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Wie erkennen wir, was einem neuen Faschismus Vorschub leistet? Dazu muss das Zusammenspiel von ökonomischen, juristischen, kulturellen und weiteren materiellen wie ideologischen Faktoren untersucht werden – aber es sind auch konkrete Personen, die an der Etablierung neuen faschistischen Denkens mitwirken. Die Reihe gestalten der faschisierung versucht aktuelle Tendenzen und aktive Ideolog/innen in Philosophie, Literatur und Politik auszumachen. Dass Wagenknecht keine »Faschistin« ist, darüber sind sich die Autoren einig. Und doch baut sie Brücken ins neofaschistische Lager, hat ihren antikapitalistischen Standpunkt eingetauscht gegen einen, der den deutschen Kapitalismus (den sie Marktwirtschaft nennt) unterstützenswert findet, und kultiviert idealistisch-konservatives und reaktionäres Gedankengut (Natürlichkeit sozialer Gesellschaftsformen, Universalität historisch-spezifischer Sachverhalte, Identitätstheorien etc.). Zeit für eine kritische Auseinandersetzung mit Wagenknechts ökonomischen, politischen und kulturellen Diagnosen und Perspektiven.
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Seitenzahl: 274
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Wolfgang Veiglhuber & Klaus Weber (Hg.)
wagenknecht – nationale sitten & schicksalsgemeinschaft
gestalten der faschisierung 2
Argument
Deutsche Originalausgabe
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2022
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
www.argument.de
Umschlag: Martin Grundmann
ISBN 978-3-86754-827-4 (E-Book)
ISBN 978-3-86754-531-0 (Buch)
Das neue Buch von Sahra Wagenknecht Die Selbstgerechten hat zu einem Parteiausschlussverfahren geführt. Die Autoren dieses Bands haben kein Interesse an einer »bürokratischen« Umgangsweise mit dem, was die Politikerin der LINKEN sagt und schreibt. Sie wollen am Material in einer gewissenhaften Analyse Gründe dafür zeigen, dass viele Wagenknecht nicht mehr als »Linke« betrachten (können): Michael Wendl beschäftigt sich dazu mit ihren Aussagen zur Ökonomie, Ernst Wolowicz hinterfragt ihr Bild unserer Sozialstruktur, Peter Bierl zeichnet den Wandel ihrer ideologischen Affinitäten nach, Wolfgang Veiglhuber untersucht das Verhältnis zu Nationalismus und Kapitalismus. Die Beiträge sind Versuche, eine Streitkultur wiederzubeleben – gegen das ängstliche Schweigen vieler Wagenknecht-Kritiker_innen.
Wie kann es sein, dass Sahra Wagenknecht als »Gestalt der Faschisierung« bezeichnet wird – noch dazu von Parteikollegen und auf der linken Seite des politischen Spektrums stehenden Menschen? Ist das nicht verleumderisch, gemein und politisch völlig inakzeptabel? Lassen wir das Material sprechen: Zum einen muss geklärt werden, was Herausgeber und Autoren unter »Faschisierung« verstehen, zum anderen muss belegt werden, dass die Politikerin und Autorin Sahra Wagenknecht etwas damit zu tun hat.
Ad 1) Faschisierung wird als Begriff verwendet, »wo Übergänge von bürgerlichen Demokratien zu faschistischen Diktaturen […] beschrieben und zu erklären versucht werden« (Weber 1999, 142). Im Rahmen dieser Definition richtet sich der Blick der Analyse nach hinten, um historische Entstehungsprozesse und Funktionsweisen europäischer Faschismen erklären zu können. Bedeutend sind in diesem Bereich die Arbeiten des Projekts Ideologie-Theorie um Wolfgang F. Haug, die zeigen, wie die Nazis durch die besondere Art der »popularen Anrufung« der Einzelnen durch »Text[e] und Aussagen […], durch Praktiken, […] Arrangements und […]Prozesse« (Rehmann 2004, 692) die freiwillige Selbstunterstellung der Subjekte (bei Aufrechterhaltung des terroristischen Rahmens) organisierten. Darum kann es bei Sahra Wagenknecht nicht gehen. Sie ist politisch (und ideologisch) tätig als Parlamentarierin, Autorin und Aushängeschild einer bestimmten Richtung innerhalb einer »linken« Politikagenda, die von den bürgerlichen Medien (Spiegel, FAZ, BILD, Welt, ARD, ZDF etc.) genutzt wird, um die LINKE als Partei zu zerstören. Sehen wir uns also den zweiten Teil der marxistischen Faschisierungs-Definition an: Der Begriff wird benutzt, »um Ähnlichkeiten oder Parallelen zwischen je aktuellen politischen Entwicklungen in gesellschaftlichen Teilbereichen und Strukturelementen des Faschismus warnend aufzuzeigen« (ebd.). Es geht um eine »sensible Suchbewegung« zwischen »einem Gerade-Noch demokratischer Regelung und dem Noch-Nicht faschistischer Politik […]: Mit ihm [dem Faschisierungs-Begriff] können Entwicklungen und Prozesse dort analysiert werden, wo es noch keinen Faschismus gibt« (ebd., 146). Dass Wagenknecht keine »Faschistin« ist – über diesen Sachverhalt sind sich alle Autoren einig. Dass sie jedoch Brücken ins neofaschistische Lager baut (Veiglhuber), autoritäre Tendenzen in der alten und der neuen BRD ebenso wenig als Gefahr erkennen will wie im neuen Neofaschismus (Bierl), dass die Versatzstücke ihrer Ideologie inhaltlich große Ähnlichkeit mit den Schriften und Reden Björn Höckes (Veiglhuber) und Alexander Gaulands (Wolowicz) aufweisen – daran kann nicht zweifeln, wer sich in das Wagenknecht’sche sowie das Neonazi-Material einarbeitet.
