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Auf Atlantis kämpft Dante nicht nur gegen Dämonen, sondern auch mit sich selbst. Ein blutiger Vorfall erfordert seine volle Aufmerksamkeit und zwingt ihn zum Handeln.
Eine Zeit voller Sehnsucht liegt hinter Sara. Eine Zeit in der sie beinahe zerbrochen wäre. Kein Wunder, dass sie an ihrem Verstand zweifelt, wenn sie noch dazu seit Monaten von merkwürdigen Träumen geplagt wird. Sie wird eine Entscheidung treffen müssen, die ihr Schicksal und das von Atlantis bestimmen wird.
Die Wächter der Unterwelt Reihe geht spannend und gefühlvoll in die zweite Runde.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Sandra Todorovic
Wächter der Unterwelt
Das Erbe des Königs
Roman
Band 2
Für meine Söhne
© 2019 Sandra Todorovic
2024 Neuauflage
Korrektorat: Gabriela Ince
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN: 978-3-7583-6675-8
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Ewig dein
Ewig mein
Ewig uns
Beethoven
Prolog
Sara
Er hatte mich zurückgelassen. Dante war allein nach Atlantis gereist. Eine Nacht, die noch immer in meinem Kopf war. Die Nacht, in der ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, in der ich ihn zum letzten Mal geküsst und seine Wärme gespürt hatte. Monat um Monat hatte ich gehofft, er würde zurückkehren. Doch mit jedem Tag, der verstrich, wurde diese Hoffnung weniger. Ich gewöhnte mich an die Leere in mir. Ich war die Prinzessin von Atlantis und dennoch, hatten sie mich auf der Erde gelassen. Ohne die Zustimmung von Cohen, hätte Dante es niemals durchziehen können. Der Rat wollte keine Prinzessin, keine Königin. Nach all der Zeit fragte ich mich, wollte ich es denn? Wollte ich eine Prinzessin sein, eine Königin? Was würde ich tun, wenn sie mich bitten mitzukommen? So viele offene Fragen und niemanden, mit dem ich meine Gedanken teilen konnte. Keira hatte jegliche Erinnerung an die Ereignisse in Rom vergessen. So viel Zeit war vergangen und ich liebte ihn noch immer. Wann würde ich aufhören, mich nach ihm zu sehnen?
Kapitel 1
Dante
»Bist du sicher, mein Sohn?«, fragte mich Vater.
»Das ist das Beste für sie. Der Rat ist einverstanden.«
»Der Rat hat seine eigenen Ziele. Ich hoffe, du hast es bedacht.«
»Es ist nicht für immer.«
Er legte mir die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Dann brechen wir auf, nach Hause. Unser Anwalt hat genaue Anweisungen erhalten, wie er vorgehen muss.«
Josh holte einen Reisekristall heraus. »Ich möchte klarstellen, Sara hier zulassen, ist das Dümmste, was diese Familie je getan hat.«
»Das hast du schon zum Ausdruck gebracht«, sagte ich.
»Und trotzdem hältst du daran fest.«
»Ja, Bruder.«
Einen kurzen Augenblick starrten wir uns an, dann hob er die Hand und der Kristall strahlte. Das Tor öffnete sich. Wir waren pünktlich, wie mit dem Rat vereinbart. Jeder hatte ein Zeitfenster erhalten.
»Seid auf alles gefasst«, warnte uns Vater.
Mit gezogenen Schwertern und in voller Kampfmontur durchquerten wir das Tor nach Atlantis. Wir traten in die Dunkelheit. Um uns herum Düsternis. Die Luft schien kühler, als in meiner Erinnerung.
»Was zum Teufel«, flüsterte Eleanor, während sie sich umsah. »Es ist alles zerstört.«
Geschockt über den Zustand von Atla, entging uns beinahe die Ankunft weiterer Atlanen. Immer mehr kamen durch das Tor, in der Hoffnung, ihre Freiheit wiederzuerlangen. Aber alles, was wir hier vorgefunden hatten, war Verwüstung. Natürlich hatten wir nicht erwartet, dass alles noch stand und so aussah wie vor unserer Flucht. Doch das Ausmaß war erschütternd. Es dämpfte die Freude über die Rückkehr. Unsere Heimat schien gefallen, wie das alte Rom. Ruinen wohin das Auge reichte. Von der einst prächtigen Stadt Atla war kaum etwas übrig. Keine hohen Türme, umgestürzte Säulen, ausgetrocknete Flüsse, der Glanz war verflogen.
»Hier können wir nicht bleiben«, stellte meine Mutter fest.
»Warten wir ab, welchen Plan der Rat hat«, entgegnete Vater.
Einige Minuten vergingen, da tauchte der Rat auf. Sie stellten sich auf eine Anhöhe.
Cohen begann. »Ich weiß, noch sind nicht alle Atlanen hier. Aber Tag für Tag werden es mehr werden. So wie hier, sieht es auf der ganzen Insel aus. Keine Stadt steht noch. Die Erschaffer haben versucht, es wieder aufzubauen, aber ohne Erfolg. Atlantis wehrt sich dagegen. Wir haben beschlossen, dass wir stattdessen eine Bunkeranlage erbauen lassen. Sie haben schon damit begonnen, dennoch werden sie etwas Zeit benötigen, da es viel Energie braucht, etwas derart Großes entstehen zu lassen.«
»Und was sollen wir so lange machen?«, fragte jemand aus der Menge.
Doch bevor Cohen antworten konnte, ertönten Schreie hinter uns. Ruckartig drehten wir uns um. Dämonen griffen an. Von allen Seiten stürmten sie auf uns zu. Wir hatten keine Zeit mehr, um in die Welt der Menschen zu fliehen. Wir mussten kämpfen.
Vater ließ augenblicklich vier Dämonen erstarren, welche sich auf Nathan stürzen wollten, dieser drehte sich und tötete alle vier. Die Asche verflog mit dem Wind. Leider war es Vater nicht möglich, alle bewegungslos zu machen. Wenn ich meine Zeitgabe besser im Griff hätte, könnte ich es, aber diese war bei mir so fragil.
Ich stürzte mich in die Menge und beförderte so viele Dämonen wie ich konnte in die Unterwelt zurück. Der Strom an verlorenen Seelen brach nicht ab. Es fühlte sich an, als würde für jeden, den wir zu Asche werden ließen, zwei zurückkehren. Nath schleuderte Brocken von einem Gebäude gegen mehrere Dämonen. Das hielt sie aber nur kurz auf. Nach wenigen Sekunden hatten sie sich wieder erholt und es ging weiter.
Eleanor erhob sich in die Luft. »Lauft«, rief sie.
