5,99 €
Seine Eltern haben Benno nicht gewollt und nach der Geburt neben einer Mülltonne auf der Autobahnraststätte ausgesetzt. Doch es gibt andere, die ihn wollen: -Von Oertel, der schmierige Auktionshausbesitzer -Die alte Käthe, die unter ihrem Stottern leidet -Marvin, der mehr als ein Therapeut sein möchte -Marvins Eltern wollen Benno auch, sind aber mit ihrer Ehekrise beschäftigt und -Rolex, der ein wirklich guuuuuter Hund ist. Auch Armin hatte ihn gewollt. Doch an Armin will sich Benno partout nicht erinnern. Denn Armin ist schuld daran, dass Benno sich manchmal fragt, ob er wach ist oder träumt. Ca. 67.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ca. 330 Seiten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seine Eltern haben Benno nicht gewollt und nach der Geburt neben einer Mülltonne auf der Autobahnraststätte ausgesetzt.
Doch es gibt andere, die ihn wollen:
- Von Oertel, der schmierige Auktionshausbesitzer
- Die alte Käthe, die unter ihrem Stottern leidet
- Marvin, der mehr als ein Therapeut sein möchte
- Marvins Eltern wollen Benno auch, sind aber mit ihrer Ehekrise beschäftigt und
- Rolex, der ein wirklich guuuuuter Hund ist.
Auch Armin hatte ihn gewollt. Doch an Armin will sich Benno partout nicht erinnern. Denn Armin ist schuld daran, dass Benno sich manchmal fragt, ob er wach ist oder träumt.
Ca. 67.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ca. 330 Seiten.
von
Sandra Busch und Sandra Gernt
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Benno bückte sich und wrang den nassen Scheuerlappen über dem Eimer mit dem Wischwasser aus. Hinter ihm ertönten Schritte, wohlbekannte Schritte. Sie bescherten ihm eine Gänsehaut. Gleich darauf wurde ihm von hinten zwischen die Beine gefasst – nicht zum ersten Mal. Mit einem Satz schoss Benno in die Höhe und gleichzeitig nach vorn.
„Also bitte!“ Empört drehte er sich um. Herr von Oertel, zweiundfünfzig Jahre alt, auf jugendlich getrimmt, im eleganten, dunkelblauen Zweireiher, grinste ihn dreckig an. Dermaßen dreckig, dass Benno ihm am liebsten das Scheuertuch rechts und links um die Ohren gehauen hätte, um ihm dieses schmutzige Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Benno beließ es bei dem ungehaltenen Also bitte, denn er konnte es sich nicht leisten, diesen Job zu verlieren. In der Zeit von 21.00 bis 23.00 Uhr reinigte er mit einigen verlebt aussehenden Frauen, davon achtzig Prozent aus Polen und zehn Prozent aus Vietnam, das Auktionsunternehmen Christopher von Oertel. Hochkarätiger Schmuck, wertvolle Gemälde und antike Möbel gingen hier unter den Hammer. Morgen sollten Oldtimer ihre Besitzer wechseln, darum musste er die große Halle säubern. Nicht mit einer der modernen Reinigungsmaschinen, sondern per Hand und Schrubber.
„Nichts geht über solide Handarbeit“, hatte von Oertel gesagt und ihm dabei lüstern auf den Schritt gestarrt. Benno ertrug ihn des Geldes wegen, aus dem gleichen Motiv wie von Oertels zickige Frau ihren Mann ertrug – und seine sexuellen Ausflüge ans andere Ufer.
„Da oben an der Wand hängt noch eine Spinnwebe.“ Von Oertel trat einen Schritt auf ihn zu und Benno ging dafür zwei Schritte zurück.
„Die ist gleich verschwunden“, versprach er. „Ich will nur erst die Ecke saubermachen. Danach bin ich fertig.“
Von Oertel schaute sich um und nickte zufrieden. Vom Personalchef des Putztrupps war Benno vor dem Mann gewarnt worden. Bei Angestellten, die ihm zusagten, schob der Unternehmer gerne Überstunden. Schon mehrere männliche Reinigungskräfte hatten wegen von Oertel gekündigt. Nicht jeder ertrug für den Mindestlohn die sexuellen Nötigungen dieses Mannes. Benno hatte keine Wahl, wollte er nicht wieder unter einer Brücke schlafen. Auch dort war man vor gierigen Händen nicht sicher.
„Du könntest dir mal einen ordentlichen Haarschnitt leisten“, sagte von Oertel mitten in seine Gedanken hinein. „Ein moderner Schnitt würde dir bestimmt gut stehen.“
Benno reagierte nicht darauf, sondern schrubbte heftiger als nötig weiter. Ein Friseurbesuch war nicht drin. Er schnitt sich selbst mehr schlecht als recht mit einer kleinen Schere die Haare. Nicht immer gerade, nicht immer schön. Aber dafür umsonst. Wenn es zu schlimm geriet, zog er halt eine Beanie über. Haare wuchsen zum Glück nach. Ein letztes Mal wrang er den Lappen aus und hängte ihn über den Eimer.
„Fertig. Ich hole nur schnell einen Besen und in ein paar Minuten ist die Spinnwebe Geschichte.“ Er starrte auf seine rosafarbenen Gummihandschuhe, als er an von Oertel vorbei zum doppelflügeligen Tor ging, um das Schmutzwasser zu entsorgen. Die Blicke des Unsympathen verfolgten ihn, er konnte sie wie Messer in seinem Rücken spüren.
Dieser Job war für heute der letzte. Von 10.00 bis 13.00 Uhr räumte er im Supermarkt Regale ein und fuhr von 18.00 bis 20.00 Uhr Lebensmittel von vier verschiedenen Supermärkten zur Tafel e.V., genau dort hatte er diesen Job auch ergattern können. Mit dem Einkommen konnte er keine gewaltigen Sprünge machen, sich aber immerhin ein 15 qm großes Zimmer leisten. Zum Jobcenter wollte er nicht gehen, obwohl das sicherlich deutlich bequemer gewesen wäre. Er hatte seinen Stolz und von Behörden die Schnauze voll. Bis er neunzehn gewesen war, hatte er zuerst im Heim gelebt und später im betreuten Wohnen. Zwei Pflegefamilien hatte er in dieser Zeit durchlaufen, bis die erste Familie ungeplanten Nachwuchs bekam und sich die zweite plötzlich mit einem Kind überfordert fühlte und die Pflegestelle kündigte. Wer seine Eltern waren, wusste Benno nicht. Er war ein ungewolltes Baby gewesen, das Reisende während eines Tankstopps auf einem Autobahnrastplatz neben der Mülltonne gefunden hatten. Ein Zettel hatte auf seiner Brust gelegen. Balg hatte darauf gestanden. Mehr nicht. Das Leben konnte so richtig nett anfangen.