Historisch betrachtet gehören zu den Strukturelementen faschistischer Bewegungen ein radikaler (völkisch grundierter) Nationalismus, ein Mythos von Nation und Rasse, ihre »Artikulation um charismatische Führer und ihr Anti-Kapitalismus« (Figueroa 1999, 150), wobei es im Übergang von der Bewegungs- zur Staatsphase keine Frage mehr war, dass der (mit Unterstützung der großen Kapitalverbände2) zur staatlichen Macht gewordene Faschismus die Profitmaschine so gut wie möglich am Laufen hielt. Die Lektüre der einzelnen Beiträge in diesem Band kann zeigen, dass Wagenknecht ihren antikapitalistischen Standpunkt eingetauscht hat gegen einen, der den deutschen Kapitalismus (den sie Marktwirtschaft nennt) unterstützenswert findet und in dem Kapital und Arbeit versöhnt sind; sie kann zeigen, wie Wagenknecht das »Deutschtum« als Substanz von »Brauchtum, Tradition und Heimat« mit einer Vorstellung einer völkisch ausgerichteten Demokratie verbindet, in der das Fremde, das Andere, das Nicht-Identitäre nichts zu suchen hat; sie wird zeigen, dass Wagenknecht sich selbst als Anführerin einer Bewegung versteht3, die den deutschen Arbeiter und den deutschen Unternehmer in einem »Lager« sieht, das einer heimatfernen Elite von »Großstadtakademikern« (Wa, 14)4, »Globalisierungsgewinnern« (Wa, 81) und »Lifestyle-Linken« (Wa, 25ff.) gegenübersteht.
Ad 2) Auch wenn manche denken, es sei ungehörig und unsinnig, Wagenknechts Äußerungen (und ihr politisches Handeln) der letzten Jahre und Jahrzehnte mit der Gefahr einer Faschisierung in Zusammenhang zu bringen, so kann ich nur entgegnen: Erstens gibt es historisch genügend Beispiele dafür, wie »linke Leute nach rechts und rechte Leute nach links« wanderten, um es salopp auszudrücken. Ob es sich um den sogenannten linksvölkischen Strasserblock innerhalb der NSDAP handelte (vgl. Opitz 1984) oder um Teile der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, die sich dem militaristischen, nationalistischen und schließlich dem faschistischen System andienten (vgl. Meyer 2017); gerade weil wir eine strukturelle Ähnlichkeit unserer sozialistischen und kommunistischen Ideen mit denen der Alt- und Neofaschisten ablehnen (das, was als »Hufeisen-Theorie« kursiert), ist es umso wichtiger zu zeigen, wie Sahra Wagenknecht politisch-biografisch durch ein staatsfixiertes Avantgarde-Denken problemlos in reaktionäre Muster und Praxen (Staat wird zur Nation; Avantgarde wird zur Parteiführerin) »rutschen« konnte und wollte. Der von ihr so sehr bedauerte »kleine Mann« bzw. »normale Arbeiter« ist lediglich Objekt einer von Führern »gut gemachten« Politik; als handelnde Subjekte kommen Arbeiter_innen und Angestellte, Student_innen und Beamte, Arbeitslose und Obdachlose nicht vor (weder als Betriebs- und Personalräte noch als Streikende oder gewerkschaftlich organisierte Vertrauensleute etc.) .
Für die Faschisierungs-Behauptung (in Bezug auf Wagenknecht) gibt es ein denkwürdiges Faktum: Björn Höcke, Alexander Gauland und Peter Gauweiler5 werden gute Gründe haben, die politischen Aktionen und Botschaften Sahra Wagenknechts zu loben – bis hin zur Äußerung des Wunsches, sie möge Mitglied in der AfD werden6. Anstatt dem Argument nachzugeben, dass es sich dabei um taktische Versuche »von rechts« handle, linke Politik zu destruieren, sollten wir überlegen, welche inhaltlich relevanten Passagen in Wagenknechts Büchern und Reden (ganz zu schweigen von ihren Internetinhalten) den neuen Nazis Gründe an die Hand geben, sie als Weggefährtin betrachten zu wollen.
Es mag Gründe geben, die politischen Überlegungen Sahra Wagenknechts, die sie in Talkshows und in ihren Büchern der Öffentlichkeit anbietet, zu ignorieren. Allerdings müssen sich diejenigen, die über Wagenknecht und ihre Auftritte schweigen, klar sein, dass sie damit ihr Einverständnis mit Sahras »Rechtsschwenk« signalisieren. Aus Kreisen der Linkspartei gibt es zwei Warnungen, dieses Buch auf den Markt zu bringen: Zum einen soll nicht noch »Öl ins Feuer gegossen werden« und die innerparteiliche Auseinandersetzung demnach nicht geführt werden. Zum anderen, so die Befürchtung, werden sich die bürgerlichen Medien auf eine solche Auseinandersetzung stürzen und sich über die »Selbstzerfleischung« der Linkspartei freudestrahlend die Hände reiben. Dass selbstbewusste Sozialist_innen und Kommunist_innen einer notwendigen Auseinandersetzung mit diesen zwei Argumenten aus dem Weg gehen, hängt mit einer »verdrehten« Täter-Opfer-Logik zusammen: Sahra Wagenknecht ist es, die seit Jahren »Öl ins Feuer gießt« und gegen Parteikolleg_innen und Parteitagsbeschlüsse ihre eigene Meinung ohne Rücksicht auf Verluste propagiert. Und was die bürgerlichen Medien betrifft: Ist es nicht ebenfalls Wagenknecht, die auf dieser Klaviatur spielt und BILD, Welt, FAZ sowie TV-Shows nutzt, um die Zerstörung der Linkspartei voranzutreiben? Es geht uns darum – wie Rosa Luxemburg 1906 schreibt –, »laut zu sagen, was ist« (und sie bezeichnet das als »revolutionäre Tat«) und nicht zu schweigen7. Falls es noch einer weiteren Belegstelle bedarf, um die vor den bürgerlichen Medien zitternden linken Menschen zu überzeugen, dass Kritik selbst dann geübt werden kann und muss, wenn die bürgerliche Journaille sich daran ergötzt, sei Marxens Brief an Engels vom 18. Juli 1877 zitiert, in dem es heißt: »Rücksichtslosigkeit – erste Bedingung jeder Kritik wird in solcher Gesellschaft unmöglich; außerdem beständige Rücksicht zu nehmen auf Leichtverständlichkeit, d.h. Darstellung für Unwissende« (Marx [1877] 1977, 48).
