Wahre Liebe aus dem Jenseits - Susanne Gripp - E-Book

Wahre Liebe aus dem Jenseits E-Book

Susanne Gripp

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Beschreibung

Tauche ein in einen fesselnden Mystery-Thriller, in dem eine Liebe alle Grenzen überwindet - sogar den Tod! Liebe ist stärker als alles! Im kleinen Küstenort Büsum an der Nordsee spielt sich eine fesselnde Geschichte voller Spannung und Mysterien ab. Der Tod zweier junger Menschen steht im Mittelpunkt dieser packenden Erzählung. Inmitten dieser idyllischen Kulisse wird wahr, was der gesunde Menschenverstand nicht für möglich hält. Zwei beste Freundinnen kämpfen um die Rehabilitierung ihres wegen Mordes verurteilten Freundes. Ihre Suche führt sie zu einem mysteriösen Kontakt mit dem Jenseits, der sie dazu zwingt, eine geheime Akte zu erstellen und weiter nach dem wahren Mörder zu forschen. Ist die Polizei in diesem Fall Freund oder Feind? Werden sie es schaffen, ihren Freund zu retten und die Wahrheit ans Licht zu bringen?

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Faszination und Spannung begleiten uns in eine Welt, die wir bisher nicht für möglich gehalten haben.

Junge Liebe, die über den Tod hinaus verbindet.

Vorwort:

Vielen Dank, dass Sie sich für die „Wahre Liebe aus dem Jenseits“ entschieden haben. Dieser Mystery-Thriller nimmt uns mit in eine fremde Welt. Ich liebe es, nach Lust und Laune querbeet durch die Genres zu schreiben.

Mit diesem Thriller wage ich erneut neue Wege zu gehen.

Tauchen Sie ein in eine Welt, die wir bisher nicht für möglich gehalten haben.

Ihre

Susanne Gripp

Danke Chisi

Danke Rainer

Wahre Liebe überwindet alle Grenzen

Genau jetzt beginnt das Abenteuer

Wahre Liebe aus dem Jenseits

Die letzten Monate waren sehr anstrengend; der grausame Tod meiner Freundin Marie lässt mich nicht mehr gut schlafen.

In diesem Moment sitze ich in einem Café und schaue aus dem Fenster, direkt auf die dicken Schneeflocken, die durch die Luft wirbeln, bevor sie auf den Gehweg und die Straße herunterschweben. Es ist windig, und die Passanten halten ihre Kopfbedeckungen fest, während sie versuchen, nicht auf dem glatten Gehsteig auszurutschen und dennoch schnellen Schrittes an ihr Ziel zu gelangen. Normalerweise würde ich mich jetzt über den Winterausbruch freuen und diesen Jahresanfang genießen. Innerlich sage ich mir immer wieder denselben Text auf, wie auch schon die letzten Jahre zuvor: „Alles wird besser, ein wunderschönes neues Jahr hat begonnen und meine geheimen Wünsche werden sich endlich erfüllen.“

Doch in diesem Jahr ist alles anders; Marie ist nicht mehr da. Nie wieder werde ich mich mit ihr unterhalten können, nie wieder ganze Nächte nur über Jungs reden. Und auch nie wieder gemeinsam über unsere Zukunft philosophieren, das fehlt mir so sehr. Wir hatten eigentlich vor, gemeinsam in diesem Sommer auf die Malediven zu fliegen und uns damit einen Traumurlaub zu verwirklichen. Bei dem Gedanken an meine seelenverwandte viel zu früh verstorbene Freundin, kullert mir eine Träne über meine Wange. Während ich anfange, mich zu wundern, warum ich hier in diesem Café sitze und nicht bei dem Bäcker, bei uns um die Ecke, schrecke ich zusammen; Ben lässt sich schwungvoll auf dem Stuhl neben mir nieder, und ich fange an zu zittern. „Was machst du denn hier? Du bist doch tot! Lass mich in Ruhe, ich verstehe das nicht.“ Verunsichert und verängstigt, dass er mir etwas antun könne, schaue ich ihn an und überlege, wie ich es schaffe fortzurennen, ohne dass er mir folgen kann. „Beruhige dich, ich bin in deinem Traum. Ja, ich bin nicht mehr am Leben, doch du musst mir helfen. Ich bin unschuldig gestorben, hilf mir, das zu beweisen!“

Seinen nächsten Satz kann ich leider nicht mehr verstehen, dafür höre ich Sarah laut und deutlich rufen:

„Lena, steh endlich auf! Du kommst zu spät zur Arbeit!“ Meine WG-Mitbewohnerin steht in der Zimmertür, als ich sie mit weit aufgerissenen Augen anstarre. „Sarah, bitte bleib hier, ich muss dir etwas erzählen! Ben war gerade bei mir in meinem Traum.“ Ich muss weinen und kann nicht mehr weitersprechen, während Sarah sich zu mir auf die Bettkannte setzt und mir dabei über den Kopf streichelt. „Du musst dir endlich einen Psychologen suchen, Lena. Wir haben alle damit zu kämpfen, dass Marie so brutal ermordet wurde. Und dann auch noch von Ben. Ich weiß, dass ihr ein lockeres Verhältnis miteinander hattet, vielleicht fühlst du dich in deinem Unterbewusstsein für etwas schuldig, für das du wirklich nichts kannst. Du musst eine Therapie machen!“ „Sarah?“ „Ja“, sie schaut mich mit Sorgenfalten auf ihrer Stirn und weit aufgerissenen Augen an. „Sarah, Ben hat im Traum zu mir gesprochen. Es war Winter.“ „Winter?“ Sie unterbricht mich. „Ich habe gerade auf unser Balkonthermometer geschaut, es sind jetzt um neun Uhr morgens, schon achtzehn Grad draußen. Das wird ein wunderschöner Sommertag, den du nutzen solltest, um etwas Vitamin D zu tanken.“ Sie will aufstehen, um das Zimmer zu verlassen, und ich bin mir mit einem Mal nicht mehr sicher, ob es jetzt noch klug wäre, Sarah von Bens Worten zu erzählen. Ich lasse sie gehen, ohne noch einen einzigen Satz zu sagen.

