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Das Standardwerk zur Geschichte von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Vorurteile und Stereotype gibt es seit Jahrtausenden. Antisemitismus, Rassismus, Muslimfeindschaft, Homophobie, Antiziganismus und andere Ausgrenzungen von Minderheiten sind langlebige, scheinbar nicht an Anziehungskraft verlierende Phänomene – aber warum? Der Zeithistoriker Wolfgang Benz zieht die Summe seines jahrzehntelangen Forschens und liefert eine einzigartige Gesamtdarstellung zur Geschichte von Vorurteilen, Klischees und Ressentiments entlang der Fragen: - Wie entstehen und wie verändern sich Vorurteile, Ressentiments und Stereotype? - Welche Feindbilder prägen die europäische Geschichte? - Und wie entwickeln sich daraus Ausgrenzung und Gewalt? Wolfgang Benz erklärt Geschichte und Gegenwart eines höchst problematischen und hartnäckigen Phänomens. Ein Buch von größter Aktualität in Zeiten des wachsenden Extremismus weltweit und ein Standardwerk zur Geschichte von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
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Seitenzahl: 611
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN E-Book: 978-3-451-82121-9
ISBN: 978-3-451-38596-4
Prolog: Vorurteil – Ressentiment – Feindschaft
1.Vorurteil und Feindkonstrukt: Triebkräfte der Gesellschaft
Hassdelikte und ihr Kontext
Die Angst vor der Bedrohung durch Fremde
Populismus und Ressentiments
Die Eskalation zum Feindbild
Mobilisierung durch Vorurteile
Katalysator Islamfeindschaft
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
2.Die Konstruktion der Fremdheit: Ausgrenzung der »Anderen« als Selbstbestätigung
Die politische Instrumentalisierung von Minderheiten
Strukturen der Beziehungen zwischen Mehrheit und Minderheit
Selbstbestätigung durch Ausgrenzung
Identitätsprobleme als Brandbeschleuniger
Die Irrationalität und die Überwindung von Feindbildern
Sinnstiftung durch Feindkonstrukte
3.Bausteine des Ressentiments: Gerüchte und Fake News
Die Funktion von Gerüchten und Legenden
Motive und Ursachen von Fake News
Der Transport von Feindbildern
4.Die Überwindung der Logik: Verschwörungstheorien
Vermutete geheime Urheber
Im Visier: Jesuiten, Freimaurer, Juden
Die Denunziation der Aufklärung
Die »Protokolle der Weisen von Zion«
Die Aktualität des Verschwörungskonstrukts
Die Faszination des Absurden
5.Falschgläubige Feinde: Die Kategorie Religion
Uralte und hartnäckige Vorurteile: Der Antijudaismus der Christen
Gefährliche Glaubenspraxis: Die Diskriminierung der Zeugen Jehovas
Fremd im eigenen Land: Die Ausgrenzung der muslimischen Rohingya
6.Rassismus: Pseudowissenschaftlich begründete Ausgrenzung
»Rasse« als Konzept
Rassismus im Alltag
Modernisierung der Judenfeindschaft: Vom Antijudaismus zum Antisemitismus
Voyeurismus und Verachtung: Das Konstrukt »Zigeuner«
7.Völkermord: Letzte Konsequenz der Ausgrenzung
Massengewalt und Staatsterror im 20. Jahrhundert
»Ethnische Säuberung«: Das Unwort aus dem zerfallenden Jugoslawien
Massaker, Pogrom, Völkermord und medialer Konsum
Deutsche Kolonialpolitik und genozidales Denken
Verleugnung und Trauma: Der Armeniermord
Holocaust: Die Ermordung der europäischen Juden
Der Genozid an Sinti und Roma
8.Ethnie und Religion: Der Islam und die kulturelle Ausgrenzung
Das Feindbild Islam in Deutschland
Weltweite Verfolgung
9.Fremdenfeindschaft und Alltagsrassismus: Bürgerliche Rohheit und der Ausbruch von Gewalt
»Reichskristallnacht«: Die Entfesselung der Barbarei im November 1938
Hass, Krawall, Applaus: Rostock 1992
Feindbilder schlagen in Gewalt um: Das Lehrstück »Nationalsozialistischer Untergrund«
10.Heilserwartung und Fanatismus: Fundamentalisten im Aufstand gegen die Realität
Christlicher Fundamentalismus in beiden Konfessionen
Die neue religiöse Rechte in den USA und Europa
Fundamentalismus und Antisemitismus
Missionseifer und religiöse Selbstgewissheit in Islam und Judentum
Dschihadismus: Al-Qaida und »Islamischer Staat«
11.Israelkritik, Antizionismus, Antisemitismus: Die politische Instrumentalisierung von Ressentiments und Feindbildern
Antizionismus als Staatsdoktrin der DDR
Israelkritik und Antisemitismus in der Bundesrepublik
12.Die Enthemmung latenter Gewalt
Konstanten der Radikalisierung
Mord im Gerichtssaal: Dresden 2009
Rassismus gegen Christen: Charleston 2015
Hass gegen Juden: Pittsburgh 2018
Vernichtungswut gegen Muslime: Christchurch 2019
Gegen Juden und Muslime: Halle 2019
Der Wunsch nach dem irrsinnigen »Einzeltäter«: Hanau 2020
Agitatoren und Psychopathen
Anmerkungen
Auswahlbibliografie
Die Corona-Pandemie ist auch ein Lehrstück sozialen Verhaltens. Auf die Einschränkungen ihrer Lebensqualität haben erboste und von Ängsten geplagte Bürger mit der Beschimpfung von Menschen asiatischen Aussehens als »Schuldige« reagiert. Die einheimischen Bewohner von Feriengebieten an der Ostsee haben Auswärtige, auch wenn sie den größten Teil des Jahres auf eigenem Grund am Rand des Dorfes verbringen, sich akzeptiert und integriert fühlten, als »Fremde« erkannt und gebrandmarkt. Auf der Suche nach Schuldigen haben Verschwörungstheorien im Internet Konjunktur und selbsternannte Sachverständige wie ein Koch veganer Observanz, ein durchgeknallter Schauspieler oder ein Sänger erklären einem willigen Publikum entweder, dass es die Pandemie gar nicht gibt, oder wer sie über uns gebracht hat, wahlweise z. B. Bill Gates oder der jüdische Philanthrop Soros. Dass »die Juden« die Drahtzieher des Übels sind, steht für viele seit dem Mittelalter fest, als sie durch vergiftete Brunnen die Pest ausgelöst haben sollen. Wenn es nicht doch, wie andere vermuten, die Muslime waren. Vielleicht auch Roma, oder dass, je nach der Region, andere »Schuldige« an einem Übel zu stigmatisieren und auszugrenzen sind, Uiguren, Rohingyas, Kurden, Yeziden oder beliebige andere Minderheiten.
Die Suche nach den Schuldigen an einer Katastrophe oder unglücklichen Zuständen und deren Fortdauer setzt immer die Gewissheit der eigenen Unschuld voraus. Das erklärt zu einem Teil auch den Zulauf zu den – überaus berechtigten – Protesten gegen den Rassismus, den schwarze Bürger der USA seit Jahr und Tag erfahren. Wenn Rassismus in rabiater Polizeigewalt kulminiert und Antirassisten in aller Welt im Juni 2020 dagegen protestieren, ist vom deutschen Alltagsrassismus nicht die Rede, obwohl auch hier die Ordnungsmacht gegenüber Farbigen anders reagiert als gegenüber Weißen. Judenfeindschaft ist für viele nur noch als vermutetes Attribut muslimischer Bürgerkriegsflüchtender vorstellbar, den autochthonen Antisemitismus in den eigenen Reihen wollen sie nicht bemerken. Die Feindschaft gegen den Islam hat ähnliche Wurzeln wie der Hass gegen Juden. Das zu akzeptieren und die Konsequenzen zu ziehen, nach denen keine Minderheit diskriminiert werden darf, fällt schwer. Nicht nur in Deutschland, wo aus der Geschichte zu lernen wäre.
Ressentiments sind auch in anderen Kulturen der Kitt nationalen, religiösen, zivilisatorischen Selbstbewusstseins. Die Aversion gegen Muslime, die Hindus praktizieren, angeleitet von einer Regierung, die Indien als reinen Hindustaat neu gestalten will, in dem Muslime Bürger minderen Rechtes wären, hat eine lange Geschichte. Die Teilung des kolonialen indischen Subkontinents 1947 in zwei unabhängige Staaten, das muslimische Pakistan und das hinduistische Indien, hat durch einen »Bevölkerungsaustausch«, d. h. durch Flucht und Vertreibung, mehr Probleme geschaffen als gelöst. Die größte Demokratie der Erde, das so lange wegen praktizierter Toleranz und Friedfertigkeit gelobte Indien, droht seiner Tugenden verlustig zu gehen, wenn es die Ausgrenzung von »Anderen« zum Staatsziel erhebt. Das geschieht derzeit auch in Myanmar gegenüber den Rohingyas, die unter den Parolen buddhistischer Mönche zu »Fremden« erklärt sind. Ausgrenzung hat auch in der Türkei gegenüber den Kurden eine lange und unheilvolle Tradition und sie wird in der Volksrepublik China aus Staatsräson gegen die Minderheit der Uiguren praktiziert.
Gespeist durch Ressentiments, die ethnisch, religiös, kulturell oder sozial begründet sind, werden Ängste und Gefühle des Bedrohtseins stimuliert und Demagogen finden sich, die im Gewand der politischen Lichtgestalt Erlösung von nationaler Schmach versprechen und der Befreiung von fremder Herrschaft die Wege weisen zur glücklichen Zukunft oder die als Propheten kostümiert, das Böse erkannt zu haben meinen und versprechen, es mit Stumpf und Stiel zum Heil der Guten auszurotten. Die Hasspredigt, die zur Tat ruft, bedient Vorurteile und rührt an die latente Bereitschaft zur Gewalt, die uns allen innewohnt. Der Völkermord an den Armeniern, inszeniert von Politikern des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg war, wie zuvor der Genozid an den Hereros unter deutscher Kolonialherrschaft, nur ein Vorspiel zum Judenmord, den Hitlerdeutschland in der Mitte des 20. Jahrhunderts beging. Vorausgegangen war dem Holocaust die systematische Ausgrenzung und Entrechtung der Juden in Deutschland unter der Ideologie des Antisemitismus, die zentraler Teil der Staatsdoktrin war. Gegründet auf jahrhundertealte zuerst religiöse, dann auch rassistische Vorurteile wurden die Juden erst diskriminiert, dann ausgegrenzt und verfolgt, schließlich ermordet.
