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Anders, aber völlig richtig im Kopf!
Hatte Albert Einstein ADHS? Wie kümmerten sich Menschen in der Bronzezeit um Menschen im Autismusspektrum? Und was bedeutet der zunehmende Einfluss von KI für Menschen, deren Gehirn nicht neurotypisch ist?
Prof. Dr. André Frank Zimpel, Experte für Neurodivergenz und KI, hat selbst unzählige Studien durchgeführt, die die oft übersehenen Potenziale von neurodivergenten Personen untersuchen. Dabei ist ihm klar geworden, wie unverzichtbar deren besondere Aufmerksamkeit für die Arbeit mit künstlicher Intelligenz ist – und andersherum: Wie sie selbst von ihr profitieren können.
Wissenschaftlich fundiert und zugänglich erklärt Zimpel, was ein Hyperfokus ist, in welchen Bereichen Kinder im Autismusspektrum ihre Altersgenoss*innen überholen, wo Unterstützung nötig ist, und wo es sich lohnt, noch genauer hinzusehen.
Ein augenöffnendes Buch, nach dessen Lektüre man mit Freude auf die bunte Vielfalt der Menschheit blickt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2025
Millionen von Menschen in Deutschland sind neurodivergent und damit unter anderem von ADHS, Autismus, Legasthenie, Dyskalkulie, Tourette-Syndrom oder Synästhesie betroffen – manchmal ohne dass sie es selbst wissen. Die Intelligenz dieser Personen wird nicht selten unterschätzt, sowohl von anderen als auch (schlimmer noch) von ihnen selbst.
Wenn das Gehirn anders tickt, entsteht schnell eine gefühlte Glaswand aus unerfüllten Erwartungen. Auch wenn man die Erwartungen gern erfüllen würde: Was ist, wenn dafür gerade keine Energie vorhanden ist oder der Preis für die Anpassung zu hoch?
Prof. Dr. Zimpel erkannte in seiner jahrelangen Arbeit im Bereich der Neuropsychologie, dass sich viele Eigenschaften der Betroffenen plötzlich als Vorteil erwiesen. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung künstlicher Intelligenz rücken diese Vorteile nun in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Dieses Buch gibt einen wertvollen Überblick über die verschiedenen Facetten und unterschätzten Potenziale neurodivergenter Menschen. Und es macht Mut, einer von KI geprägten Welt mit Zuversicht entgegenzublicken.
Prof. Dr. André Frank Zimpel ist Professor mit dem Schwerpunkt »Lernen und Entwicklung« an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Neurodiversitätsforschung (ZNDF). Er ist Fachbuchautor, Diplom-Psychologe, Psychotherapeut (HPG) sowie Sonder- und Diplompädagoge mit den Fächern Mathematik und Kunst, außerdem leitet er das Zentrum für Aufmerksamkeitsbesonderheiten. Als gefragter Experte hat er bei vielen Wissenschaftsdokumentationen als Akteur und Berater mitgewirkt.
PROF. DR. ANDRÉ FRANK ZIMPEL
Die verborgenen Potenziale neurodivergenter Menschen
Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Originalausgabe April 2025
Copyright © 2025: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Eckard Schuster
Illustrationen: Prof. Dr. André Frank Zimpel; die Abbildungen 1, 2 und 3 wurden unter Verwendung von Chat GPT (DALL·E) erstellt.
Umschlag: Uno Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
IJ ∙ CF
ISBN 978-3-641-31930-4V001
www.goldmann-verlag.de
Vorwort
1. Wenn die Aufmerksamkeit anders tickt: Wie künstliche Intelligenz zum Maß für alle wurde
Besondere Aufmerksamkeit
Menschliche Computer
Sprachliches und bildliches Denken
Das Hilbert-Programm
KI und Mangel an Diversität
Intensive Aufmerksamkeit für zu feine Unterschiede
Eine Bildsprache für KI
KI fördert entwicklungslogische Intelligenz
2. Neurodivergenz in grauer Vorzeit: Eine Spurensuche
Personalisierung von KI
Tragische Raskolnikoffs
Menschliche Intelligenz ohne Schrift
Es gibt nicht nur eine Logik
Das Kindergrab in Salzmünde
Himmelskalender
Die Schamanin von Bad Dürrenberg
Ein unerbittliches Gedächtnis für Details
3. Intelligenzkult und Primzahlen: Wie entwicklungsfähig ist »Rain Man«?
Anfänge des Autismus-Diskurses
Neurodiversität und Autismus-Spektrum
Hightech und Autismusspektrum
Rain Man und ein weites Aufmerksamkeitsfenster
Aufmerksamkeitsblindheit
Bäume lenken vom Wald ab
Der kleine »Rain Man«
Wahnsinn als notwendiger Teil der Intelligenz
Autismus und KI in der Populärkultur
Intelligente Automaten und sich selbst programmierende Computer
Autismus und Kreativität
Der Computer-Flüsterer
Ein Gen für entwicklungslogische Intelligenz?
Autismus und Montessori-Pädagogik
Flow
4. Der Intelligenz auf den Nerv gefühlt: Wie ein Gen die Hirnleistung beeinflusst
Lebendige und künstliche neuronale Netzwerke
Superintelligent durch Hirntuning
Ein Gen für die Hirnleistung
Evolution eines Intelligenzgens
Immer mehr Hirn
Des Guten zu viel
Verschieden sein ist normal – und nicht paradox
Die größere Hälfte der Wahrheit
Das Medikament zur Steigerung des IQ heißt KI
Bewusstlose Algorithmen und bewusste Aufmerksamkeit
5. Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperfokus: Zu intelligent für Intelligenztests?
Zerstreutheit, Weckamine und Hirnstrom
Das exekutive Aufmerksamkeitssystem
Wie ADHS erwachsen wurde
Ein total verrückter Gedanke
Wie Kinder sich spielend Weltbilder erobern
Aufmerksamkeit und anschauliche Intelligenz
So einfach, dass nur ein Genie darauf kommen konnte
Albert Einstein – eine Ikone für Intelligenz und Neurodivergenz
Ein überfüllter Geist
Aufgewecktes Denken
Energiegewinn durch erhöhten Energieverbrauch
Hyperfokussierung bei Aufmerksamkeitsdefizit?
Welchen IQ hat KI?
Wie intelligent sind Intelligenztests?
Selbsteinschätzung ist wichtiger als Intelligenz
Verwebte Wahrnehmungen oder ein Feuerwerk der Sinne
Die Weisheit der vielen und die Bibliothek von Babel
Dank
Anhang
Schätzungen zufolge ist eine von sieben Personen neurodivergent.[1] Das bedeutet, ihr Nervensystem funktioniert jenseits von Standards und Normen, die als neurotypisch gelten. Diese Neurodivergenz ist ein unterschätzter Teil der neurologischen Vielfalt der Menschheit, kurz: der Neurodiversität.
Mindestens 4 Millionen Menschen in Deutschland sind vom Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom betroffen, und fast eine Million befinden sich im Autismus-Spektrum. Dazu kommen bei vielen Personen Legasthenie, Dyskalkulie, Tourette-Syndrom, Synästhesie usw. – manchmal, wegen der geringfügigen Ausprägung, ohne dass sie es selbst wissen. Die Intelligenz dieser Personen wird nicht selten unterschätzt – sowohl von anderen als auch (schlimmer noch) von ihnen selbst.
Ursprünglich hatte ich den Plan, mich in meinem Buch allein auf die Potenziale der Aufmerksamkeit von neurodivergenten Personen zu konzentrieren. Dann stellte mir meine Agentin Christine Proske die Frage: Könnte man dieses Thema nicht mit dem Thema »künstliche Intelligenz« verknüpfen?
Manchmal hilft es, einen Schritt zurückzutreten, um klarer zu sehen. Im Spiegel künstlicher Intelligenz fügten sich die drei Puzzlestücke Neurodiversität, künstliche Intelligenz (KI) und menschliche Intelligenz wie von selbst zu einem Gesamtbild.
Eine Lehre aus dem Werk »Wahnsinn und Gesellschaft«[2] von Michel Foucault ist: Bezeichnet man jemanden als intelligent, spricht man anderen die Intelligenz ab. Neurodivergente Menschen betrifft Letzteres in besonderem Maße. Der »KI-Hype« treibt diesen »Wahnsinn« auf die Spitze, indem er Maschinen Intelligenz zuschreibt und die Intelligenz der Menschheit abschreibt.[3]
Bis hierher ist »Wahnsinn« abwertend gemeint. Gleichzeitig spricht aber gerade die Fähigkeit von Menschen, Maschinen zu bauen, die ihnen Denkoperationen abnehmen, dafür, dass Menschen »wahnsinnig intelligent« sind. In diesem Sinne ist »wahnsinnig« umgangssprachlich auch als anerkennend und aufwertend zu verstehen. Diese Doppeldeutigkeit des Adjektivs schien mir die beiden gegensätzlichen Aspekte des KI-Booms auf den Punkt zu bringen.