Benno rückte mit dem Besen aus, um der Spinnwebe den Garaus zu machen. Von Oertel war verschwunden, worüber er nicht gerade traurig war.
„Junge, wie weit bist du?“ Olga tauchte hinter ihm auf. Sie war die Teamleiterin des Auktionshaustrupps und bereits achtundsechzig. Weil ihre Rente so gering war, blieb ihr nichts anderes übrig, als weiterhin zu arbeiten. Ihre Hände waren rot und schorfig, voller Schuppenflechte, das Gesicht dauermüde.
„Nur noch das restliche Spinnennetz …“ Benno fuchtelte mit dem Besen an der Wand herum, bis er die letzten klebrigen Fäden entfernt hatte.
Olga schaute sich zufrieden nickend um. „Gute Arbeit. Jetzt kannst du Feierabend machen.“ Sie lächelte ihm matt zu. Benno wusste, dass daheim ein inkontinenter Mann und ein Riesenhaufen Bügelwäsche auf sie wartete. Auch Olga hatte mehr als einen Job. Aus ihrer Kittelschürze zog sie ein kleines Päckchen hervor und reichte es ihm. „Meine Schwester war heute da. Sie hat wieder ein Carepaket mitgebracht. Du bist viel zu dünn, also iss es.“
Olgas Schwester hatte vor über vierzig Jahren in eine Schlachterei eingeheiratet. Ab und an brachte sie Olga etwas Wurst oder ein paar Koteletts vorbei. Benno schnüffelte neugierig an dem Päckchen.
„Wiener Würste“, verriet ihm Olga.
„Das ist total lieb von dir.“ Zumal sich Olga selbst nicht jeden Tag Fleisch leisten konnte. Er umarmte die alte Frau, roch billiges Parfum, Schweiß und Reinigungsmittel an ihr, und drückte sie noch ein bisschen fester an sich. Das Geschenk ablehnen konnte er nicht, weil ihn Olga von Anfang an unter ihre Fittiche genommen hatte. Ihr Sohn war mit sechzehn Jahren erschlagen worden, als er einen Streit unter Mitschülern schlichten wollte. Benno wusste, was die alte Frau in ihm sah und steckte die Würste daher freudestrahlend ein. Sein spätes Abendessen war gesichert. Und vielleicht blieb sogar noch eine Wurst für morgen übrig.
Wenig später radelte er mit seinem rostigen Fahrrad, das er in einem Graben gefunden und wieder hergerichtet hatte, nach Hause. Im Schein der nackten Glühbirne setzte er sich auf die dünne, am Boden liegende Matratze und zog sich eine Flasche Mineralwasser heran, das er billig im Supermarkt kaufte. Eine Weile hatte er es mit Leitungswasser aus dem Bad auf dem Flur versucht, doch manchmal war das Wasser vom Rost aus den Rohren rötlich verfärbt. Sich damit waschen zu müssen war eins, es zu trinken … Benno seufzte. Selbst als Penner hatte er einen solchen Dreck nicht getrunken. Es gab immer eine öffentliche Toilette, wo die Rohre in Ordnung waren oder einen dünnen Kaffee, den ihm die mitleidige Kioskfrau spendierte, wenn er morgens an ihrem von Zeitungen umrahmten Fenster vorbeischlenderte. Vor einem halben Jahr ergatterte er dieses Zimmer und von da an sollte es bergauf gehen. Das jedenfalls hatte er sich geschworen. Er schaute in den schmalen, hohen Spiegel vom Sperrmüll, der gegenüber an der Wand lehnte. Sein Spiegelbild sollte ihm Gesellschaft leisten, so lautete zumindest der Plan. Sein Gesicht war schmal, die Nase etwas zu groß, das Kinn leicht kantig und der Mund fest zusammengekniffen. Benno versuchte es mit einem Lächeln, das allerdings ziemlich albern ausfiel. Sich selbst anlächeln konnte er nicht. Was sollte das auch für einen Sinn machen? Von Oertel hatte recht, was seine Frisur anging. Vielleicht sollte er wirklich lieber die Beanie aufsetzen und in ein paar Wochen einen neuen Stylingversuch mit der Schere starten. Braune Fransen standen verstrubbelt von seinem Kopf ab. Was ihm gefiel, das waren seine Augen. Dichte Wimpern umrahmten goldbraune Iriden.
„Löwenaugen“, hatte Olga an seinem ersten Tag gesagt. „Hoffentlich hast du auch ein Löwenherz. Du wirst es brauchen, mein Junge.“ Danach hatte sie die Gummihandschuhe über ihre schuppigen Hände gezogen und ihm die Schulter getätschelt. Benno hatte sie sofort in sein Herz geschlossen.
Er aß zwei der vier Wiener Würste, die Olga ihm mitgegeben hatte. Es lag sogar ein kleines Päckchen Senf von irgendeinem Imbiss mit dabei. Jeden einzelnen Bissen kaute er mindestens zwanzig Mal, genoss den leicht rauchigen Geschmack des Fleischgewürzes. Danach spülte er mit Mineralwasser nach und verließ kurz sein Zimmer, um sich im Bad für diese Etage die Zähne zu putzen und die Toilette zu benutzen. Auf die Brille wagte er sich nicht zu setzen. Der alte Swidorwski von nebenan war Alkoholiker und traf nicht mehr so gut.
Anschließend zog sich Benno aus, legte seine Kleidung ordentlich zusammen und stapelte sie neben dem Spiegel, bevor er in eine kurze, dünne Baumwollboxer aus einem Ein-Euro-Laden schlüpfte. In den nächsten Tagen sollte er den Waschsalon aufsuchen. Ihm ging die saubere Wäsche aus. Mit dem Gedanken kroch er unter die dünne Decke, die er aus einem Rote-Kreuz-Container geklaut hatte, und schloss die Augen. Er war müde, doch immerhin hatte er zwei leckere Würstchen im Bauch. Morgen früh würde er sich aus der Vortagsbäckerei ein Brot kaufen. Dazu Margarine und ein bisschen Salz darauf. Das würde wenigstens satt machen.
Marvin kickte gegen eine Energydrinkdose, die unter einer Straßenlaterne lag. Viel zu laut schepperte sie über den Gehweg, sodass er sich erschrocken umblickte, ob einer der Anwohner gleich am Fenster auftauchte, um ihm mit der Polizei zu drohen.