Das Zusammenspiel von Ressentiments mit dem von Demagogen geschürten Hass gegen die stigmatisierte Minderheit, die von Staats wegen geübte Gewalt und deren Hinnahme durch die Bürger – durch Billigen, durch Wegsehen, durch Mitwirken – hatte im Judenmord 1941–1945 singuläres Ausmaß. Deshalb hat der Holocaust auch paradigmatische Funktion für die Erklärung des mörderischen Zusammenhangs von Vorurteilen (die aus Stereotypen, Klischees, Zuschreibungen an Minderheiten gebildet sind) mit Ideologie und Gewalt. Entgegen der nach Gewaltexzessen schnell und gern verbreiteten Annahme, die Opfer seien durch provokatives Verhalten, durch ihre mit der Lebensweise der Mehrheit nicht vereinbare Eigenart, aufgrund ihrer Religion, ihrer primitiven Lebensweise, der Verweigerung bestimmter Lebensart selbst an ihrem Unglück schuld, muss die Ursachenforschung in der Mehrheitsgesellschaft beginnen. Warum brauchen wir Vorurteile zur Begründung unserer Abneigung gegen Fremdes? Wie entstehen aus Ressentiments Feindbilder, die individuell und kollektiv als Hass agiert werden, der sich zur Massengewalt, zum Krieg und zum Völkermord steigert?
Ressentiments bilden sich aus vielen Ingredienzen. Überliefertes »Wissen« über »Zigeuner« oder Juden, das sich über Generationen vererbt hat, das religiöse oder abergläubische Wurzeln haben mag oder aus dem Hörensagen von angeblichen Gewohnheiten der »Fremden«, aus Märchen und Legenden zusammengeflossen ist, gehört vor allem dazu. Christlicher Glaubenseifer hat gegenüber Juden und Muslimen im Lauf der Jahrhunderte manchen Schaden angerichtet. Nicht nur Martin Luther hat gegen Andersgläubige gewütet, seine katholischen Feinde wie der Theologe Johannes Eck standen ihm mit antijudaistischer Hetze in nichts nach.
Gerüchte sind Verwirrten stets die bessere Wahl als die Wahrheit und Ideologen fördern ihre Sache mit angeblichen Tatsachen, die sie behaupten und wiederholen, bis sie geglaubt werden. Das digitale Zeitalter bietet ungeahnte neue Möglichkeiten der Kreation und des Transports von Gerüchten, Falschmeldungen, Unterstellungen. »Fake News« sind ein selbstverständliches Instrument bei der Verfolgung politischer, ökonomischer, sozialer Ziele geworden. Vorurteile, genährt aus der Religion der Auszugrenzenden, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, die immer noch als »Rasse« von minderem Wert erklärt wird, oder ihrer Kultur, die als Gefahr für die Mehrheit verstanden und als Feindkonstrukt eingesetzt wird, sind Triebkräfte der Gesellschaft und bestätigen deren Selbstverständnis.
Zum Verständnis der Welt, zur Erklärung von Katastrophen, zur Beschwichtigung von Ängsten, zur Bestätigung des Gefühls der Ohnmacht angesichts des Waltens »geheimer Mächte« entstehen Verschwörungstheorien. Sie sind so unsinnig wie die »Protokolle der Weisen von Zion« und deshalb so wirkungsvoll, weil sie jenseits der Gesetze der Logik angesiedelt und deshalb für rationale Argumente unerreichbar sind. Für das Verhältnis von Ressentiment und Gewalt spielen sie eine überragende Rolle. Das macht sie so gefährlich wie der obsessive Fundamentalismus, der die gleiche Klientel bedient: Menschen, die ihrem Argwohn den Vorzug vor dem Gebrauch des Verstandes geben und für schlichte Welterklärungen, für bedingungsloses Freund-Feind-Denken und für obskure Heilserwartungen empfänglich sind. Die Radikalisierung solchen Denkens, besser Fühlens, lässt sich politisch instrumentalisieren wie im Rassenwahn des Nationalsozialismus oder im religiös ideologisierten Dschihadismus der islamistischen Bewegungen Al-Qaida und »Islamischer Staat« mit ihren vielfachen Verzweigungen.
Die Radikalisierung erfolgt aber auch als individueller Prozess der Enthemmung latenter Gewaltbereitschaft. Die Akteure von mörderischem Hass, der in Vorurteilen gegen »Andere« gründet, die in Oslo und Charleston, in Pittsburgh oder Christchurch, in Halle und Hanau zu Massenmördern wurden, sind trotzdem keine »Einzeltäter«, wie der Polizeibericht und lokale Medien im ersten Schrecken gerne verkünden. Sie gehören zum Geflecht aus Vorurteil, Feindkonstrukt, Ausgrenzung und Gewalt, das lange Tradition hat, Fremdenfeindschaft und religiöse Intoleranz kultiviert, sozialpsychologischen Bedürfnissen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft entspricht, Ängste kanalisiert und von Demagogen als Heilsbotschaft, als Verteidigung des angeblich bedrohten »Eigenen« gegen feindliche Fremde verkündet wird.
In diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Wirkung des Vorurteils in Geschichte und Gegenwart auf ganz unterschiedlichen Feldern und in vielen Regionen darzustellen. Es mag als Summe jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Thema, ausgehend von der Antisemitismusforschung, die sich dem ältesten und trotz der Menschheitskatastrophe des Holocaust immer noch virulenten Ressentiment der Judenfeindschaft in allen ihren historischen und aktuellen Ausprägungen widmet, verstanden werden. Mein Dank für Gespräche, Kritik und Anregungen gilt Weggefährten und Mitstreiterinnen im Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, das ich bis 2011 im Bemühen leitete, den ursprünglichen und eigentlichen Gegenstand Antisemitismus für eine übergreifende Ressentimentforschung nutzbar zu machen, die Antiziganismus, Muslimfeindschaft, Homophobie und andere Ausgrenzungen von Minderheiten einschließt.
Besonders herzlich danke ich wieder Christine Eberle, die mich nicht nur durch Recherchen virtuos unterstützte, sondern auch dem Manuskript in allen Stadien jede erdenkliche Sorgfalt angedeihen ließ. Irmela Roschmann-Steltenkamp war wieder hilfreich bei der Beschaffung von Literatur aus entlegenen Bibliotheken und schwer zugänglichen Beständen. Ganz großer Dank gebührt Patrick Oelze, der mich nicht nur zu diesem Buch überredet, sondern die Konsequenzen als Lektor mit Geduld ertragen sowie das Projekt durch kritische Lektüre begleitet und, je nach Notwendigkeit, durch Zu- oder Widerspruch entschieden gefördert hat.
Berlin im Juni 2020
Wolfgang Benz
Zum Wesen menschlicher Existenz gehören die Bilder, die das Individuum von der Welt, von seinem sozialen Umfeld, von anderen Menschen in sich trägt. Die Freund- oder Feindbilder werden von Erlebnissen, Erfahrungen, Beobachtungen und den Schlüssen, die daraus gezogen werden, geprägt, aber auch durch Erwerb von Wissen, durch Einrede, durch Indoktrination. Vorurteile, die sich zu Ressentiments verdichten, sind immer pauschal, verallgemeinern eine Situation, eine Begegnung, einen Vorfall. Differenzierung ist dem Vorurteil entgegengesetzt, löst dessen Substanz auf und verweist in die entgegengesetzten Gefilde der Rationalität.1
Vorurteile dienen – meist unbewusst – als Wegweiser, ermöglichen rasche Kategorisierung, ordnen Wahrnehmungen in ein Weltbild ein und bestätigen sich stets selbst. Ressentiments sind ausschließlich emotional bestimmt, sie definieren Freund- und Feindbilder und steuern das Verhalten: Zuneigung im positiven, Abneigung im negativen Fall. Mächtige Feindbilder evozieren Hass und Gewalt. Phänomene wie Rassismus, Antisemitismus, Chauvinismus sind generalisierende ideologisierte Komplexe von Feindbildern, die durch negative Zuschreibungen markierte Kollektive – ethnische Gruppen, religiöse Gemeinschaften, soziale Kollektive, Nationen usw. – ausgrenzen, verfolgen, vernichten.
Feindbildgesteuerte Gewalt wird zuerst von Individuen gegen andere Individuen geübt, oder von Einzelnen, die glauben, einen Auftrag auszuführen gegen Kollektive, die in ihrer Fantasie existieren. Beispielhaft geschah das 2011 in Oslo und Utøya, wo ein Mann seinen Hass gegen Sozialisten und Muslime in einem Blutbad ausgelebt hat, dem 77 unschuldige Menschen zum Opfer fielen. Der Mörder Breivik wollte seine Tat propagandistisch ausschlachten und dazu seinen Prozess zum Forum der Darstellung seiner Obsessionen machen. Das gelang ihm nicht, aber er hat ein voluminöses Bekennerpamphlet ins Netz gestellt und darin diejenigen genannt, die ihm als Demagogen und Hassprediger den Weg wiesen. Die Autoren, die er als Architekten seines von Feindbildern geprägten Weltbildes preist, haben natürlich mit großer Unschuldsgeste beteuert, nichts mit der Wirkung ihrer Parolen zu tun zu haben.