die zentrale kategorie: die handlungsfähigkeit,
der whirlpool, in dem oben und unten
sitzt, die nackten interessen.
der kapitalismus die gesellschaft,
sozialismus die politik, die ihn auf
einen andern begriff bringt
(Volker Braun, Werktage – Arbeitsbuch, 2014, 185)
Für eine gesellschafts-, also systemverändernde Politik von »links« ist es unumgänglich, eine Theorie darüber zu entwickeln, wie die aktuelle Gesellschaft analytisch zu durchdringen und darzustellen ist: Dass kapitalistisches Wirtschaften (also die ökonomische Grundlage einer Gesellschaft) etwas mit den sich entwickelnden Produktivkräften und damit der Produktionsweise zu tun hat, was wiederum die Arbeits- und Lebensweise der Menschen weitgehend bestimmt, ist für Marxist_ innen eine Selbstverständlichkeit. Dass eine Ordnung, die so zerstörerisch ist wie das kapitalistische Wirtschaften, auf eine unglaubliche Art und Weise stabil gehalten wird, hängt nicht nur mit deren externalisierter Form der Krisenbewältigung8 zusammen, sondern auch und gerade mit der »Produktion« ideologischer Praxen durch das, was Louis Althusser »ideologische Staatsapparate« (ISA) nennt: Justiz, Schule, Hochschule, Interessenverbände, Familie, Kirchen, Medien etc. (Althusser 2010, 55). Im Gegensatz und gleichzeitig in Einklang mit den »repressiven Staatsapparaten« (Armee, Polizei, Staatsschutz, Verfassungsschutz) sorgen sie für eine Stabilisierung der herrschenden Ordnung; einerseits, um die »Reproduktion zu gewährleisten, [und andererseits] durch die ›Werte‹, die sie der Außenwelt anbieten« (ebd., 56). Die Stabilität eines Staats (einer Nation, einer Gesellschaft) kann weder allein durch Repression noch durch Ideologie aufrechterhalten werden, wie Althusser mit Bezug auf Antonio Gramsci feststellt: »[Man muss] sagen, dass die ideologischen Staatsapparate ihrerseits auf massive Weise in erster Linie durch den Rückgriff auf Ideologie funktionieren, auch wenn sie in zweiter Linie durch den Rückgriff auf Repression arbeiten« (ebd., 57). Das Schulsystem ist ein gutes Beispiel für dieses Zusammenwirken repressiver und ideologischer Anteile in den ISA: Solange die Beschulten sich an die Regeln (und damit die scheinbar »natürliche« Ordnung) einer Schule halten, haben sie nichts zu befürchten. Doch schon bei kleinen Abweichungen und Widerständigkeiten droht ein Gespräch bei der Schulsozialarbeiterin oder Schulpsychologin, eine Sanktion (Verweis, verschärfter Verweis etc.) oder gar der Rauswurf aus der Schule. Auch wenn Althusser mit seiner theoretischen Neuerung auf der Subjektseite die »Ausbildung selbstbestimmter Handlungsfähigkeit« (Rehmann 2008, 117) vernachlässigte, wirft er doch radikal die Frage auf, welche Stellung die Subjekte in einer marxistischen Analyse von Produktions- und Lebensweise, verbunden mit ihrer ideologischen Selbst- und Fremdformierung, einnehmen. So wird ihnen (theoretisch) die Möglichkeit eingeräumt, sich zu den herrschenden Verhältnissen zu verhalten bzw. sie handelnd zu verändern.
Es gilt im Folgenden zu überprüfen, inwieweit eine sich »links« dünkende Politikerin wie Sahra Wagenknecht die gesellschaftlichen Verhältnisse beschreibt, wie sie das Zusammenspiel des Ökonomischen mit dem »Ideologischen« denkt und das darin Eingelassensein bürgerlicher Institutionen und der darin handelnden (bzw. handlungsunfähig gemachten) Menschen. Denn letztlich geht es linker Politik um eine Möglichkeit, die in den Verhältnissen lebenden Subjekte darüber aufzuklären, wie sie darin »eingelassen« sind und wie ein Weg zu einer gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft zu machen ist. Zu überprüfen ist aber auch, ob und wie Wagenknecht in ihrer Darstellung die von ihr »erforschten« (bzw. behaupteten empirischen) Zusammenhänge9 zum Ausdruck bringt. Karl Marx hat dazu im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital geschrieben: »Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden« (Marx [1873] 1979, 27).
