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Ein einmaliger Blick in die Werkstatt und das Herz Murakamis! Haruki Murakami verkörpert den Typus des zurückgezogenen Schriftstellers wie wenige andere. In diesen sehr persönlichen Texten bricht er das Schweigen und schildert seinen Werdegang als Autor. Er erzählt von seinen Schulerfahrungen, was er von Literaturpreisen hält und welche Bedeutung seine Auslandsaufenthalte für ihn und sein Schreiben hatten. Besonders aufschlussreich sind die Texte, in denen er sich mit Fragen rund um die alltägliche Arbeit eines Schriftstellers beschäftigt. So erfährt man, welches die wichtigste Übung für einen angehenden Schriftsteller ist – nämlich viel lesen –, wie viele Seiten Murakami am Tag schreibt und wie wichtig physische Fitness für seine Arbeit ist. Woraus schöpft er die Ideen für seine Romane? Was hat man unter einem »festen Beobachtungsposten« zu verstehen, und wer verbirgt sich dahinter? Indem er sich so intensiv mit seinem Schreiben auseinandersetzt, ordnet er für den Leser sein Werk ein, zeigt, wer ihn beeinflusst hat und wessen Ansichten über das Schreiben er teilt. Dabei verliert Haruki Murakami vor allem eines nie aus den Augen: seine Leser.
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Seitenzahl: 280
Haruki Murakami verkörpert den Typus des zurückgezogenen Schriftstellers wie wenige andere. In diesen sehr persönlichen Texten bricht er das Schweigen und schildert seinen Werdegang als Autor. Er erzählt von seinen Schulerfahrungen, was er von Literaturpreisen hält und welche Bedeutung seine Auslandsaufenthalte für ihn und sein Schreiben hatten. Besonders aufschlussreich sind die Texte, in denen er sich mit Fragen rund um die alltägliche Arbeit eines Schriftstellers beschäftigt. So erfährt man, welches die wichtigste Übung für einen angehenden Schriftsteller ist – nämlich viel lesen –, wie viele Seiten Murakami am Tag schreibt und für wie wichtig physische Fitness für seine Arbeit ist. Woraus schöpft er die Ideen für seine Romane? Was hat man unter einem »festen Beobachtungsposten« zu verstehen, und wer verbirgt sich dahinter? Indem er sich so intensiv mit seinem Schreiben auseinandersetzt, ordnet er für den Leser sein Werk ein, zeigt, wer ihn beeinflusst hat und wessen Ansichten über das Schreiben er teilt. Dabei verliert Haruki Murakami vor allem eines nie aus den Augen: seine Leser.
© Markus Tedeskino/Ag. Focus
Haruki Murakami, 1949 in Kyoto geboren, lebte über längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit den höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. 2015 erschienen die beiden ersten Romane des Autors ›Wenn der Wind singt‹ / ›Pinball 1973‹ erstmals außerhalb Japans.
Ursula Gräfe, geboren 1956, hat in Frankfurt am Main Japanologie und Anglistik studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u.a. den Nobelpreisträger Kenzaburo Oe, Yoko Ogawa und Hiromi Kawakami.
HARUKI MURAKAMI
VON BERUF SCHRIFTSTELLER
Essays
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
1 SCHRIFTSTELLER – EIN TOLERANTER MENSCHENSCHLAG?
Sich schon am Anfang über Romane auszulassen würde zu weit führen, also will ich Ihnen zuerst einmal etwas über Schriftsteller erzählen. Das ist konkreter, und ich glaube, es ist einfacher, sich dem Thema auf diese Weise zu nähern.
Aus meiner Sicht lässt sich von den meisten, wenn auch natürlich nicht von allen Schriftstellern kaum behaupten, sie verfügten über ein ausgeglichenes Wesen und eine gerechte Weltsicht. Nicht wenige von ihnen haben überdies einen sehr eigenen Charakter, der schwerlich als Gegenstand der Bewunderung geeignet scheint, und legen zudem seltsame Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen an den Tag. Die meisten Schriftsteller (ich schätze mal, 92Prozent, einschließlich meiner) glauben, ob sie das nun offen aussprechen oder nicht, das, was sie tun und schreiben, sei das einzig Wahre, und von einigen Ausnahmen abgesehen, seien alle anderen Schriftsteller mehr oder weniger auf dem Holzweg, weshalb sie sich auch entsprechend verhalten. So ist wohl die Zahl derer, die sich solche Personen als Freunde oder Nachbarn wünschen, vorsichtig ausgedrückt, eher gering.
Mitunter hört man, dass manche Schriftstellerkollegen eine herzliche Freundschaft verbinde, aber solche Geschichten sind mit Vorsicht zu genießen. So etwas mag es geben oder nicht, aber es ist zweifelhaft, ob eine enge Beziehung in solchen Fällen wirklich von Dauer sein kann. Schriftsteller gehören prinzipiell einem egoistischen Menschenschlag an, und die meisten sind sehr stolz und haben ein starkes Konkurrenzbewusstsein. Begegnungen scheitern weitaus häufiger, als dass sie harmonisch verlaufen. Ich habe das selbst oft genug erlebt.
Es gibt eine bekannte Anekdote über Marcel Proust und James Joyce. Die beiden trafen 1922 in Paris bei einem Dinner aufeinander, aber obwohl sie Tischnachbarn waren, wechselten sie bis zum Schluss kein Wort miteinander. Die anderen Gäste warteten gespannt und mit angehaltenem Atem, was diese beiden großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts einander zu sagen hätten, doch sie warteten vergebens. Wahrscheinlich waren beide einfach zu stolz, um einander anzusprechen. So etwas passiert häufig.