Ich habe nur noch zwanzig Minuten, bis ich die Wohnung verlassen muss, um pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen. Während ich mich schminke und mir einen strengen Zopf mache, bemerke ich, dass ich viel zu warm für einen heißen Sommertag angezogen bin, und ziehe meine Jeans und das Sweatshirt wieder aus. In meinen Gedanken bin ich immer noch im tiefsten Winter in dem kleinen Café in der Innenstadt. Ich atme einmal tief durch, bevor mein Kleiderschrank von mir durchwühlt wird. Das rote Blümchenkleid mit Blusenkragen und kurzen Ärmeln ist genau passend und sieht obendrein auch noch gut aus. Einigermaßen entspannt verlasse ich die Wohnung. In der ganzen Hektik habe ich vergessen, zu frühstücken oder mir etwas zu essen einzupacken, und was noch viel schlimmer ist, mich von Sarah zu verabschieden. Ich stocke einen Moment, als ich auf den Gehweg trete, drehe mich wieder um und betätige den Klingelknopf. Daraufhin höre ich ihre fragende Stimme und antworte: „Sarah, es tut mir leid, ich habe ganz vergessen, mich zu verabschieden. Einen schönen Tag für dich und vielen Dank!“ „Für dich auch, bis heute Abend!“

Erleichtert mache ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle, es sind nur vier Stationen bis zur Kanzlei. Ich könnte auch das Fahrrad nehmen, doch ich bin zu faul, in den Keller zu gehen, und außerdem ist die Zeit inzwischen sehr knapp. Ich komme nicht gerne zu spät zur Arbeit.

Mein Arbeitsplatz befindet sich am Empfang der Kanzlei; es ist ein richtiges kleines Büro in den großen Tresen integriert. Ich habe hier sogar einen eigenen Kopierer. Meine Chefs sind sehr nett, dadurch bestimmt ein harmonisches Betriebsklima den Arbeitsalltag, und ich fühle mich hier sehr wohl. Nach Maries Tod haben sie mir sogar zwei Wochen Sonderurlaub gewährt, um die schlimmen Erlebnisse besser verarbeiten zu können. Mein Magen knurrt, und als ich nach einem Mandantengespräch den Besprechungsraum wieder aufräume, kann ich nicht widerstehen und esse alle noch vorhandenen Kekse auf. Ich stelle den leeren Teller in die Geschirrspülmaschine und kann nicht aufhören, an Ben zu denken. Zurück an meinem Arbeitsplatz rufe ich Jolina an, eine sehr gute Freundin. Ich bin mir sicher, dass ich mit ihr besser über die Erlebnisse meines Traums sprechen kann als mit Sarah.

„Hi, Lena, wie schön, dass du dich meldest. Was gibt es Neues?“ Ich zögere etwas, und sie fragt nach: „Lena, alles in Ordnung?“ „Eigentlich schon. Jolina, entschuldige bitte, aber es gibt da tatsächlich etwas, über das ich mit dir zeitnah sprechen möchte. Es ist etwas Mysteriöses passiert, hast du heute Abend Zeit für mich?“ „Das klingt irgendwie gar nicht gut, aber dafür sehr spannend. Ich will alles wissen, wollen wir uns nach der Arbeit mal wieder in dem kleinen Café in der Innenstadt treffen, da waren wir schon lange nicht mehr?“ „Ja, das passt super zu meinem Erlebnis.“ „Wie meinst du das, Lena?“ „Erkläre ich dir alles nachher, bis dann.“

Ich bin zuerst am vereinbarten Treffpunkt, und mich zieht es genau zu dem Platz, auf dem ich heute Morgen in meinem Traum saß. Ich bin nervös und mir ist sehr warm an diesem heißen Sommertag, daher warte ich nicht auf das Eintreffen meiner Freundin und bestelle mir vorab eine große Rhabarberschorle. Als ich einen leichten Windhauch hinter mir spüre, drehe ich mich um, um meine Freundin zu begrüßen, und schaue dabei ins Leere. Die Kellnerin nickt mir von weitem zu, mein Getränk scheint gleich gebracht zu werden. Als ich mich wieder umdrehe, sehe ich Jolina durch die große Glasscheibe in Richtung Eingangstür gehen und fange an zu lächeln. Für einen Moment liegen wir uns in den Armen, bevor sie sich neben mich setzt. Wir sind nicht die einzigen Gäste an diesem späten Nachmittag, ich hatte vorher gar nicht mitbekommen, wie voll es hier ist. Auch die Geräuschkulisse und die verführerischen Gerüche aus der angrenzenden Küche nehme ich jetzt erst wahr, nachdem sie neben mir sitzt. „Ich bin sehr neugierig, was du zu erzählen hast. Wollen wir uns eine Pizza teilen?“ Ich nicke, und sie steht auf, um am Tresen zu bestellen. Ich ertappe mich dabei, wie ich verängstigt auf den Stuhl neben mir schaue, und mein Herz fängt an schneller zu schlagen. Ein Blick nach draußen auf die sommerlich gekleidet und glücklich schlendernden Menschen lässt mich wieder entspannen. Jolina stolpert etwas unsanft gegen das Tischbein, und meine Schorle schwappt über. Für den Bruchteil einer Sekunde meine ich Bens Gesicht in der kleinen Pfütze auf der Tischplatte zu erkennen. „Entschuldigung“, sagt sie und wischt mit unseren Servietten den Fleck direkt wieder weg. „Alles wieder sauber! Jetzt erzähl mal, was genau passiert ist!“ Ich hole tief Luft, und meine Freundin bemerkt meine Verunsicherung. „So schlimm?“, fragt sie mich. „Leider ja“, erwidere ich und beginne ihr detailliert zu erzählen. Ich erwähne ebenso meine Ängste, für verrückt erklärt zu werden, wie den Windhauch und das Spiegelbild in der kleinen Pfütze auf unserem Tisch. Ich schaue sie nicht an und vergrabe das Gesicht in meinen Händen. „Lena, das ist keine kleine Sache. Wenn das tatsächlich stimmt und Ben Kontakt zu dir sucht, um seine Unschuld zu beweisen, dann …“. Sie stockt mitten im Satz. „Dann haben wir ein großes Problem.“ „Wie meinst du das?“, frage ich sie. „Alle gehen davon aus, dass Ben Marie getötet hat. Wenn beide unschuldig sind und es tatsächlich eine dritte Person gibt, die für diese Bluttat verantwortlich ist, dann läuft ein Mörder frei herum.“ „Was für ein Mörder?“ Erschrocken drehen wir uns um. Fabian fragt, ob er sich zu uns setzen darf, und ich nicke. „Was für ein Mörder?“, fragt er erneut, und Jolina antwortet Fabian, einem guten Bekannten, schlagfertig, dass wir gerade über den Tatort des letzten Sonntags sprechen. Uns ist bewusst, dass wir dieses vertrauliche Gespräch an einem anderen Ort ohne mögliche Zuhörer fortsetzen müssen.