Um die realen gesellschaftlichen Verhältnisse theoretisch abzubilden, sind die dazu entwickelten Kategorien bzw. Begriffe, »die man sich von was macht, […] sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann« (Brecht 1967, 1461). Die Wahl der Begriffe und Kategorien zeigt an, welchen Standpunkt jemand zu seinem Gegenstand einnimmt. Wie Frigga Haug schreibt, können sie zu eingreifendem Handeln befähigen und zu »Träger[n] von Hoffnung wie von Verzweiflung« (1997, 720) werden. Träger von Hoffnung werden Begriffe dann, »wenn die Subjekte mit ihnen Verhältnisse als veränderbar begreifen und denken können: als historisch gewordene und damit auch durch individuelle, kollektive […] politische Kämpfe zu überwindende Verhältnisse« (Weber 2001). So macht es bspw. einen Unterschied, ob ich über Menschen schreibe, dass sie in sozialen Verhältnissen handeln, oder darüber, dass sie sich dazu verhalten: Der Handlungs-Begriff kann aufschlüsseln, wo und wie Möglichkeiten bestehen, in den Verhältnissen diese zu verändern (bzw. daran gehindert zu werden), während der Verhaltens-Begriff das Subjekt als reagierendes, passives Individuum denkt, sodass das behavioristische Denken mit seiner Logik der Verhaltensmodifikation durchschlägt. An Wagenknechts Texten (und ihrer Begriffswahl) ist zu erkunden, ob und wie sie daran arbeitet, dass der je einzelne Mensch sich in den Verhältnissen einrichtet und sie bejaht; ob und wie sie Befreiungshandeln aus ungerechten Verhältnissen denkt; zuletzt: ob und wie sie begrifflich daran arbeitet, dass die subjektive Einordnung in ein völkisches bzw. nationales Kollektiv mit der Ablehnung des Fremden, des Anderen gekoppelt wird, und damit die gesellschaftlichen Spaltungen, welche der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer staatlichen Stützung inhärent sind, entnennt.
Zur Argumentationsstrategie Sahra Wagenknechts sei noch Folgendes angemerkt: Selten bezieht sie Stellung in der Ich-Form, manchmal schreibt sie im Duktus des wissenschaftlich üblichen »Wir«, das suggeriert, die behauptete Sache sei mehrheitlich akzeptiert. Ein Beispiel: »Der Zeitgeist10, soweit wir Umfragen zu konkreten Themen als Maßstab nehmen, ist sozialökonomisch links und kulturell solide liberal« (Wa, 196). Der Satz erscheint beim ersten Lesen eingängig; die Leser_innen können sich weitgehend in die nahegelegten Behauptungen »einfühlen«. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, wie praktisch alles an ihm fragwürdig ist: Da gibt es zum einen einen »Zeitgeist«, der sich in kulturellen bzw. sozioökonomischen Haltungen »ausdrückt«. Wie er zustande kommt, wieso er im Satzgefüge als Subjekt auftritt, auf welche Art und Weise die behaupteten »Umfragen zu konkreten Themen« die »Ausrichtung« des Zeitgeists bestätigen – darauf gibt es keine Antwort. Die genannten Umfragen werden nicht genannt und so ist die Leserin darauf angewiesen, Wagenknecht Glauben zu schenken. Bei genauerer Analyse des Satzes stellt sich aber zum anderen die Frage, ob und wie die Prädikate des Satzes (»links«, »solide liberal«) von Wagenknecht gemeint sind: Doch an keiner Stelle des Buchs wird deutlich gemacht, was diese im politischen Raum beheimateten Adjektive bedeuten sollen. An solchen »Containersätzen« mangelt es in den Selbstgerechten nicht. Ein zweites, bedeutsameres Merkmal ihrer Argumentationslogik besteht darin, dass sie »über Bande« argumentiert. Wagenknecht nimmt selten direkt Stellung zu behaupteten Missständen, sondern meist über eine Behauptung, die sie der von ihr abgelehnten und bekämpften »Lifestyle-Linken« unterstellt. Diese von ihr »erfundene« Gruppe (siehe Wolowicz in diesem Buch) würde z. B. »alte weiße Männer« (Wa, 197) herabwürdigen und verächtlich machen. Wenn diese sich nun »wehrten« und rechts wählten, dann zeigt Wagenknecht dafür implizit Verständnis, ohne dies zu explizieren. Aussagen wie »Die meisten Menschen […] fühlen sich auf den Arm genommen« (Wa, 196), »wurde öffentlich beinahe hingerichtet« (Wa, 38), »Wer so denkt und die geschilderten Werte hochhält, wird heute konservativ genannt«, lassen keine Diskussion über die Inhalte zu, über die gestritten werden könnte, sondern etablieren einen Opferdiskurs (mit vorab bestimmten Täter_innen), den Wagenknecht nutzt, um sich zur Fürsprecherin der »einfachen Leute«, der Armen und Schwachen zu erklären.
Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie Sahra Wagenknecht inhaltlich die Brücken nach »rechts« baut und beschreitet. Ihr Bekenntnis zum deutschen Nationalstaat und einer nationalen »Marktwirtschaft« (die mitnichten sozialistisch zu verstehen ist) ist weniger von Belang. Hier soll es darum gehen, die ideologischen Versatzstücke so zu ordnen, dass ersichtlich wird, wie Sahra Wagenknecht »Gesellschaft« denkt. Die Leser_innen können aufgrund des dargebotenen Materials entscheiden, ob der Faschisierungsvorwurf berechtigt ist oder nicht.
Im Vorwort des Buchs Die Selbstgerechten bedauert Wagenknecht, dass »Gemeinwohl und Gemeinsinn Worte sind, die aus der Alltagssprache nahezu verschwunden sind« (Wa, 9). Wie sie darauf kommt, ist schleierhaft; bei einer Suchanfrage via Nicht-Google erscheint der Begriff Gemeinwohlökonomie 68 500, Gemeinsinn 63 500 und Gemeinwohl über 280 000 Mal. Doch selbst wenn sie recht hätte mit ihrem Bedauern, wäre es angemessener, die sozioökonomischen Grundlagen der Sprech- und Sprachveränderung zu erkunden anstatt zu bedauern, dass »Wir-Bewusstsein, Gemeinschaftsorientierung […] und gegenseitige Verantwortung« (Wa, 62) verloren gegangen seien.