Wir rannten ins Innere von Atla. Aber wo sollten hunderte von Atlanen sich verstecken? Kein Platz war sicher. Ich drehte mich um und sah, wie die Dämonen in Stücke zerrissen wurden. Eleanor war ausgesprochen mächtig.
Madison und eine weitere Elementar Wächterin unterstützten sie. Blitze schlugen auf die Dämonen ein, was sie vorübergehend aufhielt. Nur das Schwert konnte sie töten.
»Wir sollten kämpfen«, sagte einer der Wächter.
»Dann sterben wir alle. Es sind zu viele«, entgegnete ein anderer.
»Das spielt keine Rolle«, sagte ich und blieb stehen. »Wir können nicht entkommen.«
Vor uns eine Horde Dämonen und überall wohin wir sahen, blickten uns schwarze Augen entgegen. Eine Schlacht in diesem Ausmaß hatten wir noch nie. Wir kämpften, ohne eine Pause zum durchatmen. Erschöpfung machte sich langsam bei mir bemerkbar.
Meine Mutter war direkt neben mir, als ein lauter Schrei aus ihrer Kehle mich aufschrak. Ich schaute zu ihr. Ein Dämon mit einem Wächterschwert hatte sie von hinten erstochen. Die Hälfte davon ragte aus ihr heraus. Für einen Augenblick konnte ich mich nicht bewegen. Mein Gehirn war nicht in der Lage das Bild vor mir zu verarbeiten.
»Mutter«, rief ich aus dem Inneren meiner Seele.
Er zog das Schwert aus ihrem Körper und sie sank blutend zu Boden. Ein Wächter schlug dem Dämon den Kopf von den Schultern. Sofort war ich an ihrer Seite und hielt sie fest. Zitternd legte ich meine Hand auf die ihren, welche sie auf ihre Wunde drückte. Das Blut war überall. Sie versuchte zu sprechen, aber auch aus ihrem Mund kam Blut. Ich war verzweifelt, verloren. Wusste nicht, was ich tun sollte, denn es gab keine Heilung für die Wunde eines Wächterschwerts. Meine Gabe war nicht von Nutzen. In diesem einen Augenblick, in dem ich sie so sehr vonnöten hatte, war sie unbrauchbar. Meine Mutter starb und ich war hilflos.
»Allegra.« Mein Vater kniete sich neben uns, während der Kampf um uns immer noch tobte. »Mein Schatz.« Er legte seine Hände an ihr Gesicht und weinte.
»Ich liebe dich«, kam stotternd über ihre Lippen.
»Ich dich auch. Auf ewig. Du kannst loslassen.« Er küsste sie auf die Stirn. »Dein Kampf ist vorbei.«
Meine Mutter schloss ihre Augen und ich fühlte, wie das Leben aus ihr wich. Ich weinte, während die Schreie meines Volkes durch mich hindurchgingen.
Wie sollten wir das überleben? Hier und jetzt waren wir dem Tod geweiht.
Mein Vater lehnte sich vor und legte seine Stirn auf ihre Brust. Ich war nicht in der Lage aufzustehen.
»Folgt mir«, rief Leonas. »In den Bunker.«
Mein Vater bewegte sich nicht.
»Wir müssen gehen«, sagte ich mit gebrochener Stimme. »Sonst liegen wir neben ihr.«
»Ich kann sie nicht hier lassen.«
»Wir nehmen sie mit.«
Vater hob den Körper meiner Mutter in seine Arme und richtete sich auf.
So schnell es uns möglich war, folgten wir den Anderen. Ich ging voran und wehrte jeden Dämon ab, der sich uns in den Weg stellte. Wenn Dämonen bluten würden, wäre ich getränkt davon. Mein Vater war direkt hinter mir. Ich funktionierte, obwohl meine Gefühle sich überschlugen. Die Erinnerungen der getöteten Dämonen durchfluteten meinen Kopf. Es waren so viele von ihnen, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
Als wir den Eingang erreicht hatten, war ich erleichtert und betrübt zugleich. Meine Mutter war tot und dieser Schmerz war unbeschreiblich.
Wir liefen die Treppe hinunter, bis wir das Ende erreicht hatten. Atlanen drängen sich in den Gängen. Überall Verletzte. Wir suchten uns einen freien Platz, wo er Mutter hinlegen konnte.
Meine Geschwister hatten noch keine Ahnung. Ich wusste nicht, ob wir noch mehr Verluste zu betrauern hatten. Minuten der Ungewissheit vergingen, bis ich endlich Madison entdeckte. Josh und Liz waren direkt hinter ihr.
Wir umarmten uns.
»Seid ihr verletzt? Habt ihr Eleanor und Nath gesehen?«
»Uns geht es gut. Nein, wir haben uns aus den Augen verloren«, antwortet Josh, der einige Schrammen im Gesicht aufwies. Er sah auf den Boden, wo Vater neben unserer Mutter saß. »Was, was ist hier los?« Er kniete sich augenblicklich hin und berührte sie. »Vater?« Ungläubig blickte er ihn an. »Sag mir, dass sie nicht…«
»Sie ist von uns gegangen, mein Sohn.«
Tränen liefen über Joshs Wangen. Er lehnte sich über unsere Mutter und küsste sie auf die Stirn. Liz konnte ihre Gefühle nicht so gut unter Kontrolle bringen, sie weinte und schluchzte. Madison und sie nahmen sich in die Arme.
»Wieso habe ich das nicht gesehen? Wieso habe ich das nicht gesehen?«, fragte sie sich immer wieder. Ihre Schultern bebten.
Ich war nicht in der Lage, zu weinen. Ich fühlte mich wie betäubt.
»Dante.« Hörte ich meine ältere Schwester rufen. Sie prallte gegen meinen Oberkörper und umarmte mich erleichtert. »Ich bin so froh, dass es euch gut geht.«
Nath war direkt hinter ihr.
»Eli«, sprach ich ihren Namen aus, als wäre sie ein Kind.
»Was ist?« Sie sah zur Seite. »Warum weint Liz? Was ist los? Ist jemand verletzt?«
Ich ging zur Seite. Sie sah unsere Mutter und begriff, dass sie von uns gegangen war. Ihr Gesicht verdunkelte sich, Tränen liefen ihr über die Wangen. Eli sank zu Boden und streichelte die Hand unserer Mutter.
»Das muss ein Albtraum sein, aus dem ich gleich aufwache«, sagte sie, zu sich selbst.
Nath setzte sich zu seiner Frau, legte den Arm um sie und Eli lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
Unsere Ankunft in der Heimat war geprägt von Verlust und Leid.
»Wir hätten nie heimkehren sollen«, sagte Liz, die jetzt auch am Boden saß, neben ihrem Mann.