Dennoch gibt es wohl kaum Menschen, die sich ungeachtet der beruflichen Domäne, wo sie, vereinfacht gesagt, alle »Platzhirsche« sind, so großherzig und tolerant verhalten wie Schriftsteller. Meiner Ansicht nach gehört dies unbedingt zu den wenigen Vorzügen, die ihnen gemein sind.
Ich will es ein wenig verständlicher und anschaulicher erklären.
Angenommen, ein Schriftsteller hat eine schöne Stimme und debütiert als Sänger. Oder er hat zeichnerisches Talent und versucht sich als Maler. Dieser Autor wird fraglos, wo er geht und steht, auf Ablehnung stoßen und mit Hohn und Spott überschüttet werden. Er wird Äußerungen wie »Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis« oder »Er hat nicht mal genug Talent zum Amateur« zu hören bekommen, und die professionellen Sänger und Maler behandeln ihn mit eisiger Kälte. Vielleicht wird er sogar richtiggehend gemobbt. Auf wohlwollende Ermunterung wird er jedenfalls kaum stoßen. »Das hast du gut hingekriegt«, wird keiner zu ihm sagen. Und wenn, dann nur im engsten Kreis und eher beiläufig.
Neben meiner Schriftstellerei übersetze ich seit dreißig Jahren mit Begeisterung angelsächsische Literatur, doch als ich damit anfing (und vielleicht verhält es sich auch heute noch so), war ich heftigem Gegenwind ausgesetzt. Von allen Seiten bekam ich zu hören, Übersetzen sei nichts für Amateure oder ich solle lieber die Finger davon lassen, es sei ja doch nur ein Zeitvertreib. Schließlich sei ich Autor.
Als ich den Interviewband Untergrundkrieg herausgab, hagelte es vor allem von Sachbuchautoren heftige Kritik. »Er kennt die Regeln für Sachbücher nicht«, hieß es, »Er drückt auf die Tränendrüse«, »Er ist ein armseliger Dilettant« und vieles mehr. Ich hatte gar nicht beabsichtigt, ein genrespezifisches Sachbuch zu verfassen, sondern wollte ein im wahrsten Sinne des Wortes nichtfiktives Werk herausgeben, das ich selbst konzipiert hatte, doch im Endeffekt bin ich damit wohl den Tigern, die die heiligen Gefilde des Sachbuchs bewachen, auf die Schwänze getreten. Ich hatte nicht gewusst, dass solche Tabus existierten, und war zunächst ziemlich verblüfft, dass es »feste Regeln« für Sachbücher geben sollte.
Demnach wird es von Experten nicht gut aufgenommen, wenn Fachfremde sich mit ihrem Gebiet beschäftigen. Wie weiße Blutkörperchen körperfremde Substanzen abzustoßen trachten, sind sie bestrebt, Eindringlingen den Zugang zu ihrer Domäne zu verwehren. Wer dennoch unverdrossen auf Einlass beharrt, der wird von ihnen mit einer gewissen Ergebenheit (»Da kann man wohl nichts machen«) geduldet und darf dabei sein, doch zumindest am Anfang wird er es sehr schwer haben. Je begrenzter das entsprechende »Gebiet«, je professioneller und elitärer, desto größer die Arroganz und Ablehnung, die dem Außenseiter entgegenschlagen.
Doch im umgekehrten Fall, wenn also beispielsweise ein Sänger, ein Maler, ein Übersetzer oder ein Sachbuchautor einen Roman schreibt, wird kaum ein Schriftsteller darüber die Nase rümpfen. Belletristische Werke von Außenstehenden werden häufig sogar sehr positiv aufgenommen. Niemals hört man, dass ein Schriftsteller sich über die »Anmaßung eines Amateurs« beschwert. Zumindest soweit ich weiß, zieht man weder über einen solchen Debütanten her, noch macht man sich über ihn lustig, mobbt ihn oder stellt ihm sonst wie ein Bein. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass dem Außenseiter eine gewisse Sympathie entgegenschlägt und man sich bei Gelegenheit gern mit ihm über Literatur unterhält, ihn bisweilen sogar ermuntert.
Sicher kommt es vor, dass hinter seinem Rücken schlecht geredet wird, aber das ist unter Schriftstellern normal, gewissermaßen ein allgemein anerkanntes Verhalten, und hat nichts damit zu tun, dass er auf ein fremdes Terrain vorgedrungen ist. Man kann Schriftstellern vieles nachsagen, aber wenn jemand in ihre Domäne vorstößt, sind sie im Allgemeinen großherzig und tolerant.
Wie kommt das?
Darauf gibt es meiner Ansicht nach eine eindeutige Antwort. Es kommt daher, dass im Grunde jeder, der will, eine Geschichte – Geschichte in einem sehr weit gefassten Sinn – schreiben kann. Um beispielsweise als Pianist oder Ballerina zu debütieren, muss man von Kindheit an jahrelang intensiv üben. Auch um Maler zu werden, muss man das – oder eigentlich bei jedem Handwerk oder jeder Kunst. So wie auch ein Bergsteiger überdurchschnittliche Körperkraft, gewisse technische Kenntnisse und Mut braucht.
