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Die Kulturentwicklung des sogenannten Abendlands dreht sich um diese Achse des Verständnisses des Menschen, der immer klarer in seinem Wesen und in seiner Bedeutung im Rahmen der Wirklichkeit wurde und wird. Die Möglichkeit und die Tatsächlichkeit der Selbstbestimmung, die im Zuge der Aufklärung immer deutlicher ins Zentrum des Bewusstseins und so ins Zentrum der Art der Lebensführung gerückt wurde, hat die Bedeutung des »Zeit-Gehalt« (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) des persönlichen Bewusstseins für die Bestimmung der persönlichen Identität immer deutlicher zum Ausdruck gebracht. So wird die weitere Frage »Wer bin ich?« entscheidend. Geklärt werden soll die Beeinflussung der Bildung unserer Identität durch die Ergebnisse der Geschichtsschreibung als Geschichtswissenschaft. Im Zentrum der Betrachtung wird die Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung am Beispiel der Darstellung der Zeit des Dritten Reichs stehen. Die Klärung des Wesens des Menschen wie auch dessen, was unter »Wahrheit, Richtigkeit und Narrativ, Schein und Wirklichkeit« zu verstehen ist, gilt dabei als Voraussetzung dieser Betrachtung. Betrachtet werden die Frage nach der akademischen Redlichkeit wie auch die Rolle der Medien als Informationsquelle für uns heute wie für die Geschichtsschreibung in der Zukunft.
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Seitenzahl: 201
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Abraham Ehrlich
Wahrheit, Richtigkeit, Narrativ
Eine Betrachtung zur Prägung des Identitäts-Bewusstseins
© 2024 Abraham Ehrlich
Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Softcover
978-3-384-38240-5
Hardcover
978-3-384-38241-2
E-Book
978-3-384-38242-9
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
לעדנה וליונתן , לרחל י ולחגי, ללביא , ליעלי ולשק ד
„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“
Francisco de Goya
„Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse“ Johann Wolfgang von Goethe
„Das Vertrauen ist eine zarte Pflanze; ist es zerstört, so kommt es so bald nicht wieder“
Otto von Bismarck
„Niemand ist hoffnungsloser versklavt, als der, der fälschlich glaubt, frei zu sein!“
Johann Wolfgang von Goethe
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Einleitung
I. Wahrheit und Erkenntnis
I.1 Einführendes
I.2 Wahrheit und Richtigkeit
I.3 Schein und Wirklichkeit
II. Das Narrativ und die „erzählte“ Wahrheit
II.1 Vorbemerkung
II.2 Exkursion: Zur Frage nach der wissenschaftlichen und der intellektuellen Redlichkeit
III. Die Frage des Menschen nach sich selbst und die Bestimmung seines Wesens
IV. Zur Klärung der Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung
IV.1 Einleitendes
V. „Wissenschaft und Methode“: Ernst Nolte versus Daniel Jona Goldhagen – zwei Welten, das gleiche Problem
V.1 Vorbemerkung
V.2 Zu Ernst Noltes ‚Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus?‘ Das Dritte Reich im Blickwinkel des Jahres 1980
V.3 Daniel Jonah Goldhagens ‚Hitlers willige Vollstrecker‘ – Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust
V.4 Schlussbemerkung zu Nolte und Goldhagen
V. Schlusswort
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Einleitung
1. Die Frage, „Was ist der Mensch?“ führt uns zu einer grundsätzlichen Differenzierung: Der Mensch vereint in sich zwei Momente, die zwar analytisch benannt und gegebenenfalls erfasst werden können, in Wirklichkeit aber nur als Momente einer hermetisch geschlossenen Einheit verstanden werden können: Das Menschliche am Menschen, was allen Menschen, immer, in allen Zeiten und in allen Ortenidentisch ist, und das Individuelle am Menschen, was niemals, in keiner Zeit und in keinem Ortidentisch sein kann.