Wagenknecht schreibt selten von »Gesellschaft«, sondern legt großen Wert auf das Wort »Gemeinschaft«. Die Zugehörigkeit dazu leitet sie nicht ab aus der freiwilligen Zustimmung der Menschen (z. B. zur Jugendgruppe, zur Fußballmann- oder -frauschaft, zum Seniorenclub etc.), sondern aus der Natur des Menschen: »Menschen leben in Gemeinschaften und sie brauchen das Miteinander. Das gilt für alle Zeiten und letztlich für alle sozialen Schichten. […] [Der Mensch] ist ein Gemeinschaftswesen« (Wa, 205); »[Menschen] sind von dem Erbe geprägt11, als soziale Wesen über Jahrhunderte in Gemeinschaften gelebt […] zu haben« (Wa, 209). Während der Gesellschaftsbegriff die »Gesellung« des Menschen qua Notwendigkeit der Lebensmittel- und Lebensproduktion und damit die widersprüchlichen Vergesellschaftungsformen in den Mittelpunkt rückt, basiert das Reden von Gemeinschaft darauf, dass diese frei von Gegensätzen und Widersprüchen (innerhalb einer Gruppe) konzipiert wird: »Das ›Gemeinsame‹ entspringt stets einer Verallgemeinerung widersprüchlicher Merkmale« (Gonzales 2001, 178). Der von Marx im Kapital utopisch entworfene »Verein freier Menschen« ([1872] 2017, 53) ist das schlichte Gegenteil einer naturwüchsigen Gemeinschaft: Erkenntnis und Reflexion der herrschenden Verhältnisse durch die Subjekte voraussetzend, vereinen sie sich in der Arbeit und im Kampf gegen ein menschenfeindliches System zur Überwindung desselben: der »freie Verein« als Mittel und Zweck einer besseren Welt in einem. Bei Wagenknecht dient die imaginierte Harmonie einer Gemeinschaft dazu, die sich historisch verändernden Zugehörigkeiten zu Kollektiven zu leugnen und die (oft nicht selbst gewählten) Gemeinschaftszugehörigkeiten (Familien, Stadt, Land etc.) als Teilhabe »an einem gesellschaftlichen Imaginären, […] an einer Ideologie oder an einer mehr oder weniger gemeinsamen Kultur« zu postulieren (Gallissot 1985, 410). Mit der Naturalisierung des »Gemeinschaftlichen« verschwinden Fragen nach den jeweiligen Widersprüchen (in Familien, Dörfern etc.) und Macht- sowie Herrschaftsverhältnissen.
Doch Wagenknechts Überlegungen zur »Gemeinschaftsbildung« zeichnen sich nicht nur durch eine überhistorische (»für alle Zeiten«), von den Zeitläuften unabhängige Form aus; sie legt ihrer Konstruktion zudem ein Freund-Feind-Schema zugrunde (auch wenn sie es etwas freundlicher ausdrückt): »Dass Mitgliedern einer wie immer definierten Gemeinschaft eher vertraut wird als denen, die nicht dazugehören [kursiv i. O., kw], ist keine irrationale Marotte, sondern ein Verhalten, das sich jahrhundertelang bewährt hat« (Wa, 206); »In einer intakten Familie fühlen wir uns anderen Familienmitgliedern enger verbunden als Menschen, die nicht zur Familie gehören. Wir sind eher bereit, Familienmitglieder zu unterstützen als Fremde. Das ist kein moralisch fragwürdiges, sondern ein normales menschliches Verhalten« (Wa, 205). Das »Wir« in Wagenknechts Ausführungen legt nahe, dass all diejenigen, die nicht dazugehören (oder nicht dazugehören wollen), »unnormal« und unnatürlich seien. Das und der »Fremde« haben keine Chance, eine Gemeinschaft mit den »Zugehörigen«, den »Eigenen« zu bilden. Sie müssen draußen bleiben aus der durch »den Wert nationaler Zusammengehörigkeitsgefühle […] und die alten Stammesbande« (Wa, 218) verbundenen Gemeinschaft: »Europa oder gar Deutschland kann nicht einen Großteil der über 60 Millionen Flüchtlinge aufnehmen« (Wa, 152); »Die Mehrheit möchte […] nicht mit immer mehr Zuwanderern um Arbeitsplätze und Wohnungen konkurrieren, wenn sich der eigene Lebensraum bis zur Unkenntlichkeit verändert« (Wa, 197). Die Wortwahl Wagenknechts (Lebensraum, Gemeinschaftsgefühl, Stammesbande) macht es unmöglich, sie nicht mit den Ausführungen Björn Höckes (»Das von [Carl] Schmitt geforderte ›Interventionsverbot raumfremder Mächte‹ […] ist hochaktuell, müsste allerdings nach den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit um das […] ›Migrationsverbot raumfremder Bevölkerungen‹ ergänzt werden« [2019, 283]) oder gar Adolf Hitlers in Mein Kampf (»Der Staat […] ist die Organisation einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleicher Lebewesen zur besseren Ermöglichung ihrer Forterhaltung« [Hartmann et al. 2016, 425]) in Verbindung zu bringen. Bei beiden folgt auf die Feststellung einer natürlichen und »normalen« nationalen Gemeinschaft die rassische, territoriale oder kulturelle Ausgrenzung des »Fremden«. Wagenknechts Wortwahl ist bewusst gewählt: Sie will die gesellschaftlichen Gründe (Krieg, Folter, Hungerkatastrophen etc.), aufgrund derer Menschen in andere Länder flüchten und die auch die »einheimischen« Lohnabhängigen vor enorme Probleme stellen, nicht benennen, um den Gegensatz von Gemeinschaftszugehörigen und Gemeinschaftsfremden für ihre Form des sozialen Nationalismus »auszubeuten«.