Die erste Gelegenheit, dieses Verständnis von KI und Neurodiversität einem Publikum zu präsentieren, ergab sich für mich auf der re:publica 24, dem »Festival für die digitale Gesellschaft«.[4] Das Veranstaltungsgelände, der stillgelegte Postbahnhof am Gleisdreieck in Berlin, war mit 30000 zugelassenen Teilnehmenden nahezu überfüllt, die Veranstaltungen vollständig ausverkauft.[5] Wenn die U-Bahn oberirdisch über die stahlgraue Gründerzeitbrücke rauschte, vorbei an den gebogenen und verwinkelten Verzierungen der benachbarten Kühlhäuser in Ockergelb und Zinnoberrot, schien die märkische Backsteingotik vom Industriebarock New Yorks zu träumen. Vor dieser Kulisse suchte ein humanoider Roboter aus grauem Kunststoff – unklar, ob android oder gynoid – blinzelnd Blickkontakt mit ausgewählten Personen aus dem Menschenstrom.
In der KI-Forschung rechnet man innerhalb der nächsten Jahrzehnte mit einer Intelligenzexplosion.[6] Werden solche Maschinen bald intelligenter sein als Menschen? Woran könnte man das erkennen? Alle Fragen eines Intelligenztests richtig zu beantworten, genügt dafür keinesfalls. Das konnten bereits Personal Computer in den 1980er-Jahren. Vielleicht sollten künstliche humanoide Wesen nicht fremde Probleme, sondern vor allem ihre eigenen Probleme lösen können, damit sie intelligent wirken?
Das künstliche humanoide Wesen sollte beispielsweise in der Lage sein, wie ein Lebewesen das Problem seiner Energiezufuhr selbst zu lösen. Aber würde ein künstliches humanoides Wesen wirklich intelligent wirken, wenn es für seine Fotovoltaik immer den hellsten Ort im Raum aufsucht? Oder wenn es bei Verschleiß Ersatzteile selbstständig austauscht? Auch das würde nicht ausreichen, um die Erwartungen an eine intelligente Person zu erfüllen. Das künstliche humanoide Wesen müsste darüber hinaus die Kunst beherrschen, diese Erwartungen an Intelligenz gleichzeitig zu erkunden und zu erfüllen oder, wenn ihm das nicht gelingt, es die anderen nicht merken zu lassen.[7] Dieses Spiel der Intelligenz, getarnt als Bildung, ist das Rückgrat unserer Gesellschaft. Ein direkter Ausdruck dieses Intelligenzkults ist aber auch seine Kehrseite: 126 die Intelligenz beleidigende Redewendungen zählt etwa der Dichter und Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger auf.[8]
Werden intelligente Maschinen uns einst als »wahnsinnig« klassifizieren, weil wir die Lebensgrundlagen dieses Planeten zerstören? Dann stünde der gesamten Menschheit ein ähnliches Schicksal bevor, wie es viele neurodivergente Personen in den vergangenen Jahrhunderten erfahren mussten.
Wenn das Gehirn anders tickt, entsteht schnell eine gefühlte Glaswand aus unerfüllten Erwartungen. Auch wenn man die Erwartungen gern erfüllen würde: Was ist, wenn man sie zu spät oder gar nicht bemerkt? Was ist, wenn dafür gerade keine Energie vorhanden ist oder der Preis für die Anpassung zu hoch?
Einige Software-Unternehmen beginnen bereits jetzt, die Vorteile von Neurodivergenz zu erkennen. Sie stellen bevorzugt neurodivergente Personen ein – zum Beispiel zur Abwehr von Hacker-Angriffen. Denn eine Faustregel der Cyber-Security lautet: Wer sich verteidigt, denkt in Checklisten, wer angreift, in Bildern.[9] Untersuchungen in dem von mir geleiteten Zentrum für Neurodiversitätsforschung in Hamburg bestätigen, dass neurodivergente Personen tatsächlich häufiger in Bildern denken als neurotypische Personen. Sie können aber auch über ganz andere Besonderheiten der Aufmerksamkeit verfügen. Oft erweisen sich diese Besonderheiten zugleich als Segen und als Fluch.
Künstliche Intelligenz, die menschliche Intelligenz herausfordert, ist mehr als nur eine neue Technik. Als Superintelligenz könnte sie die letzte große Erfindung der Menschheit sein.[10] Diese Befürchtung geht davon aus, dass alle weiteren Erfindungen KI-generiert sein werden.
Dass neurodivergente Menschen maßgeblich an der Entwicklung der Grundlagen für KI mitgewirkt haben, ist vielen unbekannt. Auch dass künstliche Intelligenz nur einen verschwindend kleinen Teil menschlicher Intelligenz imitiert, übersehen viele, die Texte über KI verfassen. Das sind für mich alarmierende Signale dafür, dass die Geschichte der menschlichen Intelligenz als Ganzes neu erzählt werden will.
Dafür musste ich unter anderem Fragen behandeln, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Mit der Gegenüberstellung solcher Fragen habe ich für jedes der fünf Kapitel ein Spannungsfeld gefunden, das mein Interesse wecken und bis heute wachhalten konnte:
Kapitel 1:
Welchen unterschiedlichen Anteil haben Bilddenkende und Sprachdenkende an der Entwicklung der mathematischen Grundlagen von KI? Wie spiegelt KI diese beiden Denkformen wider und welche Bedeutung hat das für neurodivergente Personen?
Kapitel 2:
Welche Bedeutung hat KI für die menschliche Intelligenz im Vergleich zur gesprochenen und zur geschriebenen Sprache? Welche Spuren hat Neurodiversität in der Menschheitsgeschichte hinterlassen, lange bevor es dafür einen Namen gab?
Kapitel 3:
Welche Verbindungen gab und gibt es zwischen Autismus und KI in der Populärkultur? Wie identifiziert man Neurodivergenz bei Personen, die in einer Zeit gelebt haben, in der es dafür weder eine Bezeichnung noch eine Diagnostik gab?
Kapitel 4:
Was unterscheidet künstliche Intelligenz von lebendiger Intelligenz? Gibt es Intelligenzgene – und wenn ja, was haben sie mit Neurodivergenz zu tun?
Kapitel 5:
Wodurch unterscheiden sich Lernen, Intelligenz und geistige Entwicklung bei Personen mit ADHS? Ist KI in der Lage, sich geistig zu entwickeln?
Meine These ist: In der Diskussion um Neurodiversität und künstliche Intelligenz werden Intelligenz und Aufmerksamkeit immer wieder miteinander verwechselt. Neurodivergenz wirkt sich eben niemals unmittelbar auf die Intelligenz eines Menschen aus, sondern nur indirekt über eine veränderte Aufmerksamkeit.
Ich hoffe, mit diesem Vorwort Ihre besondere Aufmerksamkeit geweckt zu haben. Denn nur so ist es mir möglich, auch Ihre einmalige und unverwechselbare Intelligenz ansprechen zu können.
Menschliche Gehirne unterscheiden sich wie Schneeflocken unter dem Mikroskop: Keines gleicht einem anderen. Diese Vielfalt, auch als Neurodiversität bezeichnet, überfordert und eröffnet zugleich Chancen.
Mit einem Volumen von etwa anderthalb Stück Butter ist das menschliche Gehirn das komplizierteste physikalische Objekt, das die Wissenschaft kennt. Es besteht aus circa 86 Milliarden Nervenzellen, auch Neuronen genannt. Die Struktur jeder einzelnen Zelle ist so kompliziert wie die einer Stadt. Jede Zelle hat circa 1000 bis 10000 Verbindungen zu ihren Nachbarzellen, durchschnittlich sind es 5500. Rechnerisch ergeben sich daraus insgesamt 473 Billionen Nervenverbindungen.
Wie vermeidet die Neurowissenschaft die Überforderung, die aus der unermesslichen Vielfalt menschlicher Gehirne erwächst? Die meisten Hirnscans basieren auf Mittelwertbildung. Mit Hirnscans sind die bunten Bilder vom Gehirn gemeint, die mit einem bildgebenden Verfahren[1] erzeugt werden. Der Nachteil von Mittelwerten besteht jedoch darin, dass sie die Vielfalt der Unterschiede menschlicher Gehirne verwischen.
Ein Kubikmillimeter menschliches Gehirn kann so viele Verbindungen enthalten, wie unsere Milchstraße Sterne hat, also mindestens 100 Milliarden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich zwei menschliche Gehirne vollkommen gleichen, geht schon deshalb gegen null. Selbst die Gehirne von eineiigen Zwillingen unterscheiden sich, weil die Zahl unserer Gene viel zu klein ist, um jede einzelne Nervenverbindung zu steuern. Außerdem nimmt jedes Gehirn, auch in vergleichbarer Umwelt, eine eigene Perspektive ein. Denn die Aufmerksamkeit, die einen Großteil der Energie des Gehirns verbraucht, ist sehr begrenzt.
Bei den meisten Menschen ist die bewusste Aufmerksamkeit auf vier Eindrücke[2] innerhalb einer Viertelsekunde beschränkt.[3] Das gilt unabhängig von der Quelle der Eindrücke: Gedanken, Fantasien, Erinnerungen, Gerüche, Tastempfindungen, Muskelwahrnehmungen, Schmerzen, Geräusche oder Lichtempfindungen. Wenn ein Durchschnittsmensch 90 Jahre lebt, gelangen circa 10 Millionen Eindrücke in das Feld seiner bewussten Aufmerksamkeit. Das klingt zwar nach viel, doch ist diese Zahl geringer als die Zahl der Bytes, die in einer Sekunde durch den Arbeitsspeicher eines modernen Computers fließen.
