Von Ehefrauen und Ehrenmännern - Karl May - E-Book

Von Ehefrauen und Ehrenmännern E-Book

Karl May

4,7

Beschreibung

Band 85 der Gesammelten Werke stellt einen der ungewöhnlichsten und zugleich menschlich bewegendsten Texte Karl Mays in den Mittelpunkt: "Frau Pollmer, eine psychologische Studie". Hier gibt der von den Prozessen und den öffentlichen Debatten um seine Person tief verletzte Autor Rechenschaft über seine erste Ehe mit Emma Pollmer und deren Scheitern. Wohl nie zuvor und danach hat May derart offen und schonungslos in sein Leben blicken lassen wie in dieser Abrechnung, in der sich Wut und Verzweiflung abwechseln, und selten einmal hat er so viel Selbstkritik geübt. Manche Lücke in seiner offiziellen Autobiografie "Mein Leben und Streben" wird hier geschlossen. Der Streit mit dem Kolportageverleger Münchmeyer um die unseligen "Schundromane" und Karl Mays Bemühen, sein schriftstellerisches Konzept zu vermitteln, fließen zusätzlich mit ein. Auch die sich langsam wandelnde Beziehung zu seiner späteren zweiten Ehefrau Klara, der er Anfangs eher skeptisch gegenüberstand, wird beleuchtet. Neben diesem großen biografischen Bekenntnis versammelt der Band zahlreiche kleinere Schriften Mays aus den letzten Lebensjahren, offene Briefe, Flugblätter und dergleichen, in denen er sich mit publizistischen Gegnern wie Fedor Mamroth, Hermann Cardauns oder Rudolf Lebius und einigen anderen auseinander setzte, die nicht alle wirkliche Ehrenmänner waren. Zwischen Angriff und Verteidigung schwankend, bekräftigt May darin immer wieder seinen Anspruch, als Autor mit einer Botschaft, mit weitreichenden moralischen Zielen ernst genommen zu werden. Wer das rätselhafte Wesen des erfolgreichsten deutschen Schriftstellers näher verstehen lernen möchte, wird in diesem Buch fündig. Die aufschlussreichen Texte werden wieder sachkundig und ausführlich von hervorragenden Sachleuten kommentiert: Christoph F. Lorenz, Gabriele Wolff, Wolfgang Hermesmeier und Stefan Schmatz.

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KARL MAY’s

GESAMMELTE WERKE

BAND 85

VON EHEFRAUEN

UND

EHRENMÄNNERN

BIOGRAFISCHE UND POLEMISCHE

SCHRIFTEN 1899-1910

VON

KARL MAY

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 2004 Karl-May-Verlag

Auf dem Titelbild sind jeweils von links nach rechts abgebildet,

in der oberen Reihe:

Ansgar Pöllmann (1871-1933), Georg Ruseler (1866-1920; Heimatdichter, Verfasser der Anti-May-Schrift Karl May, eine Gefahr für unsere Jugend, 1901), Paul Schumann (1855-1927), Heinrich Wolgast (1860-1920; Pädagoge, übte in seinem Werk Das Elend unserer Jugendliteratur, 1896, deutliche Kritik an Karl May und war einer der Hauptauslöser der Schundliteratur-Diskussion);

in der mittleren Reihe:

Fedor Mamroth (1851-1907), Hermann Cardauns (1847-1925), Ida Pauline Münchmeyer (1840-1928);

in der unteren Reihe:

Ferdinand Avenarius (1856-1923; Pädagoge und Schriftsteller, Herausgeber des Kunstwarts

Vorwort

Immer wieder wird bei der Betrachtung des Lebens und Werks eines Schriftstellers aus dem Abstand vieler Jahre nach seinem Tod die Frage gestellt, wie viel denn eigentlich geblieben sei von diesem schriftstellerischen Oeuvre und was sich dem Gedächtnis der Nachwelt eingeprägt habe. Im Falle Karl Mays wird man – mehr als 90 Jahre nach seinem Tod im Jahre 1912 – gewiss sagen dürfen, dass die Gestalten seiner Fantasie, Figuren wie Winnetou, Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi, in der Erinnerung zahlloser Leser immer noch lebendig sind, während von den vielerlei Anfeindungen, die der Schriftsteller in seinen letzten Jahren erdulden musste, kaum etwas geblieben ist; überlebt haben Mays Imagination und ihre Schöpfungen.

Dennoch war Karl Mays Alter stark geprägt von den Auseinandersetzungen mit seinen literarischen und persönlichen Gegnern. Die Streitschriften in Band 83 der „Gesammelten Werke“, die sich vor allem mit den Auseinandersetzungen um Mays Kolportageromane für Münchmeyer und mit der Problematik seiner Ehescheidung von Emma Pollmer sowie dem Verleumdungsprozess gegen Rudolf Lebius befassen, zeigen, wie sehr May damals persönlich verletzt wurde, wie er sich förmlich ‚an den Marterpfahl‘ gestellt sah.

Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge dokumentieren Mays Kampf mit literarischen Gegnern wie Fedor Mamroth, Hermann Cardauns und Ansgar Pöllmann sowie seinem persönlichen Feind Rudolf Lebius; sie zeugen aber auch von den tiefen seelischen Wunden, die er in den Jahren seiner ersten Ehe davontrug. Viele der literarischen Auseinandersetzungen der Jahre 1899-1910 sind zweifellos zeitbedingt und heute nur noch von historischem Interesse; es gehört zu der persönlichen Tragik Karl Mays, dass sein ‚Fall‘ teilweise auch zusammentraf mit Streitigkeiten zwischen unterschiedlichen politischen und religiösen Lagern der damaligen Presselandschaft. Da May seine Reiseerzählungen vornehmlich für den katholischen „Deutschen Hausschatz“ verfasst hatte, galt er lange Jahre als ‚Lieblingsschriftsteller‘ der katholischen Presse und wurde auch entsprechend gelobt. Kein Wunder, dass der liberal-‚freisinnig‘ (also antiklerikal) gesonnene Redakteur Fedor Mamroth bei seiner Artikelserie gegen Karl May auch gleich die ‚ultramontane‘, der Zentrumspartei nahe stehende Presse, mit angriff. Hermann Cardauns, Chefredakteur der katholischen „Kölnischen Volkszeitung“, wiederum erblickte unter anderem auf Grund solcher Attacken aus dem anderen politischen Lager in May einen Hochstapler, der der katholischen Seite Schaden zufügen konnte, und führte nun seinerseits einen Feldzug gegen ihn.

Rudolf Lebius, der Hauptfeind in Mays späteren Lebensjahren, war als Propagandist der gegen die Sozialdemokraten agierenden ‚gelben‘ Gewerkschaften tätig. In einen Prozess, den Lebius gegen einen Redakteur des sozialdemokratischen „Vorwärts“ anstrengte, wurde auch May mit hineingezogen, hatte er doch Beweise dafür, dass es sich bei Lebius um einen eher zweifelhaften ‚Ehrenmann‘ handelte.

Den Offenen Briefen, Flugblättern und anderen Schriften in diesem Band sind jeweils kürzere Erläuterungen des zeitgeschichtlichen und biografischen Hintergrunds vorangestellt, vor dem die Arbeiten entstanden. Dabei wurde auch aus Schriften der Mayschen Gegner zitiert, soweit dies für das Verständnis der May-Texte nötig erschien. Ein vollständiger Abdruck der Presseangriffe wäre allein schon aus Gründen des Umfangs dieser Materialien nicht möglich gewesen.

Natürlich stand May bei Abfassung der kritischen und polemischen Schriften gegen seine Kritiker unter erheblichem psychologischen Druck; daher ist die literarische Qualität der hier versammelten Texte durchaus unterschiedlich zu bewerten. Hatte er am Anfang, bei der Kontroverse mit Fedor Mamroth, noch versucht, seine Lebenslegende vom eifrigen Weltreisenden und umfassenden Sprachgenie wenigstens teilweise zu retten – was ihm dann umso pointiertere Gegenangriffe Mamroths eintrug –, so argumentierte er später, insbesondere in den „Freistatt“-Artikeln gegen Ansgar Pöllmann, ungleich geschickter und verstand es, die Blöße des Gegners offen zu legen, ohne sich selber dadurch in Verlegenheit zu bringen. Es scheint aber auch, dass die Arbeit an den Verteidigungsschriften und Polemiken May dazu anregte, sich über sein eigenes Leben und über seine Intentionen als Schriftsteller klarer zu werden. Analysen wie „Die Schundliteratur und der Früchtehunger“ oder die Selbstbekenntnisse der „Aphorismen über Karl May“ zeugen von einer stärkeren Bewusstheit des Autors in Bezug auf seine Absichten und seine Stellung in der Literatur. Natürlich ist nicht alles, was May hier zu Papier brachte, wirklich ausgefeilt; aber in Zusammenhang mit dem Spätwerk[1] ab „Und Friede auf Erden!“ und seiner Autobiografie „Mein Leben und Streben“[2] lesen sich viele der Texte als interessante Ergänzung.

Eine Sonderstellung in Mays Werk nimmt das erstmals 1982 veröffentlichte Manuskript „Frau Pollmer, eine psychologische Studie“[3] ein. Es ist eine überaus private, sehr offene und intime Abrechnung mit der ‚Hölle‘ seiner ersten Ehe, die aber auch tiefe Einblicke in seine eigenen Ängste, Komplexe und Seelenqualen eröffnet. Gabriele Wolff, die bereits eine ausführliche Studie zu diesem Werk vorgelegt hat, kommentiert es in einem Beitrag in sehr einfühlsamer Weise, wobei nicht nur die biografischen Umstände der Entstehung dieses Textes, sondern auch sein Nachleben in der Literatur des 20. Jahrhunderts (nämlich im Werk Arno Schmidts) in den Blick genommen wird.

Schließlich haben Wolfgang Hermesmeier und Stefan Schmatz neue und interessante Erkenntnisse zu der kleinen Schrift „Die Schund- und Giftliteratur und Karl May, ihr unerbittlicher Gegner“ zusammengetragen, die man bisher ganz sicher für eine Arbeit Karl Mays hielt, die dieser unter Pseudonym veröffentlicht habe. Hermesmeier und Schmatz eröffnen mit ihren Forschungen, auch wenn sie noch keine endgültigen Ergebnisse präsentieren können, innovative und anregende Perspektiven für eine künftige Diskussion der Autorschaft.

Überhaupt hoffen wir, mit diesem Band das Gespräch über Karl May und sein ebenso vielgestaltiges wie merkwürdiges Werk wieder um einige Facetten bereichern zu können.