„Nun mach endlich“, maulte er in Richtung von Rolex, einem Golden Retriever. Rolex hatte eine Blasenentzündung und musste dauernd Pipi. Als sich eine nasse Hundenase in seine Achselhöhle bohrte und ihn auf diese Weise weckte, wusste Marvin, dass er die nächste Gassirunde drehen musste. Sein Hund starrte jedoch einer halbnackten Gestalt entgegen, die aus den Schatten auf ihn zukam. Lediglich mit einer klitschnassen Boxershorts war der Fremde bekleidet. Marvin runzelte verwundert die Stirn. Was war das denn für eine traurige Figur? Und war der etwa durch den schmalen Bachlauf gewatet, der seine Wohnsiedlung vom Industrieviertel mit den Billigwohnungen abgrenzte? Bloß ein Rapsfeld und eben der Bach trennte die Stadtteile voneinander. Nass genug, um diese These zu unterschreiben, war der Kerl jedenfalls. Und das Wasser des Baches reichte einem bis zur Brust, was eine Durchquerung durchaus möglich machte. Marvin wusste das aus Erfahrung. Im Sommer war er öfters mit Rolex zusammen hineingesprungen.
„Hey, brauchst du Hilfe?“, fragte er, als der Fremde direkt vor ihm stehen blieb. Dessen Augen richteten sich mit einem seltsamen Ausdruck auf ihn, als würde er ihn erst jetzt bemerken.
„Ich mähe Rasen“, sagte er laut und deutlich.
Beinahe hätte Marvin gelacht. „Was?“
„Ich mähe Rasen.“
„Ohne einen Rasenmäher, mitten in der Nacht, auf einem Bürgersteig und in Shorts mit Bart Simpson-Aufdruck? Hast du was getrunken?“
Rolex kam näher und schnüffelte an dem Fremden. Freundlich begann die buschige Rute hin- und herzuwedeln.
„Ich mähe Rasen.“
„Ganz wunderbar.“
Der Knabe hatte offenkundig irgendwelche Drogen geschluckt. Er war hager, blass, wirkte kränklich, redete merkwürdiges Zeug … Die meisten Leute würden sich jetzt angewidert abwenden. Marvin hatte zwölf Jahre bei der Malteser Jugend verbracht und auf zahlreichen Events und Veranstaltungen den Sanitätsdienst begleitet. Er wusste, dass Leute in diesem Zustand dringend professionelle Hilfe benötigten – und aggressiv werden konnten, wenn man nicht aufpasste.
„Warum stellst du dich nicht dort an die Straßenlaterne?“, fragte er. „Du kannst dich da anlehnen und ein bisschen vom Rasen mähen ausruhen, hm? Ich telefoniere nur mal kurz mit Freunden.“ Die Polizei, dein Freund und Helfer …
Der junge Mann blickte ihn an. Die Augen wirkten riesig in dem schmalen Gesicht. Es schien nicht so, als hätte er Marvins Anweisung verstanden. Mit einer gehörigen Portion Überwindung legte Marvin ihm eine Hand auf die entblößte Schulter und schob ihn sanft in Richtung Laterne.
„Schön anlehnen!“, kommandierte er und zückte sein Handy. Er hatte keinen Empfang. Natürlich nicht, wäre ja auch zu einfach gewesen … Tief durchatmen.
Marvin war nach dem chronisch depressiven Roboter aus Douglas Adams‘ Meisterwerk „Per Anhalter durch die Galaxie“ benannt worden. Seine Eltern waren beide nerdige Sci-Fi-Fans. Sie wollten natürlich keinen depressiven Sohn. Roboter Marvins zweite Haupteigenschaft neben solch allumfassender Schwermut, dass er Computer in den Selbstmord treiben konnte, war seine mehr als überlegene Intelligenz. Tja. Ein Kind mit dem Gehirn von der Größe eines Planeten hatten seine Eltern nicht bekommen. Schwarzhumorigen Pessimismus konnte Marvin hingegen nicht abstreiten. Marmeladenbrote fielen eben grundsätzlich auf die leckere Seite und Handys hatten entweder keine Akkuleistung mehr oder keinen Empfang, wenn man sie wirklich, wirklich dringend benötigte.
„Rolex, bleib bei ihm!“, befahl er. Sein Hund hechelte ihn glücklich an. Jaaaa, Herrchen spricht mit mir! Die Welt ist schön! Golden Retriever waren wunderbare Tiere. Intelligent, treu und verschmust und dauerhappy und absolut nicht weiter anspruchsvoll, sofern man sie gut fütterte und lieb hatte. Auch Rolex war ein solch wundervoller Hund. Höhere Intelligenz suchte man hingegen vergeblich bei ihm. Dementsprechend lief ihm das liebenswert dumme Vieh sofort nach, als Marvin sich abwandte, um eine Stelle mit Handyempfang zu suchen.
„Bleib!“, befahl Marvin zwei Mal und wies auf den halbnackten Irren, der leise murmelnd die Laterne umrundete. Rolex setzte sich brav hin und folgte ihm sofort, sobald Marvin einen Schritt von ihm fortging.
Augenrollend gab er auf und zauste Rolex‘ Fell. Der winselte prompt vor Freude. Jaaaa! Herrchen liebt mich, ich habe alles richtig gemacht!
An der nächsten Straßenecke zeigte das Display Vollausschlag an. Marvin schwankte, ob er Polizei oder den Notruf anwählen sollte und entschied sich für Ersteres. Vielleicht war der Kerl gar nicht stoned von irgendwelchen Drogen, sondern aus einer Klinik ausgerückt. Die Beamten in Uniform würden sich darum kümmern. Und er würde hoffentlich heute Nacht noch ein kleines bisschen Schlaf zu ergattern. Morgen früh wartete schließlich seine Chefin darauf, dass er gute Arbeit leistete.
„Polizeinotruf“, drang es aus dem Lautsprecher.
„Ja … Hallo, ich rufe wegen …“ Marvin wandte sich um und stockte. Der Fremde war weg. Spurlos verschwunden. Die Laterne lag verwaist vor ihm. Unwillkürlich schaute er nach oben, als hätte Scotty den Junkie auf die Enterprise gebeamt und er könnte das Raumschiff noch davondüsen sehen.
„Hallo?“ Die Stimme am Telefon klang ungehalten.
„Äh …“
Verdammt! Wo war der Fremde hin? Marvin warf Rolex einen fragenden Blick zu. Der Retriever warf sich auf den Rücken und stellte sich tot.
„Ich habe mich verwählt“, murmelte Marvin ins Handy und drückte das Gespräch weg. Dann eilte er zur Laterne zurück, als hätte sich der Halbnackte dahinter versteckt. Aber so hager war er nun auch nicht gewesen.
„Rolex, such!“
Sein Hund sprang schwanzwedelnd auf und rannte sofort in den nächsten Garten. Hatte sich der Typ hinter der Hecke versteckt? Schon kam Rolex zurück und schleppte einen Gartenzwerg herbei. Okay, wenn sich der Fremde nicht gerade als Zwerg getarnt hatte, war Rolex als Spürhund ungeeignet.