Der Vater ist viereckig
und raucht Ernte 23.
Am Sonntag im Bett
zieht er den Kindern gern
schnurgerade Scheitel.
(Heinar Kipphardt, Leben des
schizophrenen Dichters Alexander M.)
»Diese Familie, die im Anfange das einzige soziale Verhältniß ist, wird späterhin, wo die vermehrten Bedürfnisse neue gesellschaftliche Verhältnisse […] erzeugen, zu einem untergeordneten (ausgenommen in Deutschland)« (Marx & Engel [1845] 2017, 28). Was Marx und Engels mit dieser Aussage in der Deutschen Ideologie deutlich machen wollen, ist die in den und mit den gesellschaftlichen Verhältnissen sich verändernde Familienform. Ein paar Jahre später, im Kommunistischen Manifest, werden sie behaupten: »Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt« ([1848] 1983, 465). Sie fordern die »Aufhebung der Familie« (ebd., 478) und machen sich lustig über diejenigen, die sich »ereifern über diese schändliche Absicht der Kommunisten« (ebd.). »Werft ihr uns vor, dass wir die Ausbeutung der Kinder durch ihre Eltern aufheben wollen? Wir gestehen dieses Verbrechen ein«, antworten sie ihren Kritikern.
Wagenknecht stellt – wie so oft ohne empirischen Beleg – fest, dass »viele Menschen vielleicht auch deshalb rechts [wählen], weil […] sie sich verletzt fühlen, wenn ihre Vorstellung von Glück, nämlich dauerhaft an einem vertrauten Ort zu leben, eine traditionelle Familie zu gründen und ihren Kindern vor allem ein verlässlicher Vater und eine gute Mutter zu sein, als überholt und provinziell belächelt wird« (Wa, 197). Und sie postuliert: »Auch eine stabile Familie ist kein Käfig, sondern für viele Menschen ein Lebenstraum …« (Wa, 224). Familie ist für sie – wie die familiäre Gemeinschaft – eine naturwüchsige Angelegenheit, so als hätten sich die Familienformen über die Jahrtausende nicht verändert12. Das, was Wagenknecht als überhistorisch und universell denkt, ist »jedoch ein historisch spätes Produkt der bürgerlichen Gesellschaft; die antike wie die mittelalterliche patriarchale Familie war eine umfassende Lebens- und Produktionsgemeinschaft, deren Mitglieder nur zum Teil verwandtschaftlich oder ehelich miteinander verbunden waren« (Haug & Petrioli 1999, 100). Bei Wagenknecht wird die moderne »Kernfamilie« (Gemeinschaft von Mutter, Vater, Kind[ern]) zum widerspruchs- und gewaltfreien Hort des Guten, Schönen und Besonderen, der seine Güte, Schönheit und Besonderheit dadurch gewinnt, dass er sich abgrenzt gegen das »Fremde« und »Andere«: »Für Menschen, die sich an Gemeinschaften orientieren, ist ihre Familie nicht irgendeine Familie, ihre Heimatregion nicht irgendein Landstrich und ihr Land etwas anderes als andere Länder« (Wa, 220).
Das, was Wagenknecht »Normalfamilie« bzw. »traditionelle Familie«13 nennt, ist in einer kapitalistischen Gesellschaft nichts anderes als eine gesetzlich abgesicherte Institution, die ihre Funktion in der »Aufrechterhaltung der für den kapitalistischen Arbeitsprozess nötigen Autorität und komplementärer Unterwerfungsbereitschaft« (Ketelhut 1999, 114) hat. Weder die feministischen Argumente gegen den mit der Familienideologie verbundenen Familienlohn (der unter dem Etikett Ehegattensplitting weiterlebt) noch die Frage der Aufteilung von Produktion und Reproduktion in eine Arbeits- und eine Familienwelt (mit der immer noch üblichen Zuordnung: Männer in der Lohnarbeit, Frauen auf prekären Arbeitsstellen plus Sorgearbeit in der Familie) oder die Fragwürdigkeit einer Lebensform, die vor allem für Kinder und Frauen mehr als bedrohlich ist, sind in Wagenknechts Idealisierung und Mythisierung von »Familie« beinhaltet14: »Die Normalbiografie machte das Leben planbar, das Normalarbeitsverhältnis garantierte allmählich steigende Löhne und vielfach auch eine berechenbare Karriere, die Normalfamilie mit der zumindest in Zeiten der Kindererziehung nicht berufstätigen Frau wurde erstmals auch für Arbeiter und Angestellte erschwinglich« (Wa, 65)15. Das reaktionäre Familien- und Frauenbild, das die »linke Frontfrau« in ihren Büchern propagiert, ist frei von jeglichem Wissen um das, was wirklich in Familien geschieht. Alexander Kluge bringt auf den Punkt16, was »Familien-Analyse« so schwierig macht: »Familien sind die Brutstätte der Angst, der Sehnsucht und des gesellschaftlichen Charakters von Menschen, ein ungeheures Laboratorium. Wegen des hohen Maßes an Gewalt, die in diesem Zusammenhang steckt, wehrt sich das Vorstellungsvermögen, sich sachlich damit zu beschäftigen« (2009, 525).