Christoph F. Lorenz

„Eine wahre Bereicherung unserer Höchst=Literatur“

Warum eigentlich interessieren wir Leser uns für das Privatleben eines Autors? Gar für die intimen Details seines Liebes- und Ehelebens, von denen Karl Mays Text „Frau Pollmer, eine psychologische Studie“ aus dem Jahr 1907 vielleicht mehr liefert als manch einem lieb und recht ist: Das Ich seiner Romane, das uns von Beginn an verführt und gelehrt hat, es mit dem Autor gleichzusetzen, wird in dieser Studie ganz klein geschrieben. Es präsentiert sich als passiv und leidend, es ringt um seine Existenz im Überlebenskampf mit dieser dominanten, kämpferischen, suggestiven und erotisch unersättlichen Dämonin „Frau Pollmer“, die zwischen 1880 und 1902 Emma May hieß. Groß ist dieses Ich nur in der Genauigkeit seiner Beobachtungen, im Deuten von Spuren, im Notieren seiner Ängste. Groß ist es auch in seiner literarischen Leistung, die sämtlichen Positionen zwischen Überlegenheit des wissenschaftlichen Beobachters – des theoretisierenden Psychologen – einerseits und aggressivem Kontrollverlust andererseits zur Sprache verhilft. Kaum ein Mann hat jemals in einem autobiografischen Text, der keine Fiktion sein will, demütigende Erfahrungen so präzise protokolliert. Und selten wird man einen Text lesen, der zwar über Intimstes Auskunft gibt, aber dennoch ganz und gar nichts Voyeuristisches an sich hat. Humor, einer von Mays sympathischsten Zügen und bewährtes Stilmittel des Romanautors, ist ein Signal für ersparten Gefühlsaufwand; man findet ihn in seiner Studie daher kaum. Nur bei der Beschreibung von Emmas Freundinnen, die zugleich Mays Feindinnen waren, der „Vertreterin der Kraft- und Faust-Weiberei“, dem „Karnikel“, der „Phryne, liebestolle Personen dritten Geschlechtes“ und „alte geifernde Weiber“ inklusive, bricht ein, wenn auch sarkastisch gefärbter, Humor durch.

So haben wir May, selbst in seinen verzweifeltsten Verteidigungsschriften gegen die zahlreichen Gegner, die seine letzten zehn Lebensjahre verdüsterten, noch nicht erlebt. Gerade die augenfälligen Unterschiede zwischen der „Studie“ und Mays gesamtem Werk sind Grund genug für unser Leserinteresse: Denn wie war es möglich, dass May diesen erschütternden Lebens-Text, in den nach und nach die Realität eines aktuellen, von seiner Gegnerin und Emmas Freundin Pauline Münchmeyer gegen ihn angestrengten Ermittlungsverfahrens wegen angeblichen Meineids hineindringt, seine beabsichtigte Chronologie zerstörend, zur selben Zeit schreiben konnte wie den hochgestimmten Menschheitsroman „Ardistan und Dschinnistan“, der unter dem Titel „Der ’Mir von Dschinnistan“ ab November 1907 im „Deutschen Hausschatz“ erschien? Arbeitete May so hochkonzentriert, weil er tatsächlich, wie er in der Studie schrieb, über die „Willenskraft“ verfügte, „meine glückliche, selige Arbeitswelt und die armselig häßliche, traurige Welt der Pollmerschen Dämonen vollständig auseinander zu halten“?

Misslang ihm dieser Kraftakt nicht vielleicht öfter, als er selbst wahrnehmen konnte? Wer die „Studie“ gelesen hat, wird Kara Ben Nemsis Kommentar angesichts der Verzückung von Halef, der sich auf den ersten Blick in die fünfzehnjährige Hanneh, die dunkeläugige Schöne, verliebt, jedenfalls mit ganz anderem Verständnis lesen: „Die Augen meines Halef leuchteten auch (...); seine Sprache trieb poetische Blüten; vielleicht stand er am Rande desselben Abgrundes, welcher die Hadschi-Hoffnungen seines Vaters und Großvaters, weiland Abul Abbas und Dawud al Gossarah, verschlungen hatte: der Abgrund der Liebe und der Ehe.“[4] Der merkwürdige Humor, mit dem Kara Ben Nemsi kurze Zeit später Halefs Frage, ob er wisse, was die Liebe sei, abwehrt: „Ja. Die Liebe ist eine Koloquinthe. Wer sie ißt, bekommt Bauchgrimmen.“[5] – auch er findet seine Erklärung.

Halef und Hanneh werden trotz dieser skeptischen Bemerkungen der Ich-Figur zu dem glücklichsten ‚realen‘ Paar, das May je ersonnen hat; aber er lässt keinen Zweifel daran, dass die sinnliche, mütterliche, kluge und tatkräftige Hanneh ihren Halef im Griff hat und ihm nur die Illusion gönnt, Familie und Stamm zu regieren. Die orientalischen Ehemänner im Übrigen sind komische Figuren, Pantoffelhelden allesamt, ob nun Mersinah, die Myrte, Tschileka, die Erdbeere, oder im Spätwerk Pekala, die Köstliche, oder Taldscha, das Schneeglöckchen, katzenpfotig das Zepter schwingt. Selbst die kurdische Madana, die Petersilie, emanzipiert sich rasch und befreit den deutschen Helden, die entgegenstehende Weisung ihres brutalen Mannes ignorierend. Von der respektvollen Verehrung der abendländischen Frau entzückt, wie sie ihr von Kara und Sir David Lindsay vermittelt wird, hält sie die dortigen Frauen für vom Glück begünstigte Wesen, was Kara Ben Nemsi mit ironischem Unterton wie folgt kommentiert: „Wäre Germanistan nicht so viele Tagreisen entfernt gewesen, so hätte meine Petersilie vielleicht versucht, aus eigener Anschauung kennenzulernen, ‚wie glücklich unsere Frauen sind‘!“[6]

Kämpferische Frauen, die sich als Mann verkleiden, findet man ab 1896 in Mays Westen (Kolma Puschi in „Old Surehand III“[7]) wie auch im Orient (die unter dem Pseudonym Adsy alias Adir Beg auftretende Anführerin der Hamawand-Kurden in „Im Reiche des Silbernen Löwen II“[8]) – das Foto von Emma May in Männerkleidung, das in der „Studie“ erörtert wird und ihr als Beweismittel A beigelegt war, deutet auf biografische Hintergründe für derlei Erfindungen hin, und das ebenfalls 1896 entstandene Foto von Emma im Old Shatterhand-Kostüm[9] fügt dieser Deutung noch einen beklemmenden, wenn nicht gar Furcht erregenden, Beleg hinzu.

