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Die Vielfalt der schwedischen Märchen Vertrautes und Fremdes, verwunschene Königstöchter, böse Stiefmütter, hilfreiche Tiere, arme Bauernkinder auf der Suche nach dem großen Glück, überlistbare Riesen, zaubernde Trolle – das und vieles mehr findet man in den lustigen wie makabren Märchen Schwedens. Sie verbinden die Schönheit der Natur mit der Magie der nordischen Folklore und entführen in die märchenhaften Landschaften Schwedens. Diese Sammlung, von Erik Gloßmann ausgewählt und ins Deutsche übertragen, lädt auf eine zauberhafte Reise ein, die von Schonen im Süden über Småland bis hinauf in den rauen Norden Lapplands führt.
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Seitenzahl: 314
Veröffentlichungsjahr: 2024
Reclam
RECLAM TASCHENBUCH Nr. 962279
2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: Carl Larsson (1853–1919), Mummenschanz
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2024
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962279-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020757-4
www.reclam.de
Einladung zu einer Märchenreise durch Schweden
Die drei hässlichen alten Weiber
Holzkäppchen
Der rothaarige Verlobte
Dummerjöns
Groß-Ola und Klein-Ola
Die Alte an der Quelle
Lockebock
Die Flaschen des Riesen
Die verschwundene Braut
Der singende Baum
Die entführte Prinzessin
Der schöne Vogel
Gässka und Nave
Der goldene Baum, der singende Fluss und der sprechende Vogel
Die Wünsche
Liliput oder der Däumling
Prinz Wilhelm
Der Begleiter
Die goldene Gans
Goldäpfel mit Silberblättern
Der Junge, der mit dem Riesen um die Wette aß
Die Riesenhütte, deren Dach aus lauter Würsten bestand
Schnipp, Schnapp, Schnorium
Der diebische Schustergeselle
Der Braten für den Pastor
Die stehlenden Brüder
Der Lindwurm und der Bauer
Vom kleinen Knös
Ehrlich währt am längsten und mehrt sich, Unrecht schmilzt wie Schnee bei Tauwetter
Die Rübe
Der Löwe
Die Königstochter im Turm
Der wunderbare Hecht
Der Junge, der die Hasen des Bergkönigs hütete
Das Schloss, das auf goldenen Pfählen stand
Hast du in mein Kästchen geschaut?
Der Junge, der das Riesenkind in den Brunnen fallen ließ
Der Werwolf
Die Lappschlittenfahrt
Die Braut des Riesen
Der listige Lappe
Verzeichnis der Quellen und Übersetzungsvorlagen
Übersetzungsvorlagen
Darf ich Sie zu einer Märchenreise durch Schweden einladen? Ich schlage vor, dass wir in der alten Handels- und Garnisonsstadt Ystad an Land gehen. In der Bucht, in der sich der Hafen befindet, sind in den vergangenen Jahrhunderten Wikinger, Missionare, Hanse-Kaufleute, Soldaten, Scholaren, Flüchtlinge und letztlich auch Touristen gelandet, die neben Waffen, Waren, Handwerk und Wissenschaft oft auch Bücher und Geschichten ins Land brachten. Insofern steht Schweden ganz in der skandinavischen Märchentradition, die altnordische, orientalische, antik-griechische und -römische sowie christliche Mythen und Legenden übernahm, mit Lokalkolorit versah und mit örtlichem Erzählgut verschmolz – oder in späteren Zeiten Märchen aus anderen europäischen Ländern und Regionen ganz einfach adaptierte. Wie alt einzelne Stoffe sind, lässt sich nur schwer bestimmen. Wichtiger für die konkrete Ausformung ist eher der Zeitpunkt, an dem sie aufgezeichnet wurden.
An dieser Stelle möchte ich Sie mit unserer ersten Reisebegleiterin bekannt machen. Eva Wigström, die bedeutende Sammlerin schonischer Märchen, wurde am Weihnachtsabend des Jahres 1832 als Eva Nilsson auf einem Bauernhof bei Landskrona geboren. Zum ›Haushalt‹ gehörten dort über vierzig Personen, und die junge Eva war früh mit deren Tätigkeiten und Denkweisen vertraut. Angeregt durch die Volkshochschulbewegung begann sie, Sagen, Volkslieder und Märchen aufzuzeichnen, zuerst nur bei Bekannten in der Umgebung von Helsingborg, später auch auf ausgedehnten Reisen, die von der historischen und archäologischen Vereinigung Schonens unterstützt wurden. Parallel dazu startete sie einen Aufruf in allen schonischen Zeitungen, man möge ihr mit Hinweisen und Texten beistehen. Erste Buchausgaben erschienen 1880 (Skånska visor, sagor och sägner) in Lund und 1881, unterstützt von Frederik Lange Grundtvig, in Kopenhagen. Der zweite Teil ihrer Volksdichtung fand dann in dem Göteborger Torsten Hedlund wieder einen schwedischen Verleger, der allerdings wie seine Vorgänger feststellen musste, dass sich kaum jemand dafür interessierte. Eva Wigström aber gab nicht auf. Mit einem neuen Manuskript reiste sie nach Stockholm, klapperte die Verlage ab und landete schließlich bei Albert Bonnier, der ihr zwar 400 Kronen zahlte, die Sammlung aber nicht druckte. Auf Drängen Eva Wigströms handelte der Dozent J. A. Lundell aus Uppsala Bonnier das Manuskript für 150 Kronen ab und versprach, die umfangreiche Märchensammlung zu publizieren. Dieses Versprechen löste er nur zum Teil ein. Eva Wigström starb am 6. Januar 1901. Erst anlässlich einer Neuausgabe von Eva Wigströms Folkdiktning, die 1952 von Aina Stenklo vorgenommen wurde, erschienen alle im Originalmanuskript enthaltenen Texte.
Eva Wigström begrüßt uns in Ystad mit »Die drei alten Weiber«, einem Schwank, der vermutlich aus Norddeutschland herübergekommen und in ganz Skandinavien verbreitet war. Ihre Version wirkt besonders frisch und deftig.
