbwegs durchzuhalten und darüber Buch zu führen, so erkennt man manchmal das Vorliegen von Krankheiten, die sonst unbemerkt geblieben wären – allerdings weiß man natürlich nicht automatisch, welche. Als ich feststellte, dass Schoko, ein dunkelbraunes Kamerunschaf, im Vergleich zum Vorjahr mehrere Kilo Gewicht verloren hatte, brachte ich sie ziemlich besorgt zwecks Diagnostik in die bereits erwähnte Tiho in Hannover – nur um sie bereits wenige Stunden später wieder mitnehmen zu dürfen, denn in der Zwischenzeit hatte man sie sediert und die problematischen Zähne abgeschliffen.

Bei der Gelegenheit wurde ich über diverse Eigenheiten des Schafsgebisses aufgeklärt, das nämlich ziemlich anders aufgebaut ist als das von uns Menschen. Im vorderen Bereich besitzen Schafe nur unten vier Schneidezähne, die mit dem Alter nach und nach ausfallen. Bei manchen entwickeln die letzten verbliebenen ein, zwei Schneidezähne ein erstaunliches Eigenleben, sodass sie wackeln oder unter der Oberlippe hervorstehen. Wenn dies Menschen wären, denkt man unwillkürlich, würden sie ziemlich doll lispeln, und man kriegt diese Lispel-Assoziation dann auch nur schwer wieder aus dem Kopf, obwohl man ja weiß: Sie brauchen keine schwierigen Konsonanten auszusprechen, denn sie sind Schafe.

Im hinteren Bereich des Gebisses haben sie oben und unten zueinander passende Backenzähne, und wenn die auf ungünstige Weise abgerieben werden, kommt das ganze Wiederkäuen ins Stocken. Manchmal steht dann irgendwo so ein kleiner Haken hervor und hindert die Kiefer daran, ordentlich zu malmen. Da die Backenzähne aber nachwachsen, ist es mit einer einmaligen Behandlung nicht getan, sondern ab dem Alter von etwa sieben Jahren, so wurde uns empfohlen, sollte man die Zähne immer mal wieder kontrollieren lassen.

Und so läutete Schoko mit diesem Vorkommnis eine lange Reihe von Zahnarztterminen ein, für die nun keine einzelnen Schafe mehr nach Hannover gekarrt werden, sondern zwei bis manchmal vier Mal im Jahr ein Team von Tierarzt und Studierenden aus Hannover anrückt, um allgemeine Untersuchungen durchzuführen, Impfungen zu verabreichen und eben Zähne zu kontrollieren, eventuell einige zu ziehen, andere abzuschleifen … Und was eben sonst noch anfällt. Es kann durchaus sein, dass ich den Tierarzt bitte, ein bestimmtes Schaf abzuhören, das meiner Meinung nach ein auffälliges Nies- und Schniefverhalten zeigt. Und der Tierarzt befindet, an den Atemwegsorganen sei alles in Ordnung – dafür aber hat er an den Hinterklauen des Schafes Verhornungen festgestellt, die auf Milben schließen lassen und die ich von nun an jede Woche mit einer Tinktur behandeln muss.

Mehrere Jahre lang wurde dieser Außendienst der Tiho von einem Tierarzt ausgeführt, der heute eine eigene Praxis hat und den ich Dr. T. nennen möchte. Dr. T. war ein sympathisches Original ungefähr Mitte, Ende dreißig, das hemdsärmelig aussah und die Tiere dennoch sanft anfasste. Für den zahnärztlichen Part entwickelte er eine regelrechte Leidenschaft. Bevor er die Mäulchen untersuchte, umwickelte er die Metallstäbe des Untersuchungsgeräts mit Stoff, um die Mundschleimhaut nicht zu verletzen. Dann schaute er mithilfe einer Taschenlampe in den Rachen und freute sich voll Entdeckerstolz über jeden Zahn, der irgendwie aus der Reihe tanzte. Anscheinend wiesen mehrere meiner Kamerunschafe – die fast alle eng miteinander verwandt sind – im Unterkiefer einen schräg sitzenden schwarzen Backenzahn auf, und immer, wenn Dr. T. einen davon erblickte, frohlockte er angesichts dieser Bestätigung der Zahnverwandtschaften, rief die Studierenden herbei und ließ die Kamera mit derselben Begeisterung hervorholen, die der Besucher eines Nationalparks angesichts einer fünfhundertjährigen Eiche oder eines verwegenen Felsbogens an den Tag legt.