»Mutter sehnte sich nach Atlantis. Sie wollte nach Hause und wir werden alles dafür tun, dass es wieder so wird, wie es war. Für sie.« Josh blickte starr vor sich hin.
»Für sie«, wiederholte ich.
»Für sie«, fügten Nath und Eli hinzu.
»Wir werden uns unsere Freiheit zurückholen«, sagte Madison. Ihr Gesicht war noch feucht von den Tränen, die sie vergossen hatte.
Einige Tage danach waren die Atlanen mit der Gabe der Erschaffung fertig mit den Bunkern, die überall auf der Insel verteilt waren. Eine unbeschreibliche Leistung, welche von uns allen sehr gewürdigt wurde. Ohne sie, wäre es uns nicht möglich auf Atlantis zu sein. Denn Atlantis schlief. Nichts blühte, nichts wuchs, nichts außer dem Meer bewegte sich. Wir hatten die ersten Tage in den Fluren verbracht, mit dünnen Matten und Decken. Erst als alles vollendet war, durften wir ein Zimmer beziehen. In die Welt der Menschen zurückzukehren, war keine Option. Der Rat hatte jedem verboten zu reisen. Nur die, welche uns mit Proviant versorgten, durften das Tor durchqueren. Zu groß war die Gefahr eines erneuten Angriffs, wie bei unserer Ankunft. Der Bunker war mit Runen versiegelt, kein Dämon hatte Zutritt. Wir konnten auch einen Teil des Strands mit Runen sichern.
Die Leichen der Gefallenen wurden gekühlt, bis wir so weit waren, sie bestatten zu können. So wie wir es seit Jahrtausenden getan hatten. Auf dem Meer. Ich war nicht bereit, den Körper meiner Mutter brennen zu sehen. Ich war nicht bereit, sie der Unterwelt zu übergeben, auch wenn ich wusste, dass ihre Seele längst dort war. Doch der Tag war da. Hier standen wir, mit vier anderen Familien, am Strand, gekleidet in Weiß, um unsere Toten zu ehren und sie dem Meer zu überlassen. Es durfte immer nur eine geringe Anzahl den Bunker verlassen, weil der gesicherte Strandabschnitt sehr klein war.
Liz sang für uns das Lied der Toten, während ihr die Tränen die Wangen herunterflossen. Ihr Kleid wehte leicht hin und her, vom Wind getragen.
»Nath, wenn du so weit bist«, sagte mein Vater mit gedämpfter Stimme. Er war von Trauer gezeichnet.
Nath trat einige Stritte vor, streckte die Arme aus und die vier Körper schwebten auf das Meer hinaus. Sie trug ihr blaues Lieblingskleid. Unsere Sachen hatte der Rat abholen lassen, sowie von allen anderen. Wir hatten sie an einem vereinbarten Ort deponiert.
Ich war nicht in der Lage zu weinen. Als wäre es nicht real. Eli stand neben mir und hielt meine Hand. Ich sah ihre Tränen, doch ich war wie betäubt. Der Körper meiner Mutter glitt über das Wasser, bis sie alle zum Stillstand kamen. Josh spannte den Bogen, entzündete den ersten Pfeil und schoss diesen gekonnt auf die erste Person, unsere Mutter war die Letzte. Jetzt war es endgültig. Seele und Körper waren fort, unwiderruflich. Wir sahen zu, wie sie alle vier verglühten und wie ihre Asche nach und nach im Wind verging.
»Wir werden uns wieder sehen, mein Herz«, flüsterte mein Vater.
Die Schuld ihres Todes lag schwer auf mir. Ich hätte sie beschützen müssen. Sie vor diesem Schicksal bewahren. Was war ich für ein Sohn, was war ich für ein Wächter, wenn ich nicht einmal meine eigene Mutter retten konnte?
»Es wird Zeit.« Josh legte mir die Hand auf die Schulter. »Wir müssen hinein.«
Wir verließen den Strand und kehrten in den Bunker zurück.
Zurück in meinem Zimmer erfasste mich die Trauer. Meine Brust zog sich zusammen, als säße jemand auf ihr. Panisch schnappte ich nach Luft. Ich musste etwas dagegen tun, deshalb zog ich mich um. Training war mein Ventil. Dort konnte ich meinen Gefühlen Raum geben, um auszubrechen.
Auf dem Weg zu einem der Trainingsräume begegnete ich Josh.
»Wohin gehst du, Bruder?«
»Trainieren. Ich muss meinen Kopf frei bekommen.«
»Darf ich dich begleiten?«
»Natürlich.«
»Ich ziehe mich um und komme dann. In welchem Raum bist du?«
»Die drei.«
»Bis gleich«, sagte er und ging weiter zu seinem Quartier.
Während ich auf Josh gewartet hatte, fing ich an mich aufzuwärmen. Meine Gedanken waren ein einziges Durcheinander.
Josh trat ein. »Wie ich sehe, bist du bereit. Gibst du mir einen Augenblick?«
»Klar.«
»Willst du darüber reden?«, fragte er, während er seine Übungen machte.
»Worüber?«
»Darüber, was dich so ausflippen lässt.«
»Ist die Beerdigung unserer Mutter nicht Grund genug?« Ich schwang das Holzschwert in meiner rechten Hand und hüpfte leicht von einem Fuß auf den anderen.
»Wir alle ringen damit. Nur der Unterschied ist, dass wir reden und du dich verkriechst.«
»Was bringt es darüber zu sprechen? Der Schmerz vergeht dadurch nicht.«
»Woher willst du das wissen? Du hast es nie versucht.«
»Das hier, ist meine Therapie.« Ich schlug leicht mit der Holzklinge auf meine Handfläche.
»Gut. Dann reiße ich dir den Arsch auf, damit es dir besser geht.«
Ich schmunzelte. »Ich bin bereit.«
»Ah, siehst du? Ich habe dich beim Lächeln erwischt.«
»In letzter Zeit, hatte ich nicht viele Gründe dafür.«
»Ich auch nicht, Bruder. Eins weiß ich, Mutter würde nicht wollen, dass wir unsere Zeit damit verbringen, alleine zu sein und in Trauer versinken. Auch ich habe meine Momente, wo ich da sitze und weine. Dennoch gebe ich mein Bestes, um froh darüber zu sein, dass ich lebe.«
»Kämpfen wir jetzt, oder soll ich mich hinlegen für die Therapiesitzung mit Doktor Josh Craven.« Ich lächelte.
»Los geht’s, kleiner Bruder.«
Er schnappte sich ein Schwert und der Kampf begann.
Nach dem Training wischte ich mir mit einem Tuch den Schweiß vom Nacken, als plötzlich Madi in der Tür stand.