Wir verlassen nun die Ostseeküste und reisen ins Zentrum der Provinz Schonen, in den Altkreis Onsjö. Dort treffen wir »Holzkäppchen«, eine schwedische Variante des weltbekannten Märchens von »Aschenputtel« beziehungsweise »Cinderella«, gruseln uns bei der Räuberpistole vom »rothaarigen Verlobten« und erleben, wie »Dummerjöns«, natürlich der jüngste von drei Brüdern, die schöne Prinzessin erobert.
Machen wir nun einen Abstecher auf die im Öresund gelegene Insel Ven, die vor allem durch das von dem Astronomen Tycho Brahe erbaute Schloss Uranienborg und das Observatorium Stjärneborg bekannt wurde. Hier präsentiert uns Eva Wigström die makabre Geschichte von »Groß-Ola und Klein-Ola«, in der mehrere auch in Deutschland bekannte Schwänke aufgegangen sind.
Wir setzen nun wieder zur skandinavischen Halbinsel über und landen im Fischerdorf Borstahusen bei Landskrona. »Die Alte an der Quelle« schenkt einem Hecht das Leben und hat die berühmten drei Wünsche frei, weiß die Chance aber nicht zu nutzen, sondern landet im Schlamassel. Das Grundmotiv ist seit Euripides bekannt und hat, in verschiedenen Gestaltungen, tatsächlich weltweite Verbreitung gefunden.
Wir bleiben in der engeren Heimat Eva Wigströms, folgen der Küste und sind nach knapp zwanzig Kilometern in Helsingborg. Hier hören wir von »Lockebock«, der den bösen Riesen überlistet und um seine Kleinodien bringt. Die Riesen in den schwedischen Märchen sind in der Regel stark, bösartig und dumm. Das Märchen »Die Flaschen des Riesen« stellt uns einen Vertreter dieser Spezies vor, der, Flaschen gegen Kühe tauschend, die Menschen belohnt und bestraft, ganz wie sie es verdienen. Vielleicht ist dieser Riese auch deshalb so anders, weil er, wie die Forschung herausfand, ursprünglich mal ein Zwerg war und aus Irland stammte?
Etwa zehn Kilometer nördlich, an der Küste von Skäldersviken, liegt die kleine Gemeinde Brunnby. Dort notierte Eva Wigström das Märchen »Die verschwundene Braut«, dem originär nordische Motive zugrunde liegen. Die schonische Variante von der im Berg eingeschlossenen Prinzessin ist besonders phantasievoll ausgeschmückt. Dasselbe gilt für »Der singende Baum«, so dass man hier dieselbe Quelle vermuten könnte. Dieses Zaubermärchen ist sogar ganz einzigartig.
Westlich von Brunnby, am Übergang vom Öresund zum Kattegatt, liegt die Kleinstadt Höganäs. Eva Wigström hat hier die Geschichte »Die entführte Prinzessin« aufgeschrieben, die ebenfalls schwedischen Ursprungs ist, in einer frühen Form bereits 1701 notiert wurde und in mehreren Varianten als wohlfeiler Jahrmarktsdruck kursierte. Aus dem Kreis Luggude kommt auch »Der schöne Vogel«, doch eigentlich stammt er wohl aus Deutschland, wo der Wacholder bei den Brüdern Grimm noch ›Machandelboom‹ hieß. Auch dieses Märchen wurde anonym ins Schwedische übersetzt, in Heftform auf Jahrmärkten verkauft, gelesen und beim Weitererzählen verändert und ausgeschmückt.
»Gässka und Nave« ist ein wahres Konglomerat an Schwänken mit einem leicht frauenfeindlichen Einschlag, aber letztlich geht die Geschichte auch für die dummnaive Heldin akzeptabel aus.
Östlich von Höganäs liegt die Kleinstadt Ängelholm. Hier fand Eva Wigström in »Der goldene Baum, der singende Fluss und der sprechende Vogel« ein Märchen, dessen Ursprünge wohl im Mittelmeerraum oder im Vorderen Orient zu suchen sind. Der Franzose Galland, der mit seiner Übersetzung der Geschichten aus den 1001 Nächten großen Erfolg hatte, soll diesen Stoff zu der berühmten arabischen Sammlung hinzugefügt haben. Details weisen darauf hin, dass der Erzähler in Ängelholm wiederum durch einen jener billigen »Schillingdrucke« (skillingtryck) inspiriert wurde. Ebenfalls aus Ängelholm kommen »Die Wünsche«, eine weitere Variante der bekannten Vorlage – und der Lumpenjunge macht seine Sache wahrlich besser als die »Alte an der Quelle«.
Wir wandern nun in nordöstlicher Richtung in den alten Amtskreis Södra Åsbo und treffen die schonische Inkarnation eines guten alten Bekannten: »Liliput oder Der Däumling«. Im angrenzenden Kreis Norra Åsbo machte Eva Wigström einst Bekanntschaft mit »Prinz Wilhelm«, und so können auch wir die weltweit bekannten Motive der magischen Flucht und der vergessenen Braut in ihrer südschwedischen Variante genießen.
In Torup im Kreis Västra Göinge erwischte Eva Wigström ein Märchen, dass auf einer uralten Legende beruht und ansonsten nie in Schweden aufgezeichnet werden konnte: »Der Begleiter«. Nachdem wir über Schwänke lachen und uns über wundersame Rettungen freuen durften, bringt uns dieser religiös-philosophische Text zum Nachdenken.