„Bring den zurück, du Klappspaten!“
Rolex wedelte wild mit dem Schwanz. Wirf den Zwerg! Wirf den Zwerg!
Stattdessen schaute Marvin vorsichtig hinter die Hecke. Niemand zu sehen!
„Ach verdammt!“ Vorbei war es mit der geplanten Rückkehr unter die warme, behagliche Bettdecke. Er konnte einen verwirrten Kerl nicht weiter durch die Nacht wandern lassen. Drogenkonsum hin oder her. Marvin leinte Rolex an, stellte den Gartenzwerg an die Hecke und bemerkte, wie sich Rolex’ Rute enttäuscht senkte.
„Tut mir leid, mein Süßer. Wir werfen morgen wieder Stöckchen.“
Sofort ging das wilde Gewedel von vorne los. Mit Rolex bei Fuß lief Marvin die Straße entlang, spähte in Gärten und hinter Bäume. Schließlich überquerte er die Straße und begann das Ufer des Baches abzusuchen. Nicht auszudenken, wenn der Typ abgesoffen war. Sollte er abermals bei der Polizei anrufen? Müde blieb er stehen. Womöglich hatte er sich den Kerl mit der Bart Simpson-Boxer bloß eingebildet. Rasen mähen. Das konnte doch bloß einem schlaftrunkenen Hirn entspringen.
„Rolex, habe ich geträumt?“, fragte er und gähnte. Rolex umtanzte ihn und wickelte ihm dabei die Leine um die Beine.
„Mann! Huuuuuuhuuund!“ Genervt begann sich Marvin zu befreien, befahl Rolex sich hinzusetzen, und während der Retriever hechelte, suchte Marvin ein letztes Mal mit den Augen die Umgebung ab. Nichts. Entweder hatte er wirklich geträumt, die Enterprise passierte soeben den Mond oder der Fremde hatte einen Tarnumhang. Jedenfalls befand er sich mit Rolex allein auf weiter Flur. Achselzuckend wandte sich Marvin um und marschierte mit Rolex nach Hause. Selbstverständlich beglückte der drei weitere Bäume, als hätte er in dieser Nacht nicht oft genug das Bein gehoben.
Zehn Meter vom Bach entfernt lag Benno rücklings im Rapsfeld, die Arme ausgebreitet und wogende, gelbbetupfte Halme rings um ihn her.
„Ich mähe den Rasen“, sagte er ruhig in den Nachthimmel.
„Benno, das Käseregal muss noch aufgefüllt werden!“
Benno winkte zum Zeichen, dass er die Aufforderung gehört hatte. Er stapelte den letzten Karton mit Mehlpackungen in die Ecke, wo Backzubehör zu finden war, und schob den leeren Hubwagen ins Lager. Dort erwartete ihn bereits Anni.
„Schnell, schnell“, sagte sie. „Der Butterkäse will zum Kunden und der Schmelzkäse muss ebenfalls aufgefüllt werden. Danach kannst du eine rauchen und einen Becher Kaffee trinken.“ Sie deutete auf den Wasserkocher und das Glas mit dem löslichen Kaffee. Beides befand sich auf einem wackligen Hocker in einer Ecke des Lagers. Mehrere Becher mit Werbeaufdrucken umstanden diesen vorsintflutlichen Vorgänger eines Kaffeeautomaten, sogar unter dem Hocker hatte das Personal sie abgestellt. Einige waren angeschlagen, an anderen klebten Reste vom Lippenstift.
„Ich rauche nicht“, antwortete Benno.
„Aber den Kaffee scheinst du nötig zu haben. Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht durchgesumpft.“
Nein, er hatte nicht gesoffen. Lediglich an der Mineralwasserflasche genippt. Und trotzdem war er heute Morgen mit einer feuchten Schlafhose aufgewacht. Hineingepinkelt hatte er nicht. Das hatte er festgestellt, als er die Boxer ausgezogen und misstrauisch daran gerochen hatte. Wäre ja noch schöner, wenn er plötzlich zum Bettnässer mutierte. Außerdem waren seine Füße ganz dreckig gewesen und schmerzten, als wäre er barfüßig durch Blumenbeete und über Straßen gelaufen. Am großen Zeh hatte er sogar eine kleine Schnittwunde. Benno hatte keine Ahnung, wo er sich die geholt haben könnte. Normalerweise trug er draußen Schuhe.
„Benno! Der Käse! Beweg dein Klappergestell.“
Er war müde. Fast als hätte er tatsächlich die ganze Nacht gefeiert. Etwas, was er noch nie getan hatte. In der Schulzeit hatte er keine Freunde gehabt, die ihn zu Partys hätten einladen können.
Benno biss sich in den Knöchel des Zeigefingers. Eine Angewohnheit, die ihn von schlechten Erinnerungen und traurigen Gedanken abbringen sollte. Es hatte mehr als einen Tag gegeben, an dem er zubeißen musste, bis das Blut gelaufen war, denn ja: Schlechte Erinnerungen besaß er mehr als genug. Doch er wollte kein Selbstmitleid zulassen. Das war der sicherste Weg zurück in die Hölle. Jeder einzelne Obdachlose dort draußen trug ein schweres Paket an Schicksalsschlägen und Leid mit sich herum. Schicksal war es, was einen Menschen auf die Straße trieb. Selbstmitleid und zu große Schwäche, um kämpfen können, das waren die Gründe, warum man dort blieb.
Benno beeilte sich, die Pakete mit dem Käse aus der Kühlung zu holen und auf seinen Hubwagen zu laden. Ihm ging es gut. Er hatte alles, was er brauchte. In ein paar Wochen ging die Bewerbungszeit los. Dann würde er sich auf einen Ausbildungsplatz bewerben. Letztes Jahr hatte es nicht geklappt, seine Noten waren nicht überragend und seine Lücken im Lebenslauf leider nicht wegzulächeln. Aber jetzt konnte er zeigen, dass er hart arbeiten konnte, fleißig und pünktlich war und seine Jobs auch hielt. Als ausgebildeter Handwerker konnte er sich ein Leben aufbauen. Eine Zukunft. Falls das nicht klappte, nun, er wollte sich auch in diesem Laden für die Verkäuferausbildung bewerben. Hier kannte man ihn schon. Es würde funktionieren. Es musste funktionieren.
Benno füllte die Käsetheke auf. Das hielt die Finger beschäftigt und er musste sich nicht auf die Knöchel beißen.