Kruder Rassismus war das Motiv des Massenmords, den ein 21-jähriger US-Bürger mit abgebrochener Schulbildung, aber festgefügtem Weltbild im Juni 2015 in Charleston, South Carolina, verübte. Dylan Roof hatte mit Bedacht das traditionsreichste Gotteshaus einer afroamerikanischen Gemeinde als Tatort gewählt. Während der Bibelstunde erschoss der weiße Rassist neun Menschen. Der Mörder hatte ein Manifest veröffentlicht, in dem er seinem Hass gegen Schwarze, Latinos und Juden freien Lauf ließ. Er definierte sie als Feinde, die es zu vernichten gelte. Afroamerikanern unterstellte er zwar niedrige Intelligenz, aber trotzdem die Absicht, die Macht im Land zu übernehmen. Der Mörder fühlte sich, von Verschwörungsfantasien geplagt, von Waffenfetischismus und faschistischen Sehnsüchten inspiriert, zur heroischen Tat berufen: »Ich habe Charleston gewählt, weil es die geschichtsträchtigste Stadt South Carolinas ist. Sie hatte das extremste Mengenverhältnis von Schwarzen zu Weißen im ganzen Land… Wir haben hier keine Skinheads und keinen echten Ku-Klux-Klan, niemand hat den Mut, etwas zu unternehmen. Alle reden nur, also muss ich es tun.«2
Das Sendungsbewusstsein gegenüber eingebildeten Feinden, der Drang, gefühlten Missständen entgegentreten zu müssen, kann sich zum obsessiven Bewusstsein steigern, zum fantasierten Auftrag, stellvertretend handeln zu müssen, weil Politik und Gesellschaft versagen. Menschen wie der Massenmörder in Oslo und auf Utøya 2011 oder der Amokschütze von Hanau 2020 verstehen sich als Delegierte, die berechtigt sind, Gewalt in Selbstjustiz zu üben, entweder weil sie glauben, die geheimen Wünsche der Mehrheit zu verstehen, oder weil sie aus Missständen Handlungszwänge zu deren Beseitigung ableiten und sich privilegiert fühlen, zu handeln. Solchem Antrieb folgte auch der 44-jährige Messerstecher in Köln, der am 17. Oktober 2015 im Wahlkampf um das Oberbürgermeisteramt die Kandidatin Henriette Reker lebensgefährlich verletzte. Das Opfer wurde am folgenden Tag mit großer Mehrheit gewählt, der Täter nannte als Motiv Fremdenfeindlichkeit. Die parteilose Kandidatin hatte er wegen deren Haltung gegenüber Flüchtlingen – sie war Sozialdezernentin der Großstadt Köln – zur Feindin erkoren und sie vorsätzlich mit Messern attackiert. Noch am Tatort, während der Festnahme, rief er: »Ich habe das für euch alle gemacht« und versuchte anschließend, seinen Mordanschlag zu rechtfertigen mit der Behauptung »Das Flüchtlingsproblem wächst uns über den Kopf.« Der Täter ist voll zurechnungsfähig, der arbeitslose Mann sei vor langer Zeit in der rechten Szene aktiv gewesen, hieß es in den Medien.3
Hassdelikte, ausgelöst durch rassistische, politische, religiöse oder andere Feindbilder, sind alltäglich geworden und – folgt man der verbreiteten Klage der öffentlichen Meinung – stark im Ansteigen begriffen. Dass Internet-Medien einen erheblichen Anteil an der Zunahme von Hassbotschaften haben, ist evident.
Das Kalendarium der großen Hassverbrechen in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts verzeichnet – neben unzähligen Selbstmord-Attentaten durch dazu angestiftete Fanatiker islamistischer Observanz – seit dem Anschlag auf die Synagoge in Djerba (Tunesien) im Jahr 2002, der 21 Todesopfer forderte, eine in ihrer Dimension und Zielgerichtetheit steigende Zahl von terroristischen Angriffen auf Kirchen, Synagogen und Moscheen. Gemeinsam sind den Hassverbrechen die Einzeltäterschaft, der auf eine jeweils andere Minderheit zielende fremdenfeindliche, rassistische oder verwandte Ressentiments darstellende Vernichtungswunsch, die Öffentlichkeit heischende Botschaft an die Mehrheit, die durch ausführliche Begründung manifestiert wird. Diesem Schema folgte die Tat des Norwegers Breivik, auf die sich dann Nachfolger beriefen. In Toulouse waren 2012 drei Kinder, drei Soldaten und ein Lehrer Opfer eines antisemitisch motivierten Überfalls. Ein Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel forderte vier Tote, ebenso viele Menschen starben bei einer Attacke gegen einen jüdischen Supermarkt 2015 in Paris. Im Oktober 2018 schoss in der Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh, Pennsylvania ein 46-jähriger Mann nach dem Ruf »Alle Juden müssen sterben« mit mehreren Waffen um sich. Als er sich der Polizei ergab, wurden elf Tote und sechs teilweise schwer Verletzte gezählt. In Christchurch (Neuseeland) ereignete sich im März 2019 das bisher größte Hassverbrechen des Landes. 51 Muslime starben beim Angriff eines 28-jährigen Australiers auf die Masjid-al-Noor-Moschee im Stadtzentrum und eine weitere Moschee in einem fünf Kilometer entfernten Vorort.
Im Herbst 2019 schockierte ein Gewaltakt Deutschland. Ein junger Mann rechtsextremer Gesinnung, Antisemit und Muslimfeind, versuchte in die Synagoge in Halle einzudringen, schoss gegen die Tür und richtete sich, als sie standhielt, gegen eine Dönerbude. Zwei Menschen verloren bei dem Amoklauf ihr Leben. Die Diskussion über Judenfeindschaft in Deutschland, über stärkere Sicherheitsmaßnahmen und die Schuld jenseits der Person des Täters erreichte nach dem Anschlag in Halle einen neuen Hitzegrad, weil das erste Ziel der Attacke eine jüdische Einrichtung gewesen war. Der Antisemitismus des Täters – von seiner Islamfeindschaft war weniger die Rede – stand im Mittelpunkt der Debatte, die deshalb zu kurz griff, weil die Wut des Terroristen von Halle komplexere Ursachen hatte als sein Hass gegen Juden. Das wird im Zusammenhang mit der in Ressentiments wurzelnden Gewaltbereitschaft und daraus resultierenden Konflikten im Kontext zahlreicher Ereignisse zu analysieren sein.
Hassdelikte sind längst allgegenwärtig. Sie beschäftigen Polizei und Justiz, in der Regel aber mit nur geringem Erfolg. Die Opfer sind häufig mittellos, was ihnen die Klage vor Gericht erschwert, sie haben, wenn sie Migranten oder Asylbewerber sind, eventuell Sprachprobleme, was die polizeilichen Ermittlungen mühselig macht und die Täter sind oft randständig, d. h. Sozialhilfeempfänger oder ohne Einkommen, wodurch eine Bestrafung ins Leere geht. Der folgende Fall ist typisch: Eine aus Bosnien-Herzegowina stammende Frau und ihr minderjähriger Sohn wurden in einer Magdeburger Straßenbahn aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes Opfer einer rassistischen Gewalttat. Sie waren von einem weiblichen Fahrgast lautstark mit den Worten »Es gibt hier keinen Platz für Kanaken, ich als deutsche Frau kann mich hier hinsetzen!« attackiert worden. Kurz darauf versetzte die Angreiferin der Frau ohne Grund mit ihrer rechten Faust einen Schlag gegen den Oberkörper und trat ihr gegen die Beine. Den minderjährigen Sohn stieß sie so, dass am Folgetag größere Hämatome im Bereich der Hüfte auftraten. Ein Jahr nach dem Ereignis wurde die aggressive Dame, die sich beleidigend und tätlich gegen Mutter und Sohn betragen hatte, zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt, die Kosten des Verfahrens hatte sie zu tragen. Sie legte jedoch den Offenbarungseid ab und blieb die Prozesskosten schuldig.4
Ein anderer Fall ereignete sich in Halberstadt. Zwei aus Afrika stammende Männer durchquerten auf dem Weg zu einem Internetcafé einen Park. Als sie eine Personengruppe passierten, wurden sie mit den Worten »Dachpappe« und »Sklave« beleidigt. Sie gingen ohne Reaktion weiter. Daraufhin wurden aus der Gruppe heraus zwei leere Bierflaschen nach den beiden geworfen, welche sie nur knapp verfehlten. Mindestens drei Angreifer nahmen die Verfolgung auf, wobei erneut Bierflaschen geworfen wurden. Einer der Verfolger zog im Laufen sein T-Shirt aus und zeigte so seinen großflächig mit Hakenkreuzen und Nazisymbolen tätowierten Oberkörper. Die beiden Afrikaner liefen in Todesangst um ihr Leben und konnten den Verfolgern entkommen. Zwei Täter wurden ermittelt. Anklage wegen gemeinschaftlich begangener Beleidigung, Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung und Nötigung wurde erhoben, außerdem wegen »Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen«.5
Mehr als der Ausgang des Prozesses interessiert die Frage nach dem Weltbild von Männern, die ohne Provokation, ohne dass ihre Opfer den geringsten Anlass geboten hätten, rassistische Gewalt üben. Der Täter, dessen Oberkörper mit Nazi-Symbolen tätowiert ist, entspricht als bekennender Neonazi dem Bild, das wir uns wohl gerne machen, wonach das gewalttägige Ausagieren von bösartigen Vorurteilen und Feindbildern ausschließlich dem Lebensgefühl und dem Aktionismus von Extremisten entspricht. Dazu lässt sich leicht Abstand halten und kein Vernünftiger wird die Verurteilung extremistischer Gesinnung verweigern. Aber was hat die rabiate Frau in der Magdeburger Straßenbahn zu ihren Ausfällen bewogen? Welche feindseligen Emotionen und Bilder haben sie zur Beleidigung und Gewaltübung veranlasst? Zweifellos gehört sie doch eher in die Mitte der Gesellschaft als zum Spektrum des politischen Rechtsradikalismus.
Auch ein anderes Beispiel belegt die Alltäglichkeit und Verbreitung von Ressentiments und ihre gewaltsame Entladung in der Gesellschaft. In einem Café stritten zwei Gäste mit einer dritten Person. Ein Angestellter forderte die Streitenden auf, das Lokal zu verlassen. Darauf wurde er ins Gesicht geschlagen und als »Neger« beschimpft. Einer der Täter äußerte, er sei Nazi und werde das Opfer totschlagen, wenn er es in der Stadt sehe. Der Mann wurde zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, wogegen er Berufung einlegte. Das Opfer hat die Bundesrepublik, wo es um Asyl ersucht hatte, aufgrund des Vorfalls verlassen. Der Befund ist in jeder Beziehung beklagenswert. Die Berufungsverhandlung fand im November 2015 statt, drei Jahre nach dem Angriff auf die Person und die Würde des Mannes, der auf Gastfreundschaft in einem fremden Land gehofft hatte, statt dessen physisch und psychisch beschädigt wurde. Die Justiz hat ihre Schuldigkeit getan, so gut das möglich war. Den Angreifer wird dies aber kaum berühren. Die Gesellschaft nimmt keine Notiz von dem Ereignis, weil das Schicksal eines einzelnen Asylbewerbers, Migranten, mittellosen Fremden wenig interessiert, weil man sich vom Zustrom armer Leute bedroht sieht und weil der Vorfall alltäglich war.6
Von Feindbildern gesteuert und von rechtspopulistischen Organisationen, Demagogen und Rechtsextremen dazu angeleitet, rotten sich Menschen vor den Unterkünften asylsuchender Flüchtlinge zusammen, um gewaltsam gegen die Ankunft von Menschen zu protestieren, deren Makel in ihren Augen darin besteht, dass sie fremd, arm und hilfsbedürftig sind. Wie die Vorfälle in der Region Dresden lehren, werden die Fremden trotz ihrer Armseligkeit als Bedrohung empfunden und stimulieren Ressentiments der Abwehr. Emotionen machen Bürger zum Mob, der fremdenfeindliche Parolen grölt, Steine und Bierflaschen gegen Polizisten wirft, das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellt, um vermeintlicher Gefahr und Bedrohung abzuhelfen.7
»Besorgte Bürger« hatten sich in der Überzeugung, der Staat sei ohnmächtig und ohnehin gegen sie eingestellt, Ende August 2019 in Chemnitz selbst ermächtigt, Dinge zu regeln, zu denen die Obrigkeit ihrer Meinung nach nicht fähig war. Anlass war ein Stadtfest an einem Sonntag, bei dem die Ressentiments gegen »Ausländer« sich zu bestätigen schienen. Bei einer Auseinandersetzung fand ein 25-jähriger Chemnitzer durch Messerstiche den Tod. Die Polizei nahm zwei junge Männer aus Syrien bzw. dem Irak als Tatverdächtige fest. Demonstrationen, zu denen die rechte Szene ihre Anhänger mobilisierte, endeten in fremdenfeindlichem Krawall, rechte und rassistische Parolen wurden skandiert (»Das System ist am Ende, wir sind die Wende«), der Hitlergruß wurde gezeigt und Menschen wurden unter den Rufen »elendes Viehzeug«, »Kanaken« und »Zecken« durch die Stadt gejagt.