Ein wenig grübeln dürfen wir auch beim folgenden Märchen, das wir gut kennen: »Die goldene Gans«. Eva Wigström hat es in Osby aufgeschrieben. Der Held heißt ausgerechnet Aschenpott …
Bevor uns das auf eine falsche Fährte führt, verabschieden wir uns von Eva Wigström. Ihre Märchen wirken frisch und trotz vieler tradierter Stoffe originell. Frau Wigström stammte aus ihrem ›Sammelgebiet‹ und kannte die vorwiegend ländlichen Milieus; sie hatte sicher einen besonders guten Draht zu den Märchenerzählern. Davon zeugen die vielen zum Teil pikanten Details und Ausschmückungen; so etwas vertraute man wohl nicht jedem Fremden an. Wir dürfen nicht vergessen, dass Schweden damals ein armes, bäuerliches und rückständiges Land war. Zehntausende wanderten nach Amerika aus, Kirchen und Sittlichkeitsvereine reglementierten das Geistesleben und trieben Schriftsteller wie August Strindberg oder Wigströms schonischen Landsmann Ola Hansson außer Landes – beide Autoren waren übrigens sehr an den Märchen und Sagen ihrer Heimat interessiert.
Wir bleiben noch im Norden Schonens und wechseln nur den Reiseleiter. Unser neuer ortskundiger Begleiter heißt David Julius Billengren. Er wurde am 20. Juli 1802 in Äsphult geboren und wirkte ab 1841 als Provinzialarzt in Ljungby im nördlich an Schonen grenzenden Regierungsbezirk Kronoberg. In Ljungby befindet sich übrigens heute das schwedische Märchenmuseum. Wenn ich Billengren jetzt einen ›Zuträger‹ nenne, ist das nicht abwertend gemeint. Er gehörte zu denen, die das große Projekt von Gunnar Olof Hyltén-Cavallius und George Stephens unterstützten, schwedische Märchen zu sammeln. Sein Beitrag »Goldäpfel mit Silberblättern« wäre wohl ohne Nennung seines Namens in die große Sammlung eingegangen, wäre deren Veröffentlichung nicht wegen kommerziellen Misserfolgs nach dem ersten Band eingestellt worden. So blieb der Name Billengren auf dem Manuskript im Nachlass bewahrt.
Wechseln wir nun endgültig in die an Schonen nördlich angrenzende Provinz Småland. Wir haben nun die Ehre, von den berühmtesten Märchensammlern Schwedens geführt zu werden, von Gunnar Olof Hyltén-Cavallius und George Stephens höchstpersönlich! Die Bedeutung dieser beiden Enthusiasten für die Bewahrung schwedischer Volksmärchen ist etwa jener der Brüder Grimm in Deutschland vergleichbar. Gunnar Olof Hyltén-Cavallius wurde am 18. Mai 1818 in Vislanda in Småland geboren. Sein Vater, der Probst Carl Fredrik Cavallius, war ein begabter Märchenerzähler, begeisterte seinen Sohn für die Volkspoesie und wies ihn darauf hin, dass die mündliche Erzähltradition im Aussterben begriffen war. So widmete sich Hyltén-Cavallius, der 1839 bis 1859 Amanuensis der Königlichen Bibliothek in Stockholm war, zusammen mit seinem Freund George Stephens (1813–1895), einem aus Liverpool stammenden Archäologen und Sprachwissenschaftler, der Bewahrung und Erforschung schwedischer Volksmärchen. Von 1844 bis 1849 erschien die berühmte Sammlung Svenska sagor och äfventyr (dt. Schwedische Sagen und Abenteuer).
Im Süden Smålands entdeckten Hyltén-Cavallius und Stephens unter anderem den »Jungen, der mit dem Riesen um die Wette aß«, ein weiteres Beispiel für die Konstellation kluger Junge – dummer Riese, sowie »Die Riesenhütte, deren Dach aus lauter Würsten bestand«. In der deutschen Fassung dieser Horrorgeschichte sind die Hauptrollen mit Hänsel und Gretel besetzt; in Schweden wurde das Knusperhäuschen durch eine Riesenhütte mit einem Belag aus Würsten ersetzt; man mag gar nicht daran denken, woraus diese gemacht wurden …
Ebenfalls aus dem ›Märchenland‹, dem südlichen Småland, stammt das Märchen »Schnipp, Schnapp, Schnorium« über drei sehr begabte Hunde, die die besten Freunde eines Menschen sind und ihm zu seiner Prinzessin verhelfen.
Wir wechseln nun vorübergehend den Reisebegleiter und begeben uns in die Obhut von Sven Sederström aus Aringsås bei Alvesta. Sederström (1810–1846) war ein religiöser Fanatiker, später Maler und einer der fleißigsten ›Zuträger‹ von Hyltén-Cavallius und Stephens, denn er war arm und krank und verdiente so ein wenig hinzu. Er begrüßt uns mit der spannenden Kriminalgeschichte »Der diebische Schustergeselle«, einem sehr modern anmutenden Anti-Märchen, denn hier basiert der Erfolg des Helden nicht zuletzt auf dem Aberglauben seiner Mitmenschen.
Sven Sederströms Märchen gründen ebenfalls in der mündlichen Überlieferung, doch sie zeigen eine literarische Ausformung, die sicher den erzählerischen Ambitionen des Sammlers geschuldet ist. Vielleicht ist es sogar ein Glücksfall, dass seine Märchen nicht in die Ausgabe von 1844–1849 Eingang fanden und in der Form des Manuskripts bewahrt wurden. »Der Braten für den Pastor« verbindet verschiedene europaweit bekannte Motive mit der typisch nordischen Troll-Szenerie. »Die stehlenden Brüder« agieren ganz in der historischen Gegenwart; in dieser Schelmengeschichte ist die Kritik am Aberglauben besonders witzig und deutlich formuliert. Eine zeitlose Parabel über Gut und Böse wird in »Der Lindwurm und der Bauer« erzählt, und mit dem »kleinen Knös« lernen wir einen Ahnen von Superman und anderen Helden des Medienzeitalters kennen.
Nun übernimmt ein weiterer ›Zuträger‹ die Führung und geleitet uns in den Südwesten Smålands. Dort werden wir mit einem Katzenmärchen begrüßt; es heißt: »Ehrlich währt am längsten und mehrt sich, Unrecht schmilzt wie Schnee bei Tauwetter«. Die bereits im Titel formulierte Moral deutet darauf hin, dass eine an sittlicher Verbesserung der Menschen interessierte Person die Schreibhand im Spiel hatte. Kein Wunder, der ›Zuträger‹ ist niemand anderes als der Vater von Gunnar Olof, Probst Carl Fredrik Cavallius (1871–1857). Deshalb begegnen wir in »Die Rübe« sogar Sankt Petrus und ›Unserem Herrn‹ und erfahren in »Der Löwe«, dass alles gut wird, wenn man Hexen auf öffentlichen Plätzen bei lebendigem Leibe verbrennt.