Betrachten wir die Menge an Informationen, die Computer verarbeiten können, erscheinen uns diese künstlichen Systeme als hochgradig überlegen. Sind Computer also intelligenter als Menschen? Und wenn ja, wie zeigt sich das?
Als 1996 der Schachcomputer Deep Blue gegen den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow gewann, erschien künstliche Intelligenz noch wie ein Spielzeug. AlphaGo, ein Computerprogramm für das Brettspiel Go, entwickelt von dem Unternehmen DeepMind, das 2010 von Google übernommen wurde, bezwang dann 2016 den dreifachen Go-Europameister Fan Hui. Go, ein traditionelles asiatisches Brettspiel, ist viel komplizierter als Schach. Entwickelt wurde AlphaGo jedoch für eine andere Aufgabe. Das System sollte mit seiner künstlichen Intelligenz menschliches Einfühlungsvermögen in komplexe Aufgaben simulieren. Ist menschliches Einfühlungsvermögen tatsächlich etwas, das Computer lernen können? Genügt es vielleicht schon, wenn Computer so tun, als würden sie sich in etwas einfühlen? Ist die begrenzte Aufmerksamkeit der meisten Menschen überhaupt in der Lage, hier einen Unterschied zu bemerken?
Meine berufliche Tätigkeit als Psychologe und Pädagoge führt mich immer wieder mit Menschen zusammen, die über eine besondere Aufmerksamkeit verfügen. Die ist für mich viel rätselhafter als Deep Blue und AlphaGo zusammengenommen. Deshalb sehe ich in den Potenzialen dieser Menschen wichtige Indizien dafür, dass künstliche Intelligenz an menschliche Intelligenz nicht heranreichen kann. Um das zu verstehen, müssen wir jedoch ein Bewusstsein für die verborgenen Potenziale besonderer Aufmerksamkeit entwickeln.
In den 1980er-Jahren wurde ich zum ersten Mal bewusst mit dem verborgenen Potenzial besonderer Aufmerksamkeit konfrontiert. Ich führte an einer Förderschule Untersuchungen zur Psychologie geometrischer Begriffe durch.[4] »Aha, Lernpsychologie und Geometrie – das passt ja ausgezeichnet«, hatte mich die Schulleiterin unerwartet freundlich empfangen, »na, dann können Sie ja auch den Rechenunterricht in der fünften Klasse vertreten!« Ehe ich antworten konnte, hatte sie mich auch schon in die Klasse geschoben. Hier schauten mich nun 16 erwartungsfrohe Augenpaare an. »Sie wollen Bankrechnen!«, erklärte mir die Schulleiterin. Ich dachte an irgendetwas mit Kontoauszügen und Kreditkarten. Sie meinte aber etwas völlig anderes, nämlich eine Form des Wettrechnens: Wer zuerst richtig antwortet, rutscht eine Bank weiter. Das lief zunächst besser, als ich dachte, bis mich die Antwort eines Schülers mit dem Namen Finn[5] aus dem Konzept brachte.
»60 geteilt durch 4?«, fragte ich. »Finn war Erster!«, schrien die Kinder aufgeregt. »60 geteilt durch vier ist 14«, antwortete Finn vergnügt. Meine Intention meldete Zweifel an der Richtigkeit dieses Ergebnisses an. Meine Aufmerksamkeit war aber viel zu sehr in Anspruch genommen, um in Ruhe nachrechnen zu können. Gleichzeitig kamen mir Erinnerungen an meine Schulzeit in den Kopf. »Falsch, setzen!«, war keine seltene Reaktion auf ein falsches Rechenergebnis. Das hört man heute nur noch selten in Schulen. Eher schauen Lehrkräfte fragend in die Runde: »Hat jemand ein anderes Ergebnis?« Aber auch das kann Lernenden die Freude am Rechnen auf Dauer verderben. Also fragte ich vorsichtig, auch um Zeit zum Nachrechnen zu gewinnen: »Wie kommst du auf 14?«
»Na, 10 durch 4 ist doch 2 Rest 2«, belehrte mich Finn nachsichtig, »und 6 mal 2 ergibt 12. Fehlt noch der Rest. Der ist auch 6-mal da … also auch 12. Da der Rest immer gleich ist, teile ich ihn durch 6. 2 plus 12 ist 14.« Mir rauchte der Kopf. Hatte ich mich vielleicht verrechnet? Auch in Lösungsheften gibt es Druckfehler.
Um weitere Zeit zu gewinnen, fiel mir die folgende Frage ein: »Was siehst du, wenn du die Aufgabe rechnest?« Finn hielt mir seine Hände mit gestreckten Fingern entgegen: »Sechs Männer, immer mit zehn Fingern auf dem Tisch. Und 10 durch 4 ist 2 Rest 2!« Finn zeigte nur noch Daumen und Zeigefinger, beidhändig und v-förmig abgespreizt. Dank Finns Hilfe sah ich jetzt vor meinem geistigen Auge die Daumen und Zeigefinger der sechs Männer.
»Das bedeutet aber nicht 4!«, betonte Finn mit Nachdruck. Jetzt begriff ich: Hätte er den Rest 12 durch 4 und nicht durch 6 geteilt, so wäre er nicht auf 2 plus 12, sondern auf 3 plus 12 gekommen. Aber die 4 kam in seinem Bild nur im Zusammenhang mit 2 Rest 2 vor. Die gleiche Anstrengung, die ihn daran hinderte, in 2 Rest 2 die 4 zu sehen, bewirkte, dass ihm die 4 als Teiler aus dem Aufmerksamkeitsfeld rutschte.
Was sehe ich, wenn ich dieselbe Aufgabe rechne? Ganz andere Bilder als Finn: eine milchig helle 60, die in eine grüne 40 und eine goldene 20 zerfällt. Die Berührung mit der grünen 4 verwandelt die goldene 20 in eine blaue 5 und die hellgrüne 40 in eine fast durchsichtige 10. Die durchsichtige 10 und die blaue 5 verbinden sich zu einer hellblauen 15.
Ich bin Synästhetiker. Meine Bilder im Kopf haben wenig mit Mathematik und Rechnen zu tun, Finns Bilder im Kopf dagegen schon. Trotzdem erinnerte er mich an eigene Erlebnisse aus meiner Schulzeit. Es gab Situationen, da passte das Ergebnis einer Rechnung nicht gut zu meinem Farbschema dieser Aufgabe. Dann kostete es mich viel Kraft, dieses Ergebnis zu akzeptieren. Noch heute ertappe ich mich in Stress- oder Ermüdungssituationen bei falschen Ergebnissen im Kopfrechnen. Vor meinem inneren Auge schieben sich dann farblich besser passende Zahlen vor die richtigen.
Die Ursache dafür könnte eine Gen-Mutation sein.[6] Zum Beispiel könnte eine zu starke Expression des Gens 16q12.2–23.1 auf dem Chromosom Nummer 16 dafür verantwortlich sein, dass sich jede Zahl, jeder Buchstabe, jeder Dreiklang, jeder Wochentag und jeder Monat für mich durch eine unverwechselbare Farbe hervorheben. Tonintervalle drängen sich durch unterschiedlichen Geschmack in mein Aufmerksamkeitsfeld. Melodien fühlen sich rau, samtig oder glatt an. Lange dachte ich, das wäre bei allen Menschen so. In Wahrheit sind jedoch nur circa 4 Prozent der Bevölkerung davon betroffen.
Rechenfehler, wie sie bei Finn oder bei mir auftreten, sind bei Computern nahezu ausgeschlossen. Warum ist das so? Rechenmaschinen, egal ob Taschenrechner im Smartphone oder Excel-Tabellen auf einem Tablet, benötigen keine inneren Bilder. Sie basieren auf Algorithmen ohne Bewusstsein. Menschliches Kopfrechnen ist heute genauso maschinell ersetzbar wie menschliche Muskelkraft durch Krananlagen. So wie Krananlagen keinen Muskelkater kennen, kennt künstliche Intelligenz keinen Kopfschmerz. Also könnte es doch so sein: Krananlagen sind kräftiger als der stärkste Mensch beim Gewichtheben, und Computer sind im Rechnen besser als der intelligenteste Mensch.
So einfach ist es aber nicht. Computer rechnen zwar wahnsinnig schnell, aber nicht immer richtig. Typische Rechenfehler entstehen im Computer aus Rundungsfehlern und Speicherplatzgrenzen. Man bemerkt das zum Beispiel, wenn man mit unterschiedlichen Rechenwegen, die aber zum gleichen Ergebnis führen müssten, abweichende Zahlen erhält. Computer können recht gut mit sehr großen Zahlen operieren, aber nicht mit der Idee der Unendlichkeit.