Für all diese Berufe benötigt man eine Ausbildung. Doch einen Roman kann im Grunde jeder verfassen, der des Schreibens mächtig ist, einen Kugelschreiber und ein Heft zur Hand hat und vielleicht noch eine gewisse Fähigkeit zum Fabulieren besitzt. Auch wenn er keine Ausbildung erhalten hat, kann er formal eine Art Geschichte zu Papier bringen, und zwar ohne an der Universität Literatur studiert zu haben. Denn einen Roman zu schreiben ist keine Wissenschaft.
Wenn jemand ein wenig Talent besitzt, ist es nicht ausgeschlossen, dass ihm auf Anhieb ein Werk gelingt, das Beachtung findet. Nehmen wir, auch wenn es mir etwas peinlich ist, meinen eigenen Fall. Ich war in keiner Weise dazu ausgebildet, Romane zu schreiben. Ich war zwar für Film- und Theaterwissenschaften eingeschrieben, studierte aber – ganz zeitgemäß – eigentlich so gut wie gar nicht, sondern ließ mir die Haare wachsen und einen Bart stehen und lief schmuddelig herum. Mit anderen Worten, ich gammelte. Ohne dass ich vorher beabsichtigt hätte, Schriftsteller zu werden, oder auch nur Schreibversuche unternommen hätte, kam mir eines Tages die Idee, meinen ersten Roman (oder so etwas Ähnliches) Wenn der Wind singt zu schreiben, für den ich sogleich den Nachwuchspreis einer Literaturzeitschrift erhielt. Ehe ich michs versah, war ich Berufsschriftsteller. Ich muss mich selbst wundern, wie einfach das war. Viel zu einfach.
Und das soll dann Literatur sein?, werden vielleicht einige verärgert fragen, aber ich sage ja nur, wie die Dinge sind. Das, was wir als Roman oder Erzählliteratur bezeichnen, schließt ein breites Spektrum an Ausdrucksformen ein. Und gerade diese Spannbreite macht, verbunden mit der Schlichtheit, die der Roman besitzt, einen beträchtlichen Teil seiner enormen Energiequellen aus. Wenn ich daher sage, jeder könne schreiben, ist das aus meiner Sicht eher ein Kompliment als eine Verunglimpfung.
Demnach steht also das Genre des Romans jedem offen. Wie beim Wrestling kann ohne große Umstände teilnehmen, wem immer danach ist. Auch hier gibt es viel Spielraum, praktische Einstiegshilfen stehen zur Verfügung, und der Ring bietet ausreichend Platz. Es gibt keine Wachleute, die den Zutritt verwehren, und auch die Schiedsrichter mischen sich nicht ständig ein. Die aktiven Wrestler – in unserem Fall die anderen Schriftsteller – sind von vorneherein mit dieser Atmosphäre vertraut: »Alles klar, nur immer herauf mit euch. Mitmachen kann jeder.« Man kann es aufgeschlossen oder flexibel nennen, jedenfalls geht es recht lässig zu.
Aber so einfach es sein mag, den Ring zu betreten, so schwierig ist es, sich länger darin zu halten. Ein Schriftsteller ist sich dessen natürlich voll bewusst. Einen oder zwei Romane zu schreiben ist nicht so schwer. Aber über einen längeren Zeitraum Romane zu schreiben, davon zu leben, ja, als Schriftsteller zu überleben, ist ein fast unmögliches Unterfangen. Man könnte sogar sagen: unmöglich für einen normalen Menschen. Denn es braucht dafür – wie soll ich es ausdrücken? – eine »besondere Eigenschaft«. Natürlich sind ein gewisses Talent sowie ein erhebliches Maß an Kampfgeist erforderlich, und wie bei allen Unternehmungen im Leben spielen auch Glück und Zufall eine wichtige Rolle. Mehr noch bedarf es jedoch einer anderen Art von »Qualifikation«. Und über die verfügt man oder eben nicht. Manche Menschen sind von Natur aus damit ausgestattet, andere müssen sie sich mühsam aneignen.
Über diese Art der Befähigung ist nicht viel bekannt, und sie wird selten ausdrücklich hervorgehoben, da sie sich nicht leicht veranschaulichen oder beschreiben lässt. Ich werde später noch einmal darauf zurückkommen. Doch jedem Autor ist aus eigener Erfahrung deutlich bewusst, wie mühsam und schwierig es ist, sich als Schriftsteller dauerhaft zu halten.
Vielleicht ist ebendies der Grund, aus dem Schriftsteller Neulinge aus anderen Bereichen so bereitwillig in den Ring lassen und sich ihnen gegenüber im Allgemeinen großzügig und tolerant verhalten. Meist werden die Newcomer begrüßt oder nicht weiter zur Kenntnis genommen. Wird der Neue am Ende aus dem Ring geschleudert oder geht er freiwillig (wie es meistens der Fall ist), zeigt man Mitgefühl und wünscht ihm Glück. Wenn er oder sie es jedoch schafft, im Ring zu bleiben, verdient das natürlich Respekt, der in der Regel angemessen gezollt wird.
Diese Art der Toleranz hat vielleicht auch damit zu tun, dass der Literaturbetrieb keine Nullsummengesellschaft ist. Tritt ein neuer Autor auf, heißt das (zunächst) nicht, dass dafür ein anderer, der vorher da war, seine Stellung verliert. Zumindest geschieht das nicht unverhohlen. Das ist ein entscheidender Unterschied zum Profisport. Dort kann ein neuer Star einen älteren Routinier verdrängen, aber dergleichen habe ich im Literaturbetrieb noch nicht beobachtet. Auch dass die Auflage eines Schriftstellers um hunderttausend Exemplare sinkt, weil ein anderer hunderttausend mehr verkauft hat, kommt nicht vor, und es gibt sogar Fälle, in denen die ganze Branche von derlei profitiert.