Anders als in seinen Reiseerzählungen spielen die erotischen Beziehungen zwischen Mann und Frau in Mays frühen Romanen eine wichtige Rolle; und mag auch der Frauentypus der gefährlichen, die Geschlechtergrenzen überschreitenden Frau ein gängiges Motiv, wenn nicht gar der Mythos des ausgehenden 19. Jahrhunderts schlechthin sein, so weist er doch in dieselbe Richtung. Die zwischen sadistisch-mörderischem Pirat und verführerischem Vollweib changierende Kunstfigur der ‚Miß Admiral‘ weckt männliche Ängste, die May geteilt haben dürfte: „Wer von uns hätte nicht von diesem Frauenzimmer gehört, die ein Teufel in Menschengestalt gewesen ist!“[10] Erstmalig betrat die vielseitige Dame in Mays ‚Criminalroman‘ „Auf der See gefangen“ (heute Band 80 der „Gesammelten Werke“) in der Zeitschrift „Frohe Stunden“ von Bruno Radelli in den Jahren 1878/1879 die literarische Bühne, als May für Radelli als Redakteur tätig war und mit Emma Pollmer in Dresden eine Ehe auf Probe führte; auch diese Zeit wird in der „Studie“ behandelt, wobei May die Summe seiner hierdurch gewonnenen Erkenntnisse folgendermaßen zieht: „die Burschen und Männer waren ihr nur noch ‚Dummköpfe‘, ‚Säue‘ und ‚Schweine‘, die man mit Sinnenlust füttert, um sie dann abzuschlachten.“ Und: „Sie musste Qualen sehen, um sich glücklich zu fühlen.“

Sein Roman „Die Juweleninsel“ erschien zwischen August 1880 (Eheschließung von Karl und Emma) und März/April 1882 in der Zeitschrift „Für alle Welt!“ und ist wiederum ein Beispiel für eine sehr frühe Dämonisierung der Frau, die die Geschlechtergrenzen überschreitet: Die hinreißend gefährliche Kunstreiterin Miß Ella, von zwei Männern heftig umworben, deren Name sich lediglich durch eine winzige Buchstabenverschiebung der Mittelkonsonanten von Emmas Namen unterscheidet – die Wandlungsfähigkeit dieses Teufelsweibes sprengt fast das Vorstellungsvermögen. Zirkusreiterin, heimliche Kurtisane des tollen Prinzen, sündige Nonne, im vorletzten, dem 7. Kapitel, dann Indianer abschlachtender Bowie-Pater, der in dieser Episode verwundeten Indianern sein Messer ins Herz stößt und dabei die Nr. 221 der laut memorierten Strichliste abhakt, später Mönch – nur die ältliche, aber noch immer attraktive Dame, die zu guter Letzt dem Westmann Bill Holmers ihr Ja-Wort gibt, nimmt man einer Ella nicht so ganz ab.: „Er hat die Seele des bösen Geistes, den Mut eines Mannes und den Leib eines Weibes“, fasst der Apatschenhäuptling Rimatta seinen Abscheu vor dem Pater zusammen, den er als Einziger „belauscht hat, als er im Fluss badete“,[11] und daher das Geheimnis seines wahren Geschlechts lüften kann.

Die Figur der Kunstreiterin – führt sie nicht unmittelbar zu der Formulierung in der „Studie“: „da wollte sie [Emma] geliebt sein und wieder lieben, gleichviel ob männlich oder weiblich, denn sie fand sich in beiden Satteln zurecht“? Trägt nicht sogar Winnetous liebliche Schwester Nscho-tschi, deren zarte Liebe zu Old Shatterhand unerfüllt bleibt, amazonenhafte Züge? Wird sie doch für gefühllos gehalten, weil sie die qualvolle Ermordung eines Menschen so gar nicht berührt. „Die Frauen der Bleichgesichter“, verteidigt sich Nscho-tschi, „sind nicht so zart, wie du denkst. Sie können die Schmerzen sehr gut ertragen, aber die Schmerzen, welche andere, Menschen oder Tiere, erdulden...“[12]

Die Wechselwirkung zwischen Leben und Werk ist es, die das Interesse des Lesers für ein Dokument wie Mays „Studie“ erregt. Insbesondere bei einem Autor, der wie kein zweiter ‚Ich‘ gesagt hat, es mit autobiografischem Material anreicherte, um jenes fiktive ‚Ich‘ nach einem beispiellosen Erfolgszug in sein reales Leben eintreten zu lassen. Ein Autor, der vielleicht eine verborgene Wahrheit aussprach, eine erst auf den zweiten Blick erkennbare, als er immer wieder beteuerte, er habe alles das, was in seinen Romanen geschehe, selbst erlebt. „Man sieht, daß ich ein echt deutsches, also einheimisches, psychologisches Rätsel in ein fremdes orientalisches Gewand kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen zu können“[13], heißt es in seiner Autobiografie.