Nachdem ich satt bin, verabschiede ich mich und lasse die beiden allein in einem gut gefüllten Café zurück. Meine Gedanken klammern sich an die Zeit vor der Bluttat, und ich lächle, während ich an einen charmanten jungen Mann denke, der nun nicht mehr der Vater meiner Kinder werden kann. Ich seufze, denn das hatte ich mir damals für unsere gemeinsame Zukunft gewünscht.

Ich gehe zu Fuß, ein langer Weg, doch an diesem lauen Sommerabend genau das richtige, um auf andere Gedanken zu kommen. Meine Route führt mich am Friedhof vorbei, und ich werde nachdenklich. Kurzentschlossen kaufe ich einen kleinen, wunderschönen Blumenstrauß für Marie. Bei jedem Schritt, den ich ihrem Grab näherkomme, werde ich langsamer. Mir ist bewusst, dass ich meine ehemals beste Freundin viel zu selten besuche. „Armer Ben“, denke ich in diesem Moment. „Wenn er wirklich unschuldig ist, haben ihn seine Eltern zu Unrecht anonym beerdigen lassen.“ Jetzt ist es nicht mehr weit, nur noch einmal um die Ecke abbiegen, und ich bin in der richtigen Reihe. Als ich in Richtung Maries Grab schaue, erschrecke ich, denn ihre Eltern stehen dort. Sie haben mich ebenfalls gesehen und winken mich zu sich heran. „Lena, komm her!“, höre ich ihre Mutter rufen. Unweigerlich füllen sich meine Augen mit Tränenflüssigkeit, ich kann gar nichts dagegen tun. Maries Mutter drückt mich ganz fest an sich. „Danke, dass du sie besuchst.“ Ich löse mich aus ihrer Umarmung und lege meinen kleinen Sommerstrauß auf das frisch geharkte Grab. Danach stehe ich noch eine Weile still dort, die Finger vor meinem Bauch gekreuzt.

Ich bin sehr kaputt, als ich mich heute Abend endlich auf mein Bett fallen lasse, um diesen anstrengenden Tag zu beenden. Ich bin zu müde, um mich noch um irgendetwas anderes zu kümmern. So lasse ich dann die Hüllen fallen und decke mich mit meiner dünnen Sommerdecke zu, bevor ich unverzüglich einschlafe.

Ich drehe mich mehrfach in dieser Nacht um, es ist ein leichter und unruhiger Schlaf. In meinem Unterbewusstsein habe ich große Angst davor, dass Ben sich wieder melden könne. Gegen drei Uhr öffne ich die Augen, es ist Vollmond und ich sehe seine Umrisse deutlich auf der Bettkannte sitzen. Unverzüglich schließe ich meine Augen wieder, um aus diesem Traum zu entfliehen. „Es kann nicht wahr sein! Das gibt es nicht, dass ich mit einem Untoten Kontakt aufnehmen kann. Das ist unmöglich!“ Meine Gedanken lassen mich tatsächlich erschöpft in eine kurze Tiefschlafphase gleiten. Etwa gegen fünf Uhr morgens erwache ich schreckhaft und hebe meinen Oberkörper. Ich sitze nun aufrecht im Bett und schaue mich gründlich in meinem Zimmer um. Erleichtert stelle ich fest, dass alles in Ordnung ist, und keinerlei Anzeichen darauf hindeutet, dass Ben tatsächlich hier bei mir im Raum gewesen sein könnte.

Nachdem für uns alle feststand, dass Ben Marie getötet hat, habe ich ihn von einer auf die andere Sekunde aus meinem Herzen verdrängt. Viel schlimmer noch, ich habe ihn dafür gehasst, was er getan hat. Nicht nur für das, was er Marie angetan hat, sondern auch dafür, dass er meine Liebe zu ihm so bitter enttäuscht hat. Nun frage ich mich, was ich für ihn tun kann, wenn er tatsächlich unschuldig ist. Ich habe ihn von Anfang an verurteilt, nicht einen Moment habe ich an seiner Schuld gezweifelt, bis letzte Nacht. Jetzt ist alles anders, meine Gedanken verursachen mir schlimme Kopfschmerzen. Ich werde ihm helfen, das steht für mich jetzt schon fest; doch was ist, wenn die Gesellschaft mich daraufhin für verrückt erklärt und im schlimmsten Fall sogar in eine geschlossene Anstalt einweisen lässt. Gegen alle Regeln des normalen Menschenverstandes kann ich nicht handeln, ohne mir damit Feinde zu machen und meinen Geisteszustand in Frage zu stellen. Ich muss ganz behutsam vorgehen und mir genau überlegen, zu wem ich was sagen kann. Jolina scheint auf meiner Seite zu sein. Sobald Ben sich erneut mit mir in Verbindung setzt, werde ich ihn bitten, auch Jolina zu erscheinen. „Das klingt total bescheuert. Wie sollen andere Personen meinen Worten glauben schenken können, wenn ich nicht einmal mir selbst trauen kann?“ In meinen Gedanken vermischen sich Realität, Wahnvorstellungen und Wunschdenken. Ich bin viel zu unsicher, um an die Öffentlichkeit, damit meine ich unseren großen Freundeskreis, zu gehen und dort meine Gedanken, Erfahrungen und Vermutungen zu verkünden. Ich muss mich an einem sicheren Ort mit Jolina treffen und dabei darauf hoffen, dass sie mir vertraut. Und dass sie mir helfen wird, Bens Unschuld zu beweisen.

Je mehr ich über Ben nachdenke, je trauriger werde ich. Ich fange an, um ihn und unsere damals aufblühende Liebe zu trauern. Der Hass, den ich die letzten Monate für ihn empfunden habe, ist von einer Sekunde auf die andere einer sich nicht mehr erfüllen lassenden Sehnsucht gewichen.

Es ist immer noch viel zu früh, um aufzustehen, und ich suche nach einem Taschentuch, um meine Tränen zu trocknen. Die Zweisamkeiten mit Ben hatte ich seit Maries Tod ausgeblendet, doch nun, da die Hoffnung besteht, dass er ebenfalls brutal ermordet wurde, tun sich immer mehr Fragen auf; Was ist denn, wenn er nur versucht hat Marie zu beschützen? Wer ist der wahre Mörder? Müssen wir Angst haben, dass uns auch etwas angetan wird, sobald wir mit unserer Theorie an die Öffentlichkeit dringen? Können wir es wagen, die Polizei über unseren Verdacht zu informieren?