Die persönliche Identität eines jeden Menschen ist von diesen vereinten Momenten wesensmäßig geprägt. Konkret heißt das: Jeder Mensch ist aufgerufen, beide Momente an sich zu bedenken – und zu verwirklichen! Das gilt für das Mensch-Sein einer jeden Person, ohne jegliche denkbare Differenzierung.
Die Kulturentwicklung des sogenannten Abendlands dreht sich um diese Achse des Verständnisses des Menschen, der in seinem Wesen und in seiner Bedeutung im Rahmen der Wirklichkeit immer klarer wurde und wird. Die Möglichkeit und die Tatsächlichkeit der Selbst-Bestimmung, die im Zuge der Aufklärung immer deutlicher ins Zentrum des Bewusstseins und so ins Zentrum der Art der Lebensführung gerückt wurde, hat die Bedeutung des ‚Zeit-Gehalts‘ (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) des persönlichen Bewusstseins für die Bestimmung der persönlichen Identität immer deutlicher zum Ausdruck gebracht. So wird die weitere Frage „Wer bin ich?“ entscheidend.
Eines der wichtigsten Prägungen des persönlichen Bewusstseins und so der persönlichen Identität besteht in der Tatsache, dass jeder Mensch – ohne Ausnahme – eine persönliche Vor-Geschichte hat und von ihr tiefgehend geprägt ist.
Damit ist nicht bloß der enge Zusammenhang der familiären Vor-Geschichte, sondern der Gesamtzusammenhang der Geschichte gemeint, in deren Rahmen der Mensch aufgewachsen ist und in dem er sich befindet – und den er in und mit sich trägt. Das Eingebettet-Sein in einem solchen Zusammenhang mit der entsprechenden Wirkung auf die Prägung und auf die Gestaltung der persönlichen Identität wie auch auf das persönliche Selbst-Verständnis weckt die Frage nach der Zuverlässigkeit der Geschichtsschreibung („Vergangenheit“) und der Zuverlässigkeit der medialen Berichterstattung („Gegenwart“), die immer klarer zum integralen Teil des persönlichen Selbst-Entwurfes („Zukunft“) werden.
2. Die oben genannte eigentümliche Bedeutung der medialen Berichterstattung und der wissenschaftlich orientierten Geschichtsschreibung gebietet eine besondere Art der Informations- und Erkenntnisvermittlung einerseits und der der Informations- und Erkenntnisaufnahme andererseits. Eine zentrale Rolle spielt dabei Unvoreingenommenheit und Offenheit, die unbedingte Verpflichtung zur Wahrheit und zur Richtigkeit der Forschung und der journalistischen Recherche – und der Offenheit und der Bereitschaft Zur-Kenntnis-nahme der erlangten und vermittelten Ergebnisse der Forschung und der journalistischen Recherche.
Der Deutschlandfunk Journalist Friedbert Meurer fragt in einem Radiokommentar: „Soll der Journalismus in diesen Zeiten sich [..] wappnen und als wertegeleitet präsentieren, soll er Haltung zeigen statt Neutralität? Soll er eine Agenda verfolgen und seine Beobachterrolle verlassen?“1 Eine Frage, die in vollem Umfang Historikern, Politik- und Gesellschaftswissenschaftlern gilt.
„Agenda verfolgen“ – ist das nicht „Narrativ verfolgen“ Der Kommentar trägt den Titel: „Journalisten haben nicht den Auftrag, die AfD zu bekämpfen“. „Der politische Journalismus sollte sich gerade jetzt auf seine Kernaufgabe besinnen, zu berichten und eine Sache von möglichst vielen Seiten zu beleuchten. Das Meinungsspektrum zu öffnen, statt es einzuengen“.2
Beispiele für Fragen, deren Antwort oft eine Art Gesinnungsnarrativ darstellen, können folgende sein: „Welcher ist der geschichtliche Zusammenhang, der uns ermöglicht, den klaren Hintergrund für den Überfall der russischen Armee auf die Ukraine zu zeichnen und so hilft, dies zu verstehen?“ „Gab es auf dem Kiewer Maidan 2014 eine Volks-Befreiungs-Revolution oder war es ein Putsch, der mithilfe von fremden Kräften geplant und durchgeführt wurde?“ „Vor welchem Hintergrund lässt sich verstehen, was zum Holocaust („Schoa“) führte? War es die nationalsozialistische Ideologie, war es die Bedrohung durch den Bolschewismus oder war es die angebliche jüdische Kriegserklärung an Deutschland?“.