Mays „psychologische Studie“ über seine erste Ehefrau Emma, fünf Jahre nach der Scheidung verfasst, handelt von diesem einheimischen psychologischen Rätsel. Sie wirft die Frage nach der Wahrheit seiner Darstellung auf, die ein Blick zurück im Zorn ist. Sätze wie: „habe ich gekennzeichnet, welch ein erbitterter, nie endender, sondern an jedem Morgen neu erwachender Kampf zwischen ihr und mir sich bis zum Scheidungstage durch meine ganze Ehe zog. Es war eine nervenmordende, entsetzliche, teuflische Zeit!“, sind als wertende Betrachtung einer Ehe ‚wahr‘ im Augenblick der bewältigenden Niederschrift. Der überwiegende Teil der „Studie“ wurde – mit hoher Wahrscheinlichkeit – erst nach der am 9.11.1907 bei May durchgeführten Hausdurchsuchung verfasst; ein Vorgang, der ihn bis hin zu einem Nervenzusammenbruch erschütterte, denn niemals hatte er geglaubt, dass die Strafanzeige seiner Prozessgegnerin Pauline Münchmeyer, gegen die er wegen seiner Rechte an den 1882 bis 1887 geschriebenen Kolportageromanen bereits seit 1902 zivilrechtlich vorging, von der Justiz ernst genommen würde.

May war, insbesondere nach Wiederveröffentlichung seiner alten Romane durch den Verlagskäufer Adalbert Fischer, der die Werke unter dem nun berühmt gewordenem Namen herausgab, wegen angeblicher Unsittlichkeit derselben empfindlich angegriffen worden. Publizistisch verteidigte er sich mit der Behauptung, dass Münchmeyer anstößige Stellen in seinen sittenreinen Text hineinmanipuliert habe. Juristisch war dies nicht zu belegen, weil May seine Manuskripte nicht mehr besaß. Also war er gezwungen, den Beweis zu führen, dass Pauline Münchmeyer nicht mehr über seine Rechte verfügte, als sie sie verkaufte (wodurch Fischer, falls dieser Prozess mit einem Sieg geendet hätte, am Nachdruck gehindert worden wäre). Dass May nicht klagen würde, war für das Duo Münchmeyer/Fischer Geschäftsgrundlage des Verlagsverkaufs: Sie verließen sich auf das Druckmittel, vage Kenntnisse über Mays Vorstrafen zu haben. May allerdings ließ sich nicht erpressen, er klagte und sollte das Prozessende nicht mehr erleben. In drei Instanzen hatte er schließlich gegen Pauline Münchmeyer gewonnen und am 11.02.1907 den vom Reichsgericht für zulässig erklärten und mangels schriftlicher Beweise erforderlichen Parteieid abgegeben, wonach seine Rechte nur bis zu einer bestimmten Auflagenhöhe an die Firma Münchmeyer abgetreten worden seien. Nach diesem Eid trat das Zivilverfahren in ein neues, quälend langwieriges Stadium ein: Er verklagte die Witwe Pauline Münchmeyer, einstmals Emmas beste und engste Freundin, auf Auskunft und Rechnungslegung über die tatsächlich verkauften Exemplare. Pauline Münchmeyer wiederum nahm diese für sie existenzbedrohende Niederlage nicht kampflos hin, sondern zeigte May und die für ihn aussagenden Zeugen, darunter auch Emma Pollmer, wegen Meineids an.

Emma war plötzlich wieder machtvoll präsent in Mays Leben, ohne dass er sich zuvor der Bearbeitung der existenziellen Konflikte gestellt hatte, die ihm durch diese Ehe aufgezwungen worden waren. Eine literarische Bewältigung war ihm lediglich hinsichtlich des Trennungs- und Scheidungsgeschehens gelungen, das für alle Beteiligte traumatisch genug war: In den vielschichtigen Bänden von „Im Reiche des Silbernen Löwen“ III und IV, die in den Jahren 1902/1903 entstanden, kann man die Geschichte nachlesen...[14]

Nun aber, im Jahr 1907, stellten sich die eigentlichen Lebensfragen neu und in der Bedrängnis der Lebenssituation sogar noch verschärft: War Emma etwa nicht das wichtigste Glied in einer Kausalkette, die sich ihm rückblickend als der rote Faden seines Lebens schlechthin darstellte und seine immer passiven, immer nur reagierenden Lebensentscheidungen erklärte? War die Eheschließung nicht nur auf Emmas flehentliche Bitte von Mai 1880 hin erfolgt, sie trotz der negativen Erfahrungen der Ehe auf Probe und der danach erfolgten Trennung im Jahr 1879 zu heiraten, während der hypnotische Blick ihres sterbenden Großvaters, ihres einzigen Verwandten, auf May gerichtet war? Hatte die umschwärmte Emma, die sich ein materiell sorgloses Leben bei erheblichen Ansprüchen an Kleidung, Vergnügungen und Dienstpersonal erträumte, etwa nicht auf ihn eingewirkt, für Münchmeyer ab 1882 Kolportageromane zu verfassen? Und obwohl May sich bereits Anfang 1877 als Redakteur für verschiedene Münchmeyer-Zeitschriften geradezu fluchtartig aus dem Dunstkreis der Münchmeyers entfernt hatte (wofür es gute Gründe gab): Er ließ sich überreden in der Aussicht, die lebenslustige Emma durch einen Umzug fort aus der zu engen Provinz in die Residenzstadt Dresden und durch ein gesichertes Einkommen zufrieden zu stellen. War es nicht Emmas allzu frivoler Flirt mit Heinrich Münchmeyer, vor allen Dingen aber ihre allzu intime Freundschaft mit Pauline Münchmeyer, die zur Entfremdung zwischen den ohnehin auf verschiedenen Planeten wohnhaften Ehepartnern beitrugen? War es nicht ‚wahr‘, dass Emma beschwichtigend, ja bezwingend, auf ihn einwirkte, ihre alte Freundin Pauline nach dem Tod von Heinrich Münchmeyer im Jahr 1892 nicht mit Abrechnungsforderungen zu behelligen? Emma war zu großen Szenen in der Lage, die May, wenn möglich, vermied und denen er sich, wie glaubhaft in der „Studie“ beschrieben, nicht selten durch Flucht in Gaststätten entzog. Und so ließ er alles dahintreiben, ohnehin auf sein aktuelles literarisches Schaffen und seine glanzvollen Auftritte in der Öffentlichkeit konzentriert, die auch seine Frau genoss. Mit der Folge eben, dass Pauline sich im Jahr 1899 sicher genug fühlte, ihren Verlag mitsamt den angeblichen Rechten an Mays seinerzeit unter Pseudonym bzw. anonym verfassten Kolportageromanen zu verkaufen. ‚Wahr‘ ist auch, dass Emma Papiere verbrannte, als May auf Orientreise war: Ob diese Papiere als Beweismittel in dem Zivilverfahren gegen Pauline Münchmeyer eine verfahrensbeschleunigende Wirkung hätten entfalten können, ist eine reine Wertungsfrage und juristisch eher zu verneinen. Denn ein Brief, in dem Münchmeyer konkret seinerzeitig mündlich abgeschlossene Verträge schriftlich bestätigt hätte, existierte nicht. Auch in der „Studie“ wird lediglich – dies aber mit aller dem hochemotionalen Gegenstand entsprechenden Vehemenz – behauptet, dass die vernichteten Schreiben prozessentscheidende Wirkung gehabt hätten. Aus den gleichzeitig offenbarten, überaus zurückhaltenden Fakten über den Inhalt der Schriftstücke lässt sich diese Wertung allerdings nicht nachvollziehen.