Verlassen wir nun das Festland und begeben uns mit Hyltén-Cavallius und Stephens auf die Insel Gotland, die gegenüber der Küste Smålands weit draußen in der Ostsee liegt. Wenn man die reichen Zeugnisse des Mittelalters betrachtet, die noch heute in Visby und Umgebung zu finden sind, fällt es nicht schwer, sich in eine märchenhafte Stimmung zu versetzen und die Geschichte »Die Königstochter im Turm« zu genießen.
Wir kehren aber sofort auf die skandinavische Halbinsel zurück, wandern ein Stück nach Norden und landen in Östergötland. »Der wunderbare Hecht« verspricht dem Fischer eine Belohnung für seine Freilassung, und zum Schluss herrschen die Söhne des braven Mannes über zwei Königreiche.
Von Östergötland geht es in Richtung Norden ins Landesinnere nach Dalarna – Sie wissen schon, wo die Holzpferde herkommen … Dort erleben wir, wie ein Hütejunge durch gezielt verbreitete Indiskretionen reich wird; das Märchen heißt »Der Junge, der die Hasen des Bergkönigs hütete«.
Von Dalarna geht es ins angrenzende Västmanland in »Das Schloss, das auf goldenen Pfählen stand«. Wenn Sie noch nicht wussten, was ein Running Gag ist – hier erleben sie einen, im wahrsten Sinne des Wortes! Und sie lernen einen schwedischen ungestiefelten Kater kennen, der seinem beschuhten deutschen Verwandten in nichts nachsteht.
Von Västmanland begeben wir uns ein Stück nach Osten, in die Gegend zwischen Vaxholm und Norrtälje. Dabei passieren wir die Hauptstadt Stockholm, in der Gunnar Olof Hyltén-Cavallius übrigens von 1856 bis 1860 Direktor der Königlichen Theater war, und befinden uns in einem Landstrich, der Roslagen heißt. Hier hat Carl Osswall Dammgren Volksmärchen gesammelt, doch über seine Person ist leider nichts überliefert. In alten Zeiten herrschte in Roslagen offenbar große Not, denn im Märchen muss ein armer Bauer sogar seine Tochter verkaufen. Leider erweist sich diese als überaus neugierig. Die Hexe fragt »Hast du in mein Kästchen geschaut?«, das Mädel lügt, und die Strafe folgt auf dem Fuß.
Noch ein Stück weiter nach Norden führen uns die beiden Nestoren unter den schwedischen Märchensammlern. In Uppland hören wir die schlimme Geschichte vom »Jungen, der das Riesenkind in den Brunnen fallen ließ«. Natürlich sind die schwedischen Märchenriesen böse und doof, aber hier kann einem die Familie der Großgewachsenen beinahe leidtun. Aus derselben Gegend stammt »Der Werwolf«: Ein verwöhntes Prinzesschen wird von einem weisen Zwerg auf einem hohen Berg geläutert und kriegt ihren Prinzen – ohne buschigen Schwanz. Dafür schnürt zum Schluss die böse Stiefmutter samt ihren Töchtern im Wolfspelz durch die Natur.
An dieser Stelle verabschieden wir uns von Gunnar Olof Hyltén-Cavallius und George Stephens, denn nun geht es in den kalten Norden. Hyltén-Cavallius dagegen zog es von Stockholm nach der südlichen Halbkugel – von 1860 bis 1864 war er Diplomat in Brasilien. Nach seiner Rückkehr gründete er in Växjö das erste Volkskundemuseum Schwedens, erwarb sich den Ruf, einer der wichtigsten Ethnologen seines Landes zu sein, und starb in Skatelöv in seinem ›Märchenland‹ Småland am 5. Juli 1889.
Alle bisherigen Märchen stammten aus dem dichter besiedelten südlichen Drittel Schwedens, meistens aus dem ländlichen Bereich. Sie wurden auf Gutshöfen in Gesinde- und Spinnstuben erzählt und handeln vorwiegend in bäuerlichen Milieus, mit seltenen Ausflügen in höfische oder bürgerlich-städtische Gefilde. Schweden war, wie gesagt, im 19. Jahrhundert ein armes Land, deshalb hat man oft den Eindruck, dass die Königreiche nicht größer sind als Gutshöfe. Ansonsten kann man gewisse Grundmuster erkennen: Auch der redliche und/oder gewitzte Arme kann sein Glück machen; es trifft meistens den dritten Sohn und die jüngste Prinzessin. Riesen sind dumm, Stiefmütter heimtückisch, Trollfrauen und Hexen bösartig und gefährlich, aber mit Herzensgüte und/oder List durchaus zu besiegen.
Ganz anders verlief das Leben im hohen Norden Schwedens. Hier lebten Jäger, Fischer, Holzfäller und Rentierzüchter, die Tundra und das Bergland waren (und sind) dünn besiedelt. Die ursprünglich nomadische Bevölkerung, zumeist Lappen beziehungsweise Samen, wie die heute korrekte Bezeichnung lautet, führte einen ständigen Kampf mit der Natur und den Geistern. Die Riesen des Nordens hießen Stalo und waren ebenso dumm wie ihre Artgenossen im Süden. Reisen wir also viele hundert Kilometer nach Norden. Unser Begleiter ist Johan Herman Hofberg, geboren am 11. Juni 1823, gestorben am 28. April 1883. Hofberg wirkte als Arzt in Edberg im Regierungsbezirk Örebro, schrieb ein geographisch-historisches Lesebuch für Heim und Schule und widmete sich dem schwedischen Volksleben sowie der Regional- und Altertumsforschung. Sein Buch Svenska folksägner samlade och försedda med historiska och etnografiska anmärkningar (dt. Schwedische Volkssagen gesammelt und mit historischen und ethnografischen Anmerkungen versehen) erschien 1882 (und in einer faksimilierten Neuausgabe 1983). Die Übergänge von Märchen und Sagen sind fließend. In den Sammlungen von Wigström und Hyltén-Cavallius finden sich einige Märchen, die aufgrund ihrer Ortsbezogenheit eher den Sagen zuzuordnen wären, während einige der Volkssagen in Hofbergs Buch durchaus als Märchen bezeichnet werden können. »Die Lappschlittenfahrt« notierte Herman Hofberg in Umeå, der größten Stadt der Provinz Västerbotten. Noch weiter im Norden, in Lappland, fand er »Die Braut des Riesen«, die ihrem ungeliebten Gemahl durch eine List des Vaters entkommt. Den Band beschließt eine lustige Geschichte, in welcher »Der listige Lappe« einen tumben menschenfressenden Stalo zum Narren hält.