Uns geht es dabei nicht um die Klärung und die Entscheidung solcher Fragen, sondern darum aufmerksam zu machen, welche Rolle die Geschichtsschreibung und die mediale Berichterstattung in der Prägung des Gegenwart-Bewusstseins spielen.
Hervorgehoben werden, soll aber die Tatsache, dass die Art der Geschichtsschreibung und die Art der konkreten, zeitnahen medialen Berichterstattung, die zum Teil als Tatsachen-Grundlage für die zukünftige Geschichtsschreibung wird, das persönliche und das nationale Bewusstsein der nächsten Generationen der betroffenen Völker in der Zukunft entscheidend prägen wird.
Es geht also hauptsächlich um die im wissenschaftlichen Rahmen geführte Geschichtsschreibung, die insofern als die “richtige“ Tatsachen-Wiedergabe zu verstehen und zu gelten ist.
An sich ist das Problem der Richtigkeit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung eins dieser wissenschaftlichen Institution. Geschichtliche Darstellungen sind aber keine internen Angelegenheiten der wissenschaftlichen Institution, sondern wollen breites gesellschaftliches Publikum erreichen, um es über die eigene Vor-Geschichte zu informieren und aufzuklären. Ihrem Wesen nach prägen solche Darstellungen das Geschichts-Bewusstsein und so das Selbst- und Identitäts-Bewusstsein von Einzelnen, Gemeinschaften und Völkern.
Der Weg zur Klärung des Unterschieds zwischen Wahrheit, Richtigkeit und Narrativ vor dem Hintergrund der Frage nach deren Prägung des Identitäts-Bewusstseins wird uns über eine kurze Betrachtung der Bedeutung der systematischen Philosophie für die Klärung des oben genannten Problems und folgend über die Betrachtung einiger philosophischen Grundbegriffe führen. Folgen wird die Beschäftigung mit der Frage nach der akademischen Redlichkeit wie auch mit dem Grad der Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft.
3. Kant fasst den Weg der Philosophie schematisch folgendermaßen zusammen: „Das Feld der Philosophie […] lässt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?“3 Und als Höhepunkt der Klärung dieser Fragen drängt sich die Frage „Wer bin ich?“ heftig in den Bewusstseinshorizont.
Diese Ich-Fragen sind also nicht bloß die Grundfragen der Philosophie, sondern die persönlichen Fragen eines Menschen, der durch eine existentielle Not gedrängt wird, sich auf den Weg der Klärung der Frage „Wer bin ich?“ zu begeben und als das, was er ist, nach und nach immer klarere Orientierung in dieser Welt zu erlangen, so dass er als das, was er ist und was er sein soll, in ihr sein zu Hause, er seine Welt findet.
So zeigt sich die Philosophie seit ihrem Anfang in altem Griechenland als Philosophieren, als die eigentümliche Aufgabe, dem Ich vor dem Hintergrund der Wirklichkeits-Erkenntnis über die Selbst-Erkenntnis näher zu kommen.
Unter ‚Philosophie‘ als Philosophieren verstehen wir die systematisch geführte individuell-persönliche Selbst-Reflexion, die mit der akademischen Philosophie nicht zu verwechseln ist, die ihrem Wesen nach Philosophie-Wissenschaft darstellt. Ihr Verhältnis zum Philosophieren ist gleich dem Verhältnis zwischen Literatur und Literaturwissenschaft, zwischen Kunst und Kunstwissenschaft oder zwischen Musik und Musikwissenschaft und ähnliche Geisteswissenschaften zu ihrem Forschungsobjekt. Im Philosophieren, also in der persönlichen Auseinandersetzung mit den Grundfragen des menschlichen Lebens besteht das eigentümliche Wesen der Philosophie – und so verwenden wir auch diesen Begriff: Philosophie als die Tätigkeit des Philosophierens.4
Erst die Klärung der Frage nach der gültigen Erkenntnis der Wirklichkeit („Was kann ich wissen?“) erzeugt den festen Hintergrund zur klaren und verbindlichen Selbst-Betrachtung des Menschen wie auch zur Klärung der Frage nach dem Horizont seiner Existenz („Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“).