So ordnet sich, bei erkennbarem Bemühen, sich an belegbare Tatsachen zu halten, für May das Bild ganz neu und ganz streng. Eine nicht angreifbare subjektive Wahrheit entsteht in dieser „Studie“, die, soweit überhaupt der Überprüfung zugänglich, auf unbestreitbaren Fakten beruht.[15]

Dass es sich um eine der Lebenssituation geschuldete verengende, rückblickend wertende Sicht handelt, macht die Darstellung nicht ‚unwahr‘. Ereignisse gravieren sich nicht unveränderlich ins Gedächtnis ein, woraus sie jederzeit mit den alten Gefühlsbeteiligungen abrufbar wären. Das Sich-Erinnern ist ein aktiver Prozess, der entsprechend der aktuellen Lebensumstände den gespeicherten Situationen ein neues Deutungsmuster unterlegt und zu diesem Muster nicht passende Ereignisse löscht. Das Wiederaufrufen von Glücks-Erlebnissen mit einem Partner, der letztlich als existenziell zerstörend erlebt wurde und die Trennung von ihm als befreiend, ist keinem Menschen möglich. Die Gewissheit, nur eine Illusion gelebt zu haben, in einem wahnhaften Irrtum befangen gewesen zu sein, als man mit dem Anderen glücklich war, verhindert eine ‚gerechte‘ Darstellung einer Ehe, in der es auch Momente der emotionalen Nähe, der physischen Befriedigung und des gemeinsamen Lachens gegeben haben muss. (Dies trotz der falschen, auf rein sinnlichen Motiven beruhenden, Partnerwahl, die, wie bei Goethe oder James Joyce, Einsamkeit im Geistig-Seelischen erzeugt hat, ein Bereich, der à la longue immer zur wichtigsten Gemeinsamkeit in einer langjährigen Beziehung wird.) May macht da keine Ausnahme von der Regel: Die Auswahl seiner Eindrücke ist subjektiv und von der Erfahrung des Endes und den Erleidnissen der Lebenssituation, in der er seine „Studie“ schrieb, geprägt.

Einen Tag, bevor er sie abschloss, sah er Emma wieder, in einem Konzert, das am 13.12.1907 stattfand, wie Roland Schmid, der Herausgeber der Erstveröffentlichung der „Studie“ im Jahr 1982, ermittelte[16]. Welche eigenen Ängste, welche Sorgen auch um seine zweite Frau Klara, die von Emma immer und ewig Beherrschte, dieses überraschende Ereignis auslöste, lässt sich dem Text unschwer entnehmen: „Die alte Angst vor Schwefelsäure, Salzsäure, Gift usw. taucht natürlich sofort von Neuem auf! (...) Also der alte Klatsch beginnt von Neuem! Da sind wir denn doch gezwungen, nachzuschauen!“

Und May schaute tatsächlich nach. Die in Weimar wohnende Emma hatte in Dresden seit dem 10.12.1907 als Beschuldigte in dem auch gegen sie gerichteten Verfahren ausgesagt. In der Sache, um die es eigentlich ging, nicht gegen May gerichtet, aber natürlich ihren eigenen Ehe- und Scheidungsgroll verarbeitend, der sich hauptsächlich gegen ihre intime Freundin Klara richtete, die sich von ihr ab- und May zugewandt hatte. Diesen giftigen Klatsch befürchtend, in Kenntnis der Charakterstruktur seiner früheren Frau ihre Aussagen hellsichtig vorausahnend, übergab May, der den Text für seinen Biografen, nicht aber für die Öffentlichkeit geschrieben hatte, die „Studie“ noch im Dezember 1907 unter dem Siegel der Verschwiegenheit und ausdrücklich außerhalb der Akten dem Untersuchungsrichter Dr. Curt Theodor Larrass. Das Bild, das seine zwischen leidenschaftlicher Liebe und glühendem Hass schwankende geschiedene Frau, deren seelische Erkrankung, die ab 1914 zur stationären Unterbringung in der Psychiatrie führte, bereits ihre Schatten vorauswarf, von Klara und ihm gezeichnet haben musste oder geben würde, sollte durch sein eigenes neutralisiert werden. Als er im April 1908 bei Rückgabe seiner Schrift durch geschickte ‚Vernehmung‘ von Richter und Staatsanwalt herausfand, dass Larrass die „Studie“ an Staatsanwalt Seyfert, Schulfreund des Münchmeyer-Anwalts Gerlach, weitergegeben haben musste, obwohl Larrass dies ihm gegenüber abstritt, stellte er einen wohlbegründeten Befangenheitsantrag gegen seinen Untersuchungsrichter. Dieser blieb, jedenfalls gegenüber den Kollegen beim Landgericht Dresden, bei der Wahrheit und gab zu, entgegen seinem Versprechen Mays Text an den Staatsanwalt weitergeleitet zu haben. Wegen seiner Lüge gegenüber May wurde Larrass gerügt. Für befangen hielten ihn die Kollegen, die Mays selbstentblößendes und erschütterndes Dokument nicht kannten, dennoch nicht.