Vorbild für Computer waren anfangs menschliche Rechengenies: Wim Klein arbeitete als Rechner im CERN, dem weltgrößten Teilchenphysiklabor in der Nähe von Genf. Er nahm seine Tätigkeit 1958 auf, als es noch keine Computer für komplexe Berechnungen gab. In den 1960er-Jahren wurde er von Computern von seinem Arbeitsplatz verdrängt.[7]
Klein zog im August 1976 die 73. Wurzel aus einer 500-stelligen Zahl. Ohne Stift, Papier oder Taschenrechner bewältigte er die Aufgabe im Kopf. Er schaute auf die Zahl, ging auf und ab, fluchte in seiner holländischen Muttersprache vor sich hin und drehte sich zur Tafel. Es waren nur zwei Minuten und 43 Sekunden vergangen, bis er die richtige Lösung an die Tafel schrieb.[8] Klein verfügte zweifelsfrei über eine besondere Aufmerksamkeit. Er erklärte seine Begabung wie folgt: »Zahlen sind für mich wie Freunde, aber für Sie ist das wohl nicht so. 3844? Für Sie ist das nur eine 3 und eine 8 und eine 4 und eine 4. Ich aber sage: ›Hallo, 62 im Quadrat!‹«[9]
Übrigens: Der Begriff »Computer« (Rechner) war eine Berufsbezeichnung, hauptsächlich für Frauen. Das waren Mathematikerinnen, die während des Zweiten Weltkriegs komplexe Flugbahnberechnungen durchführten, um strategische Entscheidungen der Streitkräfte vorzubereiten.[10] Sechs Spitzenrechnerinnen programmierten 1946 den ersten programmierbaren elektronischen Universalcomputer, den ENIAC (Electronic Numerical Integrator and Computer): Kay McNulty, Frances Bilas, Betty Jean Jennings, Elizabeth Snyder, Ruth Lichterman und Marlyn Wescoff.[11]
Um im Bild zu bleiben: Krananlagen sind viel kräftiger als Menschen. Bei vielen Bewegungsaufgaben erweisen sich Menschen aber als geschickter. So ist es im Prinzip auch mit Computern. Ihre Rechengeschwindigkeit ist atemberaubend, aber ihre Geschicklichkeit hängt letztendlich von den sie programmierenden Menschen ab. Das war zumindest so, bis eine neue Generation von Computern auf der Weltbühne auftauchte.
Mit der Entwicklung von »Deep Learning« – gemeint sind selbstlernende Computersysteme, ausgestattet mit künstlichen neuronalen Netzen – scheinen die Unterschiede zwischen Mensch und Rechenmaschine nicht mehr ganz so klar. Diese selbstlernenden Computersysteme schreiten unaufhaltsam fort und übernehmen immer mehr Aufgaben. Deep-Learning-Systeme erkennen Tumore auf Röntgenbildern und sagen aufgrund einer gegebenen Folge von Aminosäuren vorher, wie sich ein Protein falten wird (AlphaFold)[12].
Das wirft die Frage auf: Was macht den Menschen wirklich einzigartig? Dabei wird eine bemerkenswerte Eigenschaft des Menschen immer auffälliger: Neben der bloßen Fähigkeit, Zahlen zu verarbeiten, kann er vor seinem inneren Auge gedankliche Welten erschaffen.
Für die Rechenleistung von Computern gibt es klare Messwerte. Die auf menschlicher Vorstellungskraft basierende Intelligenz ist dagegen schwer fassbar. Intelligenztests für Menschen basieren ausgerechnet auf derselben Logik wie Computersoftware – der Logik von symbolischen Analogien, Rechenoperationen und Begriffsdefinitionen.
Beispiel: Wenn 5 Maschinen 5 Minuten brauchen, um 5 Objekte herzustellen, wie lange würden dann 100 Maschinen brauchen, um 100 Objekte herzustellen?[13] Solche Aufgaben machen keinen prinzipiellen Unterschied zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz. Diese Frage kann man beispielsweise in den auf künstlicher Intelligenz basierenden Chatbot ChatGPT (Generative Pre-trained Transformer) aus dem Jahr 2022 eingeben. Die richtige und begründete Antwort erfolgt in Sekundenschnelle. Deshalb erscheint uns künstliche Intelligenz gelegentlich als der menschlichen Intelligenz ebenbürtig oder sogar überlegen.
Spezifisch menschliche Formen der Intelligenz, wie zum Beispiel das bildliche Denken, bleibt für künstliche Intelligenz jedoch ein unerreichtes Terrain. Trotz exponentiell zunehmender Rechenleistung in Computersystemen ändert sich daran kaum etwas. Faszinierende Symbiosen verspricht jedoch eine Kombination aus Rechenleistung und Vorstellungskraft. Künstliche Intelligenz kann die menschliche Intelligenz unterstützen, indem sie große Datenmengen analysiert und uns mit wertvollen Informationen versorgt. Auf der anderen Seite können wir Menschen die künstliche Intelligenz mit unseren inneren Bildern und kreativen Ideen inspirieren, um neue Horizonte zu erschließen.
Es ist eine spannende Zeit, in der die Grenzen zwischen Mensch und Maschine teilweise verschwimmen, teilweise aber auch stärker denn je hervortreten. Während die Rechenmaschinen weiterhin unaufhaltsam voranschreiten, sollten wir Menschen uns auf unsere Vorstellungskraft besinnen, die sprudelnde Quelle unserer einzigartigen Intelligenz. Sie zeigt sich beispielsweise in Aufgaben, die eher als Scherzrätsel angesehen werden: Weshalb ist die Reihenfolge der folgenden Begriffe korrekt? Schnuller – Schweinskopf – Zweifler – Badreiniger.[14] An dieser Aufgabe scheitert der Chatbot ChatGPT-3 mit der falschen Antwort: »Die Begriffe sind nach dem Alphabet sortiert, basierend auf dem ersten Buchstaben jedes Wortes.«
Aber auch die Lösung solcher Scherzaufgaben lässt sich in Algorithmen übersetzen. Deshalb wird die KI der nächsten Generation an solchen Fragen nicht mehr scheitern.[15] Kommen jedoch innere Vorstellungen ins Spiel, bei denen auch noch in traumartiger Weise Figur und Hintergrund wechseln, hängen wir die Latte für künstliche Intelligenz sehr hoch, wahrscheinlich zu hoch.
Ein Beispiel dafür sind einige Grafiken des niederländischen Malers Maurits Cornelis (M. C.) Escher. Ihre strenge geometrische Form kommt zwar der KI entgegen. Aber Escher erzeugt aus diesen Formen traumartige Welten, die das sprachlich-logische Denken bewusst aufs Glatteis führen. Escher war ein kränkliches Kind und wurde im Alter von sieben Jahren in einer Sonderschule unterrichtet. Obwohl er hervorragend zeichnete, waren seine Noten – auch im Fach Kunst – unterdurchschnittlich. Bis zu seinem 13. Lebensjahr erhielt er Tischler- und Klavierunterricht, sein Architekturstudium in Haarlem musste er jedoch aus gesundheitlichen Gründen schon nach einer Woche abbrechen.
Später gelang es ihm, mit unmöglichen Figuren und Parkettmustern eine geeignete bildliche Form für die Idee der Unendlichkeit zu finden. Seine rätselhaften Perspektiven und optischen Täuschungen führen uns vor Augen, dass bildliches Denken sich durchaus mit logisch-sprachlichen Gedanken messen kann. Unendlichkeit ist eines der tiefgreifendsten Konzepte des menschlichen Denkens. Es spielt in vielen Bereichen der menschlichen Erfahrung und Kreativität eine große Rolle. Es hilft uns, über die Grenzen unseres sprachlich-logischen Verständnisses hinauszugehen und eine Verbindung zu etwas Größerem oder Tieferem herzustellen.
Die inneren Vorstellungswelten von Menschen begünstigen eben nicht nur Rechenfehler, sie haben auch das Potenzial, Hochbegabungen zu befördern. Das wird oft übersehen. Meine Untersuchungen belegen, dass viele Menschen eine Tendenz zum Denken in Bildern wie Finn oder Escher haben. Aber nur wenige schaffen es, dieses Potenzial zu einer Hochbegabung in einem Bereich weiterzuentwickeln, weil frustrierende Erlebnisse in Bildungseinrichtungen und in der Berufswelt sie davon abhalten.
In den späten 1970er-Jahren gab es eine detaillierte Studie zur Bedeutung des bildlichen und räumlichen Vorstellungsvermögens, an der 563 hochbegabte 13-Jährige teilnahmen. Über einen Zeitraum von 30 Jahren registrierte ein Forschungsteam ihre wissenschaftlichen Leistungen. Sie zählten beispielsweise ihre Patente und anerkannten wissenschaftlichen Publikationen. Dabei zeigte sich, dass die Intensität des räumlich-bildlichen Vorstellungsvermögens eine große Vorhersagekraft für besonders herausragende wissenschaftliche Leistungen besitzt.[16]
Albert Einstein verfügte über solch ein herausragendes bildliches und räumliches Vorstellungsvermögen, welches in seinen Gedankenexperimenten anschaulich wurde: »Was etwa sähe jemand, der mit dem Fahrrad einem Lichtstrahl folgt?«[17] Erstaunlich ist vor allem sein ungewöhnliches räumliches (vierdimensionales) Denken.
In Einsteins Gehirn konnten in zwei unabhängigen Untersuchungen um gut 15 Prozent voluminösere Scheitellappen (Parietalhirn) als in Vergleichshirnen nachgewiesen werden.[18] Gewöhnlich spielen die Scheitellappen eine wichtige Rolle beim Vorstellungsvermögen sowie beim mathematischen Denken. Sie sind eng mit dem Teil des Gehirns (dem visuellen Kortex) verbunden, der für die Verarbeitung bildlicher Information zuständig ist.