Ich werde Sarah fragen, ob sie dieses Wochenende tatsächlich zu ihren Eltern fährt. Sollte ich sturmfreie Bude haben, lade ich Jolina am Samstag zum Frühstück ein und hoffe, dass sie Zeit für mich hat, damit wir dann ungestört reden können. Ich seufze und bin mir in diesem Moment schon nicht mehr sicher, ob ich das Richtige tue. Was ist denn, wenn es tatsächlich nur ein Traum war, so eine Art Wunschtraum von mir? Mir fällt Bens Spiegelbild in der Pfütze der Rhabarberschorle wieder ein, und ich hoffe so sehr, dass ich mir das alles nicht nur eingebildet habe. „Für alle Fälle sollte ich die Fakten notieren“, denke ich und erinnere mich an diese wunderschöne Kladde mit Ledereinband, die seit fast drei Jahren ohne Beachtung in meiner Schreibtischschublade verweilt. „Das wäre doch ein Anlass, für den es sich lohnt, sie zu beschreiben“, denke ich. Leise setze ich mich nun um Viertel vor sechs morgens an meinen Schreibtisch und notiere mir alle mysteriösen Begegnungen der letzten vierundzwanzig Stunden. Während ich Bens Worte notiere, spüre ich erneut einen Windhauch in meinem Nacken, woraufhin ich unverzüglich lächeln muss. Ich bin ganz vertieft in die Worte, die ich notiere, und denke nicht im Geringsten daran, dass Ben in diesem Moment ganz in meiner Nähe sein könnte, bis ich eine leise zitternde Stimme wahrnehme. „Lena, hilf mir!“ Vor Schreck lasse ich meinen Stift fallen, der daraufhin wie in Zeitlupe vom Tisch rollt. Ich drehe mich um und sehe den Umriss eines männlichen Körpers auf der Fensterbank zum Hof sitzen. „Ben, bist du das? Bist du real oder bilde ich mir nur ein, dass du in diesem Moment hier bei mir bist?“ Ich sehe nicht mehr gut und wische mir mit meinem Unterarm durch das Gesicht, um die Tränen zu verdrängen. Dann erschrecke ich, denn es ist Hochsommer und ich habe nur einen Slip an, nicht einmal ein T-Shirt. Ich schäme mich und greife nach meinem auf dem Boden liegenden Kleid und werfe es mir über. „Du bist schön, Lena. Es tut mir so leid, dass wir keine gemeinsame Zukunft mehr haben können.“ „Ben“, sage ich und schaue dabei in seine Richtung. „Wenn du es nicht warst, wer hat euch das angetan?“ „Lena, dieses Gespräch kostet mich sehr viel Kraft, und ich weiß nicht, wie lange ich noch hier in dieser Zwischenwelt verweilen kann, um dich auf der Suche nach der Wahrheit zu unterstützen. Ich habe ihn nur sehr kurz gesehen, sein Gesicht war maskiert. Er ist deutlich größer als ich. Seine Worte habe ich noch ganz klar im Gedächtnis, diese Stimme ist mir unbekannt. Es muss ein Exfreund Maries gewesen sein. Zuerst hat er mich niedergestochen und getreten, danach ist er wie ein wildes Tier auf Marie losgegangen. Ich konnte sie nicht beschützen, denn in diesem Moment wich das Leben aus meinem Körper, das tut mir so unendlich leid. Aber was ich noch mitbekommen habe, bevor ich in das Reich der Untoten verschwand, war, dass er zu Marie gesagt hat, dass wenn er sie nicht bekommt, sie niemand mehr bekommen wird. Offenbar hat er gedacht, dass Marie und ich ein Paar wären. Du weißt doch, dass das nie der Fall war und mein Herz nur für dich geschlagen hat, als das noch möglich war, oder? Ich werde dich jetzt verlassen und hoffe darauf, dass du die Wahrheit herausfindest.“ „Warte, wann kommst du wieder?“ Die Umrisse seines Körpers verschmelzen in diesem Moment mit der Umgebung, und ich kann ihn nicht mehr sehen noch seine Anwesenheit spüren. Ben hat den Raum verlassen, und ich sitze zitternd und weinend auf meinem Stuhl. Ich hebe den Stift auf, doch ich bin nicht in der Lage, weiter zu schreiben. Stattdessen lasse ich mich auf mein Bett fallen und decke mich dann sogar zu. Das Fenster ist weit geöffnet, und ich höre das Piepen einiger Vögel. Erschöpft falle ich in eine Art Tiefschlaf und wache erst wieder auf, als Sarah an meine Tür klopft. „Lena, der Kaffee ist fertig! Aufstehen!“

Als ich an diesem Morgen auf mein Handy schaue, habe ich drei Nachrichten von Jolina bekommen. Es ist ganz eindeutig, dass sie ebenfalls auf Bens Unschuld hofft und sich schnellstmöglich wieder mit mir treffen möchte. Sie nimmt meine Einladung zum Frühstück am Samstag an und kann es kaum noch abwarten, persönlich die Neuigkeiten aus dem Jenseits zu erfahren. Als ich ihre Worte lese, wird mir heiß und kalt gleichzeitig, denn sie hat recht. Ben hat aus dem Jenseits Kontakt zu mir aufgenommen.

Auf der Arbeit fällt es mir nicht leicht, mich zu konzentrieren, und das ärgert mich. Ich werde hier sehr gut behandelt und auch bezahlt. Ich weiß, dass ich in dieser für mich fast schon unbegreiflichen Situation ganz besonders hart an mir und meiner inneren Einstellung arbeiten muss, um keine Fehler zu begehen, weder in der Kanzlei noch privat. Es ist so schwer zu akzeptieren, dass von einer Sekunde auf die nächste alle bisher verinnerlichten Werte und Glaubensgrundsätze außer Kraft gesetzt wurden. Meine eigenen Prioritäten haben sich deutlich geändert. Bis der Fall „Ben und Marie“ geklärt ist, beschließe ich, keinen Alkohol mehr zu trinken, um in jeder Situation, und sei sie auch noch so bizarr, konzentriert handeln zu können. Das Wochenende wird Jolina und mir gehören. Ich habe inzwischen viele offene Fragen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll zu ermitteln. Ich bin eine junge Frau, gerade einmal zwanzig Jahre alt und mir ist bewusst, dass es für meine Freundin und mich gefährlich werden könnte, sollten wir zu offensiv an die Sache herangehen. Irgendwo in unserem direkten Umfeld befindet sich ein Mörder, der sich derzeit höchstwahrscheinlich in Sicherheit wiegt, und das soll vorerst auch so bleiben.