„Und jetzt noch einmal: pusten, pusten, pusten!“, kommandierte Marvin. Er lächelte über den Stolz, den die kleine Arianna an den Tag legte. Gerade war es der Vierjährigen zum ersten Mal gelungen, den Wattebausch wie gewünscht mithilfe eines Strohhalms über die Tischkante zu pusten. Was nach lustigem Spiel aussah, war in Wirklichkeit hartes Training. Marvin war Logopäde, wodurch er mit sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern und sämtlichen Altersklassen von drei bis über neunzig zu tun hatte. Arianna war ein recht klassischer Fall. Bei Eintritt in den Kindergarten war sie praktisch ununterbrochen krank geworden, mit zahlreichen Mittelohrentzündungen. Durch das fehlerhafte Hören hatte sie sich eine ebenso fehlerhafte Aussprache angeeignet, zudem leierte sie die Worte, was durch eine motorische Schwäche der Lippen- und Gaumenmuskulatur verursacht wurde. Genau diese Muskeln wurden beim Wattebauschpusten ganz wunderbar trainiert. Arianna wusste nicht wirklich, dass sie zur Sprachtherapie herkam. Bei solch kleinen Kindern lief alles spielerisch und mit viel Bewegung ab.
„So, junge Dame“, sagte er. „Du wirst gleich von der Mama geholt. Nimm den Strohhalm mit und beim nächsten Mal bekomme ich ein Wattebauschbild von dir, ja?“
„Jaaa!“, rief sie begeistert und klatschte bei ihm ab wie ein Profi. Wie ein kleiner Gnom hüpfte sie durch das Zimmer und schreckte dabei Rolex auf. Der durfte als Therapiehund mit in die Praxis. Ausgebildet war er nicht – vorsichtige Tests in diese Richtung hatten gezeigt, dass Rolex nicht einmal ansatzweise die notwendige Intelligenz besaß, um vernünftig geschult werden zu können. Doch seine Anwesenheit als solche wirkte sich sehr positiv auf die Patienten aus. Egal ob jung oder alt, wer nicht gerade hochallergisch auf Hunde reagierte oder panische Angstzustände vor sämtlichen Vierbeinern entwickelt hatte, fühlte sich in Rolex‘ Gegenwart entspannter. Allergiker mussten sich eine andere Praxis suchen und Phobiker … Nun, schon so manch einen von dieser Sorte hatte Rolex auch bei solchen Problemen helfen können. Dieses liebeswerte, treudoofe Vieh sah nicht nur aus wie ein laufender Teddybär, er benahm sich auch so.
Marvin verabschiedete sich von Arianna und erklärte rasch der Mutter, wie sie mit der Kleinen mittels Klebestift Punkte und Streifen auf einem Malblock vorbereiten und die Watte zielgerecht draufpusten sollte, um so Landschaften entstehen zu lassen.
Rasch tipperte er den Verlaufsbericht in den Computer, als es klopfte und Ulrike den Kopf durch die Tür steckte.
„Wie sieht’s bei dir aus?“, fragte sie. Marvin musterte seine Chefin. Sie war Ende Vierzig und leitete diese Gemeinschaftspraxis als Ergotherapeutin, gemeinsam mit ihrer Schwester Gerlinde, die ebenfalls Ergotherapeutin war. Zum Team gehörten noch Nico, der Krankengymnast, Saskia, die Physiotherapeutin, und eben Marvin als Logopäde. Da sie sich in der Nähe des Kreiskrankenhauses befanden, brauchten sie sich über einen Mangel an Patienten keine Sorgen zu machen.
„Hm – du bringst keinen Kaffee mit. Also willst du nicht, dass ich schwere Dinge für dich hebe. In diesem Fall geht es mir gut und ich bin zufrieden mit dem Tag“, erwiderte er.
„Du kannst solch ein Schätzchen sein“, brummte Ulrike. „Ich wollte dir mitteilen, dass Frau Förster ihren Termin abgesagt hat.“
„Welch ein Jammer! Jetzt werde ich den ganzen Tag weinen müssen. Hast du gehört, Rolex? Keine Frau Förster heute.“ Die Dame war über siebzig und extrem anstrengend. Sie hasste Hunde. Sobald sie kam, musste der arme Rolex in den Garten hinaus, egal ob es regnete, stürmte oder schneite. Außerdem war sie herrisch und ungeduldig und gab Marvin die Schuld dafür, dass ihr Stottern auch nach zwei Monaten Logopädie noch nicht fortgezaubert war. Dieses Problem plagte sie, seit sie eine leichte Hirnblutung erlitten hatte. Bei ihrer Ungeduld war es wahrscheinlich, dass sie auch nächstes Jahr noch stottern würde. Zumal sie jeden zweiten Termin kurzfristig absagte.
„Ich habe deine restlichen Patienten umverteilt. Dadurch hast du bereits jetzt Mittagspause, kannst dafür aber schon um 17.00 Uhr nach Hause. Was sagst du?“
„Na, danke sag ich! Rolex, hoch mit deinem pelzigen Hintern! Wir sind raus.“
Sein Hund sprang sofort auf und rannte wuffend zur Tür. Marvin schnappte sich lachend seine Jacke – draußen nieselte es leicht – und folgte ihm. Wenig später befanden sie sich auf der Straße.
Baum: Bein heben.
Laterne: Pieseln.
Litfaßsäule: Erst schnüffeln, dann pullern.
Parkuhr: Daranpinkeln.
Marvin verdrehte die Augen, Rolex schwebte im siebten Himmel. Ein vorbeilaufender Spitz kläffte ihn wütend an, doch Rolex wedelte bloß freundlich mit dem Schwanz. Eines Tages würde ihm die Rute sicherlich abfallen. Sie gingen am Krankenhaus vorbei. In der Einfahrt für die Rettungswagen parkte wieder einmal ein PKW irgendeines Besuchers oder Angehörigen. Der nächste RTW mit einem Notfall an Bord würde sich freuen. Marvin wanderte an dem großen Parkplatz der Klinik und an den ersten Geschäften vorbei. Einen Moment musste er auf Rolex warten, der um eine Colliehündin herumscharwenzelte. Plötzlich wurde aus dem Nieseln ein Wolkenbruch und Marvin flüchtete sich unter das Vordach eines Supermarktes. Rolex ließ die Colliedame stehen und trabte zu ihm. Leckerli! Leckerli! Winselnd starrte er in das Geschäft. Rolex mochte die Intelligenz eines Meters Feldweg haben, aber er wusste genau, woher sein Belohnungsfutter kam. Marvin zögerte, dann zuckte er mit den Schultern. Warum eigentlich nicht? Er könnte sich eine Packung Kekse kaufen und für diesen pelzigen Teddybär ein paar Kausticks besorgen. Immerhin hatte Rolex heute ganz herzig den kleinen Oliver getröstet, der entsetzlich lispelte und in der Grundschule dafür täglich ausgelacht wurde. Seine Mitschüler trieben es so arg mit ihm, dass er sich inzwischen weigerte, überhaupt etwas zu sagen und in jämmerliches Schluchzen ausbrach, wenn man ihn dazu aufforderte. Tränen wiederum trieben Rolex zur Verzweiflung. Er konnte Menschen einfach nicht weinen sehen und setzte alles daran, um sie zu beruhigen.