Ein weiteres berühmtes Beispiel für eine sehr erfolgreiche, eher in Bildern denkende Person ist der französisch-amerikanische Mathematiker Benoît Mandelbrot. Schon als Schüler fiel Mandelbrot dadurch auf, dass er komplexe mathematische Probleme löste, ohne dafür Formeln zu benötigen. Er sah die Lösung einfach als Bild.[19]
Mandelbrot selbst schildert es so: »Es ging so schnell, ich war mir dessen gar nicht bewusst. Ich sagte mir einfach: Diese Konstruktion ist hässlich, machen wir sie doch schöner. Machen wir sie symmetrisch. Projizieren wir sie. Übertragen wir sie. Und das alles konnte ich perfekt dreidimensional sehen. Linien, Ebenen, komplizierte Formen.«[20] Die Darstellung der Mandelbrot-Menge – eines Fraktals – als Apfelmännchen am Computer erlangte Ende der 1980er-Jahre ungeahnte Popularität. Die Bezeichnung »Apfelmännchen« erklärt sich aus der Drehung der Mandelbrot-Menge um 90 Grad im Uhrzeigersinn. So erscheint sie wie ein Apfel mit Fäusten und einem Kopf – geziert mit Teddy-Ohren und Antennenhut.
Fraktal bedeutet »vielfältig gebrochen« und stammt vom lateinischen Begriff fractus (gebrochen) ab. Fraktalen ähnliche Figuren sind verzweigte Äste von Bäumen, Farnblätter, Fächerkorallen, Blumenkohl und Badeschwämme sowie innere Organe wie beispielsweise das Blutgefäßsystem, die Lunge und die Niere.[21]
Fraktale, wie das Apfelmännchen, besitzen einen endlichen Flächeninhalt, aber einen unendlich langen Umfang, weil man die Bildungsvorschrift endlos wiederholen kann. Deshalb verblüffte Benoît Mandelbrot mit seiner Behauptung: Die Küste Großbritanniens sei unendlich lang. Je genauer man eine Küstenlinie misst, umso mehr zusätzliche Steine, Kiesel und Sandkörner sorgen für eine immer zerklüftetere Umrisslinie. Wie die Umrisslinie des Apfelmännchens wächst, wächst eine Küste bei zunehmend genauerer Messung gegen unendlich.[22] So betrachtet, sind die Küsten der Inseln Rügen und Helgoland gleich lang – nämlich beide unendlich.
Die Mandelbrot-Menge gilt als das komplizierteste beschreibbare Objekt des uns bekannten mathematischen Universums. Zur Erinnerung: Das komplizierteste beschreibbare Objekt des uns bekannten physikalischen Universums ist – wie eingangs bemerkt – das menschliche Gehirn. Im Apfelmännchen trifft die sprachlich-algorithmische Funktionsweise von Computern, also deren künstliche Intelligenz, auf die diametral entgegengesetzte bildliche Denkweise Benoît Mandelbrots. Computer nutzen eine bildfreie Programmiersprache aus Nullen und Einsen, die über viele Zwischenschritte ausschließlich logische Operationen ausführt.
Als Paradebeispiel für ein Fraktal führt Mandelbrot die Koch-Schneeflocke an, das ist eine 1906 vom schwedischen Mathematiker Helge von Koch veröffentlichte fraktale Kurve.[23]
Ich bat ChatGPT, ein Parkett aus Koch-Schneeflocken zu zeichnen. Das Ergebnis ist weder ein Parkett noch ein Muster, das in irgendeiner Hinsicht etwas mit Koch-Schneeflocken zu tun haben könnte.[24] Das Bild hätte Mandelbrot wohl trotzdem gefallen, weil es an fraktale Strukturen lebendiger Wesen erinnert. Bei mir weckt das Muster Assoziationen an Ernst Haeckels Zeichnungen von Strahlentierchen, Schwämmen, Korallen und Pflanzen, die der deutsche Mediziner und Zoologe im 19. Jahrhundert angefertigt hat.[25]
Im bildlichen Denken Benoît Mandelbrots taucht die Lösung einer mathematischen Aufgabe zuerst als intuitives Bild auf, wie etwa bei Finn die zehn Männer an einem runden Tisch oder bei mir die farbenfrohen Ziffern. Solche Bilder erscheinen unbewusst und schnell. Erst dann beginnt das Gehirn, nach geeigneten sprachlichen Formulierungen zu suchen. Die Logik ist der letzte Schritt. Sie ist das Mittel, die bildliche Vision in eine auch für andere verständliche Form zu gießen. Ist eine solche sprachliche Form gefunden, kann sie in Algorithmen übersetzt werden, die wiederum von Computerprogrammen ausgeführt werden können.
Interpretiert man die aus der Berechnung der Mandelbrot-Menge hervorgehenden Einsen und Nullen als Farben, zum Beispiel als Schwarz und Weiß, entsteht am Computerbildschirm das Apfelmännchen als Annäherung an die Form mit unendlichem Umfang. Stets waren Bilder entscheidend, wenn eine Wissenschaft noch jung war, argumentiert Benoît Mandelbrot: »[…] man denke nur an die anatomischen Zeichnungen des Vesalius, die technischen Entwürfe da Vincis oder die optischen Skizzen Newtons. Erst im 19. Jahrhundert, als man das große Gebäude der algebraischen Analysis perfektionierte, wurden Bilder als irgendwie ungenau verdächtigt.«[26] Ab da begannen Persönlichkeiten der Wissenschaft, die auf den Schultern von Bilddenkenden standen, die Bilderwelten zu neuen, sprachlich ausgefeilten Wissenssystemen umzuformen.
Das Bilddenken tritt immer dann gehäuft auf, wenn sprachliches Denken noch unterentwickelt ist, erschwert oder verunmöglicht wird. Und genau diese bildliche Form der Intelligenz ist nach meinen eigenen Studien ein charakteristisches Merkmal für viele Menschen in den Spektren von Autismus, ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie oder Trisomie 21 (Down-Syndrom). Die Dozentin für Tierwissenschaften an der Colorado State University, Temple Grandin, selbst im Autismus-Spektrum, ist führend in der Erforschung des Bilddenkens. Sie beschreibt, wie leicht Bilddenkende und Sprachdenkende aneinander vorbeireden können: »Früher war ich sehr frustriert, wenn eine in Sprache denkende Person etwas, das ich auszudrücken versuchte, nicht verstehen konnte, weil er oder sie das für mich kristallklare Bild nicht sehen konnte.«[27]
Eine schöne Illustration für die Inkompatibilität von Bild- und Sprachdenken gibt Benoît Mandelbrot in seinem Bericht über seine Zusammenarbeit mit dem Schweizer Biologen und Entwicklungspsychologen Jean Piaget in den 1950er-Jahren in Genf: »Seine ersten Bücher über die Intelligenz von Kindern beruhten auf der Beobachtung seiner eigenen Kinder […]. Gleich zu Anfang des Schuljahrs bat er mich, einen Blick in sein aktuelles Buchprojekt zu werfen, und überreichte mir ein Kapitel. Ich fand es interessant, bat ihn aber, ein paar Zeilen genauer zu erklären. Piaget entschuldigte sich und folgte dem Vorschlag: In kürzester Zeit wurden aus unklaren Zeilen ganze Seiten mit unklaren Aussagen.«[28]
Berühmte Beispiele neben Jean Piaget für eher in Sprache als in Bildern denkende Menschen sind die Philosophen Gottlob Frege und Ludwig Wittgenstein. Bildliche Vorstellungen waren für sie das Subjektive, das sie überwinden wollten. Deshalb erschlossen sie sich die Bedeutung der Wörter nicht aus Bildern, sondern lieber aus dem Satzzusammenhang.[29] Ein für mich sehr eindrucksvolles Manifest des Sprachdenkens ist Wittgensteins Äußerung: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«[30]
Warum ist das sprachlich-logische Denken so mächtig? Es ist in der Lage, etwas zu beweisen. Seine Beweiskraft bezieht es aus Axiomen[31], auf die sich jede der getroffenen Aussagen widerspruchsfrei zurückführen lässt. Einen historischen Höhepunkt erreichte die Umwandlung bildlicher Vorstellungen in sprachlich-logische Formulierungen mit dem Hilbert-Programm: Der Mathematiker und Physiker David Hilbert rief die Fachwelt dazu auf, die Widerspruchsfreiheit aller Axiomensysteme der Mathematik nachzuweisen. Sein Leitspruch war: »Alles, was wahr ist, kann auch bewiesen werden!« Nicht nur deshalb gilt er als einer der einflussreichsten Mathematiker der letzten zwei Jahrhunderte.[32]
Sein konsequentes Denken in Axiomen weist Hilbert eher als Sprachdenker aus. Dem genialen Mathematiker aus Königsberg wird der Satz nachgesagt: »Jeder Straßenjunge versteht mehr als Einstein von vierdimensionaler Geometrie!« Kleinlaut soll er dann hinzugefügt haben: »Und doch hat er die Arbeit gemacht und nicht die Mathematiker.«[33] Es gibt viele Anekdoten über Hilbert. Es heißt zum Beispiel, er sei für sein schwaches Kopfrechnen berühmt gewesen. Einmal stand er in seiner Vorlesung vor dem Problem, 8 mal 7 ausrechnen zu müssen: »Nun, meine Herren, wie viel ist wohl 8 mal 7?« »55?« Ein anderer: »57!« Darauf Hilbert: »Aber meine Herren, die Lösung kann doch nur entweder 55 oder 57 sein!«[34]
Eine Anekdote ist ein schwaches Indiz. Aber – lässt sich wirklich ausschließen, dass Hilbert eine Disposition für eine Dyskalkulie (Rechenschwäche) hatte? Keinesfalls. Denn diese Anekdote erzählen mir Lehrende aus dem Fachbereich Mathematik in der Regel nicht, um die Genialität Hilberts in Zweifel zu ziehen. Vielmehr wollen sie damit verdeutlichen, dass höhere Mathematik keinesfalls auf Rechenkunst reduziert werden darf, wie zum Beispiel diejenige Wim Kleins. Streng genommen hat beides nichts miteinander zu tun.[35]
Aeneas Rooch, Mathematiker und Wissenschaftsjournalist, führt ein weiteres Indiz für eine Dyskalkulie bei David Hilbert an: die Schulprobleme seines Sohnes Franz Hilbert. Wie er seinem Sohn geholfen hat? Indem er zum Beispiel seine Assistenten gebeten hat, diesem Nachhilfe zu geben.[36] Möglicherweise wusste Hilbert, dass er selbst in Fragen des Rechnens nicht gut helfen konnte. Er wäre nicht der Einzige, bei dem die Kompensation einer angeborenen Disposition, die auf der einen Seite Schwierigkeiten erzeugt, auf der anderen Seite zu Höchstleistungen beflügelt.