Abends sitze ich allein in meinem Zimmer und hole meine Kladde erneut hervor. Jetzt drehe ich sie um und beginne von der hinteren Seite an zu schreiben beziehungsweise meine Fragen und Ängste zu notieren. Punkt für Punkt gehe ich in meinen Überlegungen allen Zweifeln und möglichen Alternativen zu den derzeit der Öffentlichkeit bekannten Tatsachen durch. Bei dem Wort „Tatsachen“ spielen meine Gedanken verrückt, denn höchstwahrscheinlich sind es mittlerweile nur noch der Unwahrheit entsprechende Vermutungen. Ganze siebzehn Punkte habe ich bisher notiert, um sie mit Jolina zu erörtern. Ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen, die warme Sommerluft sorgt dafür, dass der Sauerstoffgehalt in der Stadt niedrig ist. Mir fällt auf, dass ich deutlich zu wenig getrunken habe, und leere daraufhin fast eine ganze Flasche Mineralwasser. Bevor ich danach zum zweiten Mal an diesem Abend unter die Dusche gehe, trage ich die Erlebnisse vom frühen Morgen so sachlich wie möglich in meine „Geheimakte“, wie ich die Kladde mittlerweile in meinen Gedanken nenne. Es ist erst kurz vor neun Uhr abends, irgendeine Macht hält mich davon ab, die Wohnung noch einmal zu verlassen. Ich habe zwei Nachrichten auf meinem Handy, dass sich die Clique an diesem lauen Sommerabend in der Eisdiele trifft und sie mich gerne dabeihaben möchten. Mein Herz schlägt in diesen Tagen viel schneller als es eigentlich sollte, einerseits bin ich hin- und hergerissen, dieser Einladung nachzukommen, andererseits kann ich die Wohnung unmöglich verlassen. Ich warte darauf, dass Ben sich bei mir meldet, doch das wird er sicherlich nicht vor allen Leuten in der Eisdiele tun. Der zweite Aspekt, der dagegen spricht, diese Umgebung zu verlassen, ist, dass ich womöglich aus Versehen zu viel von meinen Gedanken, Ängsten und Erlebnissen der letzten Tage preisgeben könnte und dadurch meine Freunde nicht nur verunsichern, sondern eventuell sogar dazu bringen würde, sich von mir abzuwenden. Es würde mich hart treffen, sollte jemand meinen Geisteszustand in Frage stellen, deshalb will ich vorerst niemandem einen Anlass dazu geben. Ich kann es kaum noch abwarten, bis ich endlich mit meiner Freundin in Ruhe über alles sprechen kann. Ich frage mich, was Jolina wohl von der Idee hält, gemeinsam mit mir zusammen Maries Eltern zu besuchen und nach heimlichen Exfreunden zu fragen. Irgendwie müssen wir ja schließlich anfangen, die Wahrheit herauszufinden. Wieder kullern mir ein paar Tränen über die Wangen, ich habe Angst davor, mit ihren Eltern zu sprechen. Bisher sind Mutter und Vater meiner toten Freundin ebenfalls davon ausgegangen, dass ihre geliebte Tochter von deren Kumpel Ben brutal niedergestochen wurde. Sie werden wissen wollen, warum ich ihnen diese sicherlich für sie verunsichernden Fragen nach heimlichen Exfreunden und anderen Begegnungen Maries mit männlichen, der Clique unbekannten Personen stelle. Die passende Antwort auf diese berechtigte und so bedeutsame Frage nach dem Warum wird Maries Eltern verunsichern. Derzeit bin ich noch nicht in der Lage, sie so zu formulieren, dass sie mir glauben könnten. Zusammengesunken sitze ich auf meinem Schreibtischstuhl, die Geheimakte dabei fest umklammernd. Irgendwann werde ich auch mit Bens Eltern sprechen müssen, das bin ich ihm und ihnen schuldig. Ich gehe in die Küche und hole mir einen Pott Schokoladeneis aus dem obersten Eisfach. Wenn ich schon nicht mit in die Eisdiele gehen kann, will ich wenigstens auch Eis essen dürfen. Ich setze mich damit auf unseren kleinen Küchenbalkon und bin erschrocken, wie angenehm es auch um fast halb zehn noch draußen ist. Ich zünde das kleine Teelicht in dem türkisfarbenen Glas an und denke über Marie nach. Eigentlich dachte ich, dass wir beste Freundinnen wären und uns alles erzählt hätten. Diese Vermutung entspricht offenbar nicht der Wahrheit, denn wenn dem so gewesen wäre, hätte ich gewusst, mit welchen Männern sie sich getroffen hat. Irgendwo her rieche ich Grillgeruch und bekomme Hunger. Trotzdem höre ich jetzt auf, das Eis weiter in mich hinein zu schaufeln und bringe den Pott, oder besser gesagt, das was davon noch übriggeblieben ist, zurück in den Tiefkühlschrank. Obwohl es schon so spät ist, stelle ich die Kaffeemaschine an, bevor ich zurück auf den Balkon gehe. Auf dem Hocker neben mir liegt eine Baumwolldecke, und ich wickle sie mir um die Hüften, um warme Beine und Füße zu bekommen. Danach muss ich irgendwie eingeschlafen sein und werde erst wieder wach, als ich laute Geräusche aus der Küche höre. Irgendetwas fällt laut scheppernd auf den Küchenboden, und ich schrecke zusammen. Im ersten Moment vermute ich, dass Ben sich bemerkbar macht, doch dann höre ich, dass Sarah nicht allein nach Hause gekommen ist und obendrein keinen nüchternen Eindruck macht. Den Typen, den sie dabeihat, kenne ich noch gar nicht und ziehe mich schnellstmöglich in mein Zimmer zurück. Vorsichtshalber verriegele ich meine Tür für diese Nacht. Auf gar keinen Fall darf eine fremde Person mitbekommen, dass ich Besuch aus dem Jenseits bekomme. Immer wenn ich in den letzten Tagen solche Gedanken hatte, war ich kurz vor einer Panikattacke. „Es kann doch nicht sein, was hier gerade passiert. Ben ist tot oder etwa doch nicht?“ Ich liege dann doch noch lange wach, anstatt mich einmal gründlich auszuschlafen.