Hätten sie es gekannt, wäre ihre Entscheidung wohl anders ausgefallen. Ein größerer Vertrauensbruch als die Weitergabe dieser Schrift und ein kläglicherer Verteidigungsversuch als deren Verleugnung ist nicht denkbar. Mays Bekenntnisse, mit denen er mehr über sich aussagt als über seine erste Frau, bewegen selbst den heutigen Leser. Auch wenn die religiös grundierten psychologischen Erklärungsversuche Mays mit ihrer Engel-und-Teufel-Metaphorik und die emanzipatorischen Befreiungsversuche Emmas, die im rechtlosen Status der Frau des 19. Jahrhunderts lebte, zeitbedingt sind: Das Drama einer unter allen Lebensbedingungen möglichen und auch stattfindenden Ehehölle mit all den tiefen Verletzungen, die einander nur in einer Liebesgemeinschaft zugefügt werden können, ist zeitlos. Nur in der Literatur und in Strafprozessen werden die Erschütterungen, die solche Nähebeziehungen auslösen können, öffentlich und sichtbar.

Die „Studie“, die den Menschen May und die Entstehungsbedingungen seiner Bücher in ein ungewohntes und grelles Licht rückt, ist nur deshalb überliefert worden, weil seine zweite Frau Klara von ihrer Wahrheit überzeugt war. Sie muss darüber hinaus davon überzeugt gewesen sein, dass sie Mays Andenken nicht schaden könne. Trotz Klara Mays überaus aktiver Mitwirkung bei der Legendenbildung um ihren Mann, trotz ihrer Vernichtung von Strafakten Mays, deren objektive Bewertung durch eine vorurteilsfreie Nachwelt sie sich angesichts der miterlebten tödlichen May-Hetze einfach nicht vorstellen konnte: Die Studie blieb unangetastet, obwohl sie selbst darin als ein hypnotisiertes und lebenslang von Emma beherrschtes Opfer dargestellt wird. Klara nahm sogar die Wertung hin, dass May sie nach dem ersten Kennenlernen zunächst als „Gänschen, nicht ganz so groß wie meine eigene Gans, doch geistig unbedeutend“ eingeschätzt hatte. Akzeptierte die Kränkung, dass er zu den Gründen seiner Eheschließung mit ihr lediglich die Konvention ins Feld führte, die ihre Pflegeleistung, welche sein physischer Zusammenbruch nach der Trennung von Emma erforderte und die sie anbetend, liebend, leistete, nur unter den Bedingungen einer Ehe gestatte.

Klara selbst, die noch am 06.08.1942 eine liebevolle Notiz über die im Jahr 1917 verstorbene Emma fertigte[17] – nie kam sie los von ihr –, hat unter dem 26.10.1903 in ihrem Tagebuch vermerkt, dass Emma ihr gestanden habe, „sie habe immer gewußt, daß Karl und ich wie Geschwister, nicht aber wie Eheleute leben“.[18] Eine weitere Bestätigung dafür, wie demütigend May seine sexuelle Hörigkeit gegenüber Emma zuletzt empfunden haben muss. Nie wieder in solche Abhängigkeiten zu geraten, die ihn zu vernichten drohten, scheint er sich vorgenommen zu haben, was wiederum von Klara in einer mit ‚Emma Pollmer‘ überschriebenen Notiz aus ihren letzten Lebensjahren gestützt wird: „Mir hat sie immer leid getan, sie konnte sich nicht mehr ändern und ihr Mann hatte nichts mehr für sie übrig, konnte er nicht haben. So wuchs der Zwiespalt, den ich im ganzen Umfang nach dem Tod meines ersten Mannes kennenlernte. Hier erst sah ich ein, daß es keine Brücke zwischen diesen zwei Menschen gab und daß Karl May dem Ende entgegenging, erfolgte nicht Trennung.“[19]