»Fertig?«
»Woher weißt du, dass ich hier bin?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte sie.
»Ich gehe duschen.«
»Und danach?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ein Buch lesen. Es ist ja nicht so, als hätten wir viele Freizeitaktivitäten. Was wird das hier? Habt ihr euch alle verschworen?«
»Wen meinst du mit alle?«
»Unsere Familie«, antwortete ich leicht gereizt.
»Verschworen würde ich nicht sagen. Wir sorgen uns.«
»Dieses Gespräch habe ich bereits mit Josh geführt.«
»Nicht genau dasselbe. Ich bin viel weiser.«
Ich hob die Augenbrauen. »Ach ja? Inwiefern?«
»Meine Lösung für dein Problem heißt Sara.«
»Sie bleibt, wo sie ist. In Sicherheit. So hat es der Rat beschlossen.«
»Der Rat genießt es, an der Macht zu sein. Wäre Sara hier, müssten sie sich unterordnen. Da kommt es ihnen recht, wenn du vorschlägst, sie noch nicht nach Atlantis zu bringen.«
»Ich bin müde und werde jetzt wieder in mein Zimmer gehen.« Ich lief an ihr vorbei.
»Du lässt mich einfach stehen?«, rief sie mir hinterher.
»Siehst du doch. Bitte lasst mich für heute in Ruhe.«
»Das kann ich nicht garantieren.«
An meiner Tür angekommen, lehnte Eli an der Wand daneben.
»Du nicht auch noch, Eleanor.«
»Josh hat mir gesagt, euer Gespräch verlief nicht gut.«
»Ja, weil es keins gab. Wir haben trainiert.« Ich öffnete die Tür.
Meine Schwester drückte sich an mir vorbei ins Zimmer. »Danke, dass du mich hineinbittest.« Sie lächelte. Das Lächeln war irgendwie beängstigend.
»Was soll das? Ich will meine Ruhe.«
»Was du willst und was du brauchst, kannst du im Moment nicht richtig einschätzen.«
»Und du weißt, was ich brauche?«
Sie setzte sich auf mein kleines, graues Sofa. »Ja.«
»Du wirst nicht gehen, egal was ich sage, oder?«
»So ist es.«
»Gut, dann bleib da sitzen. Ich gehe duschen.«
»Tu das. Ich bin hier.«
Ich nahm mir frische Kleidung aus der Kommode. »Ihr seid alle verrückt. Das wisst ihr hoffentlich.« Danach verschwand ich in der Gemeinschaftsdusche der Männer.
Zurück in meinem Quartier, saß Eli immer noch auf dem Sofa, mit einem Buch in der Hand.
»Ich muss gestehen, ich war zuversichtlich, dass du weg bist.«
»Tut mir leid, dich zu enttäuschen.«
»Wie lange hast du vor zu bleiben?«
»Solange wie es mir gefällt.«
Resigniert legte ich die Sachen in meinen Händen ab, suchte mir ein Buch und setzte mich dazu.
»Ich will nicht reden«, sagte ich entschlossen.
»Dann schweigen wir«, entgegnete sie, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
Auch wenn ich mich schwertat es zuzugeben, irgendwie war es schön, dass sie hier war.
Kapitel 2
Sara
1 Jahr Später
»Sara, kommst du endlich!«, rief Granny aus dem Flur. »Wir müssen los, sonst verpassen wir die Trauung.«
»Ich komme ja schon«, antwortete ich genervt und zog hastig meine Schuhe an. »Ohne uns fangen sie nicht an.«
Ein letzter, prüfender Blick in den Spiegel. Die Frisur saß, das Kleid passte, ich war bereit.
Ungeduldig tippte Granny mit dem rechten Fuß. »Was hast du denn so lange getrieben?«
»Mich angezogen.«
Sie öffnete die Tür und wir verließen die Wohnung.
»Granny, einmal tief durchatmen«, schlug ich im Aufzug vor.
Sie sah mich an, blinzelte drei-, viermal und lächelte dann. »Es ist die Hochzeit meines Sohnes, da ist es mir durchaus erlaubt, etwas nervös zu sein.«
Ich lächelte zurück. »Ich weiß, aber du machst mich wahnsinnig.«
»Dazu habe ich ebenso ein Recht«, sagte sie, als sich die Türen im Erdgeschoss öffneten. »Ich bin deine Großmutter, deshalb darf ich dich so viel in den Wahnsinn treiben, wie es mir beliebt.«
»Ich wünsche eine schöne Hochzeitsfeier«, sagte Mr. Garner freundlich.
Wir bedankten uns und verließen das Haus.
Granny küsste Alfred zur Begrüßung. Er war ihr Freund.
»Du siehst hinreißend aus.« Er lächelte.
Und er hatte recht. Granny sah in ihrem blauen Kleid umwerfend aus.
»Du natürlich auch, Sara.«
»Danke, Alfred.«
Ich küsste ihn auf die Wange und stieg hinten in den Wagen, während Granny auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Alfred fuhr los.
Dad war mit Onkel Tim in der Kirche. Er war sein Cousin und Trauzeuge. Da mein Vater keine Geschwister hatte, war Tim für ihn so etwas wie ein Bruder. Und zwar der verrückte, nicht für die Ehe geschaffene Bruder, der sich von seiner dritten Frau Claudia scheiden ließ.
Ich sah zu, wie die Häuser an uns vorbeizogen. Die letzten Monate hatte ich mich oft gefragt, ob Dad wusste, dass Mom etwas vor ihm verbarg. So wie ich jetzt. Ich hatte mir viele Fragen gestellt, während ich in meinem Zimmer saß, abgeschottet von der Welt.
Das vergangene Jahr hatte ich meiner Familie das Leben nicht leicht gemacht. Dad hatte mich zu einer Therapie überreden wollen, was zu mehr Streit geführt hatte. Mein Wunsch, die Schule zu wechseln, brachte das Fass zum überlaufen. Er hatte es nicht verstanden. Wie sollte ich meinem Vater erklären, dass all die Melodien in meinem Kopf verstummt waren.
Als Granny plötzlich vor meinem Gesicht auftauchte, zuckte ich erschrocken zusammen.
»Wir sind da, Sara.«
»Oh, ja, natürlich.« Vorsichtig stieg ich aus Alfreds Wagen.
Meine Knie zitterten ein wenig, während ich die Stufen der Kirche hochlief. Ich konnte nicht sagen, weshalb ich derart nervös war. Nachdem wir sie betreten hatten, steuerte ich nach rechts, wo das Zimmer war, in dem sich Lara umzog. Ich war eine der Brautjungfern.
Granny und Alfred gingen direkt zur Tür, die zum Altar führte. Meine Großmutter lächelte, bevor sie hinein ging und die Tür sich wieder schloss.