Die Polizei war zunächst überfordert, ebenso die sächsische Politik. Beobachter fühlten sich an die Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991, in Rostock-Lichtenhagen 1992 oder Heidenau 2015 erinnert. Die »besorgten Bürger« waren von rechten Aufwieglern in den »sozialen Medien« auf die Straße gerufen worden. Neben Neonazi-Gruppen, Pegida-Aktivisten und anderen Rechtsextremen beteiligten sich auch Abgeordnete und Funktionäre der »Alternative für Deutschland« am Aufruhr, was die Partei in Erklärungsnot brachte. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier hatte am Sonntagabend getwittert: »Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selbst. Ganz einfach. Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringende ›Messermigration‹ zu stoppen«. Auf einer Pressekonferenz in Berlin wiegelte die Partei am folgenden Tag ab mit Erklärungen zu den »Wallungen« der Bürger, die sich am Sonntag in Chemnitz »in ihrer Verzweiflung« zu »Unvorsichtigkeiten« und »der ein oder anderen Überreaktion« hätten verleiten lassen. Bemerkenswert bleibt der Schulterschluss der um ihr bürgerliches Image besorgten AfD mit notorischen Rechtsextremisten auf den Chemnitzer Straßen.
Um Schadensbegrenzung bemüht war auch die sächsische Landesregierung, deren Chef Michael Kretschmer sich erst kurz zuvor bei der Kommentierung der Behinderung eines Fernsehteams durch die sächsische Polizei in Dresden bei der Berichterstattung über eine gemeinsame Demonstration von Pegida und AfD blamiert hatte. Erst Stunden nach einer Erklärung der Bundesregierung zu den Vorfällen in Chemnitz meldete sich der Ministerpräsident mit der Verlautbarung zu Wort »Wir lassen nicht zu, dass das Bild unseres Landes durch Chaoten beschädigt wird«. Der Schaden war aber schon eingetreten, durch die Hetzjagd gegen Ausländer und durch die Berichterstattung darüber.
Am Rande des fremdenfeindlichen Aufruhrs erfolgte am Abend des 27. August 2019 auch eine Attacke gegen ein jüdisches Restaurant, bei der der Besitzer antisemitisch beleidigt wurde. Einige Wochen später, im Oktober, wurde das persische Restaurant »Safran« in Chemnitz von Neonazis angegriffen, die den Wirt unter Heil-Hitler-Rufen krankenhausreif schlugen. Auch er erfuhr Zuwendung, deren Publizität aber begrenzter blieb als die Aufregung, die nach dem Anschlag auf das jüdische Restaurant geherrscht hatte.
Politische Skandale bildeten die lang nachhallende Begleitmusik der Chemnitzer Ereignisse. Der erste war durch die Justiz ausgelöst worden. Ein Bediensteter des Gerichts hatte den Haftbefehl gegen einen der mutmaßlichen Messerstecher Rechtsradikalen übermittelt. Der Pegida-Gründer Lutz Bachmann, die rechte Gruppierung »Pro Chemnitz« und ein AfD-Kreisverband stellten das Dokument ins Netz. Bundesinnenminister Horst Seehofer nannte den Vorgang »völlig inakzeptabel«. Gegenüber skandalösen Medienauftritten des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz zeigte er sich milder. Der oberste Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen äußerte in der BILD-Zeitung am 7. September 2018 Zweifel, dass es in Chemnitz rechtsextremistische Hetzjagden gegeben habe. Dem Verfassungsschutz lägen keine belastbaren Informationen darüber vor. Ein Video, das als Beweisdokument im Internet und im Fernsehen gezeigt wurde, erklärte er kurzerhand als Fälschung. Maaßen, dem Sympathien für die AfD nachgesagt wurden, stimmte mit seiner Einschätzung zwar mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) überein, der in einer Regierungserklärung verkündet hatte: »Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome«, aber das entsprach nicht den Tatsachen.
Nach einem Wochenende intensiver Arbeit, die seine Mitarbeiter leisteten, um die Karriere des Chefs zu retten durch Beweise, dass das Video gefälscht sei, ruderte der Präsident des Amtes für Verfassungsschutz zurück und erklärte in einem Brief an Minister Seehofer, das Video sei nicht gefälscht, aber falsch verstanden worden. Die Ankündigung des Ministers, Maaßen werde abgelöst und zum Staatssekretär befördert, löste eine Koalitionskrise und öffentliche Empörung aus. Einen vorlauten Behördenchef, der seine Reputation durch unüberlegtes Gerede beschädigt und sich wegen mangelnder Distanz zur AfD ins Zwielicht gebracht hatte, durch den Aufstieg in ein höheres politisches Amt zu belohnen, wäre ein zweifelhaftes Signal gewesen. Maaßen wurde schließlich in den weniger ehrenhaften, aber verdienten Ruhestand versetzt. Die AfD weinte ihm schon vorher Tränen nach, vergossen durch den Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland, der der Regierung vorwarf, sie entlasse einen »verdienten Behördenleiter« nur deshalb, weil er ihr »nicht genehm« sei.8
Vom politischen Schaden abgesehen, der durch falsches Taktieren und unangemessene Reaktionen eintrat, haben die Ereignisse in Chemnitz eine Debatte über die Anfälligkeit der Bürger der ehemaligen DDR für rechte Ideologien in populistischer wie rechtsextremistischer Form ausgelöst. Insbesondere Sachsen ist nachhaltig in die Schlagzeilen geraten. In Chemnitz hat sich, in pauschalisierender Medienpraxis zum Horrorszenario reduziert, wiederholt, was in Hoyerswerda und Rostock begann und in Mügeln, Tröglitz, Heidenau und anderen Orten wiederauflebte: von Ressentiments geleiteter rassistischer und fremdenfeindlicher Hass, dessen Ursachen Überfremdungsängste, Ratlosigkeit, Unsicherheit angesichts der politischen Praxis sind. Diese Befindlichkeiten werden durch rechte Demagogie, Hetze und Abneigung gegen die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft zum Hass stimuliert. Anlass, nicht Ursache, bilden die Opfer, die als »Fremde«, stigmatisiert sind.9
Die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung, die im Herbst 2014 in Dresden entstand, vorübergehend staunenerregende Menschenmassen mobilisierte, dann am Ende schien wegen ihrer Inhaltsleere, aber durch den Flüchtlingsstrom wieder belebt wurde, hat gezeigt, wie leicht Ressentiments populistisch zu kanalisieren sind, und sie hat gelehrt, wie schnell sich Radikalisierung vollzieht. Am Anfang standen die »Spaziergänge« gegen die angebliche Überfremdung, am Ende brannten Unterkünfte von Flüchtlingen. Das Versagen der Politik bestand darin, dass sie glaubte, bedrückten Bürgern Verständnis entgegenbringen zu müssen, und dass das Hass- und Gewaltpotenzial, das diese Menschen zu mobilisieren fähig waren, unterschätzt wurde.10
Das Ressentiment Fremdenfeindschaft brachte einst die deutsche Leitkulturdebatte und etwas später die Bewegung »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands« (Pegida) hervor. Dass Tausende in Dresden auf die Straße gingen, um als Komparserie Protest darzustellen, ohne Hauptdarsteller, ohne erkennbare Regie, ohne Thema und Plan, das verwundert wegen des organisierenden Personals und bestürzt wegen der inhaltsleeren Wut, mit der agiert wird. Ein großer Teil der Pegida-Demonstranten hat sich in den fünf Jahren seit der Gründung wieder verlaufen, zum fünften Jahrestag am 20. Oktober 2019 sollen es nach Presseberichten noch einmal 3000 gewesen sein.11
Die Ethnisierung sozialer Probleme geht mit einem Kulturrassismus einher, der an das alte Übel anknüpft, Menschen aufgrund ihrer Herkunft als höher- oder minderwertig zu klassifizieren. Minderheiten sind damit zugleich als Gefahr für die Mehrheit stigmatisiert. Wagenburgmentalität innerhalb der Mehrheitsgesellschaft und das Verlangen, Intoleranz als Tugend zur Abwehr vermeintlicher Gefahren zu kanonisieren, sind Reaktionen der Unsicherheit. Die Botschaft, die Ideologen verbreiten, findet den Nährboden in existentiellen Ängsten; die Adressaten sind resistent gegen rationale Argumente, denn Bedrohungsszenarien und Verschwörungsfantasien sind wirkungsvoller als alle Vernunft und jede Logik. Verbale und brachiale Gewalt stehen am Ende der Skala, die mit der Stigmatisierung, Dämonisierung, Ausgrenzung von Minderheiten beginnt.
Der Aufruhr bürgerlicher Bosheit gegen Flüchtlinge ist symptomatisch für den Zustand der Gesellschaft: Die Saat der Ausländerfeinde ist aufgegangen, die Schläger und Brandstifter rechtsextremer Observanz führen aus, was räsonierender und pöbelnder Mittelstand vor Wohnheimen und auf Pegida-Kundgebungen intendiert.