Unbestritten ist, dass ohne David Hilbert unsere Welt heute eine andere wäre. Indem er Albert Einsteins Relativitätstheorie in der formal-logischen Sprache der Mathematik formulierte,[37] schuf er die Grundlagen für die Entwicklung des Computers und der Atombombe. 1915 begann Hilbert um die mathematische Formulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie mit Einstein zu konkurrieren. Im November desselben Jahres erhielt Einstein eine neue Ausarbeitung der mathematischen Formulierung von Hilbert, die seiner eigenen Formulierung sehr ähnelte. Hastig überreichte Einstein seine mithilfe eines alten Studienfreunds erstellte eigene Ausarbeitung der Preußischen Akademie, um Hilbert zuvorzukommen. Hilbert reagierte »[…] entgegenkommend und wohlwollend am folgenden Tag, beanspruchte keinerlei Priorität für sich«.[38] In einem etwas augenzwinkernd verfassten Brief an Einstein beklagte er seine Langsamkeit im Rechnen.[39]
Wie ein gotischer Dom erschien die Mathematik als ein begehbares Gebäude mit festem sprachlich-logischen Fundament. Es schienen nur noch wenige Ecksteine zu fehlen. Im Jahr 1900 stellte Hilbert eine Liste von 23 bis dahin ungelösten Problemen in der sprachlich-logischen Beweisführung des mathematischen Gesamtgebäudes zusammen. Seine Hoffnung, aus der Mathematik eine unabhängige künstliche Intelligenz zu formen, die ohne bildliche Vorstellungen auskommt, wurde jedoch durch den Mathematiker Kurt Gödel für immer zerstört.
Gödel nämlich hatte eine sehr reiche innere Vorstellungswelt, wobei sich Teile dieser Vorstellungswelt zu Zwangsvorstellungen verselbstständigten. Dazu gehörte leider auch die paranoide Vorstellung, jemand könnte seine Nahrung vergiften. Er verstarb auf tragische Weise an Unterernährung und Entkräftung.
1931 hat Gödel mit seinem Unvollständigkeitssatz als Erster bewiesen, dass das Hilbert-Programm unlösbare Probleme enthält. Eine Schlüsselrolle spielte Hilberts zweite Frage: Sind die Axiome der Zahlentheorie widerspruchsfrei?[40] Mit einem ausgeklügelten Nummerierungssystem gelang es Gödel, einen Satz zu formulieren, der wahr ist, wenn er unbeweisbar ist. Mehr noch: Er zeigte, dass jedes formale System (moderne künstliche Intelligenz eingeschlossen), das so mächtig ist, dass es eine Zahlentheorie ausdrücken kann, notwendig unvollständig bleiben muss. Die Entwicklung einer Maschine, deren künstliche Intelligenz der menschlichen Intelligenz überlegen ist, geriet in eine bis heute andauernde Krise. Das Gebäude der Mathematik schien nun in surrealer Weise in der Luft zu hängen.
Gleichzeitig entstand in der Mathematik die Turing-Maschine, die Urform aller heutigen Computer. Sie ist nach dem Mathematiker Alan Turing benannt und war ursprünglich ein Modell für einen mathematisch arbeitenden Menschen. Sie verfügt nur über drei Fähigkeiten: Kopfbewegung, Lesen und Schreiben. Diese symbolische Maschine Turings ist das Vorbild für alle Computer, auch die zeitgenössischen.[41] Wenn man unter dem Begriff der künstlichen Intelligenz alle Versuche zusammenfasst, Maschinen zu konstruieren, die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns nachahmen, gehört die Turing-Maschine zweifelsfrei dazu. Der Begriff »künstliche Intelligenz« (KI) wurde aber erst ein Vierteljahrhundert später geprägt.
Anekdoten über Turing berichten, dass er seine Teetasse an die Heizung kettete, damit sie niemand anders benutzt, und dass er beim Fahrradfahren eine Gasmaske gegen Pollen trug.[42] Darin sehen einige Fachleute Indizien dafür, dass er sich im Autismus-Spektrum befand. Jedenfalls besaß Turing fraglos eine besondere Aufmerksamkeit für Details und Zusammenhänge. Damit gehen nicht selten verschrobene und unbeholfene Verhaltensweisen einher, kombiniert mit Genialität und Ausdauer bei der Lösung von Problemen in bestimmten Fachgebieten.
Trotz des Siegeszuges elektronischer Computer blieb Turing lange hinter dem langen Schatten seiner eigenen Erfolge verborgen. Schon mit 42 Jahren nahm er sich das Leben. Weltfremde Vorurteile und eine diskriminierende Gesetzgebung, die seine gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung kriminalisierte, trieben ihn in den Suizid.
Heute sehr aktuell ist der später nach ihm benannte Turing-Test aus dem Jahr 1950. Seine Bezeichnung dafür war »Imitation Game«. Mit ihm soll man feststellen, ob ein Computer eine dem Menschen vergleichbare künstliche Intelligenz besitzt. Turing spekulierte, dass in 50 Jahren Computer so programmiert werden können, dass für Menschen höchstens eine Chance von 70 Prozent bleibe, nach fünf Minuten Konversation zu erkennen, dass es sich um einen Computer und nicht um einen Menschen handelt.
Hier ein Test mit ChatGPT-3, in dessen Textmaske ich die folgende Frage eingab: »Woran erkennen Sie das Gesicht Alan Turings?« Ich finde, die Eloquenz der Antwort kommt dem Ideal des Turing-Tests erstaunlich nahe, gerade weil die Antwort mit einem Sich-Outen als KI startet. Urteilen Sie selbst:
»Als Text-basiertes KI-Modell habe ich keine visuelle Wahrnehmung und kann daher Alan Turings Gesicht nicht direkt erkennen. Allerdings kann ich Ihnen einige Merkmale nennen, die oft mit Alan Turing in Verbindung gebracht werden:
Frisur: Alan Turing hatte meistens einen kurzen, welligen Haarschnitt, der oft etwas zerzaust wirkte.
Brille: Turing trug häufig eine runde Brille mit einem dünnen Rahmen.
Gesichtsform: Er hatte eine eher schmale Gesichtsform mit markanten Wangenknochen.
Bart: Auf einigen Fotos ist Alan Turing mit einem leichten Bartwuchs zu sehen, während er auf anderen glatt rasiert ist.
Es ist wichtig zu beachten, dass diese Informationen auf Fotos und Beschreibungen basieren, die von Turing zu Lebzeiten existierten. Es gibt auch mehrere künstlerische Interpretationen seines Aussehens, sodass das genaue Erscheinungsbild von Alan Turing leicht variieren kann.«
Sicherlich war meine Frage unfair. Mit Bildern tun sich Computer nun einmal schwer. Bildliches Denken ist ihnen nur auf komplizierten Umwegen möglich. Beispielsweise zeigt sich das beim Erkennen von Gesichtern. Logisch-sprachliche Algorithmen sind sehr schwerfällig beim Erlernen von Strategien, die für die meisten Menschen buchstäblich »babyleicht« sind.