Heimat is do, wo ma si aufhängt
Heimat is do, wo ma aufghängd wead
(Kaskich 2020)
Wagenknecht zufolge sind »Glaube, Nation und Heimat« für die von ihr bekämpfte imaginäre Gruppe der Linksliberalen »Chiffren für Rückständigkeit« (W, 99). Sie setzt dagegen: »Die meisten Menschen lieben ihre Heimat und identifizieren sich mit ihrem Land, und sie wollen dafür nicht angefeindet oder moralisch herabgewürdigt werden« (Wa, 197). Weil sie ihr Land, ihre Familie und ihre Heimat als »etwas anderes« und Besonderes gegenüber »anderen Ländern« empfinden, »fühlen sie sich Staatsbürgern des eigenen Landes enger verbunden als Menschen, die woanders leben, und sie wollen nicht, dass die Politik oder die Wirtschaft in ihrem Land von außen gesteuert wird« (Wa, 220). Wer sich nicht in Talkshows und Zeitungsredaktionen aufhält, sondern dort, wo die Menschen leben und arbeiten, über die Wagenknecht schreibt, wird erfahren können, dass es den meisten Mitarbeiter_innen einer Firma egal ist, ob das Werk »in deutscher Familienhand« bleibt, ob der ausbeutende Kapitalist Amerikaner, Franzose oder ein chinesisches Konsortium ist. Wichtig sind die sozialen Bedingungen (Arbeitszeit, Gesundheitsschutz, Verhalten der Vorgesetzten etc.), unter denen die Arbeitskraft verkauft werden muss. Doch Wagenknecht setzt bewusst das Innen-Außen-Verhältnis gegen das von Kapital und Lohnarbeit: So kann sie die »nationalistische Karte« spielen und die deutsche »soziale Marktwirtschaft« (im Übrigen eine Erfindung Erhards in den letzten Monaten der NS-Zeit) gegen den Kapitalismus mit seinem »internationalen Finanzkapital« (Wa, 313) setzen und eine »De-Globalisierung« (Wa, 310) fordern, die »unser Leben verbessert« (ebd.).
Auch wenn Wagenknecht nicht vom Vaterland spricht, so klingen ihre Worte – was die deutsche Nation betrifft – nicht anders als jene, mit denen seit mehr als hundert Jahren in idealistischer Manier die Einheit einer deutschen Nation beschworen wird: »Nationen entstehen durch eine gemeinsame Kultur und Sprache, durch geteilte Werte, gemeinsame Traditionen, Mythen und Erzählungen, aber auch durch eine gemeinsame politische Geschichte« (Wa, 235). Wie falsch sie mit dieser Entstehungsgeschichte von Nationen liegt, ist (im Beitrag von Veiglhuber) nachzulesen: Geary (2002) kann zeigen, wie Sprachvereinheitlichung, »Werteerzeugung« sowie die Herstellung von Mythen und Erzählungen fast immer mit der Vernichtung alternativer Sprachen, Erzählungen und Mythen einherging. Nationen sind also nicht einfach »entstanden«, sondern ideologische (und später) staatliche Gebilde, die durch Herrschaft und Zwang »fabriziert« werden mussten – durch Totschlag, Vergewaltigung, Folter und Vernichtung derer, die sich der »nationalen Idee« nicht beugen wollten. Nach wie vor gilt der Satz von Marx und Engels aus dem Kommunistischen Manifest: »Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben« (Marx & Engels [1848] 1983, 479). Alle Politiker_innen, die sich auf die Nation als »schützenswertes« Gut fixieren, entnennen damit in der Regel Klassenkonflikte und andere Herrschaftsverhältnisse.
Peter Handke, österreichisch-slowenischer Herkunft, weiß, dass die Gegend, welche die meisten »Heimat« nennen, vor allem mit Einheimischen bevölkert ist, die einen wie ihn aus dieser Heimat vertreiben wollen wie alles »Fremde« und »Andersartige«. In einer solchen Heimat könne er nicht leben, denn: »Die Heimat ist von den Feinden besetzt, seit je« (1998, 123). In einem Streitgespräch mit seinem fremdenverachtenden Großvater (»Mit eurer Fremdsprache habt ihr unsere heilige Heimatluft entheiligt!«) findet Peter Handke ein Wort gegen des Großvaters Heimatgeschwätz: »Ein einziges reichsdeutsches Wort hat mich allerdings aufhorchen lassen: ›Bleibe‹. Bleibe … Bleibe! – statt der ewigen Leier mit ›Heimat‹!« (2010, 22). Wagenknecht spricht Heimat und Nation so, dass die »Anderen« und die »Fremden« in ihr ebenfalls nichts zu suchen haben, weil sie »natürlicherweise« nicht dazugehören (können).Herrmann Gremliza, der 2020 verstorbene Herausgeber der Zeitschrift Konkret,extremisiert diesen Zusammenhang des dem Heimatbegriff inhärenten Freund-Feind-Schemas: »Ohne Liebe zur Heimat keine Verbrechen gegen die Menschheit«. Heiner Müller dagegen zielt mit seiner Rede gegen jede Mythisierung und Idealisierung von »Heimat« und »Heimatliebe«: »Meine Frau sagt: ›Heimat ist dort, wo die Rechnungen ankommen‹« (2008, 586). Dass und wie Wagenknecht die »Liebe zur Heimat« mit der Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Fremden ins Zentrum ihrer Identitäts- und Nationalitätspolitik rückt, belegt ihre Nähe zu Politiker_innen der AfD17. »Genderisierung, Angriff auf die traditionellen und bewährten Werte der klassischen und natürlichen Familien, […] das Bild und die Rolle der Frau und des Mannes, die Vernichtung der Identität und Verbundenheit mit seiner Heimat und viele andere Maßnahmen, die alle zur heutigen demografischen Situation führen«, heißt es in einer Rede eines oberbayerischen Parteifunktionärs der AfD. »Es gilt der Heimat, auch wenn wir nur zu spielen scheinen«, heißt der Leitspruch des Höcke-Buchs Nie zweimal in denselben Fluss (2019, 7), der im Interview behauptet, »dem ganzen No-Border- und Entortungswahn müssen wir das Recht auf Heimat entgegenhalten – ein Menschenrecht, das völkerrechtlich geschützt und Bestandteil der in Art. 1 unseres Grundgesetzes niedergelegten unveräußerlichen Menschenwürde ist18« (ebd., 204).