Der Strom der Flüchtlinge, die in Europa Zuflucht suchen, in deren Heimat Bürgerkrieg herrscht oder auch »nur« existentielle wirtschaftliche Not, hat zwar viel Verständnis und Hilfsbereitschaft ausgelöst, aber auch beschämenden Fremdenhass. Als seien sie persönlich bedrängt, als würden sie individuell zur Kasse gebeten, als gäbe es eine fundamentale Bedrohung der Wohlstandsgesellschaft, randalierten Bürger nächtelang vor Flüchtlingsunterkünften, grölten ausländerfeindliche Parolen, stießen Morddrohungen aus, übten Gewalt. Brandstiftung gegen Wohnheime, als vorbeugende Maßnahme zur Abwehr von Flüchtlingen, artete im Sommer 2015 zum Volkssport aus. Politik und Medien verurteilen mit kräftigen Worten die Rechtsextremisten für das traurige und beängstigende Geschehen. Aber der Rechtsextremismus beginnt schon in der Mitte der Gesellschaft, und er ist mehr als eine Randerscheinung, von der man sich leicht distanzieren kann. Demagogen setzen die Zeichen, obsessive Aktivisten fachen die Wut der Unbedarften an. Die Täter und ihre Sympathisanten gehören aber auch zum Kreis der Wohlsituierten, die keine materiellen Sorgen haben, denen nichts weggenommen wird, die jedoch von Ressentiments geleitet glauben, etwas verteidigen zu müssen, das sie für bedroht halten. Und die vermeintliche Bedrohung funktioniert als Chiffre für viele Ängste und Frustrationen, unter denen die Menschen leiden. Im Fremdenhass bündelt sich der Unmut aufgebrachter Bürger. Flüchtlinge und Notleidende sind die Ziele ihrer Wut, die tatsächlich andere Ursachen hat.
Die Ethnisierung sozialer Probleme dient als leicht nachvollziehbare Erklärung mannigfachen Unbehagens und vieler sozialer Schwierigkeiten und die als Problemlösung vorgeschlagenen drastischen Politikkonzepte treffen die Wünsche vieler. Solche Erlösungsbotschaften entsprechen den Bedürfnissen der Unzufriedenen, denen Selbstbehauptung angesichts imaginärer Gefahren oberstes Gebot ist, womit sie ihre Bedrohungs-, Überfremdungs- und Existenzängste ausagieren. Unter der Oberfläche des Feindbildes »Fremde« plagt ein diffuses Gemenge von Unsicherheit und Angst, von Ratlosigkeit und Unverständnis gegenüber rasanten und komplexen Veränderungen der Welt Menschen in der Mitte der Gesellschaft: Werden die Sozialsysteme überfordert, sind Zukunft und Alter sicher, ist die Vision Europa von Politikern zerredet und von Bürokraten in Brüssel so kleingearbeitet worden, dass nur noch nationaler Patriotismus die Rettung bringt? Ein zentrales Motiv, das diffusen Ressentiments zugrunde liegt, ist das Gefühl, nicht genug partizipieren zu dürfen, die Empfindung der Ohnmacht gegenüber Obrigkeiten, gegenüber unkalkulierbaren Entwicklungen.
Pegida ist ein Versuch zur Gemeindebildung gleichgesinnter Bürger durch gemeinsame Ressentiments. Es ist die Flucht aus dem Unbehagen. Weil sie komplizierte Zusammenhänge der Politik nicht verstehen, weil sie Probleme mit dem System der repräsentativen Demokratie haben, weil sie ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit im Rechtsstaat nicht verwirklicht sehen, schließen sich Empörte zur Kultivierung ihrer Vorurteile zusammen. Den Bindekitt bilden Ängste und das Bedürfnis nach schlichten Welterklärungen. Die Programmlosigkeit mobilisiert mit Ressentiments wie Islamfeindschaft, Xenophobie, Nationalpatriotismus Unzufriedene, füttert sie beim Gemeinschaftserlebnis des Umzugs und der Kundgebung mit Phrasen, lässt sie Parolen skandieren und Aufbegehren darstellen und stößt sie dann zurück in politische Verdrießlichkeit.
Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Kommunikation und der Debatte in den »sozialen Medien« erklärt viel über Aufstieg und Niedergang von demagogischen Bewegungen. Der wehleidig vorgetragene Populismus auf den Straßen ist die eine Seite, die grobschlächtig-unflätigen Kampagnen gegen Andersdenkende im Internet verweisen auf die andere. Ohne die »sozialen Medien« hätte es die Dresdner Pegida-«Spaziergänge« kaum gegeben. Die Vernetzung Gleichgesinnter, die sich in ohnmächtigem Zorn gegenseitig bestätigen, ersetzt das politische Charisma der Anführer: Kommuniziert werden Parolen und Feindbilder, die das gemeinsame Weltbild bestätigen.
Die Protestgemeinde, die sich in der Mitte der Gesellschaft formiert, hat durch die Mobilisierung von Ressentiments Brückenfunktion zum Rechtsradikalismus, auch und obwohl sie dies öffentlich vehement bestreitet: Allein die Selbstdarstellung der Wünsche und Abneigungen diffusen Protestes – gegen Fremde, gegen die Eliten in Politik, Gesellschaft, Medien – in den Formen der Stigmatisierung, Denunziation, Ausgrenzung von Minderheiten, ist die Einladung an Extremismus und zur Gewalt.12
Eine wichtige, vielleicht die entscheidende Triebkraft, die Ressentiments in Gewalt münden lässt, ist Angst. Vielfältige Formen von Angst kennzeichnen das soziale Leben: Überfremdungsängste werden besonders deutlich artikuliert, weil sie sich öffentlich als Auftrag verstehen lassen, das Vaterland, die Wertegemeinschaft, die durch Brauchtum und Tradition charakterisierte Heimat zu verteidigen. Die Abwehr von Fremden erleben wir täglich. »Argumente« gegen Fremde sind (ausgesprochen) deren »aggressive Religion«, deren »inkompatible Kultur«, deren »mangelnde Zivilisation« und andere Zuschreibungen sowie (unausgesprochen) deren Armut und die daraus vermeintlich resultierende Gier, unsere Sozialsysteme auszuplündern oder Eigentum, Arbeitsplätze und vieles mehr zu rauben. Unter Überfremdungsängsten subsumieren sich viele Emotionen, vom Sexualneid über die befürchtete Kriminalisierung der Gesellschaft bis zur geargwöhnten gewaltsamen Islamisierung des Abendlandes.13 Den Hintergrund der Sorgen über eine im Zeichen der Globalisierung unübersichtlich gewordene und vielfach bedrohte Lebenswelt bildet die von Nationalisten, Rassisten und Sozialdarwinisten beschworene angebliche demografische Machtergreifung. Der Erfolg eines Buches mit dem Titel »Deutschland schafft sich ab«, dessen schlichte These lautet, dass unqualifizierte Muslime mehr Kinder in die Welt setzen als qualifizierte Deutsche, wirft ein grelles Licht auf die Ängste vieler wohlsituierter Bürger und ihrer Ressentiments. Wahlerfolge fremdenfeindlicher politischer Parteien in der Schweiz und in Österreich, das Randalieren geängstigter Bürger in Deutschland, die ihrer Wut vor den Wohnheimen von Asylbewerbern mit Hassparolen und durch Brandstiftung Ausdruck verleihen – das sind Zeichen einer zunehmenden Verrohung, die Gewalt anstelle von politischem Kompromiss als Mittel für legitim hält und praktiziert.
Wachsende Muslimfeindschaft nach dem 11. September 2001 führte zu einer Zäsur in der politischen Kultur der westlichen Welt. Auch darauf fußend entstand in Deutschland eine zweite Zäsur mit der Gründung der europakritischen fremdenfeindlichen Partei »Alternative für Deutschland«, deren Initiator gegen den Euro als Gemeinschaftswährung der Union zu Felde zog. Nach seiner Abhalfterung radikalisierte sich die Protestbewegung rasch, gewann, beflügelt vom Flüchtlingsstrom, ohne weiteres Programm Sitze in den Parlamenten und verkörpert dort eine von Emotionen gesteuerte neue Form des Rechtsextremismus, die mit kulturrassistischen, nationalistischen und völkischen Ressentiments und Feindbildern provoziert.14
Der Erfolg Thilo Sarrazins, der Überfremdungs- und Existenzängste der Mehrheitsgesellschaft bedient, Sozialdarwinismus propagiert und kulturrassistisch argumentiert, belegt eindrucksvoll die Notwendigkeit seriöser langfristiger Gesellschaftsanalysen, die den Zusammenhang von Ressentiment und Konflikt offenlegen. Als aktuelle Projektionsfläche für das Unbehagen der Mehrheit dienen seit etwa 20 Jahren »die Muslime«. Sie waren vor dem 11. September 2001 – dem Anschlag islamistischer Terroristen gegen die USA – nicht als Gruppe wahrgenommen und über ihre Religion ideologisiert worden. Die inzwischen populäre Denkfigur vom bedrohlichen Islam, der Europa und die Welt unterjochen will, hat historische Wurzeln und deshalb Tradition. Konjunktur bekam das Ressentiment aber erst mit dem Einsturz der Türme des World Trade Centers in New York.
Im westlichen Europa dient das Feindbild Islam als Chiffre der Verständigung und Abwehr gegenüber einer Minderheit von Muslimen, die als Bürger oder Gäste in der Gesellschaft Rechte haben. Sie sind nicht als Usurpatoren gekommen und sie verstehen sich nicht als Feinde. Unter Hinweis auf Terrorakte fanatischer Islamisten, die durch den Missbrauch der Religion im Gegensatz zur Mehrheit der Muslime stehen, durch Verallgemeinerung von Verbrechen, die in Afghanistan oder im Iran ihren Ursprung haben, Israelfeindschaft und den verbreiteten Judenhass in islamischen Gesellschaften beklagend, werden muslimische Bürger in Mitteleuropa stigmatisiert, indem man sie unter Generalverdacht stellt und ihre Religion instrumentalisiert, um sie zu diskriminieren.15
Die Muslimfeinde sind mit großem zeitlichem Abstand von den gleichen Ängsten getrieben wie einst die Judenfeinde, nämlich der Furcht vor Überwältigung und Überfremdung, und sie begründen ihre Ängste mit angeblichen Geboten der Religion der vermeintlichen Aggressoren. Mit dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen modernen Antisemitismus reagierten Teile der Bevölkerung auf einen als bedrohlich empfundenen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel. Das Feindbild war, wie die Forschung zeigt, auch eine antimoderne Reaktion auf die Emanzipation der Juden, welche die Antisemiten rückgängig machen wollten. Man muss in Nutzanwendung der Vorurteilsforschung zum Antisemitismus die pauschale Dämonisierung des Islam in der Gegenwart als eine Reaktion auf die Integration von Muslimen sehen, in deren Verlauf die Bevölkerungsgruppe äußerlich wahrnehmbarer wird, durch den Bau von Moscheen und den Anspruch auf Bürgerrechte. Im Streit um Moscheebau-Projekte (das fällt vielen mit dem Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts vertrauten Beobachtern auf) wiederholen sich Motive deutscher und österreichischer Synagogendebatten.