Das heißt, wir nehmen uns selbst erst durch den Welt-Bezug wahr. Der konkrete Ausdruck dafür besteht nicht bloß in der Tatsache des Selbst-Bewusstseins, sondern in dessen konkreten Ausdrücke in Autonomie und Verantwortung wie auch in der Klärung der Frage nach dem Sinn des persönlichen Lebens in der Welt.
4. Die Idee der Aufklärung wurde oben schon angedeutet. Wie entscheidend diese Idee ist für die Verwirklichung des Menschlichen und dessen persönlichen Gestalt und Ausdrücke, lässt sich anhand Kants und Schillers Aussagen bezüglich der Aufklärung verdeutlichen.
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen […] den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun. [….]
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen“.5
Es ist also klar, dass es dabei nicht bloß um Vernunft im engen technischen Sinne gemeint werden kann, sondern der ganze Mensch ist gefragt, er – in seiner Person – ist gemeint, er soll in seiner persönlichen Individualität das Menschliche an ihm verwirklichen.
Schiller macht uns auf Folgendes aufmerksam: „Soll sich also die Philosophie, muthlos und ohne Hoffnung, aus diesem Gebiete zurückziehen? Während daß sich die Herrschaft der Formen nach jeder anderen Richtung erweitert, soll dieses wichtigste aller Güter dem gestaltlosen Zufall preisgegeben sein? Der Conflikt blinder Kräfte soll in der politischen Welt ewig dauern und das gesellige Gesetz nie über die feindselige Selbstsucht siegen?
Nichts weniger! Die Vernunft selbst wird zwar mit dieser rauhen Macht, die ihren Waffen widersteht, unmittelbar den Kampf nicht versuchen und so wenig, als der Sohn des Saturns in der Ilias, selbsthandelnd auf den finstern Schauplatz heruntersteigen. Aber aus der Mitte der Streiter wählt sie sich den würdigsten aus, bekleidet ihn, wie Zeus seinen Enkel, mit göttlichen Waffen und bewirkt durch seine siegende Kraft die große Entscheidung.
Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der muthige Wille und das lebendige Gefühl. Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst zur Kraft werden und zu ihrem Sachführer im Reich der Erscheinungen einen Trieb aufstellen; denn Triebe sind die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt. Hat sie bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen, so liegt dies nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleiern wußte, sondern an dem Herzen, das sich ihr verschloß, und an dem Triebe, der nicht für sie handelte.
Denn woher diese noch so allgemeine Herrschaft der Vorurtheile und diese Verfinsterung der Köpfe bei allem Licht, das Philosophie und Erfahrung aufsteckten? Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen würden, wenigstens unsre praktischen Grundsätze zu berichtigen. Der Geist der freien Untersuchung hat die Wahnbegriffe zerstreut, welche lange Zeit den Zugang zu der Wahrheit verwehrten, und den Grund unterwühlt, auf welchem Fanatismus und Betrug ihren Thron erbauten. Die Vernunft hat sich von den Täuschungen der Sinne und von einer bezüglichen Sophistik gereinigt, und die Philosophie selbst, welche uns zuerst von ihr abtrünnig machte, ruft uns laut und dringend in den Schooß der Natur zurück – woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind?
Es muß also, weil es nicht in den Dingen liegt, in den Gemüthern der Menschen etwas vorhanden sein, was der Aufnahme der Wahrheit. auch wenn sie noch so hell leuchtete, und der Annahme derselben, auch wenn sie noch so lebendig überzeugte, im Wege steht. Ein alter Weiser hat es empfunden, und es liegt in dem vielbedeutenden Ausdrucke versteckt: sapere aude.