Wagenknecht ist nicht zu widersprechen, wenn sie behauptet, individuelle und kollektive Identitäten hätten etwas mit historischen Erzählungen, mit Traditionen und Bräuchen zu tun: »Gemeinsame Identitäten beruhen auf gemeinsamen Erzählungen, die Werte, Normen und Verhaltensregeln festlegen. Viele Bräuche und Traditionen haben gerade darin ihren Wert, Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit zu vermitteln« (Wa, 206). Was Traditionen und Bräuche jedoch sein sollen (und welche Erzählungen ihr als gemeinschaftsbildend vorschweben), verrät Wagenknecht nicht. Wenn Adorno schreibt, »nicht Bewußtsein ist ihr [der Tradition, kw] Medium, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergangenen« ([1966] 1997, 310), so trifft er den Nagel auf den Kopf. Das »Programm«, das Wagenknecht vorlegt, basiert auf dem Gedanken, individuelle und kollektive Identitäten würden durch vorgegebene Muster »geprägt« (so ein häufig von ihr benutzter Begriff). Diese werden von ihr jedoch nicht auf ihre herrschaftsförmige oder herrschaftskritische Funktion hin hinterfragt. Kritik an Traditionen, Bräuchen und Erzählungen kann sie sich nicht vorstellen – und reproduziert »bewusstlos« die Erzählungen der Herrschenden19 über herrschende Erzählungen zur Ein- und Anpassung an die Verhältnisse.
Was Wagenknecht in der Aufzählung (der »Zugehörigkeit« vermittelnden Dinge) nicht erkennen will, ist die Tatsache, dass es keine homogenen und widerspruchsfreien Erzählungen gibt. Wer wie sie in der DDR aufgewachsen ist, müsste wissen, dass ein wichtiger Baustein für diese Republik war, »Gegenerzählungen« zum westdeutschen »Blick auf die deutsche Geschichte«, insbesondere den deutschen Faschismus, zu etablieren. Die Herausgabe des Braunbuchs mit den Namen und Funktionen der in der BRD hofierten Nazi-Größen, das Verlegen und Verkaufen antimilitaristischer und antifaschistischer Literatur zu geringsten Preisen (und beispielsweise eine Teilnahme an den Weltfestspielen der Jugend aller sozialistischen Staaten) waren weit weg von dem, was in der BRD als offizielle Erzählungen zugelassen wurde20. Ähnliches gilt für »Bräuche«. Sie sind nichts anderes als ideologische Praxen, in denen die Subjekte sich einüben in die Normalität der Herrschaftsgesellschaft. Wer wie ich aus Oberbayern kommt und am eigenen Leib erleben musste, wie Trachtlerbrauchtum, Schuhplatt’ln und Alkoholkonsum aus mir einen »Mann« machen sollten, der sich in diesem Landstrich zu Hause fühlt, der/die weiß, dass Brauchtum und Tradition andere Worte sind für die körperliche, psychische und soziale Herstellung von Subjekten, die jeder Herrschaft untertänig zustimmen. »Große Erzählungen prägen Milieus, und sie werden in Milieus weitergegeben« (Wa, 55). Was Wagenknecht unter »groß« versteht, ist mir schleierhaft. Ich habe mich an die kleinen Erzählungen von Liebe, gerechtem Leben und einen »Verein freier Menschen« gehalten, die mich »links« und menschen- statt heimatverbunden werden ließen21.
Es ist allgemein bekannt, dass zur Stabilisierung der Eigengruppe das Vorhandensein von »Außenseitern« bzw. Sündenböcken gehört. Für Wagenknecht ist die Herstellung eines regionalen bzw. nationalen Zusammenhalts ebenfalls nur möglich über die Herausbildung einer eigenen kollektiven Identität und ihre »Entgegen-Setzung« zu »Anderen«. Das sind keine anderen Nationen, sondern diejenigen, die sie herablassend als »Lifestyle-Linke«, »fernreisende Bio-Konsumenten« (Wa, 27), Wirtschaftsflüchtlinge (»Wer ein besseres Leben sucht, […] müsste das nicht tun« [Wa, 142]) oder wie die Fridays-for-Future-Jugendlichen (»für die der Klimawandel nur ein Alibi ist, um [den Armen das] Heizöl, ihren Strom und ihren Sprit noch teurer zu machen« [Wa, 200])22 als »privilegierte Zeitgenossen« (ebd.) bezeichnet. Sie macht die nationale »Schicksalsgemeinschaft« (Wa, 218) zur Grundlage jeder Demokratie. Weil darin aber nur die Einheimischen und »Dazugehörenden« etwas zu sagen haben sollen, behauptet sie: »Demokratie lebt nur in Räumen, die für die Menschen überschaubar sind. Nur dort hat der Demos eine Chance, mit politischen Entscheidungsträgern auch in Kontakt zu kommen […] Je größer, inhomogener und unübersichtlicher eine politische Einheit ist, desto weniger funktioniert das. Kommen dann noch Unterschiede in Sprache und Kulturen hinzu, ist es ein aussichtsloses Unterfangen« (2016, 23). In den Selbstgerechten heißt es dazu: »Ohne Wir-Gefühl überlebt keine Demokratie« (Wa, 214). Der Satz wird Aristoteles zugeschrieben, ohne dass eine Quelle genannt würde. Wie im Bereich der Empirie, so zeigt Wagenknecht auch beim »Herbeizitieren« von Quellen, dass ihr der Kontext des Geschriebenen egal ist, Hauptsache, es passt in ihr Konzept. Selbst im konservativen Wörterbuch der Philosophie