Die derzeit beschworene Gefahr einer »Islamisierung Europas« greift auf jahrhundertealte Deutungsmuster zurück. Der aktuelle »islamkritische« Diskurs hat erhebliche xenophobe und kulturrassistische Züge, thematisiert verbreitete Überfremdungsängste, argumentiert durchgängig mit religiösen Vorbehalten, die in den säkularisierten Gesellschaften Europas mit großem Ernst und seltsamer Erbitterung vorgetragen und nachempfunden werden. Die Vorstellungen von Despotie (beginnend in der Familie), Gewaltbereitschaft und Bildungsunlust als vermeintliche Charakteristika des Islam reichen weit zurück. Sie werden bekräftigt durch Verweise auf aktuellen Terrorismus von Islamisten und auf das Unrechtsregime im Iran. Die Absicht ist eindeutig, nämlich Islam und Islamismus, die Mehrheit der Muslime mit der Minderheit der Islamisten gleichzusetzen.
»Islamkritik«, wie sie auch von jüdischer Seite (aus nachvollziehbaren Gründen angesichts der Bedrohung Israels und offensiv gelebter Judenfeindschaft von Muslimen) vehement vorgetragen wird, hat kein historisches Gedächtnis und kein Problembewusstsein für die Austauschbarkeit der Stigmatisierung von Gruppen. Fixiert auf ihr Feindbild wüten Aktivisten gegen differenzierende Betrachtungsweisen und verteidigen Demagogen ihre eindimensionale Weltsicht. Obsessive Islamfeindschaft predigt Hass gegen eine fremde Kultur und proklamiert Intoleranz. Seit einigen Jahren ist die Formel vom »christlich-jüdischen« Abendland in Gebrauch. Sie ist nichts anderes als eine Parole gegen den Islam und gegen Muslime. Bedroht sind damit die Menschenrechte einer Minderheit von Bürgern mitteleuropäischer Staaten, bedroht sind damit auch Grundwerte der demokratischen Gesellschaft, nämlich Liberalität, Toleranz gegenüber kultureller Vielfalt und Akzeptanz von Minderheiten.
Die Wirkungen solcher Ressentiments hat die paradigmatische Langzeitstudie über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit mit dem assoziativen Titel »Deutsche Zustände« vor Augen geführt. Fast die Hälfte der befragten deutschen Bürger glaubt demnach, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben, jeder Fünfte ist dafür, die Zuwanderung von Muslimen zu unterbinden, ein Drittel glaubt an »natürliche Unterschiede« zwischen Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe, vertritt damit die Überzeugung unterschiedlicher Wertigkeit. Die Entsolidarisierung der Gesellschaft schreitet in der Breite voran. Aus Angst, den eigenen Status zu verlieren werden Menschen gruppen abgewertet. Vor allem Langzeitarbeitslose und Obdachlose sind verachtet und die Bereitschaft zum Protest und zur Gewalt hat zugenommen. 19 % der Bevölkerung sind der Meinung, »wenn sich andere bei uns breitmachen, muss man ihnen unter Umständen unter Anwendung von Gewalt zeigen, wer Herr im Hause ist«.16 Anlass zu Pessimismus bieten die Veränderungen in den Trägerschichten ausgrenzender menschenfeindlicher Einstellungen. Es sind die besseren Stände, die mittleren und höheren Schichten, die Tugenden des Bürgers wie Toleranz und Solidarität zugunsten des eigenen Fortkommens oder im Interesse des Statuserhalts frohgemut den Abschied gegeben haben.17
Das macht die Situation gefährlich. Der Trend zum Vorrang ökonomischen Nutzens und sozialen Erfolgs, der Ausgrenzung und Diskriminierung von Gruppen für selbstverständlich hält, vergiftet nicht nur das gesellschaftliche Klima, sondern bedroht die Demokratie. Unter dem Vorwand der Verteidigung abendländischer Werte gegen »Feinde aus dem Morgenland«, gegen Überfremdung durch vermeintliche Aggressoren, die angeblich auf Gebot ihrer Religion gegen Europa kämpfen, schlagen Muslimfeinde mit populistischen Parolen Brücken aus der Mitte der Gesellschaft zum Extremismus. Viele sehen die Mitte bereits dahingeschmolzen.
Im klassischen Verständnis gesellschaftlicher Probleme waren die Felder, auf denen Menschenfeindlichkeit Minderheitskollektiven gegenüber agiert wird, dem Rechtsextremismus zugeordnet, wo sie als Rassismus, Antisemitismus, Neonazismus verhandelt wurden. Gruppen, die derzeit im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, wurden überhaupt nicht beachtet oder waren traditionell marginalisiert – wie etwa Homosexuelle, »Asoziale«, Jenische, »Zigeuner« –, wobei ihre Ausgrenzung zugleich als ihre natürliche Rolle in der Gesellschaft verstanden wurde. Im Gegensatz zur Minderheit, die ihre spezielle sexuelle Orientierung erfolgreich der offenen Diskriminierung entziehen konnte, blieben Sinti und Roma als Außenseiter fixiert, in der Rolle, die ihnen seit Jahrhunderten von der Mehrheit zugewiesen wird.
Sinti und Roma sind traditionell in besonderem Maße Opfer von Vorurteilen und Feindbildern. Ressentiments gegen »Zigeuner« haben eine lange Geschichte, ähnlich den Vorbehalten gegen Juden. Der nationalsozialistische Völkermord an Sinti und Roma hat aber bis zum heutigen Tag nicht vergleichbare Reaktionen des Bedauerns, der Scham, Reue und schuldbewusster Zuwendung in der Mehrheitsgesellschaft ausgelöst wie der Holocaust. Der Opfergemeinschaft der Sinti und Roma wurde auch nach der Katastrophe keine Empathie entgegengebracht, die rassistischen und sozialen Vorbehalte blieben lebendig. Antiziganismus – die Feindschaft gegen die Minderheit, deren vermeintlich negative Eigenschaften durch die Mehrheit definiert sind – blieb als Einstellung und Vorurteil wirkungsmächtig. Das Ressentiment, das sich vor allem durch beleidigende Äußerungen, Verweigerung von Partizipation, Geringschätzung, hasserfüllte Zuschreibungen und sonstige Diskriminierung bis hin zu Gewalt gegen Individuen äußert, ist keineswegs ein Phänomen, das sich auf Rechtsextremisten beschränkt. Als diskriminierende Einstellung ist Antiziganismus in der Gesellschaft weit verbreitet. Ziel und Ergebnis des Ressentiments ist die wirksame Ausgrenzung der Minderheit. Daran ändert die demonstrative Zuwendung wenig, die auf hoher politischer Ebene den Sinti und Roma gegenüber erfolgt, durch Denkmalsetzung, Festakte und Präsenz in Gremien: das Agieren der Repräsentanten der Mehrheit ist lediglich Reaktion auf Postulate der Minderheit, nicht Bedürfnis oder Überzeugung wie im Falle der Juden.
Der sperrige Begriff »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« ist schwer zu rezipieren. Das gilt für die politische und soziale Praxis in gleicher Weise wie für die theoretische wissenschaftliche Fundierung. Zu abstrakt und zu pauschal, lautet ein Argument gegen die Begrifflichkeit; die Ablehnung des mit dem Terminus bezeichneten Sachverhalts gesellschaftlicher Verwerfungen und Störungen im Umgang von Mehrheit und Minderheiten, also der Versuch, die Phänomene der Ausgrenzung, Stigmatisierung, Denunziation, Gewalt gegen Schwache in der Gesellschaft zu ignorieren, ist charakteristisch. Die ewige Formel »Nestbeschmutzung« steht im Raum, wenn Gefahr besteht, durch zu genaue und differenzierte Analyse gesellschaftlichen Dissonanzen auf die Spur zu kommen. Da liegt die Empfehlung immer noch nahe, nicht zu genau hinzusehen auf die Abwertung bestimmter Gruppen, weil das die Harmonie der Mehrheit stören könne. Und die Politik hat leider nur zu oft kein Interesse am kritischen Blick auf den Zustand der Gesellschaft. Sie reagiert im Katastrophenfall umso heftiger. Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Herbst 2019 erkannte der Bundesinnenminister die Gefahr des Rechtsextremismus und kündigte Maßnahmen an. Nach den Morden in Hanau im Frühjahr 2020 erkannte er auch die Gefahren der Islamophobie und deren Schnittmengen mit Judenfeindschaft.
Der von Wilhelm Heitmeyer eingeführte Begriff »rohe Bürgerlichkeit« hat – so erschreckend er den Sachverhalt fortschreitender Entsolidarisierung trifft – wenig Chancen, sich außerhalb der Sozialwissenschaften einzubürgern. Denn dieselben Etabliertenvorrechte und Neigungen, schwache Gruppen abzuwerten, die die diagnostizierte soziale Dominanzorientierung und autoritäre Aggression gegenüber Randgruppen und Minderheiten charakterisieren, hindern die Akzeptanz der Zustandsbeschreibung dieser Gesellschaft.
Die Abwehr von Einsicht und Erkenntnis scheint im sensiblen Bereich gesellschaftlicher Ressentiments zum politischen und medialen Geschäft zu gehören. So beklagt der Rechtsextremismusexperte Frank Jansen das Phänomen mangelnder Empathie für Minderheiten und wertet es als Symptom für den Zustand der Gesellschaft. Die Feststellung exemplifiziert er mit den Recherchen dreier seriöser deutscher Zeitungen, die 137 Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit der Wende ermittelt haben – wogegen die Regierung aufgrund der Informationen der zuständigen Behörden nur von 47 Opfern wusste.18 Die Verbrechen des »Nationalsozialistischen Untergrunds«, vulgo Zwickauer Neonazi-Mördertrio, belegen den Befund, dass Justiz und Polizei durch deutsche Zustände überfordert sind und dass sich die Funktionselite ungern einen Spiegel vorhalten lässt. Die Konjunktur ausgrenzender Vorurteile ist freilich ein internationales Phänomen. Ungarn unter der Regierung Orban bietet mit rechter Ideologie, Nationalismus, grassierendem Antisemitismus und der rassistischen Feindschaft gegen Roma die Exempel dafür.19 Das Projekt des US-Präsidenten Donald Trump, die Vereinigten Staaten durch eine Mauer gegen unerwünschte Zuwanderer zu schützen, der Krieg des türkischen Regenten Erdogan gegen die Kurden, die Unterdrückung und Vertreibung der Minderheit der Rohingyas in Myanmar, die Massengewalt gegen Uiguren in der Volksrepublik China sind aktuelle Ausprägungen von Ressentiments, mündend in Feindkonstrukte mit grauenhaften Folgen für die Betroffenen.