Erkühne dich, weise zu sein. Energie des Muths gehört dazu, die Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl die Trägheit der Natur als die Feigheit des Herzens der Belehrung entgegen setzen. Nicht ohne Bedeutung läßt der alte Mythus die Göttin der Weisheit in voller Rüstung aus Jupiters Haupte steigen; denn schon ihre erste Verrichtung ist kriegerisch. Schon in der Geburt hat sie einen harten Kampf mit den Sinnen zu bestehen, die aus ihrer süßen Ruhe nicht gerissen sein wollen. Der zahlreichere Theil der Menschen wird durch den Kampf mit der Noth viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und härtern Kampf mit dem Irrthum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er Andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priesterthum für diesen Fall in Bereitschaft halten. Wenn diese unglücklichen Menschen unser Mitleiden verdienen, so trifft unsere gerechte Verachtung die andern, die ein besseres Loos von dem Joch der Bedürfnisse frei macht, aber eigene Wahl darunter beugt. Diese ziehen den Dämmerschein dunkler Begriffe, wo man lebhafter fühlt und die Fantasie sich nach eignem Belieben bequeme Gestalten bildet, den Strahlen der Wahrheit vor, die das angenehme Blendwerk ihrer Träume verjagen. Auf eben diese Täuschungen, die das feindselige Licht der Erkenntniß zerstreuen soll, haben sie den ganzen Bau ihres Glücks gegründet, und sie sollten eine Wahrheit so theuer kaufen, die damit anfängt, ihnen alles zu nehmen, was Werth für sie besitzt? Sie müßten schon weise sein, um die Weisheit zu lieben: eine Wahrheit, die Derjenige schon fühlte, der der Philosophie ihren Namen gab.
Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfniß der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt“.6
Insgesamt geht es also nicht nur um den ganzen Menschen, der nicht nur vernunftmäßige, „theoretische“ Orientierung benötigt, sondern diese gleichzeitig in die Tat in seinem alltäglichen, ganz „normalen“ Leben umsetzen soll und will. Um dazu in der Lage zu sein, ist nicht bloß „Ratio“, sondern darüber hinaus echte Freiheit verlangt.
5. In diesem Alltagsleben spielen Medien eine gewaltige Rolle, die sprachlich gar als die „Vierte Gewalt“ im Staat Bezeichnung erhielten. Diese sogenannte vierte Gewalt, im Unterschied zu den drei anderen – die legislative (gesetzgebende), die exekutive (vollziehende) und die judikative (Recht sprechende) – stellt eine von konkreten politischen Kräften grundsätzlich völlig unabhängige Instanz dar.
„Freie Presse und nicht zensierte Medien sind die Voraussetzung für eine Politische Öffentlichkeit. […] In traditionelle Sicht bestimmen die sogenannten Massenmedien die politische Öffentlichkeit. Dazu gehören überregionale und regionale Tageszeitung und die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten, die häufig aus einem gemeinsamen Nachrichtenpool schöpfen. Damit ist eine Reichweite sichergestellt, die im Kern inklusiv ist, weil sich jeder theoretisch informieren kann. Gleichzeitig ist eine deliberative Qualität durch Professionalisierung der Massenmedien garantiert“.7
„Medien sind für den Prozess der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung von großer Bedeutung. Sie nehmen Einfluss darauf, was Menschen fühlen, denken und wie sie handeln. […] Damit sie diese Aufgabe erfüllen können, ist eine offene Debattenkultur wichtig und unerlässlich. Damit sie diese Aufgaben erfüllen können, ist eine offene Debattenkultur wichtig und unerlässlich. Das erfordert seitens des Journalismus ein hohes Maß an Professionalität, vor allem in Krisenzeiten, wo vieles volatil, intransparent und vage erscheint, und aufseiten der Rezipienten ein hohes Maß an Bildung, um die Vielzahl der Meinungen für sich einordnen zu können und ein Bewusstsein für die Differenz von Sein, Schein und Möglichkeit zu haben, weil ihre Unterscheidung bei komplexen Fragen zusehends schwieriger wird“.8