Kann es somit als gesichert gelten, dass die „Studie“ eine Lebenswirklichkeit beschreibt, so stellt sich doch auch die Frage nach ihrem Kunstwert; denn es handelt sich fraglos um Literatur, um eine von einem sprachmächtigen Autor geformte Wirklichkeit. Hans Wollschläger hat sie im Jahr 1965 als „ein Stück von beträchtlicher literarischer Qualität: manche Passagen erreichen Strindberg’sches Format.[20] charakterisiert. Klara hätte dieser Wertung sofort zugestimmt, notierte sie doch im Jahr 1916 nach einer Aufführung von Strindbergs „Der Vater“ in ihr Tagebuch, „daß sie darin all die Leiden Karl Mays, die er mit Emma durchkämpfte, wiedergesehen habe. Manche Szenen seien fast lächerlich ähnlich gewesen.“[21] Einen anderen Autor hat die „Studie“ so sehr beeindruckt, dass er sich zu einem Roman mit derselben Thematik – Flucht vor dem Sexualterror der Frauen in die Längeren Gedankenspiele der Literatur – hat inspirieren lassen: Arno Schmidt. In seinem 1960 erschienenen Roman „Kaff auch Mare Crisium“ hat er Karl May listigen Dank hierfür abgestattet. Sein Held Karl (wie sollte er auch anders heißen?) Richter findet in einer Ausgabe des „Deutschen Hausschatzes“ eine Abschrift der „Studie“, die so genannte „‹COPIE NR. 2 / für Herrn Andreas Näwy / Dresden / Johannstädter Ufer 2, III›“ – Schmidt hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht, den vollständigen Namen und die zutreffende Adresse von Richter Larrass’ Protokollführer zu ermitteln, um die literarische Fiktion einer durch Larrass veranlassten privaten Abschrift der „Studie“ authentisch wirken zu lassen. Lag es etwa nicht nahe, dass der Richter, der die „Studie“ nachweisbar heimlich weitergab, sich auch noch genauso heimlich eine Abschrift fertigen ließ, bevor er sie an May zurückgab? Leitmotivisch taucht die „Studie“ – und andere May-Reminiszenzen – in diesem Roman immer wieder auf. Karl Richters Diktum lässt sich nichts hinzufügen: „Die müßte man mal abdruckn, ehrlich & ungekürtzt, Wort= & Zeichngetreu; das wäre 1 echtes ‹document humain›; ein unvergleichliches Genre=Bildchen aus dem Ende des vorijen Jahrhunderts, diese ‹COPIE NR. 2› hier. Eine wahre Bereicherung unserer Höchst=Literatur; 1 Psüchologikumm von unabschätzbarem Wert; ich weiß, was ich sage: Mit solch=einer Veröffentlichunk, würde May mit 1 Schlage in die Reihe der ernstzunehmenden Selbst=Biografen einrücken.“[22]

Gabriele Wolff

Frau Pollmer, eine psychologische Studie (1907)

Im jetzigen Hohenstein-Ernstthal in Sachsen gab es in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen ehrsamen Ackerbürger namens Steger[23], der sich schlecht und recht von dem Ertrag einiger Felder nährte, einige Kühe besaß und innerlich so ernst und wissensdurstig angelegt war, dass er seine Mußezeit nicht wie andere Leute auf unnütze Dinge, sondern nur darauf verwendete, sich geistig fortzubilden. Er kaufte sich wissenschaftliche Bücher, die er mit großem Fleiß las, und trieb sogar Latein. Er war nicht nur ein Musterbürger, sondern auch rein äußerlich ein Mustermensch: Er und seine Frau galten als das schönste Ehepaar der ganzen Umgegend. Darum war er nicht nur stolz auf sein Latein, sondern noch viel mehr auch auf den Ruf, der schönste Mann zu sein und die schönste Frau zu haben.

Dieser Mann hatte zwei Töchter, auf die sich die körperlichen Vorzüge der Eltern vererbten. Sie waren ganz natürlich ‚die schönsten Mädchen in der Stadt‘ und darum viel umworben. Die eine heiratete einen Arzt, Dr. Günther geheißen, der sich ihretwegen im Städtchen niederließ. Die andere aber betrübte ihre Eltern und Verehrer durch eine Liaison resp. ackerbürgerliche Mesalliance sondergleichen. Sie wählte sich einen Barbiergesellen, der aus einem armen, kleinen Dorf in der Nähe von Annaberg stammte und mit seiner hohen, wohlgewachsenen Grenadiergestalt und seinen pechschwarzen Augen sämtliche jungfräulichen und nicht jungfräulichen Mädchenherzen, Tanzböden und Kammerfenster eroberte. Dieser Barbier litt trotz aller Ursachen, die er nicht dazu hatte, bis an sein hohes Alter an einer grenzenlosen Selbstvergötterung und wusste es auf die allereinfachste und natürlichste Weise durchzusetzen, dass man ihm das Mädchen gab. Er brachte einen ganz bedeutenden Einschlag von unbezwinglicher Voluptuosität in die Stegersche Familie und legte den Grund zu deren schneller Perversion. Er hieß Pollmer. Er bekam die Mittel, sich als Barbier zu etablieren, das heißt, jedermann nach damaligem Preis für drei Pfennige, im Abonnement aber für zwei Pfennige zu rasieren. Da aber die Verschwägerung mit einem wirklichen Doktor der Medizin und die alten, ackerbürgerlichen, heiligen Traditionen mehr verlangten, so machte man den Versuch, den Barbier in etwas Besseres und Höheres zu verwandeln. Er bekam die Stegerschen Bücher alle zu lesen, sogar die lateinischen. Besonders die Letzteren wirkten augenblicklich standeserhebend. Der Schwager Doktor trug durch Umgang und Unterweisung das seinige dazu bei, den sozialen Wert dieses nicht ganz zulänglichen Verwandten zu verdoppeln. Später wurde eine homöopathische Apotheke nebst den hierzu gehörigen Gebrauchsanweisungen angeschafft; der Barbier begann zu kurieren, und weil der höchste Preis seiner Arzneien 15 - 20 Pfennige betrug, so gelang es ihm sehr bald, in Kundschaft zu kommen. An seinen Körnchen und Tröpfchen ist kein einziger Mensch gestorben, und da er sich hütete, wirkliche oder gar bedenkliche Krankheiten zu behandeln, hat er nur Ruhm und Ehre geerntet und am Ende seiner langen, segensreichen Tätigkeit ein Vermögen von 230 Mark hinterlassen, welches meiner ersten Frau als seiner einzigen Erbin mit meiner ehemännlichen Genehmigung gegen besondere Quittung voll und ganz ausgezahlt worden ist. Zwar meldeten sich hierauf noch einige weitere uneheliche Kinder resp. Enkel, doch hat meine Frau, als sie mit ihren Forderungen kamen, die Universalerbschaft verteidigt wie eine Löwin ihr Junges und keinen Pfennig davon hergegeben, nicht einmal mir!

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