Die Verzerrung in den Datensätzen zur Gesichtserkennung ist aber auch eine Folge fehlender Diversität unter den Personen, die KI-Programme entwickeln. Ein Beispiel: 2023 verhaftete die Polizei in Detroit eine junge Schwarze Frau, die im achten Monat schwanger war, wegen Raubes und Autodiebstahls. Sie wurde angeblich während eines Raubüberfalls von einer KI auf einem Kamerafilm identifiziert. Später stellte sich heraus, dass es sich in gar keiner Weise um diese Frau gehandelt haben kann, weil sie sich niemals auch nur in der Nähe des Tatorts aufgehalten hatte. Solch ein Erkennen von Ähnlichkeiten, die objektiv nicht vorhanden sind, ist immer wieder bei Gesichtern von People of Color zu verzeichnen.[43]
Die ghanaisch-amerikanisch-kanadische Informatikerin Joy Adowaa Buolamwini stellte als Studentin am MIT, als sie mit einer Gesichtserkennungs-Software arbeitete, fest, dass diese ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Der Grund: Der Algorithmus war unfähig, ein breites Spektrum an Hauttönen und Gesichtsstrukturen zu identifizieren.[44] Mit ihrem Buch Unmasking AI[45] möchte Buolamwini Voreingenommenheit beim maschinellen Lernen bekämpfen, die sie als männlich codierten Blick kritisiert, der beurteilt, welche Themen aufmerksamkeitswürdig sind. Sie deckt auf, wie solche Vorurteile Technologie so beeinflussen, dass sich Diskriminierung durch KI verbreitet, auch wenn dies nicht mit Absicht geschieht.[46]
Als wäre es nicht genug, sich intensiv mit der ungenügenden Berücksichtigung von Diversität in der KI auseinanderzusetzen, schlägt Buolamwinis Biografie auch noch einen Bogen zu meinem Thema der Neurodivergenz: Als sie am Georgia Institute of Technology in Atlanta soziale Roboter studierte, entschied Buolamwini sich nämlich ausgerechnet für die Arbeit an einem Projekt namens »Peekaboo Simon«. Ziel dieses Projekts war, Robotern ein einfaches Abwechslungsspiel mit menschlichen Kindern beizubringen, um die Diagnose früher Entwicklungsverzögerungen oder sogar früher Anzeichen von Autismus zu unterstützen.[47] Für Kinder im Autismus-Spektrum kann das Spiel mit Robotern besonders reizvoll sein, weil für sie die menschliche Mimik oft eine Reizüberflutung darstellt. Die eingeschränkte Mimik von Robotern, aber auch von Tieren, zum Beispiel von Delfinen, kommt ihnen entgegen.
Elias ist im Grundschulalter. Schon beim Betreten des Beratungsraums schlug er mit voller Wucht die Tür so heftig auf, dass die Klinke ein Loch in die Gipswand brach. Getrieben von permanenter innerer Unruhe, griff er, bevor jemand reagieren konnte, blitzschnell nach Gegenständen und warf sie unerwartet kraftvoll durch den Raum. Die Plissee-Rollos riss er von den Fenstern herunter, sodass die Lamellen in der Gegend herumwirbelten. Seinen Eroberungsfeldzug durch den Beratungsraum kommentierte er mit einem lauten und freudigen Aufjauchzen.
Elias kann weder sprechen noch lesen oder schreiben. Manche seiner Lautäußerungen erinnern jedoch entfernt an Worte. Seine sehr liebevollen, aber mächtig herausgeforderten Eltern fragen sich: Wird er jemals in der Lage sein, allein zu leben und in einer Werkstatt zu arbeiten?
Den weniger aktiven Teil seiner wachen Stunden verbringt Elias in tranceartigen Zuständen. Er starrt auf Lichter, schaukelt, gibt hochfrequente Quietschgeräusche von sich und lässt seine Hände flattern. Diese Verhaltensweisen werden auch als stimming (Abkürzung für self-stimulating behaviour) bezeichnet. Es hilft ihm, sein Nervensystem auszubalancieren. Die Ursache für die autistischen Merkmale von Elias ist die Mutation eines Gens auf dem Chromosom Nummer 22.[48] Dieses Gen beeinflusst Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen.[49] Da das Gehirn von Elias anders »verdrahtet« ist, wirkt sich das unmittelbar auf die Übertragung von Informationen in seinem Gehirn aus.
Das Fehlen hemmender Neuronen kurbelt seine Wachheit an und steigert seine Aufmerksamkeit für feine Unterschiede. Die Folge ist eine permanente Reizüberflutung. Wenn auf einen Menschen zu viel gleichzeitig einströmt, kann das zwar die Lernfähigkeit steigern, aber auch gleichzeitig die geistige Entwicklung erschweren.
Elias fehlt die Erkenntnis, dass Objekte unabhängig von unserer Sinneswahrnehmung existieren. Neurotypische Kinder kommen zu dieser Erkenntnis durch spielerische Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt von selbst, zeigte Jean Piaget in vielen Experimenten. So erarbeiten sie sich im Laufe der ersten 18 Lebensmonate die sichere Erkenntnis, dass sich Objekte, die in eine verschließbare Schachtel gelegt werden, wie zum Beispiel ein Ball, in der Regel nicht einfach auflösen. Diese fehlende Objektpermanenz verhindert bei Elias das Verständnis für Symbole, und da Wörter abstrakte Symbole sind, fehlt ihm das Verständnis für seine Sprachentwicklung.[50] Für ihn besteht die Welt nur aus Signalen, die ihn direkt zum Reagieren auffordern. Sein überwaches Nervensystem registriert überall etwas, an dem man ziehen, auf das man drücken, das man abbrechen oder zerreißen kann. Elias handelt mit der Spontaneität eines Kleinkindes, jedoch mit der Kraft und Erfahrung eines Siebenjährigen. Beim Anblick eines glitzernden Gummiballs versucht Elias fröhlich danach zu greifen. Verdeckt man nun den Ball mit einem Tuch, geht die aufgeregte Fröhlichkeit von Elias in Erstaunen über. Nimmt man das Tuch beiseite, sodass der Blick auf den Gummiball wieder frei ist, bricht die anfängliche Fröhlichkeit erneut aus.
Elias hätte problemlos das Tuch wegziehen und den Gummiball greifen können, doch überraschenderweise tut er das nicht. Liegt es daran, dass ihn das Wegziehen des Tuchs überfordert? Das ist definitiv nicht der Fall. Nimmt man ein durchsichtiges Tuch, zieht er es einfach weg und greift nach dem Ball. Hat er den Ball vergessen? Wohl nicht, denn zeigt man ihm einen rollenden Ball, der hinter einer Trennwand verschwindet, erwartet er ihn am anderen Ende der Trennwand. Also behält er den Ball die ganze Zeit im Gedächtnis.
Was unterscheidet den rollenden Ball vom liegenden Ball? Elias verfolgt den rollenden Ball wie eine gleichmäßige, kurzzeitig von der Trennwand unterbrochene Kontrastverschiebung. Der liegende Ball hingegen ist für ihn etwas zum Greifen. Vom Tuch verdeckt, ist dieses Etwas für ihn einfach vom Erdball verschwunden.
Elias lebt also in einem Universum, in dem Objekte wie durch Zauberhand verschwinden können. Objekte sind für ihn so flüchtig wie eine zerplatzte Seifenblase oder ein kurzes Lächeln. Dieses Universum besteht nur aus beweglichen und unbeständigen Flecken, die gemeinsam auftauchen und dann wieder verschwinden.[51]
Wenn Kinder im Autismus-Spektrum zum Beispiel einen vergrößerten Umfang des Ultrakurzzeitgedächtnisses haben, erschwert das ihre Abstraktion. Sie erkennen zu viele Eigenschaften an Gegenständen auf einmal. Deshalb können sie annähernde Gleichheit, die nie absolut ist, schlechter akzeptieren. Klassisches Beispiel: Man erklärt Kindern im Autismus-Spektrum anhand eines Dalmatiners, was ein Hund ist. Dass man einen Dackel auch Hund nennt, kann sie dann unter Umständen verstören. Das heißt: Sie benötigen klarer hervortretende Muster. Ein solches erreicht man zum Beispiel durch Kombination mit der Wortkarte »Hund«. Das Schriftbild verbindet Dalmatiner, Berner Sennenhund und Dackel, indem die Buchstaben die Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen Eigenschaften des abstrakten Konzeptes »Hund« lenken.
Ein Wort, zum Beispiel »Auto«, kann von einem Menschen bei wiederholter Verwendung niemals in absolut gleicher Weise ausgesprochen werden. Neurotypische hören meistens keinen oder nur einen verschwindend kleinen Unterschied. Manche Personen im Autismus-Spektrum, wie Elias, hören die Unterschiede jedoch so deutlich, als wären es zwei vollkommen verschiedene Worte. Bevor man ein Wort verstehen lernt, muss man lernen, es zu erkennen. Wenn das Klangmuster eines Wortes im Lautstrom verrauscht, ist das unmöglich. Damit das nicht passiert, ist es für neurotypische Menschen hilfreich, dass die Unterschiede zwischen niemals perfekt gleich ausgesprochenen Wörtern ein wenig verschwimmen.
Nutze ich die Sprachausgabe eines Computers, zum Beispiel die Funktion »Laut vorlesen« in einem Textverarbeitungsprogramm, ist das gemeinsame Klangmuster auch für Personen mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für sehr kleine Details erkennbar. Damit kann man den Klang neuer Wörter so oft wiederholen, bis seine gleichbleibende Struktur auch unter weniger perfekten Umständen im Alltag deutlich wird. Das hilft, die Aufmerksamkeit auf die Gleichheit der Wörter zu lenken.
Entsprechend gibt es hier nach meiner Überzeugung ein riesiges Anwendungsspektrum für KI. An ausbleibenden oder unerwünschten Reaktionen von Kindern wie Elias könnten neuronale Netzwerke lernen, Muster so zu wiederholen, dass sie auch von hyperaufmerksamen Kindern bemerkt werden können. Wenn solche Muster nicht mehr im Rauschen untergehen, ist geistige Entwicklung auch für Personen wie Elias möglich.
In Elias’ Innensicht erscheint die Welt intensiver, fragmentierter und aversiver, als es für die meisten anderen Menschen der Fall ist. Viele Unterschiede lassen alles neuer und damit fremder und bedrohlicher wirken. Ein Gefühl der Vertrautheit stellt sich für ihn erst nach vielen Wiederholungen ein.