Sind Journalisten ihrer Verantwortung Bewusst? Das Problem ist, „dass ausgerechnet Journalisten, die sich in einem Anfall von Hybris gerne als „Vierte Gewalt“ bezeichnen, äußerst beleidigt auf jede Art Kritik reagieren. Entgegen dieser Selbstidealisierung üben sie meist keine wirksame Kontrolle der politischen und wirtschaftlichen Machtzentren aus. Vielmehr wirken sie durch ihre Nachrichtenselektion und -interpretation als Torwächter bei der Formierung des öffentlichen Diskussionsraums. Diese Blickverengung ist zu einem Gutteil ihrer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verflechtung mit den herrschenden Eliten geschuldet“.9
6. Da erinnern wir uns an Kants Worte: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“.10
Die Große Bedeutung der Medien in Bezug darauf, „was Menschen fühlen, denken und wie sie handeln“ wie auch die konstitutive Bedeutung der Wirkung der „Faulheit und Feigheit“ der Menschen auf die Bildung ihrer Persönlichkeit und auf den Ausdruck einer auf diese Weise geprägten Persönlichkeit, diese drängen uns zur Entscheidung, ob wir uns zur Aufgabe der Selbst-Bildung verpflichten wollen, also unser Wachstum als freie, aufgeklärte und humane Menschen treiben wollen.
Bedenken wir die Lebens-Zeit des Menschen, die Tatsache, dass sein Bewusstsein und seine Identität wesensmäßig tief in der dreidimensionalen Zeitstruktur Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft eingebettet sind, umso klarer wird die Bedeutung der Rolle der Medien auf die Prägung unserer persönlichen Identität. Wie die obigen Zitate bemerken, haben wir – wenn wir wollen – bezüglich unserer Medienkonsum die konkrete Möglichkeit der Entwicklung kritischer Haltung wie auch die Möglichkeit der Bildung und der Horizonterweiterung. Insofern möchte ich mit dem zitatmäßigen Hinweis auf die Rolle der Medien bezüglich der Prägung unseres Identitäts-Bewusstseins die Beschäftigung mit den Medien später im Rahmen der Darlegung des Phänomens des Narrativs entfalten.
Beschäftigen möchte ich mit der Beeinflussung der Bildung unserer Identität durch die Ergebnisse der Geschichts-Schreibung als Geschichts-Wissenschaft. Im Zentrum der Betrachtung wird die Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung am Beispiel der Darstellung der Zeit des Dritten Reichs stehen. Die Klärung des Wesens des Menschen wie auch dessen, was unter Wahrheit, Richtigkeit und Narrativ, Schein und Wirklichkeit zu verstehen ist, gilt dabei als Voraussetzung dieser Betrachtung.
Die beabsichtigte Klärung stützt sich ganz auf die vorherigen systematischen Arbeiten, besonders aber auf das dreiteilige „System der Philosophie“; Abschnitte daraus werden im jetzigen Buch zitiert:
• Das System der Philosophie. Die systematische Grundlage zur Erkenntnis der Wirklichkeit und zur Bestimmung der Stellung des Menschen in ihr, Frankfurt am Main 2012 (zitiert: System I)
• Der Mensch und seine Welt: Zur erkenntnistheoretischen Klärung der Stellung des Menschen in der Welt und der Bedingungen der Verwirklichung seiner Freiheit – das System der Philosophie II, Frankfurt am Main 2013 (zitiert: System II)
• Die Grenzen der Erkenntnis und dahinter: Zur Klärung der erkenntnistheoretischen Grundlage des religiösen Glaubens – das System der Philosophie III, Frankfurt am Main 2014 (zitiert: System III)
• Hinzu kommen folgende punktuelle systematische Ergänzungen:
• Religion, Wissenschaft und Erkenntnis der Wirklichkeit, Hamburg 2020 (zitiert: Religion)
• Zur Wesensbestimmung der Philosophie, Hamburg 2021 (zitiert: Philosophie)
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