Leider ist unsere Märchenreise durch Schweden nun zu Ende. Ich habe Ihnen bevorzugt Texte vorgestellt, die noch nie oder seit 1848 nicht mehr ins Deutsche übertragen wurden, in bewusster Abgrenzung zu den Ausgaben schwedischer Volksmärchen in deutscher Sprache, die es in den letzten Jahrzehnten gegeben hat. Alle Märchen wurden für diesen Band neu beziehungsweise erstmals übersetzt. Und ich habe Wert daraufgelegt, dass möglichst viele Regionen Schwedens vertreten sind, damit sich die Reise auch lohnt, wie man so schön sagt.
Ihnen ist kalt? Dann liegt es daran, dass Sie sich noch immer in Lappland befinden. Schließen sie kurz die Augen. Wenn Sie sie wieder aufmachen, sind Sie wieder an dem Ort, an dem Sie dieses Buch aufgeschlagen haben.
Hönow, im Mai 2024
Erik Gloßmann
Ystad, Schonen
Eine junge Magd spazierte einmal allein einen Weg entlang, da vernahm sie Pfeiftöne, die von irgendwoher an ihr Ohr drangen. Ohne darüber nachzudenken, zählte sie mit. »Eins«, sagte sie laut, und nach einer Weile »zwei«, und so ging es immer weiter, bis dreizehn.
Ein vornehmer Herr lief hinter ihr, und als er sie zählen hörte, schloss er zu ihr auf, fasste sie am Arm und fragte:
»Was zählst du da, junge Dame?«
Nun kann man nicht immer auf alles eine Antwort parat haben. Das Mädchen aber wollte nicht als dumm dastehen, deshalb antwortete es schnell: »Oh, ich zähle nur die Flachsknäuel, die ich heute versponnen habe.«
Was für ein flinkes und fleißiges junges Ding, dachte der vornehme Herr. Ich hätte wohl Lust, es zu meiner Frau zu machen. Und wie gedacht, so kam es auch: Sie verlobten sich.
Für die junge Magd war es eine gute Sache, denn der Bräutigam war sowohl reich als auch vornehm. Allerdings hatte sie noch nie an einem Spinnrad gesessen. Was, wenn ihr Zukünftiger eine Probe ihres Könnens und ihres Fleißes verlangte? Tag und Nacht grübelte sie, wie sie die Prüfung bestehen könnte. Als sie wieder einmal in den Wald gegangen war, um in Ruhe nachzudenken, brach sie sogar in Tränen aus – wegen der unseligen dreizehn Flachsknäuel natürlich.
Da trat aus einem Felsen ein altes Weib, dessen Hintern so breit war, dass man daraus zwei Stalltüren hätte machen können. »Was fehlt dir, mein schönes Kind?«, erkundigte es sich freundlich.
Weinend bekannte die junge Magd, was geschehen war und dass sie Angst habe, auf die Probe gestellt zu werden. Sie könne doch weder spinnen noch weben oder gar nähen; das habe sie alles nie gelernt.
»Dir kann geholfen werden«, versprach das alte Weib.
»Wenn du mich und meine beiden Schwestern zur Hochzeit einlädst, dann musst du dir keine Sorgen machen. Du sollst mich als deine Großmutter und meine Schwestern als deine Tanten begrüßen. Eines kann ich dir aber vorher sagen: Hübscher als ich sind sie nicht.«
Das Mädchen versicherte, sie dürften gern kommen, und wären sie doppelt so breit. Sie würde alle drei gern als ihre Verwandten präsentieren, bekäme sie nur Hilfe, falls man Proben ihres Könnens verlangte. Die Alte meinte, die Breite sei bei ihren Schwestern nicht das Problem, aber das Mädchen werde ja selbst sehen, hielte es sein Versprechen, so wie sie ihres zu halten gedachten.
Der reiche Bauer lud sie rechtzeitig ein, und so erschienen unter den Gästen drei alte Weiber, wie man sie noch nie gesehen hatte. Das eine brauchte drei Stühle zum Sitzen, das zweite hatte Ohren, die bis auf die Schultern herabhingen, und das dritte hatte seine Brüste auf den Rücken geworfen. Jedem, der es hören wollte, erzählte die Braut, bei den drei Alten handele es sich um ihre Großmutter und ihre beiden Tanten. Als der Bräutigam vernahm, dass nahe Verwandte seiner Frau eingetroffen seien, musste er natürlich mit ihnen reden. Da er nicht besonders feinfühlig war, erkundigte er sich rundheraus nach ihrem Aussehen:
»Warum seid Ihr so breit?«, fragte er die vermeintliche Großmutter.
»Ach, lieber Herr, ich habe so viel am Spinnrad gesessen, dass mein Hintern sich so entwickelt hat«, antwortete die Alte.
»Dann soll meine Frau niemals spinnen«, sagte der Mann erschrocken. Dann ging er zur ersten der beiden Tanten. »Warum sind Eure Ohren so lang?«, wollte er wissen.