„Guter Hund“, murmelte Marvin unwillkürlich bei der Erinnerung und Rolex grinste ihn mit seinem Hundegrinsen an. Hast mich lieb, ja? Hast mich lieb? Es wurde gewedelt und gewedelt und gewedelt ...
„Sitz.“
Rolex setzte sich brav, schließlich war er ein wohlerzogener Hund.
„Ich gehe da jetzt rein und kaufe uns etwas Leckeres. Bist du einverstanden?“
„Wuff!“
Ein klares Statement.
„Lauf nicht weg.“
Nicht ohne Leckerlis. Nicht ohne Leckerlis.
Marvin schüttelte lächelnd den Kopf und betrat den Supermarkt. Viel los war nicht. Ein paar jüngere Leute schienen genau wie er die Mittagspause für einen kurzen Einkauf zu nutzen. Wahrscheinlich wurde hier auch noch schnell ein Mitbringsel für einen unglücklichen Klinikpatienten eingeholt. Im Eingangsbereich gab es scheinbar für genau diesen Zweck eine großzügige Auswahl an Blumensträußen in Folienverpackung, wie man sie ebenfalls an Tankstellen finden konnte. Zielstrebig suchte Marvin das Regal mit den Süßigkeiten auf, da stieß er mit einem Marktmitarbeiter zusammen, der einen Hubwagen hinter sich herzog.
„Entsch...“, begann Marvin, brach allerdings überrascht ab. Er kannte den Typ doch?
„Tut mir leid.“ Der andere vollführte eine einladende Geste, die besagte, dass er Marvin den Vortritt gab.
„Wohin sind Sie gestern Nacht denn so spurlos verschwunden?“, brach es aus Marvin heraus.
Der junge Mann vor ihm sah ihn verwirrt an. Heute trug er eine Beanie, was ihn verdammt jung aussehen ließ.
„Wie meinen?“
„Mussten Sie etwa noch einen Rasen mähen?“ Marvin lächelte, wurde aber schnell ernst, da ihn sein Gegenüber nun mit zusammengezogenen Brauen anstarrte.
„Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen. Bestimmt verwechseln Sie mich.“ Er zog den Hubwagen an Marvin vorbei und verschwand mit dem Ding im Lager. Verwechselt? Nie und nimmer. Das hagere Gesicht hatte er sich gemerkt. Außerdem war er schon seit jeher gut darin gewesen, sich Menschen einzuprägen, die ihm begegnet waren. Dafür konnte er sich kaum eine Telefonnummer merken.
„Ich bin ja nicht blöd“, brummelte er und ging zu der weißen Tür hinüber, hinter der der Irre von gestern Nacht verschwunden war. Heftig klopfte er dagegen, sie einfach zu öffnen und hineinzugehen traute er sich nicht. Tatsächlich wurde ihm aufgemacht. Eine wahre Walküre stand ihm gegenüber, breite Schultern, mächtige Oberarme, wogender Busen, Kurzhaarschnitt und Doppelkinn.
„Ja?“ Ihre Stimme war schroff, ihr Blick dagegen nicht ganz so ablehnend.
„Der junge Mann, der eben hier hinein ist ...“
„Benno?“
„Ja. Ja, so heißt er wohl. Dürfte ich ihn kurz sprechen?“
„Der ist gerade zur Hintertür raus. Wurde auch Zeit. Hat eh schon Überstunden gemacht. Die bekommt er nämlich nicht bezahlt. Kann ich womöglich helfen?“
Marvin überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. Was ging ihn der Fremde an? „Nein, danke.“
„Dann nicht.“ Die Walküre fletschte die Zähne, was wohl ein Lächeln darstellen sollte, und schloss die Tür. Marvin konnte das Scharren von Kartons vernehmen, das durch das Türblatt drang. Dieser Benno musste ja wie der Blitz auf und davon sein. Er war ihm doch gleich hinterhergelaufen.
Du hast ihm einen echt blöden Spruch vor den Latz geknallt, Marvin. Rasen mähen. Wenn der auf Drogen war, kann er sich vielleicht gar nicht daran erinnern. Dafür solltest du an die Leckerlis denken. Und an die Kekse. Die Pause ist eh gleich um. Marvin wandte sich den Süßigkeiten zu.
Benno trat wie wild in die Pedale. Rasen mähen! Der Satz war zum rechten Zeitpunkt gekommen, denn beinahe hätte er den Termin bei Frau Förster verschwitzt. Die alte Dame hatte im Supermarkt einen Aushang am Schwarzen Brett gemacht und jemanden zum Rasen mähen gesucht. Er hatte sich gemeldet und als einziger Bewerber den Job bekommen. Dummerweise war ausgerechnet heute im Supermarkt viel zu tun gewesen, da ein Kollege ausgefallen war.
Fünfzehn Minuten später klingelte er bei der alten Dame, die mit saurer Miene die Tür einen Spalt weit öffnete.
„Guten Tag ... Rasen mähen ... Benno Klocke ...“, keuchte er, weil er sich so beeilt hatte.
„S-Sie k-k-k-kommen s-s-spät.“
Benno rang nach Luft. „Tut mir leid. Ich lege sofort los, okay? Wo steht der Rasenmäher?“
Frau Förster öffnete die Tür weiter, damit er eintreten konnte. Sie trug eine hellblaue Küchenschürze mit blütenweißen Spitzen. Altersflecke überzogen ihre Handrücken und sie hatte einen Mehlstreifen quer über dem Arm, von dem die Haut schlaff herabhing.