Die politische Funktion von Minderheiten ist evident, wenn es um territoriale Ansprüche, um Machtfragen, um Rechtspositionen der Mehrheit geht und umgekehrt, wenn kulturelle, politische und soziale Autonomiepostulate der Minderheit zu verhandeln sind. Das lässt sich historisch prominent belegen. Das Beispiel par excellence für die politische Instrumentalisierung einer Minderheit und deren Folgen ist die Inszenierung der Sudetenkrise 1938: Unmittelbar nach der Annexion Österreichs begann Deutschland eine Kampagne gegen die Tschechoslowakei.1 Instrumentalisiert wurde dazu die Minderheit der »Sudetendeutschen«. Die Tschechoslowakei war nach dem Ersten Weltkrieg als selbständiger Staat aus dem Erbe des Habsburger Reiches entstanden, auf ihrem Territorium lebte eine deutschsprachige Minderheit von 3,2 Millionen Menschen. Schon im März 1938 ermunterte Hitler den zunehmend von Berlin aus finanzierten und gelenkten Chef der Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, zu unerfüllbaren Autonomieforderungen gegen die Prager Regierung. Mit der Kampagne »Heim ins Reich« wurde die »Sudetenkrise« systematisch verschärft und zum internationalen Konflikt ausgeweitet. Hitler, zur Zerschlagung der Tschechoslowakei längst entschlossen, betrieb bis zum Herbst 1938 die Eskalation der Krise mit der ultimativen Forderung nach Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich. Es handelte sich um 28 000 Quadratkilometer, die 20 Prozent des Territoriums der Tschechoslowakei ausmachten. Instrumentalisiert wurde die deutschsprachige Minderheit durch den forcierten Wunsch, nach dem Anschluss des Siedlungsgebietes »Sudetenland« an das Deutsche Reich zur Mehrheit zu gehören.2
Im »Münchner Abkommen« wurden im Zeichen der Appeasementpolitik die deutschen Wünsche erfüllt – zur Enttäuschung Hitlers, der insgeheim maximalere Forderungen hatte und der das Ergebnis der Verhandlungen vom Herbst 1938 im März 1939 durch die Besetzung der »Resttschechei« in seinem Sinne verbesserte. Für die deutsche Minderheit, die sich unter der Parole »Heim ins Reich« für die Ziele des NS-Regimes hatte in Dienst nehmen lassen, endete der flüchtige Triumph der Zerstörung der Tschechoslowakei in der Katastrophe der Vertreibung 1945, die sie heimatlos und als ungebetene Ankömmlinge in Deutschland und Österreich zu Parias machte.3
Der Südtirolkonflikt illustriert den Primat machtpolitischer Interessen durch zwei Mehrheitsnationen – Großdeutsches Reich und Italien –, dem die Interessen der Minderheiten in ganz unterschiedlichen internationalen Konstellationen nachgeordnet wurden. Nach der im Vertrag von St. Germain verfügten Abtretung des südlich des Brenners gelegenen Teils der einstigen Grafschaft Tirol an Italien besteht seit dem Ersten Weltkrieg in dessen Staatsverband eine deutschsprachige Minderheit von etwa 250 000 Menschen.4 Das faschistische Italien betrieb die konsequente Italianisierung der Region. Im Zeichen der deutsch-italienischen Achse verständigten sich Hitler und Mussolini zu Lasten der Minderheit: Ein Optionsvertrag sah die individuelle Wahl der Südtiroler zwischen der deutschen oder der italienischen Staatsangehörigkeit vor. Die 70 Prozent, die für Deutschland (das bedeutete: für das staatsrechtlich vorübergehend nicht existente Österreich) votierten, sollten ins Großdeutsche Reich ausgesiedelt werden. Dazu kam es aufgrund der Kriegslage nicht. Ab Herbst 1943, mit dem Einmarsch der Wehrmacht, wurden die Provinzen Bozen, Trient und Belluno als »Operationszone Alpenvorland« de facto annektiert. 1945 wurde Südtirol dann aber wieder italienisch.
Da die Autonomiezusagen Roms nicht erfüllt wurden, fühlten sich die Südtiroler als Irredenta. Das Pariser Abkommen zwischen Österreich und Italien vom September 1946 bot zwar den völkerrechtlichen Rahmen, der Österreich eine Art Sorgerecht für die Südtiroler Minderheit gewährte, änderte aber nichts an deren faktischer Benachteiligung durch italienische Behörden.5 Gegen die Italianisierung leisteten in den 1950er Jahren die Südtiroler Widerstand, der sich zum Terror steigerte. In den 1960er Jahren erreichte er den Höhepunkt. Die Fronten waren eindeutig: italienische Staatsorgane vertraten rigoros und schikanös den Anspruch der Mehrheit, die den Rechtstitel auf das Gebiet und seine Bewohner in Händen hielt. Dagegen protestierten die Betroffenen, fühlten sich zur Selbsthilfe gegen die Verletzung ihrer Autonomie berechtigt und kämpften im Gefühl der moralischen Überlegenheit mit Bomben gegen die Staatsmacht Roms. Das Selbstbewusstsein der Mehrheit duldete jedoch keine Konzessionen an die Minderheit. So waren gegenüber Südtirol auch die »heiligen Ideen des Volksentscheids aus der Zeit des Risorgimento«6 außer Kraft, nach denen in der Zeit der Einigung Italiens nur solche Gebiete in den Staatsverband aufgenommen wurden, deren Bevölkerung sich per Plebiszit ausdrücklich dafür ausgesprochen hatte. Die Südtiroler Minderheit kämpfte, von Österreich unterstützt, auch nicht um die Trennung von Italien, sondern nur um Autonomierechte.7
Machtpolitisches Kalkül – der Anspruch Italiens auf die Brennergrenze – war im Ersten Weltkrieg der Ausgangspunkt der Südtirol-Frage gewesen. Die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts an die deutschsprechende Bevölkerung schärfte das Problem. Jenseits völkerrechtlicher und diplomatischer Auseinandersetzungen bestand es daraus, dass die Bewohner der historischen Grafschaft Tirol 1919 aus Angehörigen der Mehrheit in Österreich zur Minderheit im Staat Italien wurden. Der neue Gegensatz zwischen Minderheit und Mehr heit erwuchs aus historischer Tradition, aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturkreisen und aus ethnischen Divergenzen.8 Den Widerstand gegen den Italianisierungsanspruch legitimierten die Südtiroler mit der Erinnerung an die Befreiungskriege 1809; unter Verweis auf das Idol Andreas Hofer nahmen sie das Recht auf Notwehr in Anspruch, beschworen auch den 20. Juli 1944 für ihre Sache und beriefen sich außerdem auf die zeitgenössischen Unabhängigkeitskämpfe in Zypern und Nordafrika, als sie Denkmäler, Strommasten und Versorgungseinrichtungen in die Luft jagten.9 In einem Flugblatt, das 1961 verbreitet wurde, heißt es: »Nicht der Haß gegen Menschen einer anderen Sprache leitet uns, unsere Erhebung ist Not wehr gegen einen Staat, der uns unseres Volkstums wegen verfolgt und uns geistig und physisch vernichten will. Europa und die Welt werden unseren Notschrei hören und erkennen, daß der Freiheitskampf der Südtiroler ein Kampf für Europa ist und gegen die Tyrannei. Landsleute, unterstützt den Freiheitskampf.«10 Dass der Konflikt sich schließlich – endgültig erst 1992 – auflöste, macht die Südtirol-Frage zum hoffnungsvollen Exempel dafür, dass Minderheitsprobleme nicht nur völkerrechtlich, sondern auch tatsächlich und auf Dauer lösbar sind.
Der Irland-Konflikt, der seit einem Jahrhundert die Gemüter auf den britischen Inseln bewegt, lange Zeit den Charakter eines Bürgerkrieges hatte und bis zur praktizierten Friedensstrategie 2014 andauerte, hat religiöse Gegensätze zur Ursache. Trotz der politischen Gesten, die Friedensbereitschaft signalisieren wie der historische Staatsempfang für den irischen Präsidenten Michael D. Higgins im April 2014 in London, schwelt der Konflikt immer noch. Dessen Ausdruck sind die martialischen Traditionsumzüge in Nordirland, die jährlich an den Sieg der Protestanten über die Katholiken erinnern und auf deren erbitterten und gewalttätigen Widerstand treffen. Ausgetragen wurde der Streit jahrzehntelang durch paramilitärische Verbände wie die Irisch Republikanische Armee (IRA) einerseits und probritische (»loyalistische«) Gruppen der Unionisten andererseits.11
Politisch kämpften die einen für den Anschluss der sechs nordirischen Grafschaften an die seit 1921 teilautonome und seit 1949 unabhängige Republik Irland. Die anderen verteidigen den Verbleib der Provinz Ulster beim Vereinigten Königreich. Begonnen hatte der bewaffnete Streit vor dem Ersten Weltkrieg. Auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs in den Jahren 1969 bis 2001 kamen 3500 Menschen zu Tode, mehr als 50 000 wurden durch Bomben oder bei Schießereien schwer verletzt. Trotz des mühsam zustande gebrachten Friedens, der durch ein in mehreren Abkommen politisch fixiertes System der Macht- und Interessenbalance erreicht wurde, dauern die Spannungen zwischen den beiden Gruppen an, die sich mithilfe von Religion und Sprache politisch gegeneinander abgrenzen.12 Beide Parteien in Nordirland, die protestantischen Unionisten wie die katholischen Republikaner sind zahlenmäßig inzwischen fast gleich stark (bei 1,8 Millionen Gesamtbevölkerung der Provinz Ulster haben die Protestanten eine schrumpfende geringe Majorität). Sie sind jedoch jeweils gegenüber dem von London repräsentierten protestantischen Großbritannien bzw. der in Dublin verkörperten katholischen Republik Irland in der Position der Minderheit.13
Nach den äußeren Parametern der Position und Funktion von Minderheiten und deren politischer Instrumentalisierung sind die sozialen, anthropologischen und psychologischen Strukturen des Verhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit zu betrachten. Im gesellschaftlichen Alltag vollziehen sich Wahrnehmung und Verhalten zwischen einzelnen Gruppen, also auch Mehrheiten und Minderheiten, über Freund- und Feindbilder, die sich durch Informationen konstituieren. Ein beträchtlicher Teil der Information besteht aus Ressentiments, die sich aus Stereotypen und Klischees speisen.
Versteht man Vorurteile als Zuschreibung von Eigenschaften, die unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Individuen, Personengruppen, Ethnien, Nationen bestimmen – als »geschäftstüchtige Juden«, »diebische Zigeuner«, »eroberungssüchtige Muslime«, »unzuverlässige Levantiner«, »kriminelle Albaner« usw. –, so ist es notwendig, sie zu hinterfragen, um Funktion und Wirkung der Ressentiments zu verstehen. Bausteine des Vorurteils sind Stereotype, die geläufige Vorstellungen von Personen, Kollektiven oder auch Sachverhalten und Dingen fixieren.