Wie ich sie vermissen werde, wenn ich im Herbst an die University of Southern California ging. Kalifornien war so weit weg und genau deswegen war es das Richtige für mich. Ich musste raus aus New York. Weg von den Erinnerungen an Dante. An alles, was geschehen war.
Und da war er wieder. Meine Gedanken drifteten in seine Richtung, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, wenigstens für diesen einen Tag nicht an ihn zu denken. Aber egal wie oft ich es mir vornahm, ich schaffte es nicht ein einziges Mal. Ich hoffte, dass mich das Studium davon ablenken würde, ständig mit den Gedanken bei ihm zu sein.
Je näher der Tag rückte, umso klarer wurde mir, wie sehr ich meine Familie vermissen werde. Und wenn ich darüber nachdachte, dass ich vor einem Jahr, ohne zu zögern, mit Dante mitgegangen wäre, schien mir die Distanz zwischen New York und L.A nicht mehr so extrem.
Mit der Hand am Türgriff atmete ich einmal tief ein und wieder aus, dann trat ich ein.
»Sara.« Lara lächelte. »Wir dachten schon, ihr seid im Verkehr stecken geblieben«, scherzte sie.
Sie sah bezaubernd aus in ihrem schlichten, trägerlosen weißen Kleid aus Seide.
Ich lächelte so locker, wie ich es in dem Moment vermochte. »Wie du siehst, haben wir es geschafft.«
Sie kam auf mich zu und umarmte mich. »Ich weiß, das ist nicht leicht für dich«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Aber ich danke dir.« Sie ließ mich los.
Sie war ein guter Mensch, aufrichtig, ehrlich und sie liebte meinen Vater.
»Hallo Sara, Kleines«, begrüßte mich Laras Mutter und gab mir einen Kuss auf die Wange.
»Hallo Susan.«
Eigentlich hasste ich es, wenn sie mich ‚Kleines‘ nannte, aber ich ließ ihr die Freude daran.
Susan setzte Lara den Schleier auf, gab ihr einen Kuss, danach verließen wir alle den Raum.
Draußen vor der Tür wartete Ralf, um seine Tochter zum Altar zu führen. Ich war die erste Brautjungfer. Mein Auftritt kam gleich nach dem Blumenmädchen. Die Musik erklang, die Türen öffneten sich und die Sängerin stimmte Ave Maria ein. Mein Herz klopfte unaufhaltsam gegen meinen Brustkorb, als ich hineinging und in all die lächelnden Gesichter blickte. Die paar Meter bis zum Altar kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Ich sah meinen Vater. Die Lachfalten um seinen Mund gruben sich in sein Gesicht. Die braunen Haare waren nach hinten gekämmt. Er sah gut aus in seinem Hochzeitsanzug.
Vor Glück strahlend, nahm er Laras Hand, als Ralf sie ihm übergab.
»Wir haben uns hier versammelt«, fing der Priester an, »um diesen Mann und diese Frau in den heiligen Bund der Ehe zu führen.«
Ich schaute meinen Vater an, der vor Glück fast zu platzen schien. Der Priester sprach, sprach und sprach. Es nahm kein Ende. Nach dem Ja-Wort und dem Tausch der Ringe, kam er zum Schluss.
»Wenn keiner der Anwesenden einen Grund sieht, weshalb diese zwei Menschen nicht den heiligen Bund der Ehe eingehen sollten, dann soll er jetzt sprechen oder für immer schweigen.«
Keiner gab einen Laut von sich.
»Ich hatte nichts anderes erwartet«, sagte der Priester lächelnd. »Im Namen Gottes und seiner Kirche, erkläre ich Sie zu Mann und Frau, Sie dürfen die Braut küssen.«
Ich klatschte, so wie der Rest der Gäste. Wir verließen die Kirche.
Der Fotograf stand bereit, um weiter Fotos zu schießen.
»Jetzt das Brautpaar mit der Tochter alleine«, sagte der Fotograf.
Die anderen Familienmitglieder gingen zur Seite.
»Stellen Sie sich doch eine Stufe runter«, sagte er zu mir. »Und Sie legen beide eine Hand auf ihre Schulter.«
Ihnen zuliebe lächelte ich, obwohl ich mich so fühlte, als wäre ich weit weg. Und es hatte nichts mit Mom zu tun, dass ich mir verloren vorkam. Denn ich wusste, sie würde sich für Dad wünschen, dass er sich wieder verliebte, dass er Freude am Leben hatte. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, musste ich mir eingestehen, dass ich mir dieselbe Liebe wünschte, die sie hatten. Für mich war sie aber unerreichbar.
Tausende von Malen hatte ich versucht, ihn durch meine Gedanken zu erreichen. Irgendwann gab ich es auf. Weil es entweder nicht funktionierte, oder er es nicht wollte. Ich hatte mir eingeredet, dass es nicht klappte, weil er auf Atlantis war und über die andere Eventualität konnte ich nicht nachdenken.
»Sara, wo bleibst du?«, rief Keira von der Tür auf die Terrasse des Hotels, wo ich wie gebannt von den Lichtern der Stadt vor mich hinstarrte. Sie legte die Hand auf meine Schulter.
Ich drehte mich zu ihr. »Tut mir leid.« Entschuldigend lächelte ich. »Ich habe mich hier draußen völlig vergessen.«
»Ist mir aufgefallen«, sagte sie ebenfalls mit einem Lächeln. Sie nahm meine Hand. »Gehen wir.«
Gemeinsam liefen wir zurück zu der Hochzeitsgesellschaft.
Keira sah bezaubernd aus in ihrem gelben, bodenlangen Kleid. Die Haare trug sie auf einer Seite hochgesteckt, während sie auf der anderen Seite in fließenden Locken auf ihrer Schulter ruhten.
In drei Tagen flog sie nach London. Keira hatte es geschafft, ins Royal Ballet aufgenommen zu werden. Ihr Traum wurde Wirklichkeit. Ich vermisste sie jetzt schon.
Als Dad uns erblickte, rief er uns zu sich.
»Wo warst du?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Nur ein wenig frische Luft schnappen.«
Etwas angetrunken legte Onkel Tim den Arm um Dads Schulter. »Es ist Zeit für die Torte, Bräutigam«, sagte er breit grinsend.
Und wie aufs Stichwort öffneten sich die Türen der Küche. Zwei Kellner fuhren die vierstöckige Hochzeitstorte auf einem Wagen herein. Dad und Lara kämpften darum, wer die Hand auf dem Messer oben hatte. Lara gewann.
»Geht es dir gut?«, fragte mich Keira, als wir uns mit unserem Stück Torte an den Tisch gesetzt hatten.