„Ich b-b-bin g-g-gerade am K-k-k-kuchenbacken“, erklärte sie und rieb sich das Mehl von der Haut. Offenbar hatte sie seinen Blick in diese Richtung bemerkt. Gleich darauf wedelte sie in Richtung Wohnzimmer und Terrasse. „Einmal d-d-durch.“
Benno nickte, trat sich ordentlich die Füße an der Fußmatte vor der Tür ab und eilte in die Richtung, die die alte Frau ihm gezeigt hatte. Vor der Terrasse stand einsatzbereit der Rasenmäher. Daneben lag ein Kantentrimmer. Benno warf einen Blick auf die billige Uhr an seinem Handgelenk. Es war gleich 14.00 Uhr und die Rasenfläche größer als erwartet. Wenn er auch noch die Kanten bearbeiten sollte, musste er sich ranhalten, ansonsten würde er zu spät zu seinem nächsten Job kommen. Und es war wichtig, dass die Lebensmittel pünktlich zur Tafel gefahren wurden. Von wegen Einhalten der Kühlkette und so. Sein Magen knurrte. Lautstark. Frau Förster, die hinter ihm stand, konnte es kaum entgangen sein. Er schaute sie verlegen an und lächelte entschuldigend. Frau Förster lächelte nicht zurück. Großgewachsen und dürr ragte sie vor ihm auf und strich mit einer Hand die ohnehin glatte Schürze noch glatter. Hastig schnappte er sich den Rasenmäher und warf ihn an. Je eher er anfing, desto schneller würde er fertig sein. Und den Hunger vergaß er bestimmt über die Arbeit. Zumindest übertönte der Rasenmäher seinen grummelnden Bauch.
Zweieinhalb Stunden später war er schweißgebadet, der Rasen sauber gemäht und die Kanten gestutzt. Frau Förster drückte ihm die vereinbarten zehn Euro in die Hand.
„Ich b-b-brauche Hilfe b-b-beim Unk-k-krautjäten“, stotterte sie und deutete auf die Beete. Benno wischte sich über die Stirn. Ihm war schwindlig und er fühlte sich völlig unterzuckert. Das kam davon, wenn man den ganzen Tag nichts aß oder trank.
„Morgen, gleiche Zeit“, versprach er. Schließlich konnte er jeden Cent gebrauchen. Frau Förster nahm ihn am Arm und führte ihn in ihre Küche. Dort stand ein großes Glas Milch und ein Teller für ihn bereit, auf den sie ein gewaltiges Stück Marmorkuchen legte, den sie frisch gebacken und dessen Duft Benno während der Arbeit begleitet hatte. Beinahe wäre er in Tränen ausgebrochen und er hatte Mühe, den Kuchen nicht wie ein Neandertaler einfach in den Mund zu stopfen. Schade, dass er nicht die Hälfte einpacken und mitnehmen konnte. Zusammen mit den beiden restlichen Wienern von Olga hätte er schon wieder eine richtige Mahlzeit für heute Abend gehabt. Himmel! Der Kuchen war göttlich. Die alte Dame stand an der Spüle und säuberte dort die Kuchenform. Ihre Mundwinkel waren minimal nach oben verzogen. Es freute sie also, dass es ihm schmeckte.
„Sie können erstklassig backen“, lobte er. Lob war wie warmer Sommerregen, jeder freute sich über ein bisschen Anerkennung, egal wer sie aussprach. Das wusste er aus Erfahrung. Lob ließ einen die harte Arbeit, die Mühen und Plackereien vergessen. Lediglich das Ergebnis zählte und der Stolz, den man empfand, dass der eigene Hände Werk Gnade in den Augen anderer fand. Tatsächlich wanderten Frau Försters Mundwinkel noch ein Stückchen höher.
„Ich k-k-koche g-g-g-gern“, gestand sie.
„Man schmeckt Ihre Liebe zum Backen regelrecht heraus.“ Benno spülte mit Milch nach. Herrgott! Das hatte er gebraucht. Das hässliche Flimmern vor seinen Augen ließ endlich nach. Nicht auszudenken, wenn er vor Schwäche umfiel, weil sein Kreislauf nicht mehr wollte. Aber er brauchte neue Schuhe. In seinen Sohlen befanden sich bereits zwei Löcher und ein Schnürsenkel war auch schon gerissen, sodass er ihn hatte zusammenknoten müssen. Er checkte wieder die Uhrzeit. Es wurde knapp, er musste weiter. Zum Glück hatte er damals, als er sich noch im betreuten Wohnen befunden hatte, den Führerschein gemacht. Die Leute vom Jugendamt wollten ihm damit einen anständigen Start ins Berufsleben ermöglichen. Vielleicht wäre ja alles wirklich positiv und nach Plan verlaufen. Eine Ausbildung machen, in einen guten Job hineinrutschen, tolle Wohnung, Freunde, die zu ihm hielten. Wäre da nicht einer seiner Schicksalsgenossen gewesen, der diese schöne Zukunftsmusik mit einem Paukenschlag unterbrochen hatte. Armin. Armin, der ebenfalls im Heim und später im betreuten Wohnen untergebracht gewesen war. Benno hielt inne. Dieser Name war wie ein Wirbel, der Treibgut in dem dunklen See seiner Seele ans Ufer zu spülen drohte. Er hatte schlimme Erinnerungen angesammelt, keine Frage. Erinnerungen, die er unter Kontrolle hatte, indem er auf seinen Fingerknöcheln herumkaute wie ein Hund auf dem Lieblingsknochen. Gefährlicher war das Nichts. Dieses tiefe schwarze Loch in ihm. Er hatte mehrere Monate seines Lebens verloren. Keine echte Amnesie, sondern vollständige Verdrängung. Benno wusste nicht mehr, wann er auf der Straße gelandet war. Welche Umstände genau dazu geführt hatten. Das Treibgut an verwischten Bildern, Stimmen, Gedanken und Sinneswahrnehmungen, das Armins Name gelegentlich ans Ufer spülte … Es sagte ihm, dass er sich besser niemals wieder erinnern sollte. Armin hatte ihm vieles geraubt. Das lag in der Vergangenheit, Benno kämpfte sich gerade wieder nach oben. Dorthin, wo eine gesicherte Zukunft und ein anständiges Leben auf ihn warteten.
Armin. Es hatte mit einem Kuss begonnen, so viel wusste Benno noch.
„I-ich p-p-p… packe ei-ein Stück ei-ein“, sagte Frau Förster in diesem Moment und brachte ihn zurück in die Gegenwart.
„Das ist unglaublich lieb von Ihnen, danke“, erwiderte Benno und lächelte. Sie erwiderte diese Geste auch diesmal nicht. Aber sie gab ihm ein Stück Kuchen mit, was mindestens genauso viel wert war.
„Wir sehen uns dann morgen wieder. Ich muss jetzt leider los.“ Er verabschiedete sich winkend von der alten Dame. Sie war spürbar einsam, vermutlich, weil sie wirklich heftig stotterte. Benno freute sich bereits auf morgen, und das nicht nur wegen des Geldes, das er dafür bekommen würde.
Marvin öffnete die Tür seiner gemütlichen Dreizimmerwohnung. Ihm war sofort klar, dass er sie nicht leer vorfinden würde, da nicht abgeschlossen war. Er pflegte eine kleine Paranoia und kontrollierte sich stets, ob er es den Einbrechern tatsächlich so schwer wie irgendwie möglich machte. Da nur seine Eltern einen Schlüssel besaßen, hatte er offenbar hohen Besuch.