Aus Sicht der Schafe hingegen nimmt sich die Sache nicht ganz so fröhlich aus. Immer, wenn ein Tierarztbesuch ansteht, scheuche ich die kleinen Leute aus dem Stall auf, und sie laufen in Richtung des Vordachs, wo ihnen aber der Weg von einem weiteren mobilen Gitter versperrt wird. Ich laufe ihnen hinterher und schließe schnell ein zweites Gitter, zusammen bilden sie den Behandlungspferch. Ich weiß nicht genau, wie unangenehm den Schafen allein dieses Getrieben- und Eingepferchtwerden ist. Unverkennbar ist zumindest, dass sie durchaus wissen, dass ihnen eine Behandlung, irgendetwas mit Anfassen und Zwang, bevorsteht; gleichzeitig allerdings scheinen sie dabei auch immer wieder zu kooperieren. Wenn ich zum Beispiel ein bestimmtes Schaf in dem Behandlungspferch haben will, kann ich es oft auch dirigieren.

Ganz gleichgültig jedoch, wie man das »Einfangen« anstellt, die Zahnbehandlung selbst lässt das Tier nicht freiwillig mit sich machen. Man hält es fest und kann ihm auch nicht erklären, wozu das Ganze gut sein soll.

Und dann also kommt erst mal eine Injektionsnarkose … Manche Behandlungen, die beim Menschen nur unter Narkose verlaufen, vollzieht man bei Schafen ohne. Dies liegt teilweise wieder einmal daran, dass man ihren Schmerz geringschätzt, etwa wenn in der kommerziellen Schafshaltung routinemäßig der Schwanz der Lämmer abgeklemmt wird, bis er nach einigen Tagen abstirbt und abfällt. In anderen Fällen muss man aber den Schmerz gegen das Narkoserisiko abwägen und auch gegen das unangenehme Erleben der Narkose.

Es ist nämlich ein großes Missverständnis zugunsten des Menschen und seiner Grobheiten zu meinen, dass eine Betäubung für Tiere automatisch ohne Leiden abläuft. Mein Zahnarzt zum Beispiel gibt mir, bevor er mir die eigentliche Betäubungsspritze setzt, eine weitere Spritze zum leichteren Ertragen der eigentlichen Betäubung; und manche Menschen, die Angst vorm Zahnarzt haben, lassen sich schonend in Vollnarkose versetzen. Am anderen Ende der breiten Palette dessen, was Betäubung heißt, steht das Geschehen im Schlachthof; eine »Betäubung« per Bolzenschuss bedeutet einfach bloß, dass man vor der eigentlichen Tötung den Kopf zertrümmert bekommt. Eine »Betäubung« mit Kohlendioxid bedeutet, dass sich die Tiere wie am Ersticken fühlen und ohnmächtig werden – dann aber vor dem tatsächlichen Erstickungstod mit anderen Mitteln getötet werden.

Irgendwo zwischen diesen beiden Enden der Skala liegt vermutlich das Erleben meiner Schafe: Sobald die große Müdigkeit einzusetzen beginnt, kämpfen sie tapfer dagegen an. Das Köpfchen neigt sich nach vorne, die Augen fallen gelegentlich zu, der Körper schwankt … Aber wie jemand, der in einer langweiligen Konferenz nicht beim Einschlafen erwischt werden will, reißt sich der kleine Patient noch mehrmals wieder zusammen, bis er irgendwann wider Willen in die Knie geht.

Das Aufwachen verläuft ähnlich, nur umgekehrt. Oft bluten die Tiere nach einer zahnärztlichen Behandlung ein wenig aus dem Mäulchen, manchmal schäumt ihr Speichel, sie wirken ziemlich mitgenommen, physisch und noch mehr psychisch. Aber sobald sie wieder halbwegs bei Bewusstsein sind, wären sie gern wieder Herren oder Herrinnen ihrer Lage. Daher bleibt immer jemand (ein Mensch) eine Zeit lang bei ihnen sitzen, um zu verhindern, dass sie zu früh aufstehen, umkippen und sich verletzen.

Dr. T. behandelte meine Schafe übrigens nicht nur um der konkreten Verbesserungen für die Einzelnen willen, sondern im Dienst von Wissenschaft und Weiterbildung dokumentierte er auch alles, was er vollbrachte, damit künftige Generationen von Tierärzt:innen davon lernen. Daher muss sich heute eine große Kollektion an Fotografien von den erwähnten schwarzen Backenzähnen irgendwo in den digitalen Archiven der Tiho befinden.