Auch an diesem Morgen höre ich durch das geöffnete Fenster zwei Vögel offenbar laut miteinander streiten. Langsam recke und strecke ich mich, es ist taghell in meinem kleinen Zimmer, und ich bekomme Angst davor, verschlafen zu haben. Ein schneller Blick auf meinen Digitalwecker lässt mich zurück in mein Kissen fallen. Ich habe noch eine gute halbe Stunde Zeit, bis der Wecker klingelt, doch ich kann nicht mehr einschlafen und denke an Ben und seine letzten Worte der vorherigen Nacht. Ein Unwohlsein überkommt mich, und ich stehe auf, um mich an meinen Schreibtisch zu setzen und die Geheimakte aus der Schublade zu holen. „Wie gut“, denke ich, „dass ich jedes Wort von Ben notiert habe.“ Mit weit aufgerissenen Augen lese ich dort: „Ich werde dich jetzt verlassen und hoffe darauf, dass du die Wahrheit herausfindest.“ „Oh, nein“ sage ich laut, denn ich frage mich in diesem Moment, ob er mit seinem letzten Satz gemeint hat, dass er nun in das Reich der Toten geht und er mir nie mehr wieder erscheinen wird. „Das kann er doch unmöglich so gemeint haben, dass ich jetzt allein herausfinden soll, was, damals in der kalten Winternacht genau passiert ist.“ Ich habe die genauen Umstände der Todesnacht zweier meiner besten Freunde verdrängt. Einerseits kommt es mir vor, als wären Jahre seitdem vergangen, andererseits habe ich gerade in den letzten Tagen eine intensive Verbindung nicht nur zu Ben, sondern auch zu Marie gespürt. Je länger ich jetzt hier sitze und darüber nachdenke, welche große Aufgabe vor mir liegt, um so schlechter geht es mir körperlich. Ich spüre, wie die Angst zu versagen mich zittern lässt. Meine Hoffnung liegt nun bei Jolina, allein schaffe ich das nicht. Ich habe weder kriminalistische Fähigkeiten, noch bin ich körperlich dazu in der Lage, mich gegen einen großen Unbekannten zu wehren. Zweimal hat er schon gemordet, ich senke meinen Kopf, denn in den vielen Krimis, die ich bisher im Fernsehen geschaut habe, war es immer so, dass die Mörder nach dem ersten Mord die Hemmungen verloren haben und auch vor weiteren Toten als sogenannten „Kollateralschäden“ nicht zurückschreckten. Mein Herz schlägt mittlerweile bedenklich schnell, außerdem bilden sich Schweißperlen auf meiner Stirn und über meiner Oberlippe. Wenn ich mich jetzt nicht selbst wieder in den Griff bekomme, werde ich höchstwahrscheinlich innerhalb der nächsten Minuten bewusstlos zusammenbrechen. Ich habe genau zwei Möglichkeiten; die eine ist, laut nach Sarah zu rufen, um mir von ihr helfen zu lassen. Wahrscheinlich wird sie mir einen Notarzt rufen. Langsam kommt mein Verstand wieder zurück und verdrängt die Panik. Ein Notarzt würde eventuell dafürstehen, dass ich in den Augen der Öffentlichkeit als instabil, mental ungefestigt oder im schlimmsten Fall sogar als geistig verwirrt gelten werde. Das will ich auf gar keinen Fall, und ich erinnere mich dankbar an den Yoga-Kurs, den Marie und ich vor nicht einmal zwei Jahren gemeinsam besucht haben. Wir hatten uns damals fest vorgenommen noch weitere Kurse zu belegen, aber da sie für ein paar Wochen an die See gefahren ist, um ihrer Tante bei der Bewirtung der Feriengäste, in deren Pension in Büsum an der Nordsee, zu helfen, konnten wir an dem Folgekurs nicht teilnehmen, und allein wollte ich nicht hingehen. Im Nachhinein finde ich es sehr schade, dass ich den zweiten Yoga-Kurs nicht besucht habe. Ich finde immer mehr zu meiner Stärke zurück und lege mich auf mein Bett. Ganz gerade, die Arme und Beine leicht abgewinkelt, atme ich tief durch die Nase ein und ganz langsam durch den Mund wieder aus. So wie ich es gelernt habe, versuche ich den Sauerstoff aus meinem Atem an alle meine Körperteile zu senden. Dabei sage ich mir immer wieder, dass ich der Herrscher meiner Gedanken bin und alles gut wird. „Ich bin stark!“

Kurz danach gehe ich in das Badezimmer, wasche und schminke mich. Als ich dann kritisch in den Spiegel schaue, lächle ich, denn die Hoffnung ist zu mir zurückgekommen. „Ja“, sage ich laut und deutlich: „Ich werde Bens Unschuld beweisen!“

An diesem Freitag muss ich mehrere Protokolle schreiben und sitze mit Kopfhörern am Empfang, um mir die Tonaufzeichnungen meiner Vorgesetzten anzuhören. Während ich die Mandantenadresse notiere, stutze ich. „Büsum“, lese ich dort. Ich hole tief Luft, denn in diesem Moment fällt es mir wieder ein; Marie war in Büsum bei ihrer Tante und deren Pension. „Was ist denn, wenn sie dort ihren zukünftigen Mörder kennengelernt hat?“ Je länger ich darüber nachdenke, um so schwieriger wird es für mich, mich zu konzentrieren, denn ich kann nicht gleichzeitig ein Protokoll schreiben und dabei über Maries Aufenthalt in Büsum nachdenken. Vielleicht sollte ich ein paar Tage Urlaub an der Nordsee machen, denke ich und freue mich auch schon darauf. Was ich jedoch nicht bedacht habe, ist, dass derzeit Hauptsaison ist und sicherlich kaum noch eine bezahlbare Unterkunft erhältlich sein wird.

Bevor ich an diesem Freitagmittag in mein Wochenende starte, frage ich einen meiner Chefs, ob es möglich wäre, in vierzehn Tagen für eine Woche frei zu bekommen. Er schaut daraufhin in seinen Kalender und lächelt mich an. „Du hast Glück, Lena, da bin ich ebenfalls im Urlaub, und die Arbeit in der Kanzlei wird sich für die Zeit meiner Abwesenheit in Grenzen halten. Ich bespreche es Montag noch einmal mit Lars und gebe dir dann endgültig Bescheid.“ Lars ist mein zweiter Chef, vor Mandanten siezen wir uns, ansonsten haben sie mir das Du angeboten. Für mich ist das eher schwierig, weil ich immer Angst davor habe, mich zu versprechen. Ansonsten erleichtert es den Umgang mit kniffligen Fragen, wie zum Beispiel der nach Urlaub. Für mich steht fest, dass ich Maries Eltern nach der Adresse ihrer Tante fragen werde. Sehr gerne würde ich genau dort Urlaub machen, um mich ein wenig im direkten Umfeld umsehen zu können. Vielleicht erzählt mir die Wirtin ja von sich aus, was ich wissen will. Es stimmt schon, dass die Frauengespräche in unserem Alter meistens über Männer geführt werden. Ich frage mich, ob das irgendwann aufhört, denn bei meiner Mutter und ihrer besten Freundin ist das heute immer noch so.