Längerfristig scheint allerdings eine Art natürliche Auslese stattzufinden. Auch wenn der Ring ziemlich groß ist, eignet er sich doch nur für eine bestimmte Anzahl von Kämpfern. Man braucht nur einen Blick in die Runde zu werfen, und dieser Eindruck bestätigt sich.
Ich schreibe seit über fünfunddreißig Jahren Romane und verdiene damit meinen Lebensunterhalt. Das heißt, ich stehe seit dreißig Jahren im Ring des Literaturbetriebs, oder altmodisch ausdrückt: »Mein Handwerk nährt seinen Mann.« Im engeren Sinne könnte man das wohl als eine Leistung bezeichnen.
In diesen fünfunddreißig Jahren habe ich viele neue Schriftsteller debütieren sehen. Nicht wenige von ihnen wurden zeitweise hochgeschätzt, bekamen Kritiker- und Literaturpreise, waren in aller Munde, und ihre Bücher verkauften sich gut. Sie hatten allen Grund, auf eine vielversprechende Zukunft zu hoffen.
Betrachtet man jedoch, wie wenige von den Autoren, die vor zwanzig oder dreißig Jahren ein Erstlingswerk präsentierten, heute noch Schriftsteller sind, kommt keine besonders große Zahl zusammen. Eigentlich ist sie sogar ziemlich klein. Die meisten »Shootingstars« sind mehr oder weniger sang- und klanglos verschwunden, haben ihre Schriftstellerkarriere aufgegeben und umgesattelt. Und auch ihre Werke, die seinerzeit Tagesgespräch waren, sind in gewöhnlichen Buchhandlungen gar nicht mehr so leicht zu finden. Die Zahl der Autoren ist zwar nahezu unbegrenzt, die Räumlichkeiten der Buchläden sind es jedoch nicht.
Aus meiner Sicht ist das Schreiben von Romanen eine Tätigkeit, der scharfsinnige Menschen sich in der Regel nicht zuwenden. Gewiss, das Schreiben erfordert ein gewisses Maß an Intelligenz, Bildung und Fertigkeiten – auch ich verfüge über ein Mindestmaß an diesen Eigenschaften. Wahrscheinlich. Hoffentlich. Und eine weitere dringend benötigte Eigenschaft ist zweifellos Selbstvertrauen.
Gleichwohl bin ich der Ansicht, dass Menschen mit einem raschen Verstand oder überdurchschnittlicher Intelligenz sich weniger häufig der Literatur zuwenden. Denn das Schreiben von Romanen – oder das Erzählen von Geschichten – findet in gemächlichem Tempo, sozusagen in einem niedrigen Gang statt. Um es besser zu veranschaulichen: Gefühlsmäßig liegt es irgendwo in der Mitte zwischen langsamem Radfahren und schnellem Gehen. So gibt es Menschen, deren Bewusstsein generell in einem gemächlicheren Tempo arbeitet, und andere, für die das weniger gilt.
Um sich auszudrücken, setzen Schriftsteller die Vorgänge in ihrem Bewusstsein in Form von »Geschichten« um. Sie schreiben, indem sie die Hebelwirkung nutzen, die aus der Differenz zwischen der ursprünglichen und der neuen Form entsteht. Das ist eine sehr umständliche und aufwendige Tätigkeit.
Menschen indes, die klar umrissene Vorstellungen haben, müssen diese nicht erst weitschweifig in Geschichten umsetzen. Wer diese Vorstellungen dann noch in klare Sprache zu fassen vermag, wird leicht und schnell von der Allgemeinheit verstanden. Eine Botschaft, bei der es womöglich ein halbes Jahr dauern würde, sie in einen Roman zu verwandeln, könnte man gewiss in drei Tagen formulieren, wenn man sie direkt und in ihrer ursprünglichen Form ausdrückte. Vielleicht würden sogar zehn Minuten genügen, wenn man seine Gedanken in ein Mikrofon spräche. Menschen mit einem raschen Verstand können das natürlich. Und sogleich werden sich ihre Zuhörer aufs Knie schlagen und »Aha!« rufen. Weil diese Menschen eben klug sind.
Außerdem muss jemand, der über Wissen im Überfluss verfügt, nicht eigens ein diffuses und entlegenes »Behältnis«, sprich: eine »Geschichte« hervorkramen. Oder fiktive Schauplätze aus dem Boden stampfen. Er braucht nur sein Wissen zu sammeln und in Worte zu fassen, und die Menschen werden ihn mühelos verstehen und beeindruckt sein.
Manche Literaturkritiker sind unfähig, einen gewissen Typ von Roman zu verstehen – oder sie können, selbst wenn sie ihn verstehen, dieses Verständnis nicht angemessen formulieren oder logisch darlegen. Der Grund dafür liegt vermutlich in dem oben Geschilderten. Vereinfacht ausgedrückt, heißt das, sie sind, verglichen mit dem betreffenden Autor, zu klug, und ihr Verstand arbeitet zu schnell. Und mitunter kann jemand aufgrund dieser Veranlagung sein Tempo einem langsameren Gefährt nicht anpassen. Also überträgt er sein eigenes Tempo auf das des erzählten Textes und entwickelt seine Argumentation anhand dieser kürzeren, beschleunigten Übersetzung. Es gibt Fälle, in denen diese Anpassung gelingt, oft jedoch gelingt sie nicht. Besonders wenn ein Text nicht einfach nur gemächlich ist, sondern darüber hinaus vielschichtig und komplex, kann diese Art der Projektion sich so verkürzend auswirken, dass der Text verzerrt wird.