»Weil ich so viel genäht habe in meinem langen Leben. In meinem Fleiß habe ich die Nadel samt Faden so oft durch meine Ohrläppchen gestochen, dass sie immer länger wurden. So etwas kann schnell passieren.«
»Davor soll meine Frau verschont bleiben!«, rief der Mann. »Niemals lasse ich sie nähen!« Schließlich ging er zu dem dritten alten Weib und fragte, warum es so riesige Hängebrüste habe.
»Das ist leicht zu erklären«, meinte die angebliche Tante. »Ich habe die meiste Zeit am Webstuhl gesessen. Als ich verheiratet war, bekam ich viele Kinder. Um meine Arbeit nicht zu versäumen, warf ich die Brüste immer über die Schultern und stillte die Kleinen auf meinem Rücken. Ja, mein Herr, wenn man fleißig weben will, muss sich alles andere unterordnen.«
»Um Gottes Willen! Meine Frau soll niemals an einem Webstuhl sitzen müssen«, rief der erschrockene Bräutigam. So war die junge Braut von ihrer großen Sorge befreit, und im großen Ganzen war es nur eine dumme kleine Bemerkung gewesen, der sie alles zu verdanken hatte.
Gemeinde Reslöv, Kreis Onsjö, Schonen
In jener Zeit, als alle Tiere sprechen konnten, geschah es, dass zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, ihre Eltern verloren und nichts anderes erbten als eine Kuh und einen Hund. Der Junge, der älter war, wählte zuerst und nahm die Kuh; also erhielt das Mädchen den Hund.
»Du wirst es nicht bereuen, dass du mich bekommen hast«, sprach der Hund. »Wenn du meinen Rat befolgst, wird es dir nicht schlecht ergehen.« Der Junge zog mit seiner Kuh davon, um sie zu verkaufen, während sich das Mädchen und der Hund auf den Weg machten, das Glück zu suchen.
Als sie eine Weile gegangen waren, kamen sie an einen Herrenhof. Da riet der Hund dem Mädchen, es solle hineingehen und um das schlechteste Seidenkleid der Gutsherrin bitten. Das Mädchen hielt dieses Ansinnen für dreist, denn es war ausgesprochen ärmlich gekleidet – Kappe und Schürze bestanden nur aus Holz und Birkenrinde. Doch der Hund meinte, es solle nur seinen Mut zusammennehmen, und alles würde gut gehen. Da betrat das Mädchen den Hof und bat um ein altes Seidenkleid, und siehe da, die Herrin gab es ihr. »Leg es auf meinen Rücken und lass uns weiterziehen!«, sagte der Hund, und so gingen sie weiter, bis sie den nächsten Herrenhof erreichten.
»Geh nun hinein und bitte um das zweitbeste Seidenkleid der Gutsherrin, das mit der Silberborte!«, sagte der Hund. Das Mädchen befolgte seinen Rat und kam mit genau diesem Kleid wieder heraus. »Leg es auf meinen Rücken und lass uns weiterziehen!«, sagte der Hund, und so wanderten sie weiter, bis sie zu einem dritten Herrenhof kamen. Dort sprach der Hund zu dem Mädchen:
»Geh nun hinein und bitte um das beste Seidenkleid der Gutsherrin, das mit den goldenen Borten!« Das Mädchen fürchtete sich fast, diesen dreisten Wunsch vorzutragen, doch der Hund ermunterte es, seinen Rat zu befolgen. So ging es hinein, bat um das prächtige Kleid – und bekam es.
»Leg es auf meinen Rücken und lass uns weiterziehen!«, sagte der Hund, und sie liefen weiter, bis sie das Schloss des Königs erreichten. »Geh hinein und bitte um irgendeine Arbeit«, sagte der Hund. »Für eine kurze Zeit müssen wir uns trennen, aber nur so lange, bis du mich brauchst.« Sie verabschiedeten sich, und der Hund trabte mit den drei Seidenkleidern davon. Das Mädchen lief zum Schloss und fragte, ob es dort eine Anstellung finden könne.
Die Höflinge, Diener und selbst die Küchenjungen fanden es überaus lustig, dass ein Mädchen, das eine Schürze aus Rinde und ein Käppchen aus Holz trug, ausgerechnet im königlichen Schloss dienen wollte. Man erkundigte sich höhnisch, welche Aufgabe Holzkäppchen denn übernehmen wolle. »Jede beliebige, wenn ich nur hier dienen darf«, antwortete das Mädchen. »Schickt sie zu mir!«, rief der Koch, und die Küchenjungen und Küchenmädchen freuten sich, jemanden zu haben, mit dem sie Schabernack treiben konnten. So landete Holzkäppchen in der Küche und musste allen zu Diensten sein. Als das Mädchen einige Tage auf dem Schloss war, meinten die Bediensteten, nun müsse auch der König das Vergnügen haben, über Holzkäppchen zu lachen. Deshalb befahl man dem armen Mädchen, Waschwasser zum König hinauf zu tragen. Es gehorchte, und als der König sah, wen man ihm als Kammerjungfer geschickt hatte, konnte er sich vor Lachen kaum halten und kippte Holzkäppchen das Wasser über den Kopf.
»Na, wie war es?«, erkundigten sich alle, als das Mädchen wieder in die Küche kam. »Der König hat mich mit Wasser begossen. Ich möchte nicht mehr dort hinauf gehen«, sagte das Mädchen traurig. »So etwas muss ein Holzkäppchen aushalten«, höhnten der Koch und die Diener. »Wie man gekleidet ist, wird man auch behandelt.«
Am nächsten Morgen befahlen sie Holzkäppchen, dem König das Handtuch zu bringen. Wieder lachte er, und da er ihr nichts über den Kopf kippen konnte, schlug er ihr das Handtuch über die hölzerne Kappe. Wieder amüsierte sich das Küchenpersonal prächtig. Am dritten Morgen beschloss man, Holzkäppchen möge dem König den Kamm bringen. Das Mädchen tat es, er lachte schallend und warf ihn nach ihr.