Auf dem Nachhauseweg ins langersehnte Wochenende bin ich noch einkaufen gewesen und habe unseren Kühlschrank gut gefüllt, ich war sehr großzügig, denn es soll morgen ein abwechslungsreiches und schönes Frühstück werden. Kleine Pfannkuchen werde ich heute Abend noch backen und sie dann morgen früh in der Mikrowelle schnell erwärmen. Ich bin unsicher, ob Jolina tatsächlich genauso wie ich daran glaubt, dass Ben mir erschienen ist und vor allem, dass er unschuldig ist.

Sarah ist schon auf dem Weg zu ihren Eltern, als ich die Wohnung betrete, und ich atme daraufhin einmal sehr tief durch. Danach ziehe ich mich ganz bequem an, denn ich werde jetzt die Wohnung putzen. Wie jedes Mal dauert es länger als geplant, und ich verschiebe die Pfannkuchen auf den nächsten Morgen. Dafür blitzt nun nicht nur die Küche, sondern auch das Bad und das Wohnzimmer. Ich gehe in mein Zimmer und mache das Radio an. Es dauert nicht lange, und ich schlafe ein, doch gegen zwei Uhr nachts schrecke ich zusammen und öffne die Augen. Ich kann im Dunkeln die Umrisse meines geöffneten Fensters erkennen. „Ben, bist du hier?“, frage ich, doch ich bekomme keine Antwort. Unsere Wohnung befindet sich im zweiten Stock, für einen geübten Fassadenkletterer sollte das kein Problem darstellen, die Hauswand zu erklimmen. Die Straßenlaternen sind noch erleuchtet, und aus der Ferne höre ich das Treiben aus dem Club an der Ecke. Es ist Wochenende, da ist immer etwas los in der Stadt, bis früh in die Morgenstunden sind normalerweise in einer Freitagnacht Geräusche feiernder Menschen zu hören. Ich bin mir nicht sicher, ob Sarah das Fenster zum Hof geschlossen hat, und stehe leise und vorsichtig auf. Hier in meinem Zimmer scheint alles in Ordnung zu sein. Ein bisschen bedaure ich die Abwesenheit von Ben, ich hätte so gerne noch einmal mit ihm gesprochen. Ich reiße mich zusammen und nehme vorsichtshalber mein Handy in die Hand und gebe meinen Pin ein, bevor ich die Tür zum Flur öffne. Es ist alles ruhig, und Sarah hat ihr Fenster zum Hof tatsächlich geschlossen, nur das kleine Küchenfenster neben der Balkontür steht noch auf Kipp. Das lasse ich auch so, es ist immer noch sehr warm in der Wohnung, denn im Sommer heizt es sich von Tag zu Tag etwas mehr auf. Als ich in das Bad gehe, freue ich mich über die Ordnung und das glänzende Waschbecken. Ich gehe auf die Toilette und spiele dabei an meinem Handy herum; Jolina hat mir gegen zehn Uhr geschrieben, dass sie Neuigkeiten für mich hat. Jetzt ärgere ich mich, dass ich nicht vor dem Zubettgehen noch einmal auf das Handy geschaut habe, das mache ich doch sonst immer. Ich kann ihr unmöglich mitten in der Nacht noch antworten, obwohl ich so gerne wissen möchte, um welche Neuigkeiten es sich handelt. Da ihr letzter Satz lautet: „Erzähl ich dir alles morgen früh, freue mich schon!“, bin ich beruhigt und ich versuche mich abzulenken. Dazu schalte ich den Fernseher ein. Tatsächlich gibt es noch einen spannenden skandinavischen Krimi. Als ich dann früh morgens durch die Wiederholung einer eher faden Kochshow geweckt werde, stehe ich auf, um mich zu dieser frühen Stunde den Pfannkuchen zu widmen. „Was ich fertig habe, das kann ich abhaken“, denke ich und mache mich an die Arbeit. Dabei habe ich sehr gute Laune und freue mich auf meinen Frühstücksbesuch, obgleich ich weiß, dass ich mit dem Frühstück und allem was dazu gehört, eigentlich nur von den wirklichen Problemen ablenke. Ich gehe zum Bäcker, danach wasche ich mir die Haare und dusche, ziehe mir ein fröhliches Kleid an und will sogar heute mal die Tagesdecke über mein gemachtes Bett werfen. Das tue ich nur selten, das Zimmer sieht allerdings so deutlich schöner aus.

Als ich mit allem fertig bin, lasse ich meinen Blick noch einmal durch den Raum gleiten und stocke, denn die Geheimakte liegt auf meinem Schreibtisch, aufgeschlagen. Ich versuche mich zu erinnern, doch mir ist nicht bewusst, dass ich das gewesen sein könnte, und bekomme Angst. „War eventuell eine fremde Person in meinem Zimmer, während ich in der Küche gewirbelt habe?“, frage ich mich und gehe vorsichtig an meinen Arbeitsplatz heran. „Mein Notebook ist noch da, also kann es kein Dieb gewesen sein“, denke ich und entspanne mich wieder. Doch dann bemerke ich ein gekritzeltes Herz auf einer der aufgeschlagenen Seiten der Kladde. Während ich mir das genauer anschauen will, klingelt Jolina an der Tür, und ich bin für einen Moment abgelenkt.