Standardmäßig gibt es keine Zahnschemata für Schafe, einfach weil (noch!) nicht so viele Leute Schafe alt werden und sie zahnärztlich behandeln lassen; also entwickelte Dr. T. sein eigenes Formular, für das er eine Vorlage aus dem Pferdebereich etwas abwandelte. Und so habe ich heute in meiner Schublade knapp drei Dutzend Papiere, auf denen jeweils die Zahnreihen eines jeden Schafs eingetragen sind – in welchem Zustand sie waren, welche fehlten und welche rausmussten.

Am Anfang, bei Dr. T.s erstem Besuch, galt Letzteres für ziemlich viele Zähne, nämlich ganze vier Stück. Und Dr. T. gestand, er wisse selbst nicht, ob es daran liege, dass dies nun der erste so umfangreiche Zahnarztbesuch bei meiner Herde war und sich daher so viele faule Zähne angestaut hatten, oder ob seine Diagnostik nicht auch von seiner neuen Zahnzange beeinflusst wurde, in deren Gebrauch er die anwesenden Studierenden dann auch gleich einführte, wenn er sie nicht gerade bat, einen besonderen Zahn zu fotografieren oder das Schleifgerät zu halten.

»Herr T., wollen Sie sich aus den Zähnen eine Halskette machen, so wie andere Leute mit den Krallen von Bären?«, fragte die an jenem Tag anwesende Freundin und Helferin.

Eigentlich sei er kein passionierter Zähnezieher, sagte Dr. T., er habe in seinem ganzen Leben erst einmal einem Schaf einen Zahn gezogen – sich aber sicherheitshalber vor diesem Besuch dieses Spezialinstrument zugelegt.

Er schnüffelte an dem frisch gezogenen Zahn, der Geruch bestätigte ihm, dass der Zaun tatsächlich zu faulen und somit zu schmerzen begonnen hatte. Aber ganz genau kennt man die eigenen Motive natürlich nicht. Er zuckte mit den Schultern und sagte offenherzig: »For someone with a hammer, everything looks like a nail.« – Jemandem, der einen Hammer in der Hand hält, kommt alles vor wie ein Nagel.

Selbstverständlich bin ich mir sicher, dass Dr. T.s selbstironische Kommentare in der Sache nicht zutrafen und jeder Zahn die entsprechende Behandlung auch wirklich verdient hatte. Und wenn ich mir nicht sicher wäre, dass die Schafe von dem Besuch des Zahnarzts profitieren, würde ich keinen kommen lassen. Dennoch, wenn sie dann nachher dort liegen und langsam aus ihrer Narkose aufwachen, mit Spuren blutigen Speichels, bieten sie einen kläglichen Anblick. Daher habe ich, ehrlich gesagt, vor jedem solchen Tierarztbesuch etwas Angst, gehe aber nachher, wenn alle versorgt und wieder komplett wach sind, beinahe euphorisiert wieder ins Haus.

Morgen schon kann eines der Schafe zu humpeln beginnen oder sich das Horn abreißen und wie verrückt bluten … Oder ein Hagelsturm schlägt Löcher ins Vordach, und der Regen durchnässt die frische Einstreu. Oder der Tränkenwärmer geht kaputt, mitten im Winter. Oder es gibt Lieferschwierigkeiten bei Joyleins Salbe, und ich muss selbst welche in der Küche zusammenrühren und Vaseline im Wasserbad erhitzen, und ganz nebenbei bekomme ich dadurch ein tieferes Verständnis dafür, warum Zinksalbe genau dieses Rezept hat: weil sie so nämlich wahnsinnig gut klebt, auch an Herdplatten und Kacheln … Ständig kann alles Mögliche passieren – und tut es auch –, und das Wenigste lässt sich vorhersehen oder gar verhindern.

Aber zumindest die faulen Zähne sind jetzt raus, immerhin das wäre jetzt erledigt.

Kapitel 3 

Die beiden Kekse

Während sich für die Zahnproblematik eine so gute Lösung gefunden hat, bin ich mit manch weiteren Details meines »Schafaltersheims« schon seit Jahren unzufrieden. Denn dadurch, dass ich es sozusagen bei laufendem Betrieb aufgebaut, verändert und erweitert habe, konnte ich zu keinem Zeitpunkt einen perfekten Plan entwerfen und nirgends ein ordentliches Fundament legen. Letzteres gilt auch wörtlich: Der unter Denkmalschutz stehende Schafstall wurde Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf bloßem Erdboden errichtet, und die darin aufsteigende beziehungsweise hineinsickernde Feuchtigkeit ist fürs Stallklima nicht ideal.