Mehrmals schon bin ich Zeuge geworden, wie Menschen mit rascher, scharfer Auffassungsgabe – die meisten kamen aus anderen Berufen – die Schriftstellerei nach ein oder zwei Romanen drangaben. Ihre Bücher waren meist »gut geschrieben« und geistreich, einige sogar verblüffend klarsichtig, und dennoch hielten diese Autoren sich nicht lange im Ring.
Vielleicht schreibt ein mehr oder weniger literarisch begabter Mensch sein ganzes Leben lang inbrünstig an einem einzigen Buch. Ein kluger Mensch hingegen vermag in der Schriftstellerei womöglich doch nicht den Mehrwert zu entdecken, den er sich davon erhofft hatte. Er schreibt einen oder zwei Romane, fühlt sich bestätigt und geht zu etwas anderem über, das ihm effektiver erscheint.
Was ich gut verstehen kann. Denn Romane zu schreiben ist ganz bestimmt keine effektive Tätigkeit. Sie besteht in der immerwährenden Wiederholung gewisser Themen, bei der man sich jedoch verschiedener Motive und Metaphern bedient. Jeder Autor hat in der Regel ein persönliches Thema, an dem er sich in verschiedenen Variationen abarbeitet. Treten bei der Bearbeitung Unklarheiten und verschwommene Stellen auf, macht er sich daran, sie mithilfe neuer Metaphern und Beispiele zu erklären. So ergibt sich unentwegt ein Beispiel aus dem anderen, und eine endlose Kette von Umschreibungen entsteht. Wie bei einer russischen Matrjoschka in jeder Puppe eine weitere Puppe steckt, bringt jedes Motiv wieder ein neues Motiv hervor. Kann es eine weniger effektive und umständlichere Beschäftigung geben? Gelänge es von vorneherein, das Thema klar und verständlich zu formulieren, würde es sich erübrigen, immerfort weitere Motive und Metaphern anzuführen. So könnte man im Extrem beinahe zu dem Schluss gelangen, Schriftsteller seien eine überflüssige Gattung, die überflüssige Dinge tut.
Ihnen zufolge jedoch liegt in diesem überflüssigen, umständlichen Tun tatsächlich Wahrheit verborgen. Und daran halten sie hartnäckig fest. Wenngleich es auch die Ansicht gibt, Literatur spiele für das Gesamtgeschehen auf der Welt keine Rolle. Wohingegen natürlich andere die Meinung vertreten, die Welt komme ohne Literatur nicht aus. Wie jemand zu dieser Frage steht, hängt wohl auch von der Zeit, die er sich zum Nachdenken zu nehmen bereit ist, und von seiner persönlichen Weltanschauung ab. Präziser ausgedrückt, stehen einander hier das Ineffektive, Umständliche und das Effektive, Zügige, Prompte gegenüber. Die Welt, die wir bewohnen, ist vielschichtig, und fehlte eine dieser Schichten (oder wäre dramatisch unterlegen), geriete sie wohl aus den Fugen.
Romane zu schreiben ist im Grunde eine ziemlich »uncoole« Beschäftigung, die nichts Mondänes an sich hat. Du schließt dich allein in einem Zimmer ein und bastelst unentschlossen an einem Text herum. Du sitzt am Schreibtisch und zerbrichst dir inbrünstig den Kopf, ringst den lieben langen Tag mit einer Zeile und bekommst noch nicht einmal Applaus dafür. Niemand sagt: »Gut gemacht«, und klopft dir auf die Schulter. In einsamer Selbstbestätigung nickst du schweigend vor dich hin. Und wenn dein Buch erscheint, gibt es wahrscheinlich auf der ganzen Welt keinen einzigen Menschen, der auf diese eine Zeile achtet. Genau so ist das, wenn man einen Roman schreibt. Es kostet unmäßig viel Zeit und ist ungeheuer anstrengend.
Es gibt Menschen, die verbringen ein ganzes Jahr damit, mithilfe einer langen Pinzette ein winziges Schiffsmodell in eine Flasche zu bugsieren. Ich habe zwei linke Hände und könnte so etwas Kompliziertes nie zustande bringen; dennoch finde ich, dass es eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen dem Fertigen eines Buddelschiffs und dem Schreiben eines Romans gibt. Jemand beschäftigt sich Tag ein, Tag aus im stillen Kämmerlein mit etwas sehr Kniffligem. Es dauert endlos lange. Wenn ein Mensch nicht von Natur aus dazu veranlagt ist, solche Mühsal zu ertragen, ist diese zeitaufwendige Aufgabe nichts für ihn.
Als Kind habe ich einmal eine Geschichte über zwei Männer gelesen, die aufgebrochen waren, um sich den Fuji anzuschauen. Keiner von beiden hatte ihn je zuvor gesehen. Der Klügere wanderte um den Fuß des Berges herum und betrachtete ihn gründlich von allen Seiten. »Aha, das ist also der Fuji. Er ist wunderbar«, befand er. Überzeugt und zufrieden ging er nach Hause. Er war ein sehr effektiv und schnell denkender Mann. Dem weniger klugen Mann fiel es nicht so leicht, sich einen Eindruck vom Fuji zu verschaffen. Also blieb er allein zurück und stieg bis auf den Gipfel, was sehr anstrengend war und unheimlich lange dauerte. Seine Kräfte reichten kaum aus, und am Ende war er völlig erschöpft. Doch erst jetzt hatte er in seinen Augen hinlänglich verstanden, was es mit dem Fuji auf sich hatte.