Tatsächlich vergesse ich für eine Weile, was mich eben noch in eine Art Schockstarre versetzt hat und bin überwältigt von dem üppigen Blumenstrauß, den Jolina mir freudestrahlend entgegenhält. „Oh, Dankeschön, damit habe ich gar nicht gerechnet. Ich freue mich!“ „Dann freue ich mich auch. Das riecht hier schon richtig lecker. Hast du Kuchen gebacken?“ Sie plaudert munter darauf los und erzählt mir, dass sie einen netten, sehr attraktiven und jungen Mann kennengelernt hat. Außerdem knurrt ihr Magen, was mich dazu veranlasst, in diesem Moment an unser bevorstehendes Frühstück zu denken, und ich schäume uns daraufhin Milch für eine Jumbotasse Kaffee auf und stelle die Pfanne für das Rührei an. Ich überlege einen kurzen Moment und sage dann leicht verunsichert zu ihr: „Jolina, ich habe jede Begegnung mit Ben akribisch notiert. Soll ich dir die „Geheimakte“ holen? Dann kannst du sie studieren, während ich das Ei mache.“ Ich schaue fragend in ihr Gesicht. Offenbar überlegt sie einen Moment, denn anhand ihrer Mimik kann ich nicht erkennen, was gerade in ihr vorgeht. „Ja, aber ich sage dir gleich, dass ich Angst davor habe. Einerseits kann ich es nicht glauben, andererseits versetzt mich der Gedanke, mit den Toten sprechen zu können, in eine Art euphorischen Zustand. Ich kann das gar nicht beschreiben. Ja, hol mir das Ding her, ich will alles wissen!“ Erst jetzt fällt mir dieses Herz wieder ein, auf dessen unsaubere Umrisslinie ich nur einen kurzen Blick werfen konnte, weil zur selben Zeit Jolina vor der Tür stand und darauf wartete, hereingelassen zu werden. „Eine Sache ist da noch, der ich noch nicht auf den Grund gehen konnte, weil es zur selben Zeit, als ich es bemerkt habe, bei mir an der Tür geklingelt hat“, sage ich und schnappe nach Luft. „Irgendjemand hat ein Herz hineingekrickelt, ich konnte es mir noch nicht näher betrachten. Vielleicht steht sogar noch mehr im Verborgenen, von dem ich bisher noch keine Notiz genommen habe. Ich hole dir die Kladde.“

Ich komme zurück aus meinem Zimmer, dabei vermeide ich es, direkt in Jolinas Augen zu blicken und achte darauf, auch ja den richtigen Anfang der Geheimakte zu präsentieren und nicht etwa die Rückseite mit den folgenden siebzehn Fragepunkten. Damit würde ich meine Freundin in diesem Moment sicherlich endgültig überfordern. Ich lege ihr die erste Seite aufgeschlagen auf ihren Platz, den dort liegenden Essteller schiebe ich vorher beiseite. „Lass dir Zeit und lies bitte aufmerksam!“ Ein Geräusch aus der Pfanne lässt mich zum Herd eilen, und ich gebe einen kleinen erneuten Klecks Butter in mein Arbeitsgerät, bevor ich kurz darauf den vorbereiteten Eierteig hineingleiten lasse. Ich liebe Schiebeeier, dazu muss ich jedoch am Herd stehen bleiben und in einer Tour ganz langsam mit dem Pfannenwender durch die Eimasse ziehen. Nebenbei würze ich noch etwas nach. Ich drehe mich nicht zu ihr um, sie scheint ganz vertieft in unsere Geheimakte zu sein. Von Zeit zu Zeit höre ich das Rascheln einer gerade umklappenden Seite. Jetzt bemerke ich ein leichtes Seufzen, nur ein paar Sekunden später saugt Jolina die Luft ruckartig ein, und ich spüre ihre Anspannung, ohne sie dabei anzusehen. Selten zuvor habe ich ein Rührei so intensiv geschoben wie heute, es riecht sehr lecker und sieht gut aus. „Fertig!“, sage ich laut und deutlich und drehe mich mit der Pfanne in der Hand um. Mit weit aufgerissenen und tränengefüllten Augen schaut sie mich an und nickt. Danach nimmt sie ihren Teller in die Hand und legt gleichzeitig die Kladde weit von sich entfernt auf dem Tisch ab. Ich bin unsicher und fülle ihren Teller. „Das riecht lecker und sieht toll aus. Wie hast du das denn so terrassenförmig hinbekommen?“ Mir hat es irgendwie die Stimme verschlagen und ich lächle nur und nehme mir auch eine gute Portion von dem duftenden Rührei. Dann reiche ich ihr den gut gefüllten Brötchenkorb. „Erwartest du noch mehr Besuch, Lena?“ „Nein, wir können es uns gut gehen lassen. Wollen wir erst ganz in Ruhe essen und uns danach erst den ernsten Dingen widmen, was meinst du?“ Jetzt lächelt sie mich an und nickt. Nach dem ersten Brötchen ist die Stimmung deutlich gelockert, und wir reden sogar schon wieder über Jungs. Ihr neuer Schwarm kommt aus dem Norden und ist erst in einem Monat wieder in unserer Stadt. Das bedeutet, dass Jolina in den nächsten Wochen Zeit hat, mit mir zu ermitteln.

Es fällt uns beiden schwer, den ersten Satz über Ben zu sagen. Deutlich gedrückt ist die Stimmung, während sie mir hilft, die verderblichen Lebensmittel in den Kühlschrank zu räumen. Ich schenke uns ungefragt Mineralwasser ein, nachdem ich den Tisch abgewischt habe, und nehme die Kladde in beide Hände und setze mich meiner Freundin gegenüber an den Tisch. Ich hole tief Luft und frage sie zuallererst nach ihrer Meinung. „Was hast du gedacht, als du meine Aufzeichnungen gelesen hast? Bitte sage mir ganz ehrlich, wie du über alles denkst. Das ist sehr wichtig für mich.“ „Lena, ich glaube dir jedes Wort, und das ist es, was es so schwer für mich werden lässt. Innerlich habe ich so gehofft, dass du es dir vielleicht alles nur eingebildet hast. Verzeih mir bitte diese Gedanken, aber das hätte ich wahrscheinlich leichter verkraftet. Ich glaube mittlerweile auch an Bens Unschuld.“ Die Stimme versagt ihr jetzt, und wir müssen beide weinen. „Er tut mir so unendlich leid“, sage ich. „Ich habe ihn geliebt und trotzdem von einer Sekunde auf die nächste verurteilt und aus meinem Gedächtnis wie auch aus meinem Leben gestrichen. Das werde ich mir niemals verzeihen können.“ „Er hat dich um Hilfe gebeten, das hätte er nicht getan, wenn er sauer auf dich gewesen wäre. Ich helfe dir, Lena. Wie wollen wir anfangen?“ Ich erzähle ihr von meinem Plan, nach Büsum zu fahren, um dort vor Ort herauszubekommen, ob Marie in dem kleinen Ort an der Nordsee vielleicht eine Liebelei gehabt hat. „Ich werde zuerst ihre Eltern befragen, ob die etwas wissen, was ich vielleicht nie erfahren habe von meiner Freundin. Auch muss ich den Vor- und