»Ja, warum sollte es nicht?«
»Ich kenne dich«, sagte sie leise. »Ich habe dein Gesicht in der Kirche gesehen.«
Ich sah auf meinen Teller und stocherte mit der Gabel in der Torte. »Ich freue mich für ihn, Keira. Ich wünsche ihm, dass er glücklich ist. Es ist bloß nicht ganz einfach.«
Sie legte ihre Hand auf mein Knie. »Ich weiß.«
Ich schaute hoch in ihr liebevolles Gesicht. »Du wirst mir fehlen«, sagte ich.
»Du mir auch, Sara.« Sie umarmte mich herzlich. »Alles hier wird mir fehlen. Ich glaube, ich werde sogar Dad vermissen.« Etwas betrübt sah sie zur Seite.
»Wenn du nicht gehst, wirst du es dein Leben lang bereuen. Und ein englischer Mann ist sicher eine Abwechslung zu deinem Ex.«
Sie lachte. »Ein bisschen weniger Eifersucht wäre angenehm. Kannst du dich an seinen Ausraster bei Chris erinnern?«
»Und wie. Deswegen wurde er beinahe von der Schule verwiesen. Diese Aufführung werde ich nie vergessen. Als Chris dich hochhob und Miguel wutentbrannt auf die Bühne stürmte, weil er dachte, Chris hätte dich an einem Ort berührt, der nur ihm zustand.« Ich lachte.
»Dann klemmte der Vorhang«, erinnerte sie mich. »Mr. Walter hätte fast einen Herzinfarkt erlitten, als Miguel Chris eine Faust verpasste.«
Wir konnten uns kaum halten vor Lachen.
»Darf ich um den Tanz bitten?«, fragte Dad.
Ich drehte mich um. Lächelnd hielt er mir die Hand hin.
»Natürlich.«
Ich legte meine linke Hand in seine und er führte mich auf die Tanzfläche.
»Liebe Tanzpaare, das nächste Lied ist für den Bräutigam und seine Tochter«, kündigte der Sänger der Band an.
Automatisch verließen die Leute die Tanzfläche. Obwohl er mir das Tanzen beigebracht hatte, konnte ich mich nicht daran erinnern, wann wir zuletzt zusammen getanzt hatten. Und plötzlich merkte ich, wie sich meine Brust zusammenzog. Mir war nach Weinen zumute. Auf seiner Hochzeit zu heulen, konnte ich Dad nicht antun. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und schloss die Augen, bis das Lied zu Ende war und ich mich wieder gefasst hatte.
»Danke, Sara«, sagte Dad.
»Wofür?«
»Das weißt du. Ich werde dir nie vergessen, dass du für mich stark geblieben bist.« Er küsste mich auf die Stirn. »Ich hab dich lieb, meine Kleine.«
Es war Jahre her, dass er mich ‚seine Kleine‘ genannt hatte.
»Ich dich auch, Dad.«
»Darf ich ablösen?«, fragte Onkel Tim und klopfte Dad auf die Schulter.
Dad übergab mich an meinen Patenonkel.
»Mein Mädchen, geht also bald auf die Uni?«, fragte er breit grinsend, als er mit mir über das Parkett fegte.
»Sieht so aus, Onkel Tim.«
»Dass du mir gut auf dich aufpasst. Du weißt, was ich meine? Die Jungs.«
Ich lachte. »Keine Sorge, um die kann ich mich schon selbst kümmern.«
»Und wenn nicht, komme ich sofort aus New York eingeflogen und versohle demjenigen den Hintern.«
Wir lachten beide.
Nach drei Tänzen ging ihm langsam die Puste aus. Und irgendwie sah er ein wenig grün aus.
»Ich glaub, ich brauche eine Pause«, sagte er. »Und ein Glas Wasser.«
Nachdem er mich zu meinem Tisch gleitet hatte, steuerte er direkt die Bar an.
Gerade hatte ich mich hingesetzt, als Granny auf mich zukam. »Na mein Schatz, amüsierst du dich?«, fragte sie und streichelte meine Wange.
»Ja, habe es sogar geschafft, dass Tim schlecht wird.« Ich zeigte auf die Bar, wo er mit einem Glas Wasser stand.
»Ich glaube, das liegt daran, dass er zu viel getrunken hat. Er ist ganz seines Vaters Sohn. Ich sehe mal nach ihm.« Granny ging zu Tim an die Bar.
Trotz meines anfänglichen Unbehagens genoss ich den Abend.
Kapitel 3
Sara
»Bist du nervös, mein Schatz?«, fragte Granny und setzte sich neben mich auf das Bett.
»Ein wenig«, gab ich zu und starrte meinen Koffer an.
»Alles wird gut.« Sie legte den Arm um meine Schultern und lächelte beruhigend. »Du kannst immer nach Hause kommen.«
Ich lachte. »Das würde dir gefallen, Granny oder?«
»Wenn du in New York studierst? Natürlich.«
»Es wird Zeit, meinen eigenen Weg zu gehen.«
»Deine Mutter wäre so unendlich stolz.«
»Danke, Granny. Aber was ist mit Dad?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Kommt er klar ohne mich? Du weißt, wir reden mehr schlecht als recht über unsere Gefühle.«
»Um ihn musst du dich nicht sorgen. Er hat Lara. Christopher wird klarkommen.«
Ich umarmte meine Großmutter innig. Sie wird mir so sehr fehlen, das wusste ich jetzt schon.
Die Tür meines Zimmers ging auf.
»Sara, wir müssen los«, sagte mein Vater und lief durch den Flur vor, in Richtung der Eingangstür.
Ich atmete einmal tief ein und wieder aus. »Auf geht’s.« Ich stand auf und sah mich ein letztes Mal um. »Mein Bett werde ich vermissen und dich auch Granny.«
Sie küsste mich auf die Wange und lächelte. »Ich dich auch.«
»Dad, ich darf den Flug nicht verpassen.«
»Wir sind bereits in der Garage.«
Meine Begeisterung über die Reise hielt sich in Grenzen. Gefangen in einem Stück Blech über dem Himmel. Ohne Ausstiegsmöglichkeit. Nichts davon war für mich mit Freude verbunden. Aber es war der schnellste Weg an die Westküste. Maria hatte meinen Vorschlag, einen Road Trip zu machen, abgelehnt. Sie wollte nicht überfallen, vergewaltigt oder ermordet werden, bevor sie nicht wenigstens einen Promi gesehen hätte. Was völlig absurd war. Wir hätten nicht in irgendwelchen Hinterhöfen oder in unserem Auto geschlafen. Keines dieser Dinge wäre je eingetreten. Alleine zu fahren war jedoch keine Option.