Die Spezies der Schriftsteller (zumindest die meisten von ihnen) gehört unbedingt zum Typ des weniger klugen Mannes. Sie können nicht begreifen, was der Fuji ist, solange sie ihn nicht wirklich auf ihren eigenen Beinen bestiegen haben. Es liegt womöglich sogar in der Natur des Schriftstellers, dass er den Berg, selbst wenn er ihn mehrmals besteigt, noch immer nicht versteht oder sogar umso weniger, je öfter er ihn besteigt. Hier hätten wir dann einen Fall von »Sub-Effektivität«. Einem scharfsinnigen Menschen würde so etwas nie passieren.
Deshalb ist es für einen Schriftsteller auch keine große Überraschung, wenn jemand aus einem ganz anderen Tätigkeitsbereich eines Tages nebenher einen Roman verfasst, von Kritik und Öffentlichkeit mit Bewunderung überhäuft wird und sogar zum Bestsellerautor avanciert. Er wird dies kaum als Bedrohung empfinden, und schon gar nicht wird es seinen Zorn erregen (denke ich). Denn aus irgendeinem Grund ist dem Schriftsteller klar, dass die betreffende Person in den seltensten Fällen über einen längeren Zeitraum weiterschreiben wird. Begabte Menschen haben den Rhythmus von Begabten, intelligente den von Intelligenten, gelehrte den von Gelehrten. Und der Rhythmus dieser Menschen stimmt auf längere Sicht nicht mit dem des Schreibens von Romanen überein.
Natürlich gibt es ebenso unter Berufsschriftstellern solche, die man als begabt bezeichnen könnte. Manche sind eher scharfsinnig. Allerdings sind sie es auch nicht auf landläufige, sondern auf romanhafte Weise. Erfahrungsgemäß halten sich diese Scharfsinnigen – man könnte sie »Schriftsteller mit Verfallsdatum« nennen – in der Regel höchstens zehn Jahre. Um diese Zeitspanne zu überschreiten, braucht man weniger geistige Schärfe als vielmehr Langmut und Durchhaltevermögen. Anders ausgedrückt: Ein Autor muss nach einer gewissen Zeit in der Lage sein, die »Schärfe einer Rasierklinge« in die eines Hackmessers umzuwandeln. Und irgendwann muss er das Hackmesser in eine Axt verwandeln. Wer mehrere solcher Wandlungen glücklich übersteht, erreicht als Autor eine höhere Ebene und wird eventuell seine Epoche überdauern. Wem dies jedoch nicht gelingt, der wird unterwegs mehr oder weniger verschwinden oder seiner Präsenz beraubt sein. Oder er richtet sich entspannt an einem für scharfsinnige Menschen geeigneten Platz ein.
Doch »sich entspannt einzurichten« ist für einen Schriftsteller, wenn ich das offen sagen darf, gleichbedeutend mit dem Verlust seiner Kreativität. Schriftsteller sind wie Fische. Wenn sie nicht ständig gegen den Strom schwimmen, sterben sie.
Deshalb hege ich großen Respekt gegenüber Schriftstellern – das heißt, gegenüber meinen Kollegen –, die jahrelang unermüdlich daran festhalten, Romane zu schreiben. Es versteht sich von selbst, dass ich, was ihre Werke betrifft, persönliche Vorlieben und Abneigungen hege. Indessen bin ich davon überzeugt, dass Autoren, die seit über zwanzig oder dreißig Jahren schreiben und sich einen festen Leserstamm erobert haben, über so etwas wie einen außergewöhnlichen, starken Kern verfügen. Einen inneren Antrieb, der sie zum Schreiben bringt. Die konsequente Beharrlichkeit, sich über lange Zeit einer einsamen Beschäftigung zu widmen. Meiner Ansicht nach macht genau das die besondere Fähigkeit eines Berufsschriftstellers aus.
Einen Roman zu schreiben ist nicht besonders schwierig. Auch einen ausgezeichneten Roman zu schreiben ist je nach Person nicht allzu schwierig. Ich will nicht behaupten, dass es einfach ist, aber unmöglich ist es nicht. Ausnehmend schwierig ist es jedoch, unentwegt Romane zu schreiben. Nicht jeder kann das. Wie gesagt, braucht man dazu diese besondere Fähigkeit zur Beharrlichkeit, die sich von gewöhnlichem Talent unterscheidet.
Wie aber lässt sich herausfinden, ob man diese Eignung besitzt? Darauf gibt es nur eine Antwort. Man muss ins kalte Wasser springen und sehen, ob man schwimmt oder untergeht. Es klingt vielleicht brutal, aber nur so lässt es sich herausfinden. Auch wer keine Romane schreibt, kann ein erfülltes, geglücktes Leben führen. Wer jedoch schreiben will oder nicht anders kann, der schreibt. Und schreibt immer weiter. Als Schriftsteller heiße ich solche Menschen natürlich besonders herzlich willkommen.
Ring frei!