Der folgende Tag war ein Sonntag, und der König wollte mit dem ganzen Hof zur Kirche fahren. Auch der Koch und das Küchenpersonal sollten mit, aber wer würde das Essen vorbereiten? »Das kann ich doch machen«, sagte Holzkäppchen, »denn in meinen Kleidern passe ich zwar ins königliche Schloss, nicht aber in die Kirche.« Da hatte das Mädchen wohl Recht, denn in einem Gotteshaus darf man einen Menschen nicht einfach so zum Narren machen. Dafür lachte das Küchenpersonal laut auf, als feststand, dass Holzkäppchen das Essen des Königs zubereiten würde.
Als das letzte Kichern verstummt war, fiel ihnen ein, dass der König die Tatsache, dass Holzkäppchen sein Essen zubereiten wollte, sicher ebenso lustig finden würde wie sie. Also meinten sie, Holzkäppchen solle es versuchen, und machten sich auf den Weg zur Kirche.
Als alle weg waren und sich nur noch das Mädchen im Schloss aufhielt, fuhr der Hund mit zwei Pferden und einer schönen Kutsche vor. Er kam in die Küche, zog dem Mädchen die Rindenschürze aus und gab ihm das einfachste der drei Seidenkleider, das es sich erbettelt hatte.
Dann putzte er es heraus wie eine feine Hofdame und erklärte ihm, es solle sich in die Kutsche setzen und sagen:
»Helles vorn und Dunkles hinten, niemand sieht, woher ich komme und wohin ich fahre.« Dann sollte sie zur Kirche kutschieren, hineingehen und sich auf die Bank genau vor dem König setzen. Nach dem Amen des Pastors sollte sie sofort hinauseilen, in den Wagen steigen und den Spruch wiederholen, dann käme sie zurück ins Schloss, wo der Hund bereits das Essen zubereitet hätte.
Das Mädchen befolgte die Anweisungen des Hundes. Als sie die Kirche betrat, rissen alle die Augen auf; so eine schöne Dame hatte noch niemand gesehen. Auch der König konnte den Blick nicht von ihr wenden. Als sich die Predigt dem Ende zuneigte, schickte er den geringsten seiner Kammerjunker zu ihr mit der Frage, wo sie wohl zu Hause sei.
»Grüße den König und sage ihm, ich wohne im Wasserland«, antwortete sie. Der König wusste nicht, wo dieses Land zu finden war, aber er wollte später seine Höflinge danach fragen. Im Moment war es ihm wichtiger, die schöne Dame anzusehen. Als der Pastor das Amen sprach, rannte sie aus der Kirche, sprang in den Wagen und rief: »Helles vorn und Dunkles hinten, niemand sieht, woher ich komme und wohin ich fahre!« So erreichte sie ungesehen das Schloss. Hier hatte der Hund schon das Essen fertig und half dem Mädchen, das Seidenkleid auszuziehen und die Rindenschürze wieder anzulegen. Dann fuhr er mit der Kutsche davon. Als der Hofstaat zurückkehrte, putzte Holzkäppchen gerade die Küche.
Der Koch wunderte sich über das gute Essen, das er selbst nicht besser hätte zubereiten können. Er meinte, Holzkäppchen habe bei ihm so gut Kochen gelernt, deshalb könnten am nächsten Sonntag wieder alle zur Kirche fahren. Dann sprachen sie über die schöne unbekannte Dame. »Und niemand hat sie je zuvor gesehen?«, fragte das Mädchen.
»Holzkäppchen, du hältst den Mund, wenn wir uns unterhalten«, rügte der Koch, und die Bediensteten sagten: »Was geht dich das an, du bist viel zu dumm, als dass wir dir antworten würden.«
Am nächsten Sonntag lief es genauso, aber diesmal hatte der Hund das Kleid mit der Silberborte mitgebracht. Dazu trug das Mädchen silberne Schuhe und sah beinahe aus wie eine Prinzessin. Der König meinte jedenfalls, sie sähe aus wie eine solche. Er schickte seinen zweithöchsten Kammerherrn zu ihr, um ihr Grüße zu übermitteln und zu fragen, woher sie komme.
»Ich erwidere die Grüße des Königs«, ließ das Mädchen ausrichten. »Sagt ihm, ich komme aus dem Handtuchland.« Aber gerade, als der zweithöchste Kammerherr dem König diesen Bescheid überbrachte, sagte der Pastor Amen, und im Handumdrehen war die schöne Dame aus der Kirche verschwunden. Der König, der Hofstaat, der Koch, die Küchenmädchen und die Diener eilten hinterher, aber die Kutsche verschwand so schnell im Dunkeln, dass sie nichts erkennen konnten. Als sie ins Schloss kamen, war der Hund fort, das Essen fertig und Holzkäppchen trug die gewohnte Kleidung. Der ganze Hof und vor allem der König sprachen nur noch von der schönen Dame, aber niemand wusste, wo das Handtuchland lag. Nicht einmal der Koch und die Diener, die sonst immer alles erfuhren.
»Weiß es denn wirklich niemand?«, fragte das Mädchen, aber der Koch fiel ihr ins Wort: »Holzkäppchen, halt den Mund, wenn kluge Leute reden!«
Am dritten Sonntag sollte Holzkäppchen wieder allein im Schloss bleiben, denn alle wussten, dass der König beschlossen hatte, die schöne Dame zu fangen, und wollten dabei sein. Diesmal hatte der Hund das Seidenkleid mit den goldenen Borten mitgebracht und zog dem Mädchen goldene Schuhe an. So erschien es dem König und allen anderen als die schönste aller schönen Prinzessinnen. Er schickte nun seinen obersten Kammerherren zu ihr, um zu fragen, aus welchem Land sie denn komme. Aber niemand wurde klug aus der Antwort, sie stamme aus dem Kammland, und genauso wenig war bekannt, wo dieses Land liegen könnte. Der König aber dachte: Diesmal entkommt sie mir nicht! Als der Pastor das Amen sprach und die schöne Dame hinauseilte, rannte er ihr hinterher. Die vermeintliche Prinzessin musste so schnell laufen, dass sie einen ihrer goldenen Schuhe verlor. Sie ließ ihn liegen, sprang in die Kutsche, rief »Helles vorn und Dunkles hinten, niemand sieht, woher ich komme und wohin ich fahre!« und erreichte wiederum ungesehen das Schloss. Aber der König und der ganze Hofstaat waren ihr so nahe auf den Fersen, dass der Hund es gerade noch schaffte, ihr den einen goldenen Schuh abzustreifen und die gewohnten Sachen samt Rindenschürze über das prächtige Kleid zu ziehen. Dann raste er mit der Kutsche davon, kurz vor dem Eintreffen des Hofstaates. Der goldene Schuh blieb liegen; Holzkäppchen musste ihn verstecken, so gut es ging.