Außerdem habe ich keinen Traktor und auch keinen Platz für einen solchen; dadurch bin ich manchmal auf die Hilfe der Nachbarn angewiesen, und vieles wird mühsam von Hand gemacht. Der Gänsestall, der einmal ein Hühnergehege für gerettete Biolegehennen war, wurde mehrmals umgebaut, verschoben und vergrößert, und in jeder Fassung sah und sieht er aus wie ein Provisorium, das nach handwerklicher Zuwendung schreit. Überhaupt habe ich im Laufe der Jahre so viel improvisiert – ein Krankenabteil hier, eine Halterung oder Absperrung dort –, dass es mir oft so vorkommt, als hätte ich jede Schraube, die hier verbaut ist, jedes Stück Gitter und jede Holzlatte schon zigmal in der Hand gehabt.

Die eine Sache aber, die ungebührlich lange nach einer Lösung rief, war die Badegelegenheit der Gänse. Zwei weiße Hausgänse leben hier, deren Alter zunächst einmal beinahe methusalemisch klingen mag, angesichts der für Gänse möglichen Lebensspanne von bis zu fünfzig Jahren aber eher die Blüte des Erwachsenseins markiert. Die zierliche Gwenny ist dreizehn Jahre alt und bis heute sehr scheu geblieben. Wenn man sich ihr nähert, flattert sie panisch von dannen, als ob alle Menschen Mörder wären (eine Auffassung, die aus Gänsesicht nicht ganz unbegründet ist). Ihr Partner ist der sechzehn Jahre alte Keks. Außer im späten Winter und im Frühjahr, wenn er Gwenny – meist auf ihre Aufforderung hin – begattet und später das Nest bewacht, ist er ziemlich gutmütig. Irgendwann hat meine Mutter begonnen, von beiden als den »Keksen« zu sprechen, und der Name ist geblieben.

Gänse sind wahnsinnig reinliche Geschöpfe, die sogar beim schlimmsten Matschwetter von November bis Januar makellos weiß durch die Landschaft spazieren. Manchmal sehe ich auf Überlandfahrten »Bio-Höfe« mit Gänseherden, die angeblich artgerecht gehalten und deren Körper kurz vor Weihnachten auf den Plakaten diverser Hofläden beworben werden; diese Gänse haben ausnahmslos ein verschmutztes Gefieder. Und nie habe ich bei einem solchen Hof mehr als nur einen kleinen Tränkeeimer gesehen; der ist aber nicht ausreichend für die Gefiederpflege der Gänse.

Gwenny und Keks hingegen besitzen eine blaue Bademuschel, die sie täglich nutzen, außer in den Wochen der Mauser im Juli. Abwechselnd klettern sie hinein, schlagen lautstark mit den Flügeln, wirbeln mit großem Schwung Wasser auf und erzeugen damit, wenn die Sonne scheint, einen Vorhang aus farbig schillernden Tropfen. Danach nehmen sie beinahe jede Feder einzeln zwischen ihre Schnäbel, glätten sie, reinigen sie und säubern Stellen, die noch nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Nach jeder menschlichen Berührung haben sie ein besonderes Bedürfnis, sich zu reinigen, ebenso nach dem – bei Gänsen zum Glück einvernehmlichen – Sex mit dem Partner.

Neben der Körperpflege haben die Gänse allerdings noch weitere wasserbezogene Hobbys, die sich mir als Mensch nicht ganz erschließen. In manchen Wochen pflegen Gwenny und Keks alles, was nicht niet- und nagelfest ist, also Halme, Gräser, welke Blätter, abzuzupfen und ins Wasser zu schmeißen. Zu anderen Zeiten scheint es ihnen geboten, die Badeschale mit Erde anzureichern. Dazu wühlen sie viele Schnabelladungen Boden auf und werfen diese ins Wasser. Nachdem sie damit fertig sind, beäugen sie ihre Wanne – so bilde ich es mir zumindest ein – mit höchstem Abscheu: In dieser widerlichen Pampe kann man doch nicht baden!

Man sieht also, dass Gänse ein komplexes Verhältnis zu ihrem Wasser haben, und ob die blaue Planschmuschel all diese Bedürfnisse wirklich befriedigen kann, scheint fraglich. Jeden Abend leere und fülle ich die Muschel wieder, jeden zweiten Tag wird der Belag mit einem Schwämmchen abgewischt; doch geschieht es stets mit einem Anflug schlechten Gewissens, denn eigentlich finde ich, dass Wasservögel ein Anrecht auf mehr haben als auf so ein Kunststoffbecken, in das sie nicht komplett eintauchen und in dem sie schon gar nicht schwimmen können.