2 WIE ICH SCHRIFTSTELLER WURDE
Als ich meinen ersten Roman schrieb und den Nachwuchspreis der Literaturzeitschrift Gunzo erhielt, war ich dreißig Jahre alt und hatte schon einiges an Lebenserfahrung gesammelt, auch wenn ich natürlich nicht behaupten kann, dass sie ausreichte. Es handelte sich um eine Art von Lebenserfahrung, die sich etwas von der eines normalen, durchschnittlichen Menschen unterschied. Normale Menschen schließen zunächst die Universität ab, suchen sich eine Anstellung, lassen einige Zeit vergehen und heiraten, nachdem sie jene erste Phase abgeschlossen haben. Ursprünglich hatte auch ich die Absicht, so vorzugehen. Das heißt, ich hatte es mir im Großen und Ganzen so vorgestellt. Immerhin war das die allgemein anerkannte Reihenfolge. Und mir war (weder im Guten noch im Schlechten) niemals der monströse Gedanke gekommen, mich gegen den gesunden Menschenverstand zu kehren.
Doch dann heiratete ich zuerst, fing gezwungenermaßen an zu arbeiten und schloss erst später endlich mein Studium ab. Ich stellte also die Reihenfolge auf den Kopf. Irgendwie hatte es sich so ergeben. Im Leben läuft eben nicht immer alles nach Plan.
Ich habe zuerst geheiratet (es würde zu lange dauern zu erklären, warum, also überspringe ich diesen Teil), aber weil es mir unangenehm war, mir eine feste Stelle in einer Firma zu suchen (zu erklären, warum mir das unangenehm war, würde ebenfalls zu lange dauern, also lasse ich das auch weg), beschloss ich, ein eigenes Lokal zu eröffnen. Ein Lokal, in dem ich Jazzplatten spielen und Kaffee, alkoholische Getränke sowie kleine Speisen servieren würde. Ich war damals verrückt nach Jazz (ich höre auch heute noch viel Jazz) und stellte mir – vielleicht ein wenig naiv – vor, dass ich auf diese Weise von morgens bis abends meine Lieblingstitel hören könnte. Als frischverheiratete Studenten hatten wir natürlich so gut wie kein Geld. Also hatten meine Frau und ich drei Jahre lang mehrere Jobs gleichzeitig und liehen uns dazu überall so viel zusammen, wie wir konnten. Als wir endlich genug Geld hatten, eröffneten wir in Kokubunji, am westlichen Rand von Tokio, ein Lokal. Das war im Jahr 1974.
Zu der Zeit war dies nicht so übertrieben teuer wie heute, und viele junge Leute, die wie ich keine Festanstellung wollten und lieber dem System den Rücken kehrten, eröffneten kleine Geschäfte, Cafés, Restaurants, Gemischtwarenläden oder Buchhandlungen. In der näheren Umgebung unserer Bar gab es mehrere Läden, die Leuten in unserem Alter gehörten. Viele von ihnen entstammten der versprengten Studentenbewegung, waren sozusagen die Überreste einer Gegenkultur. Zu jener Zeit gab es noch so etwas wie Nischen auf der Welt. Und wenn man eine Nische entdeckt hatte, in die man hineinpasste, konnte man darin überleben. Es war eine zwar etwas wilde, aber aufregende Zeit.
Ich holte das Klavier, das wir zu Hause hatten, in unser Lokal und veranstaltete an den Wochenenden Live-Auftritte. In Musashino und Umgebung lebten viele junge Jazzmusiker, die (so hoffe ich) gern für eine geringe Gage bei uns auftraten. Viele von ihnen sind heute namhafte Musiker, damals aber waren wir alle jung und voller Motivation. Leider warfen unsere Unternehmungen für beide Seiten nur wenig Profit ab.
Nun taten wir etwas, das uns gefiel, auch wenn wir es nicht leicht hatten, weil wir ja das viele Geld zurückzahlen mussten, das wir uns von der Bank und von Freunden geliehen hatten. Das Geld von den Freunden konnten wir nach ein paar Jahren mit Zinsen komplett zurückzahlen, indem wir von morgens bis abends arbeiteten und kaum anständig aßen. Aber das ist ja ganz normal. Damals waren wir – das heißt meine Frau und ich – ziemlich anspruchslos und führten ein spartanisches Leben. Wir hatten keinen Fernseher, kein Radio und keinen Wecker. Unsere Wohnung hatte keine Heizung, und in kalten Wintern konnten wir nur schlafen, wenn wir unsere vier Katzen fest im Arm hielten. (Auch sie schmiegten sich fast verzweifelt an uns.)
Als meine Frau und ich eines Monats den Betrag für die Rückzahlung an die Bank partout nicht aufbringen konnten, gingen wir noch spätabends verzagt und mit gesenkten Köpfen durch die Straßen. Da lag plötzlich Geld vor uns auf der Straße. Wie soll ich es nennen? Zufall oder glückliche Fügung? Jedenfalls war es exakt die Summe, die uns für den nächsten Tag noch fehlte. Ohne diesen Fund hätten wir unsere Schulden bei der Bank nicht zahlen können. Wir waren gerade noch einmal davongekommen. (Mir sind übrigens schon öfter in entscheidenden Augenblicken meines Lebens derlei unerklärliche Dinge passiert.) Eigentlich hätten wir es der Polizei melden müssen, aber damals konnten wir uns den Luxus solcher Ehrlichkeit nicht leisten. Es tut mir leid, aber jetzt nützt es auch nichts mehr, sich zu entschuldigen. Stattdessen habe ich mich bemüht, es der Gesellschaft in anderer Form zurückzuzahlen.
Ich will nicht klagen, aber im Grunde war das Leben, das ich in meinen Zwanzigern führte, ziemlich hart. Natürlich gibt es auf der Welt eine Menge Menschen, die es weit schwerer haben als ich. »Was soll daran denn hart sein?«, würden sie fragen und hätten zweifellos recht damit. Doch wie dem auch sei, mir persönlich genügte es.