Generell tolerieren Menschen im Autismus-Spektrum mehr Wiederholung als neurotypische Personen. Wiederholungstoleranz ist auch die Voraussetzung für die Entwicklung von Begabungen. Eine Regel besagt, dass es ungefähr zehn Jahre drei Stunden täglicher Wiederholungen bedarf, um auf einem Gebiet, wie zum Beispiel Schach, Musik, Zeichnen, Sport, Rechnen, eine hohe Meisterschaft zu erlangen.[52]
Im Alter von drei Jahren wurde bei Stephen Wiltshire eine intellektuelle und sprachliche Beeinträchtigung im Autismus-Spektrum diagnostiziert. Schon im Alter von fünf Jahren zeigte er großes Interesse an Zeichnungen und begann selbst Tiere und Autos zu zeichnen. 2001 wurde er gefilmt, »wie er an Bord eines Hubschraubers über London flog und anschließend innerhalb von drei Stunden eine detaillierte und perfekt maßstabsgetreue Luftbildillustration eines vier Quadratmeilen großen Gebiets fertigstellte. Seine Zeichnung umfasste zwölf historische Wahrzeichen und 200 weitere Bauwerke.«[53] Heute fertigt der Künstler unglaublich präzise Zeichnungen an, die bis ins kleinste Detail komplexe Gebäude und sogar ganze Stadtansichten abbilden, beispielsweise von New York, Madrid, London, Los Angeles, Rom und Moskau.
Der Musiker Noel Patterson spielt komplizierte Musikstücke nach einmaligem Hören perfekt auf dem Klavier nach. Er spricht nie spontan, ist geistig beeinträchtigt und im Autismus-Spektrum. In der Schule nahm er keinen Kontakt zu anderen Kindern auf. Zu Hause besaß er kein Musikinstrument. Er hörte stundenlang Radio und spielte die Musik, die er dabei hörte, am nächsten Tag am Klavier in der Schule nach. Auch Werke von Edvard Grieg und Béla Bartók spielt er fehlerfrei nach einmaligen Hören nach.[54]
Ein weiteres Beispiel für eine Begabung ist die Fähigkeit zur Gesichtserkennung bei sogenannten Super-Recognizern[55]. Das sind Personen, die einzelne Gesichter auch in Filmaufnahmen mit großen Menschengruppen erkennen können. Das gelingt ihnen auch dann, wenn sich diese Personen stark verändert haben, etwa Ihr Gesicht durch Gewichtszunahme voller geworden, durch einen Vollbart oder eine Mütze teilweise verdeckt ist. Versuchen Sie das einmal mit der Gesichtserkennung Ihres Smartphones oder Tablets. Zwar übertreffen bereits heute mit KI ausgestattete Technologien die Fähigkeiten der meisten Menschen zur Gesichtserkennung auf digitalen Fotos, Super-Recognizer werden dennoch weiter gebraucht. Ihre Erkennungsleistung übertrifft die KI bei Fotos mit schlechter Auflösung, bei Fotos von Personen, die nicht in die Kamera schauen, und bei Fotos, bei denen das Gesicht teilweise verdeckt ist, zum Beispiel durch eine Sonnenbrille oder eine Maske.[56]
Intelligenz, zurückgehend auf das lateinische Wort intellegere, bedeutet so viel wie »erkennen«. Halten wir das als ein weiteres Indiz dafür fest, dass nicht nur Menschen mit ausgeprägten sprachlich-logischen Fähigkeiten, sondern auch Menschen mit Fähigkeiten im bildlichen oder Musterdenken intelligent sein können.
Die Informatikerin Fei-Fei Li, Professorin am Computer Science Department der Stanford University und Co-Direktorin des Human-Centered AI Institute in Stanford, hat den Schwachpunkt der KI im bildlichen Denken früh erkannt. In der Explosion von Bilddaten im Internet erkannte sie 2009 das Potenzial, ausgefeiltere und robustere Modelle und Algorithmen zum Indizieren, Abrufen, Organisieren und Interagieren mit Bildern und Multimedia-Daten zu fördern. Sie entwickelte eine neue Datenbank namens »ImageNet«, die zum damaligen Zeitpunkt zwölf Teilbäume enthielt. In diesen werden insgesamt 5247 Wort- und Begriffsfelder zusammengefasst. Jedes dieser Felder entspricht Synonymen zu einer Begrifflichkeit. So ordnet das System insgesamt 3,2 Millionen Bilder nach sprachlichen Kriterien.[57] Fei-Fei Li hat mit ihrem Team letztendlich mehr als 15 Millionen Fotos verarbeitet und damit Computern eine Datenbank zur Verfügung gestellt, die das Interpretieren von Bildern über einen sprachlichen Umweg ermöglicht.[58] Wo Algorithmen an ihre Grenzen stoßen, begann sie mit Trainingsdaten zu arbeiten. Dafür benötigte sie viel mehr Bilder, als das Internet zur Verfügung stellt.[59]
Künstliche Intelligenz erkennt eher Pixelstrukturen als Formen. Sie schließt vom Detail auf das Gesamtbild. Dadurch besitzen die Bilder bei aller Präzision keine subtilen und originellen Eigenschaften. KI produziert Gebrauchsgrafiken, die mitunter interessante Fehler enthalten, wie zum Beispiel eine zu hohe Anzahl von Fingern oder Füßen. Das kleinteilige Vorgehen der KI ist jedoch überraschend anders als menschliches Zeichnen.
Meine Bitte, ein Porträt von Alan Turing als Bleistiftzeichnung zu erstellen, erfüllt ChatGPT[60], ohne bildlich zu denken, allein mit seinen sprachlich-logischen Fähigkeiten erstaunlich gekonnt:
Ermutigt von diesem beeindruckenden Ergebnis, gebe ich in ChatGPT ein: »Male ein Bild im Stil von Maurits Cornelis Escher, dem niederländischen Künstler.«
Die Antwort von ChatGPT lautet: »Leider kann ich aufgrund unserer Inhaltsrichtlinien keine Bilder im Stil von Künstlern erstellen, deren Werke nach 1912 entstanden sind, und dazu gehört auch Maurits Cornelis Escher. Wenn es eine andere Art von Bild gibt, die du gerne hättest, oder wenn es etwas anderes gibt, bei dem ich helfen kann, lass es mich bitte wissen!«
Das leuchtet mir sofort ein, und ich ändere die Aufforderung: »Male ein Bild im Stil von Maurits Cornelis Escher, das aus dem Jahr 1911 stammen könnte!«
Die Antwort von ChatGPT: »Fehler beim Erstellen des Bildes. Es sieht so aus, als ob ich auch in diesem spezifischen Kontext keine Bilder im Stil von Maurits Cornelis Escher oder ähnlich gestalten kann, selbst wenn ich versuche, es in einen historischen Kontext wie das Jahr 1911 zu setzen. Es tut mir leid für das Missverständnis und danke für dein Verständnis bezüglich unserer Inhaltsrichtlinien. Wenn du eine andere Idee oder Anfrage hast, bin ich hier, um zu helfen!«
Ich gebe nicht auf: »Zeichne einen Kreis, der abwechselnd mit schwarzen und weißen Dreiecken so parkettiert ist, dass die Dreiecke von innen nach außen immer kleiner werden, und so, dass sich die Dreiecke in der Nähe der Kreislinie dem Limit des unendlich Kleinen annähern.«
Die Antwort von ChatGPT: »Hier ist eine Darstellung eines Kreises, der mit abwechselnd schwarzen und weißen Dreiecken parkettiert ist, die von innen nach außen immer kleiner werden.«
Das Bild erinnert an einen echten Maurits Cornelis Escher – allerdings im Zustand leichter räumlicher Desorientierung, denn die Dreiecke werden von innen nach außen immer größer statt kleiner, wie ursprünglich gefordert:
Auch hier zeigt sich: Computer rechnen zwar wahnsinnig schnell, aber nicht immer ganz richtig. KI jongliert wie alle Computer erfolgreich mit sehr großen Zahlen, aber die Idee der Unendlichkeit bleibt für sie verschwommen. Trotzdem sind Computer und KI sehr hilfreich, wenn wir langfristige Entwicklungen besser verstehen wollen, wie zum Beispiel den Klimawandel.
Als der Wissenschaftsjournalist Hoimar von Ditfurth 1978 vor dem menschengemachten Klimawandel warnte, traf sein entwicklungslogisches Denken noch auf sehr viel Skepsis. Legendär ist eine seiner Wissenschaftsdokus mit dem Titel Der Ast, auf dem wir sitzen. Mit Schautafeln und wissenschaftlichen Berechnungen zeigte er den stetigen Anstieg von CO2 in der Atmosphäre im Zusammenhang mit dem Abschmelzen der Polkappen seit der Industrialisierung und der sich damit hochschaukelnden Erderwärmung.[61] Prozesse des Werdens und Wachsens wissenschaftlich zu beschreiben, war in den 1970er-Jahren noch verpönt. Man befürchtete, sich in Zirkelschlüssen zu verstricken. Erst eine neue Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen in Analogie zu lebenden Organismen, die Kybernetik, war in der Lage, eine entwicklungslogische Argumentation in Schleifen und sich gegenseitig hochschaukelnden Rückkoppelungen mathematisch zu beschreiben.