Das Essen war gut, aber der König brachte kaum einen Bissen herunter. Er hatte die schöne Dame nicht fangen können und starrte immer wieder auf den goldenen Schuh in seiner Hand.
Weil der König nicht aß, wagte auch kein anderer, die Gabel zu rühren, nicht einmal der Koch und sein Gefolge. Alle sprachen nur vom König, der Dame und dem kleinen goldenen Schuh.
»Dass niemand weiß, wer diesen Schuh getragen hat«, wunderte sich das Mädchen. Diesmal bekam es beinahe Schläge, weil es gewagt hatte zu reden, wo doch alle so betrübt waren und nicht von dem guten Essen kosten durften.
Als der König so dasaß und auf den kleinen goldenen Schuh starrte, fand er diesen so hübsch und zierlich, dass er meinte, die, die ihn tragen könne, solle es wert sein, Königin zu werden, und sei sie auch längst nicht so schön wie die unbekannte Dame. Er ließ deshalb bei Hofe verbreiten, er nehme die zur Frau, der dieser goldene Schuh passe. Die Hofdamen versuchten nun mit Gewalt, ihre Füße in den goldenen Schuh zu zwängen; einige schnitten sich sogar Zehen oder die Ferse ab, aber es half nichts.
Der König saß betrübt in seiner königlichen Kammer und dachte an die schöne Dame, die verschwunden war, da hörte er seinen Papagei sprechen: »Sie beschneiden die Fersen, sie beschneiden die Zehen, doch in der Küche sieht man die Richtige gehen.« Da befahl der König, dass alle Frauen in der Küche den Schuh anprobieren sollten, aber keiner passte er. Nun erinnerte sich der König an Holzkäppchen und wies an, dass auch sie versuchen sollte, in den goldenen Schuh zu schlüpfen. Alle lachten schon im Voraus, doch als das Mädchen seine Holzschuhe auszog, sah man die goldenen Borten des Seidenkleides unter der Rindenschürze hervorschimmern, und als sie den Schuh anzog, passte er wie angegossen. Nun zeigte es noch den zweiten goldenen Schuh dazu, und alle erkannten in Holzkäppchen die schöne fremde Dame. So wurde Holzkäppchen zur Königin, und als solche vergaß sie nie, dass ihr Erbteil einst nur aus einem Hund bestanden hatte.
Gemeinde Reslöv, Kreis Onsjö, Schonen
Vor langer Zeit lebte ein wunderschönes Mädchen, das hatte viele Freier, aber es sagte immer nein, wenn sie um ihre Hand anhielten. Es hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt einen Mann mit roten Haaren und rotem Bart zu heiraten.
Eines Tages geschah es, dass ein Mann mit roten Haaren und rotem Bart zu dem Haus dieses Mädchens kam. Er sagte, er habe gehört, sie wünsche sich einen Mann seines Aussehens, und deshalb wolle er sie nun freien. Das Mädchen konnte schlecht nein sagen, denn genau so einen Mann hatte es sich ja gewünscht. Also verlobten sie sich, obwohl das Mädchen weder wusste, aus welcher Familie er stammte noch wo er seinen Hof hatte.
Der Verlobte kam oft zu Besuch, und eines Tages fragte er, ob das Mädchen nicht seine Heimat kennen lernen wolle. Es antwortete, es habe sehr wohl Lust dazu, aber es wisse ja nicht den Weg. Er sagte, sein Hof liege weit im Wald, aber er werde an einem bestimmten Baum ein Band befestigen, dem sie nur folgen müsse, um zu seinem Anwesen zu gelangen. Das Mädchen dankte ihm und versprach, am nächsten Sonntag zu kommen. Leider war es an diesem Tag verhindert, aber am Montag machte es sich auf den Weg.
Der Hof war leicht zu finden, denn der Verlobte hatte das Band sorgsam gespannt, so dass sich das Mädchen nicht verlaufen konnte. Als es das Anwesen erreichte, schien niemand zu Hause zu sein. Es betrat den ersten Raum und sah, dass überall Äxte an den Wänden hingen. Da der Verlobte nie erzählt hatte, welchem Beruf er nachging, glaubte das Mädchen, er wäre Zimmermann. Als es jedoch in den zweiten Raum kam, hingen dort überall Schwerter an den Wänden, und nun schien es, als wäre er Soldat. Als das Mädchen aber den dritten Raum betrat, stand da ein Hackklotz, in dem ein Beil steckte. Nun wusste es gar nicht mehr, welchen Beruf ihr Verlobter haben könnte.
Im selben Raum saß eine alte Frau am Herd, und als das Mädchen erklärte, es sei gekommen, um seinen Verlobten zu besuchen, wurde es von der Frau gründlich gemustert. Die Frau fand, das Mädchen mache einen guten Eindruck, und es tat ihr leid, es an einem solchen Ort zu sehen. Sie verriet deshalb, dass der Verlobte ein grausamer Waldräuber sei. Zum Beweis, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, führte sie das Mädchen in den vierten Raum, an dessen Wänden kopflose Leichen hingen. Das Mädchen bekam große Angst und wollte fliehen, aber die Alte riet ihm, nicht einfach in den Wald zu rennen, denn dort liefe sie den Räubern geradewegs in die Arme. Es solle lieber warten, bis die Schurken im Haus seien, dann wolle sie ihr schon helfen, davonzukommen.