Eines aber ist sicher: Es war eine schöne Zeit. Wir waren jung und gesund, herrschten in unserem eigenen kleinen Reich und hörten den ganzen Tag lang Musik, die uns gefiel. Ich musste weder in überfüllten Zügen pendeln noch an langweiligen Sitzungen teilnehmen noch vor einem Chef buckeln, den ich nicht leiden konnte. Außerdem lernte ich eine Menge interessanter Menschen kennen.
Und noch etwas war sehr wichtig: Ich lernte in dieser Zeit, was »Gesellschaft« bedeutet. Das klingt vielleicht ein bisschen bieder oder albern, aber ich wurde, kurz gesagt, erwachsen. Ich war immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand gerannt und hatte es endlich geschafft, der Gefahrenzone zu entkommen. Man hatte mir gemeine Dinge gesagt und mich mies behandelt, und manchmal bereute ich meinen Entschluss schon ein wenig. Damals war das sogenannte »Mizu-shobai«, das Amüsiergewerbe, gesellschaftlich ziemlich geächtet. Ich arbeitete nahezu rund um die Uhr und ertrug das meiste einfach schweigend. Es kam sogar vor, dass ich betrunkene Wüstlinge aus dem Lokal werfen musste, aber im Sturm bleibt einem eben nichts anderes übrig, als den Kopf einzuziehen. Jedenfalls konnte ich an nicht viel anderes denken als daran, das Lokal zu halten und das geliehene Geld zurückzuzahlen.
Aber diese schwierigen Jahre vergingen wie im Flug, wir überlebten ohne größere Blessuren und konnten in etwas größere Räumlichkeiten umziehen. Und als ich mich aufatmend umschaute, lag eine neue Szenerie vor mir, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, und inmitten dieser Szenerie stand ein neues Ich. Ehe ich michs versah, war ich ein bisschen härter und auch ein bisschen weiser als früher geworden (natürlich nur ein ganz kleines bisschen).
Es liegt nicht in meiner Absicht, andere aufzufordern, ein möglichst beschwerliches Leben zu führen. Ehrlich gesagt, hätte ich es sehr viel angenehmer gefunden, ohne all diese Mühen davonzukommen. Das ist ganz normal, die Härten des Lebens sind nie erfreulich und können je nach Person sogar sehr entmutigend sein. Es gibt wahrscheinlich viele Fälle, in denen jemand anschließend nicht wieder auf die Füße kommt. Aber wenn Sie sich ganz fürchterlich fühlen, weil Sie in irgendeiner Krise stecken, möchte ich Ihnen sagen, dass Ihnen die Situation im Augenblick zwar unerträglich erscheinen mag, aber später vermutlich Früchte tragen wird. Ich weiß nicht, ob das ein Trost ist, aber denken Sie daran, halten Sie durch und machen Sie weiter.
Aus heutiger Sicht war ich, bis ich zu arbeiten begann, einfach ein »normaler Jugendlicher«. Ich wuchs in einem ruhigen vorstädtischen Wohngebiet in der Region Osaka-Kobe auf, bekam, obwohl ich kaum lernte, verhältnismäßig gute Noten, hatte keine Probleme und machte keine Probleme. Schon immer las ich unheimlich gern und griff eifrig nach jedem Buch. Als ich in der Mittel- und Oberstufe war, gab es um mich herum niemanden, der solche Mengen von Büchern las wie ich. Außerdem mochte ich Musik und ließ mich ständig davon berieseln. Natürlich blieb da nicht viel Zeit zum Lernen für die Schule. Ich war ein Einzelkind, wurde grundsätzlich geliebt (oder, anders gesagt, verwöhnt) und hatte so gut wie keine belastenden Erlebnisse. Ich war geradezu rührend naiv.
Als ich Ende der 1960er-Jahre nach Tokio ging, um an der Waseda-Universität zu studieren, hatten die Studentenunruhen gerade ihren Höhepunkt erreicht, und die Universität blieb lange geschlossen. Am Anfang wurde sie von den Studenten bestreikt, später wurden wir von der Universität ausgesperrt. Es fand in dieser Zeit so gut wie kein Unterricht statt, und ich führte mein Studentenleben ziemlich aufs Geratewohl.
Einer Gruppe beizutreten und gemeinsam etwas zu unternehmen liegt mir von Natur aus nicht besonders – weshalb ich auch nie irgendeiner Sekte beigetreten bin –, aber grundsätzlich unterstützte ich die Studentenbewegung und nahm an Aktionen teil, soweit mein persönlicher Rahmen es mir erlaubte. Doch nachdem die Konflikte zwischen den Gruppierungen sich vertieft hatten und ein Mensch bei sogenannter »innerer Gewalt« ums Leben gekommen war (in dem Raum des Fachbereichs Literatur, den wir immer benutzten, war ein unpolitischer Student ermordet worden), war ich wie die meisten Studenten von der Bewegung desillusioniert. Sie beinhaltete zu viel Irriges und Falsches. Das gesunde Einschätzungsvermögen war verloren gegangen. Nachdem der Sturm über uns hinweggefegt war, blieb uns nur der schlechte Nachgeschmack der Enttäuschung. So richtig Wahlsprüche und so schön deutliche Botschaften auch sein mögen, so ist solch ein Denken ohne moralische Kraft doch nicht mehr als eine Ansammlung leerer Worte. Das habe ich damals selbst erfahren und glaube noch heute fest daran. Worte haben Macht, aber sie sollten einer gerechten Sache dienen. Sie dürfen nicht allein für sich durch die Gegend spazieren.