Dad stellte das Auto ab, nahm meine Koffer heraus und wir eilten zum Check-in, wo Maria wartete.
»Hey Sara. Guten Tag, Mr. Davis.« Zur Begrüßung reichte sie Dad die Hand.
»Hallo Maria. Bist du aufgeregt?«
»Ein wenig.«
»Wo sind deine Eltern?«, fragte ich.
»Wir haben uns vorhin verabschiedet.«
Während Dad und Maria sich unterhielten, ging ich zum Check-in und gab meine Koffer ab. Zurück bei ihnen war es an der Zeit.
»Also, Dad. Wir müssen unseren Flug erwischen.«
»Ich warte da vorne. Bye Mr. Davis.«
»Mach`s gut, Maria. Pass auf dich auf.«
»Werde ich.« Lächelnd ging sie.
Innig umarmte mich Dad. »Deine Mutter wäre stolz auf dich.«
Ich war fest entschlossen gewesen, nicht zu weinen, aber nun konnte ich nicht anders. »Ich hab dich lieb, Dad.«
»Ich dich auch. Melde dich zwischendurch bei uns.«
Ich löste die Umarmung. »Werde ich.« Ich küsste ihn auf die Wange.
Mit meinem Handgepäck lief ich zu der wartenden Maria.
Dad schaute uns so lange nach, bis wir nicht mehr zu sehen waren. Unser Verhältnis war schwierig, aber er war mein Vater. Und ich wusste, er liebte mich. Egal was ich tat oder wer ich im Leben sein würde. Denn ich war sein Kind.
Im Flugzeug war es eng. Geradezu erdrückend. Sobald wir unsere Plätze eingenommen hatten, kramte ich die Entspannungstropfen aus meiner Handtasche und nahm sie.
»Keine Panik, Sara«, beruhigte mich Maria. »Statistisch gesehen sterben mehr Menschen im Straßenverkehr als mit dem Flugzeug.«
»Ganz toll. Und wir könnten die sein, welche in der nächsten Statistik als abgestürzt gelten«, erwiderte ich gereizt und schnallte mich an, noch bevor alle Fluggäste saßen.
»Deine negative Einstellung macht die Situation bloß schlimmer.«
Obwohl sie weitersprach, ignorierte ich ihr Gebrabbel.
Aus dem Fenster starrend, wartete ich auf den Start. Nach einigen Minuten ertönte ein Signal und das Anschnallzeichen leuchtete auf. Die Triebwerke sprangen an. Die Maschine setzte sich in Bewegung.
Vom Flughafen in Los Angeles fuhren wir mit einem Taxi zu unserem gemieteten Haus, wo dessen Besitzer auf uns wartete.
»Guten Tag, Mr. Baker. Schön, Sie zu sehen«, begrüßten wir den Vermieter freundlich.
»Guten Tag, die Damen. Hatten Sie einen angenehmen Flug?« Höflich schüttelte er uns die Hände.
»Bestens«, antwortete Maria. »Wir freuen uns, hier zu sein.«
Mr. Baker holte die Schlüssel aus seiner Tasche und übergab sie uns. »Dann wünsche ich einen schönen Tag.«
Maria nahm sie. »Danke. Für Sie auch.«
Er ging davon und wir öffneten die Tür. Stickige Luft kam uns entgegen.
»Kannst du das glauben, Sara? Unsere erste Wohnung.« Maria trat ein.
Im Eingang ließ sie die Koffer stehen und bog nach links in das möblierte Wohnzimmer. Es war voll ausgestattet. Und wenn man bedachte, wie es um die Mieten in Los Angeles stand, hatten wir enormes Glück, dieses Haus für einen bezahlbaren Preis bewohnen zu dürfen.
Unsere Eltern unterstützten uns. Aber keiner von ihnen würde 900 Dollar in der Woche finanzieren, wenn wir auch einfach auf dem Campus wohnen könnten. Deshalb war dies nur möglich durch das Geld, welches mir die Cravens hinterlassen hatten. Dad hatte ich erzählt, ich hätte einen Aushilfsjob gefunden, in einem kleinen Supermarkt, womit ich mir die Miete leisten könne. Ich verschwieg ihm den genauen Betrag, sowie Maria. Der Mietvertrag lief ohnehin auf mich. Dass ich neben dem Studium arbeitete, gefiel Dad gar nicht. Trotzdem hatte ich mich durchgesetzt. Ich hatte ihm eine Riesenszene gemacht, ihm sogar vorgeworfen, er würde meine Selbstständigkeit untergraben. Nur, um meine Lügen zu vertuschen. Ich konnte ihm nicht sagen, woher ich das Geld in Wirklichkeit hatte. Dass die Firma mich eingestellt hatte, ohne mich vorher kennenzulernen, fand er etwas seltsam, aber er vertraute mir. Ein Studentenwohnheim wäre günstiger gewesen, aber darauf hatte ich keine Lust. So viele Personen auf einem Haufen. Irgendeiner wäre mir sicher auf die Nerven gegangen.
»Öffnen wir die Fenster. Es muss dringend gelüftet werden«, bemerkte ich und schritt gleich zur Tat.
»Ich mache die in den Schlafzimmern auf.« Maria verschwand in das obere Stockwerk.
Ich ließ mich auf das grüne Sofa nieder. Mein Körper war hier, aber mein Geist hatte den Umzug noch nicht verarbeitet. Ich war auf mich selbst gestellt. Alleine. Und das war beängstigender, als ich zunächst angenommen hatte. Für den Traum von Atlantis und Dante hätte ich alles und jeden aufgeben müssen, der mir etwas bedeutete. Nun kam ich kaum mit dem Umzug nach Kalifornien klar. Was sagte das wohl über mich aus? Ein naiver Teenager war ich gewesen, der um der Liebe willen keinen Gedanken an die Konsequenzen verschwendet hatte.
»Was tust du da?« Maria setzte sich neben mich.
»Ich denke nach.«
»Worüber?«
»Über das Erwachsenwerden.«
»Hiermit lassen wir unsere Kindheit hinter uns.« Sie strahlte. »Wir sind offiziell frei.«
Ich lachte. »Hoffen wir, dass wir den ersten Monat überstehen, ohne bei unseren Eltern zu jammern.«
»Na klar bekommen wir das hin.«
»Hast du keine Angst?«
»Scheiße, sicher habe ich die. Ich wär verrückt, wenn nicht. Aber wir sind nicht die Ersten, die von zu Hause ausziehen, um die Welt zu erobern. Deshalb bin ich verdammt zuversichtlich. Ich gehe jetzt meine Sachen auspacken.« Sie stand auf und verließ den Raum.