„Rolex? Eine Meinung dazu?“, fragte er seinen Hund, der sich nicht anmerken ließ, ob sich zusätzliche Personen in dieser Wohnung befanden. Rolex hechelte glücklich und stieß mit der Nase gegen Marvins Tasche. Dorthin, wo die leckeren Kausticks warteten.
Natürlich hab ich eine Meinung, Herrchen! Leckerli, viel mehr Leckerlis! Ich hab dich schließlich lieb!
Marvin tätschelte ihm den Kopf, hängte die Jacke ordentlich an den Haken und stellte die Schuhe ins Regal. Er war nicht unbedingt fanatisch, was Ordnung und Sauberkeit betraf, wichtig war es ihm schon. Es mochte damit zu tun haben, dass seine Eltern überhaupt keinen Sinn für solche Dinge besaßen. Messis waren sie nicht, sie bemerkten bloß nie, dass sich ihr Haus in desaströsem Zustand befand. Irgendjemand musste sie in unregelmäßigen Abständen darauf aufmerksam machen und dieser Jemand war nun einmal er. Seine kleine Schwester hatte leider diese Art von Ignoranz geerbt, sie war genauso verplant, chaotisch und absolut liebenswert wie ihre Eltern.
„Mama?“, rief er, da er weiterhin nichts hörte.
„Auf dem Balkon!“
Das war das Stichwort für Rolex – er hatte endlich kapiert, dass sie Besuch hatten. Sofort raste er los, um die Eindringlinge freudestrahlend zu begrüßen. Er würde auch Einbrecher auf diese Weise begrüßen, da machte Marvin sich keine Illusionen. Trotzdem freute er sich, wie glücklich und lebenszufrieden sein Hund war.
„Hey, du dickes Riesenbaby! Hallo Rolex! Jaaaa, du bist ein armer Hund, du wurdest seit hundert Jahren nicht mehr gestreichelt, hm? Keiner hier, der dir so richtig die Ohren krault. Was für ein Glück, dass ich jetzt hier bin. Solch ein Glück, Glück, Glück!“
Marvin betrat den Balkon und beobachtete seine Mutter, die auf dem Boden kauerte, um Rolex verwöhnen zu können. Sie hatte anfangs die Nase gerümpft, als Marvin davon sprach, sich einen Golden Retriever zulegen zu wollen.
„Ausgerechnet Retriever! Völlig überzüchtet, die sind doch alle krank und sterben nach sechs Jahren an Krebs und was weiß ich! Leg dir lieber einen Mischling zu, die sind kerngesund und genauso schön.“
Absolut reinrassig war Rolex nicht, sein Großvater war ein Labrador, der sich frech in den Stammbaum gemischt hatte. Weil im Ergebnis fitte, starke Nachkommen mit hervorragenden Charaktereigenschaften herausgekommen waren, die in zweiter Generation trotzdem wie Golden Retriever mit dem typischen lang-plüschigem Fell und der beinahe fedrigen Rute aussahen, hatte der Züchter diese Seitenlinie beibehalten. Die Tiere waren für einen Bruchteil des normalen Preises und ohne Zuchtpapiere zu haben, was allerdings nicht der Grund war, warum Marvin sich für diese Möglichkeit entschieden hatte. Rolex hatte sein Herz sofort erobert, und das von seinen Eltern gleich mit.
Er bediente sich an dem Früchtetee, den seine Mutter sich aufgebrüht hatte, und beobachtete sie. Völlig unbekümmert rollte sie sich mit Rolex über den Balkon. Sie war groß, rund, absolut unsportlich und stolz darauf. So etwas wie eine Frisur besaß sie nicht, sie ließ das hellblonde Haar, das sie gemeinsam mit den graublauen Augen ihren beiden Kindern vererbt hatte, einfach wild wachsen und bändigte es in einem Zopf. Auf Mode legte sie auch keinen gesteigerten Wert. Seit er sich erinnern konnte, hatte sie noch nie etwas anderes als Blue Jeans mit albernen Sprüche-T-Shirts getragen. Die maximale Ausnahme waren Shirts mit Fantasybildern. Sollte sie jemals ein schickes Kostüm oder gar High Heels statt Sneakers tragen, würde Marvin sofort wissen, dass Aliens gelandet waren und den Körper seiner Mama übernommen hatten. Heute trug sie ihr Lieblingsoberteil, auf dem zu lesen war: „In meiner Traumwelt sind Bücher kostenlos, Schokolade auf Rezept erhältlich und Lesen macht schlank.“
„Alles klar daheim?“, fragte Marvin, als sie sich mit hochrotem Kopf in die Höhe stemmte und auf der Bank Platz nahm, die so perfekt in die Balkonnische hineinpasste.
„Natürlich. Ich bin nur hier, weil ich Sehnsucht nach diesem wandelnden Knuffel hatte. Und weil ich keinen Tee mehr daheim habe. Ach ja, und weil ich neue T-Shirts bestellen will und fragen wollte, ob du auch was brauchst.“ Sie lächelte leicht verstrahlt und zauste dabei Rolex‘ Fell.
„Mama.“ Marvin seufzte tief. „Ich bin siebenundzwanzig, nicht sieben. Ulkige Lügen und liebliches Lächeln ziehen bei mir nicht mehr, okay? Also, warum ist Papa nicht mitgekommen und was genau ist los?“
„Ach Schatzibärchen.“ Sie vergrub ihr Gesicht im Hundefell. Wenn sie ihn Schatzibärchen nannte, herrschte Alarmstufe rot. Mindestens. Marvin stellte die Teetasse ab und setzte sich neben sie auf die Bank.
„Okay. Wie schlimm ist es?“, fragte er nüchtern. „Hat Papa Krebs? Ist was mit Elly?“ Seine Schwester. Ellena Louise Engels. Schön deutsch ausgesprochene Vornamen. Dass sie insgeheim nach Ellen Louise Ripley benannt war, jener schießwütigen Amazone aus Alien, war ein interner Familienscherz. Kein besonders lustiger, wenn man ihn zu häufig gehört hatte. Elly war drei Jahre jünger als er und hatte es trotz ihrer immensen Verpeiltheit geschafft, die Erzieherinnenausbildung abzuschließen. An Selbstreproduktion oder gar Heirat dachte sie bislang nicht, aber selbst wenn, wäre das keine Katastrophe mehr, oder?
„Keiner stirbt, Marvin. Jedenfalls nicht jetzt und voraussichtlich nicht heute. Und deiner Schwester geht es blendend. Glaube ich. Sie hat mich vorhin angerufen und wusste nicht mehr, was sie von mir wollte.“
„Das ist Normalzustand. Mama, hör auf, um den heißen Brei herumzureden!