Stereotype, d. h. zu Formeln erstarrte Beschreibungen, besser: Zuschreibungen, erlauben rasche und nicht reflektierte Einordnung und Erklärung, sie sind in der Regel über lange Zeiträume tradiert. Das Stereotyp entzieht sich analytischem Zugriff, denn es tritt an dessen Stelle, wird nicht reflektiert und braucht keine Begründung. Der Angehörige einer bestimmten Ethnie ist deshalb durch stereotype Klischees ein für alle Mal als listig oder verschlagen, als faul oder berechnend, als aggressiv oder feige charakterisiert. Natürlich gibt es auch positive stereotype Bilder wie z. B. die »schöne Jüdin« oder den »edlen Magyaren«. Funktion und Wirkung von Vorurteilen sind allerdings unabhängig von der positiven oder negativen Belegung. Eindeutig überwiegen die pejorativen, d. h. herabsetzenden Stereotype in der gesellschaftlichen Realität, dementsprechend sind Vorurteile in der Regel an unangenehmen Eigenschaften verankert und entfalten vor allem negative Wirkung.
Vorurteile spielen im privaten Alltag wie im öffentlichen Leben die Rolle von Katalysatoren für individuelle und kollektive Ängste, Frustrationen und Aggressionen. Vorurteile verdichten sich zu Feindbildern, die als Bestandteile politischer Ideologien instrumentalisiert werden. Das negative Fremdbild steht am Anfang der agierten Feindseligkeit, die als individuelles fremdenfeindliches Delikt, als gemeinsamer Angriff gegen stigmatisierte Minderheiten, als kollektive Raserei gegen Fremde bis hin zum organisierten und geplanten Völkermord zum Ausdruck kommt.14
Auch diese Funktionen und Wirkungen können an historischen und aktuellen Beispielen verdeutlicht werden. Fremdenfeindliche Konstrukte aus tradierten Vorurteilen und instrumentalisierten Feindbildern gehörten beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 zum geistigen Marschgepäck der Wehrmacht und im Kalten Krieg nach 1945 dienten sie als Waffenarsenal, sie bildeten auch einen wesentlichen Teil der Motivation bei der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und benachbarten Siedlungsräumen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Alte und neue antisemitische Stereotype, die die Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen vorbereiteten und ermöglichten – die semantische Grundlegung des Völkermords an den europäischen Juden erfolgte durch Begriffsbildungen wie »Judenfrage« und »Endlösung« –, gehören ebenso zum Aufgabenfeld der Vorurteilsforschung wie literarische Traditionen und Denkstrukturen der Verweigerung gegenüber Angehörigen fremder Kulturen wie z. B. Muslimen, Afrikanern, Roma. Der Vorbehalt trifft ohne Differenzierung Gruppen, etwa Asylbewerber oder »Wirtschaftsflüchtlinge«, und auch Arbeitsmigranten.
Ressentiments sind gefährlich, weil sie als Vorurteil beginnen mit der Tendenz, im Hass gegen stigmatisierte Individuen, gegen Gruppen, ethnische, religiöse oder nationale Gemeinschaften zu kulminieren, in Hass, der sich durch Gewalt entlädt. Ressentiments schaffen der Mehrheit, die sie lebt und agiert, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Überlegenheit auf Kosten von Minderheiten, die definiert, diskriminiert, ausgegrenzt werden. Die Ausgrenzung stiftet Gemeinschaftsgefühl und bietet außerdem schlichte Welterklärung in einem antagonistischen System von Gut und Böse, in dem beliebige Minderheiten – z. B. Juden, Migranten, Muslime, »Zigeuner«, Ausländer schlechthin – für Missstände, Bedrohungen (und Bedrohungsängste), Mängel, Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht sind.15
Aktuelle Belege für das Gemeinschaftsgefühl, das sich durch Ausgrenzung des Fremden festigt, bescherte der Zustrom von Flüchtlingen. Die Abwehr aus Angst und Bedrohungsgefühl dokumentiert sich im Herbst 2015 in Demonstrationen, in Krawall vor Flüchtlingsunterkünften, in der Bloggerszene oder in den Zuschriften, die an politische Eliten gerichtet werden. Ein Mann fragt z. B., was falsch daran sei, wenn man Fremden gegenüber vorsichtig sei, und führt zum Beweis der Richtigkeit der Frage an, dass 1492 die Indianer ihre Freundlichkeit gegenüber Kolumbus damit bezahlen mussten, dass sie ausgerottet wurden. Ein jeder solle in seinem eigenen Land bleiben, und auch für die Afrikaner wäre es besser gewesen, den ankommenden Portugiesen, Holländern und anderen Europäern abweisend zu begegnen. Die Folgerung seiner Eingabe an zahlreiche Bundestagsabgeordnete lautet: »Daraus könnte Deutschland lernen und ich halte es für sinnvoll, dass keine weiteren Menschen fremder Kulturen hier aufgenommen werden.«16
Um den inneren Frieden sorgt sich eine Dame in einem Appell an die Abgeordneten des Bundestags, in dem sie fordert, den Zustrom von »Flüchtlingen« zu reduzieren und den Familiennachzug auszusetzen. Nicht nur die Aufnahmekapazität Deutschlands sei erschöpft, auch »die Sicherheit der deutschen Bürger« sei »exorbitant gefährdet«. Dazu beruft sie sich auf einen Vertreter des Bundes deutscher Kriminalbeamter, der verkündet habe, zehn Prozent der »Flüchtlinge« würden straffällig werden. Als Beweisdokument ist eine Verlautbarung des Bezirksverbands Detmold der fremdenfeindlichen Partei »Alternative für Deutschland« an Kommunalpolitiker beigefügt, in der vor dem »Zustrom von massenhaft integrationsunwilligen Migranten nach Deutschland« gewarnt wird: »Diese Masseneinwanderung, die einer vollkommen unverantwortlichen ›Asylpolitik‹ entspringt, wird Deutschland in die größte Krise seit 1945 führen, und wir werden dramatische Entwicklungen bis hin zur Destabilisierung unseres Landes und bürgerkriegsähnlichen Zuständen (wie sie z. B. der CIA für Deutschland für möglich hält) entgegensehen«.
Heftigen Beschuldigungen der Bundeskanzlerin folgt ein Appell an die Kommunal- und Landespolitiker, »die Menschen in unserem Lande«, d. h. die autochthone Mehrheit, »zu achten und ehren« als Primat der Menschen, »die durch ihre Arbeit, Ideen und Tatkraft zu unser aller Wohlstand beigetragen haben. Respektieren Sie die Leistungen der Berufstätigen, Familien und ganz besonders der Rentner, die dieses Land aufgebaut haben, und lassen Sie nicht zu, dass diese Leistungen weiter mit Füßen getreten werden«. Dass solches geschieht, ist zwar nicht ersichtlich, wohl aber das dringende Bedürfnis, den Wert der Mehrheit gegen den angenommenen Unwert der Minderheit zu verteidigen. Der markige Kernsatz des fremdenfeindlichen Manifestes lautet: »Wir werden unsere Lebensleistung, die unserer Eltern und Großeltern nicht auf dem Altar der wahnwitzigen Idee einer Entdeutschung opfern«.17
Zuschriften an Politiker, in denen Hass gegen muslimische Flüchtlinge, Sozialneid wegen deren vermutlich bevorzugter Behandlung, die Sorge vor der Mentalität von Zuwanderern, Angst um die Sozialsysteme, vor Sicherheitsproblemen, um Wohlstand und gesellschaftlichen Frieden artikuliert wird, sind inflationär verbreitet. Ein Ausgrenzungswunsch sticht durch seine Rohheit und die zum Ausdruck kommende fundamentale denunziatorische Zurückweisung von Fremden hervor. Die Inklusion des Eigenen durch Exklusion des Fremden machte eine Zahnärztin in Erfurt in einem Aushang zum Programm, in dem sie Hausbewohner informierte, sie sei im Rahmen ihres anstehenden Notdienstes gesetzlich verpflichtet, Asylsuchende zu behandeln. Deshalb warnte sie Hausbewohner, Wertgegenstände im Treppenhaus oder in Autos vor dem Gebäude liegen zu lassen. Vom Robert-Koch-Institut und vom Landesamt für Verbraucherschutz sei sie über übertragbare Krankheiten informiert worden. Im Anschluss an den zahnärztlichen Notdienst würden deshalb im Treppenhaus »geeignete Desinfektionsmaßnahmen« durchgeführt. Der Aushang wurde, ehe der Mitteldeutsche Rundfunk die Angelegenheit aufgriff, in sozialen Netzwerken verbreitet und kritisiert. Die Zahnärztin erklärte gegenüber dem Sender, sie distanziere sich von jeder rassistischen Darstellung und werde durch ihren Rechtsanwalt gegen die »Hetzkampagne« vorgehen.18
Die als negativ empfundene Eigenart der »Anderen«, kulturell, ethnisch, religiös oder wie auch immer definiert, dient der Hebung des eigenen Selbstbewusstseins und fixiert es durch die Gewissheit, dass die Anderen »nicht integrationsfähig oder assimilationsbereit« oder von ihrer Konstitution her kriminell, asozial und aggressiv sind, bis hin zu Verschwörungsfantasien, nach denen eine Minderheit Dominanz über die Mehrheit erstrebe. In der Geschichte der Judenfeindschaft ist diese stereotype Vermutung seit Jahrhunderten verbreitet und wird immer wieder reproduziert, nach der »die Juden« zu viel Einfluss in der Finanzwelt oder in der Kultur oder in den Medien oder sonst wo, wahrscheinlich sogar in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft hätten und dass sie diesen Einfluss zum Schaden der Mehrheit, aber zum eigenen Nutzen, unablässig ausübten. Diese in der Mehrheit je nach Bildungsgrad, politischer Position, Herkunft und Sozialisation oder von anderen Faktoren bestimmte Vermutung bestätigt sich immer wieder in den Ergebnissen von Meinungsumfragen. Negative Bilder des Juden gehören zum Grundbestand antisemitischer Einstellungen.
Die zentrale Erkenntnis lautet, dass Ressentiments Konstrukte sind: Nicht die Eigenschaften einer Minderheit rufen den Zorn der Mehrheit hervor, nicht wegen ihres Benehmens, ihres Charakters, wegen irgendwelcher Eigenschaften lehnt die Mehrheitsgesellschaft Juden oder Muslime, Sinti und Roma oder Türken und Tschetschenen ab, sondern wegen der Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden, damit sie sich negativ von der Mehrheit unterscheiden und dadurch schließlich zu Feinden werden. Wenn die ausgegrenzte Minderheit auf die Stigmatisierung reagiert und ihre Interessen offensiv durchzusetzen versucht, begibt sie sich in die ihr zugewiesene Situation und rechtfertigt durch ihr Verhalten scheinbar die Ausgrenzung, die sie erfährt. Die Minderheit übernimmt dann die Rolle, in der die Mehrheit sie sehen will.