Ich verweilte einige Minuten, bevor ich meinen Koffer die Treppe hochschleppte.
Da ich den Großteil der Miete zahlte, hatte ich das geräumigere Schlafzimmer mit eigenem Bad. Sich eins mit Maria teilen zu müssen, wäre eine Zumutung.
Sie kam zu mir herein und warf sich rückwärts auf mein Bett. »Ich freue mich schon auf unsere erste Studentenparty«, sagte sie und setzte sich dann auf.
Herzhaft lachte ich. »Du bist unglaublich. Nicht eine Unterrichtsstunde absolviert und du denkst bereits an die Partys, die du feiern wirst.«
»Weshalb gehen die Leute aufs College?«
»Um zu lernen.«
»Um zu feiern, Schätzchen. Um die Freiheit zu genießen. Endlich nicht mehr unter der Kontrolle der Eltern zu sein. Lernen ist bloß zweitrangig.«
Wieder lachte ich und setzte mich zu ihr. »Was sonst. Deine Eltern bezahlen, weil du ihnen erzählt hast, wie wild du Party machen wirst.«
»Nein, weil ich ihr kleiner Liebling bin.« Sie verzog das Gesicht zu einer Unschuldsmiene. »Und weil sie befürchten, auf dem Campus würden wir nicht ans Lernen denken, sondern uns nur vergnügen. Ich habe ein wenig nachgeholfen, damit sie mir das mit dem Haus erlauben.« Sie grinste. »Sie müssen vergessen haben, wie das bei ihnen war. Hier werden legendäre Partys steigen.«
»Lass uns erst einmal den morgigen Tag hinter uns bringen.«
Sie stand auf. »Ich rufe jetzt meine Mom an. Sie wollte, dass ich mich melde, sobald wir hier sind. Wollen wir später an den Strand?«
»Klar, warum nicht?«
Maria verschwand durch die Tür. Ich holte mein Handy heraus und schrieb Dad eine Nachricht.
Eine Stunde später machten wir uns mit dem Bus auf den Weg zum Venice Beach. Dutzende von Menschen tummelten sich an der Promenade. Überall Souvenirshops, kleine Läden und Restaurants. Frauen in Bikinis auf Rollschuhen. Ehrlich gesagt, dachte ich, das gäbe es bloß im Film. Alles wirkte ein wenig aufgesetzt. New York war in vielerlei Hinsicht anders.
»Sieh mal, Sara. Ein Fotokasten. Lass uns ein paar Erinnerungen sammeln.«
»Setzen wir uns hinein.« Ich ging vor. Maria nahm auf meinem Schoß Platz. Die Bilder waren schnell geschossen. »Schau mal, wie du da guckst«, wies ich Maria hin. »Du siehst aus wie ein Esel.« Ich lachte.
»Geht’s noch?« Sie war empört. »Ich ein Esel? Hast du dich gesehen?« Mit dem Finger zeigte sie auf ein nicht sehr vorteilhaftes Bild. »Du könntest bei einem Kuriositätenzirkus eine Anstellung bekommen.«
»Du hast recht«, stimmte ich ihr zu.
Beide lachten wir wie kleine Kinder.
Nach einigen Metern kamen wir an einem großen Skateboardpark vorbei. Wir blieben stehen, um den Fahrern zuzuschauen.
»Na Mädels, auch mal probieren?«, fragte uns ein blonder, blauäugiger Typ, der für Kalifornien nicht klischeehafter hätte aussehen können. »Surfer Boy« würden wir das nennen.
»Nein, danke«, antwortete ich augenblicklich.
»Ich bin dabei.« Maria lächelte. Er half ihr über die Mauer. »Ich bin Maria und das ist meine Freundin Sara«, stellte sie uns vor.
»Ich bin Chris. Freut mich. Woher kommt ihr?«
»New York. Wir studieren ab morgen an der USC.«
»Dann sehen wir uns öfter. Ich studiere dort Filmwissenschaften.«
»Da bin ich sicher.« Maria setzte ein hinreißendes Lächeln auf. Ihre weißen Zähne blitzten hervor. »Zeigst du mir, wie ich darauf stehen muss?«
Sie tat, als hätte sie keine Ahnung. Dabei fuhr ihr Bruder seit Jahren. Sie hatte Erfahrung darin. Ich setzte mich auf die Mauer. Nach zwanzig Minuten hatte ich genug davon, Maria beim Flirten beobachten zu müssen.
»Ich gehe an den Strand«, rief ich ihr zu und sprang von der Mauer.
Sie winkte mir. »Alles klar.«
Dort angekommen zog ich die Sandalen aus. Die feinen Körner unter meinen Füßen waren warm, aber nicht heiß. Ich ging zum Wasser und blieb darin stehen. Kleine Wellen brachen sich an meinen Beinen. Je länger ich dort verweilte, umso wärmer fühlte sich das Wasser an.
Der morgige Tag machte mich leicht nervös. Das Normalste der Welt, wenn man nicht ständig dem Vergangenen nachtrauern würde. Meine volle Konzentration musste dem Studium gelten. Dante hatte mich verlassen, damit musste ich mich abfinden und endlich abschließen.
»Sara, Sara.« Maria tauchte neben mir auf. »Bist du im Stehen eingeschlafen?«
»Nein, warum?«
»Weil ich nach dir rufe und du nicht reagierst.«
»Ich habe bloß ein wenig in den Tag hinaus geträumt.« Ich lächelte.
»Nächsten Samstag gehen wir zwei auf unsere erste Verbindungsparty«, verkündete sie.
»Und wie hast du das hinbekommen?«
»Chris ist Mitglied. Er hat uns eingeladen.«
»Er ist ein Fremder, dessen Nachname uns nicht einmal bekannt ist.«
»Meine Güte, Sara, entspann dich mal. Dante hat dich echt zerstört.«
Geschockt von ihrem unerwarteten Angriff, blieb mir der Mund offen stehen. »Du hast kein Recht, über mich zu urteilen«, fuhr ich sie daraufhin scharf an. »Den Weg nach Hause finde ich alleine.« Ich ließ sie stehen.
»Sara, warte. Ich wollte dich nicht verletzen.«
Meine Reaktion darauf blieb aus. Ohne mich umzudrehen lief ich weiter.
Später am Abend saß ich in meinem Zimmer und las ein Buch, als es an der Tür klopfte.
»Darf ich hereinkommen?«
Ich schloss das Buch und legte es zur Seite. »Ja, komm rein.«
Zaghaft schaute Maria hinter der Tür hervor. »Bist du noch böse?«
»Vielleicht.«
Sie betrat das Zimmer und setzte sich zu mir aufs Bett. »Es tut mir leid. War nicht meine Absicht, giftig zu sein.«