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Die Epoche, in der wir leben, ist in der gesamten Entwicklung der Menschheitsgeschichte die einzige, in der die freien Räume geschaffen wurden, in denen jede Person ihr Leben so gestalten und führen kann, wie sie es für richtig hält: "Der Mensch ist sein eigener Glücksschmied!" Die Vielfältigkeit und die unterschiedlichen Formen der menschlichen Andersartigkeit, die konkret in ihrer individuellen und gemeinschaftlichen Gestalt erfahrbar und erkennbar sind, bergen in sich das starke Potenzial der Unsicherheit und der Ungewissheit, die das Leben in allen seinen menschlich bestimmten Phasen und Formen prägen. So findet sich der Mensch in einer Welt, die er verstehen will und in die er sich integrieren will. Und je größer und breiter die freien Räume, die zur Selbstbestimmung offen sind, desto radikaler werden die persönliche Unsicherheit und Ungewissheit in der Möglichkeit der Orientierung in der Welt. Das Bewusstsein für diese Situation hat unterschiedliche Prägungen, so auch die Bestrebungen, diese Grundsituation zu überwinden. Nicht zufällig führt der Versuch, diese Situation zu klären und zu überwinden, zur Philosophie. Die Rolle der Philosophie in der Klärung und Bestimmung der eigentümlichen Würde des Menschen ist zentral. Insofern ist es besonders wichtig, erstens die Wesensbestimmung der Philosophie näher zu betrachten und zweitens dabei zu zeigen, wie Formen und Ausdrücke der Vielfalt zum wahren Menschenverständnis wesentlich sind.
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Seitenzahl: 223
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Abraham Ehrlich
Zur Wesensbestimmung
der Philosophie
Die grundsätzliche Bedeutung der Philosophie für die persönliche
Orientierung und Lebensführung in der Welt
© 2021 Abraham Ehrlich
Verlag und Druck:
Tredition GmbH
Halenreie 40-44 22359 Hamburg
ISBN
978-3-347-24849-6 (Paperback)
978-3-347-24850-2 (Hardcover)
978-3-347-24851-9 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung
Es geht hier wie da um die Reduzierung von Vielfalt, um das Zurückdrängen des Unangepassten. An dessen Stelle rückt immer mehr eine vermeintliche „Authentizität“: nicht mehr das „Was“ zählt, sondern nur noch das „Wie“
Thomas Bauer
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
EINLEITUNG: ZUR BEDEUTUNG DER BESCHÄFTIGUNG MIT PHILOSOPHIE
I.AN WEN IST PHILOSOPHIE GERICHTET
II.DIE WESENSBESTIMMUNG DER PHILOSOPHIE
III.PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT
IV.ÜBER DIE GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE, ÜBERDEN FORTSCHRITT IN DER PHILOSOPHIE UND ÜBERDEN „NUTZEN“ DER PHILOSOPHIE
V.ZUR KLÄRUNG DES BESTEHENS VERSCHIEDENERPHILOSOPHISCHER SYSTEME
VI.LOGISCHER IDEALISMUS UNDEXISTENZPHILOSOPHIE
VII.ÜBER DIE VERANTWORTUNG DES PHILOSOPHEN
VIII.WAHRHEIT UND TOLERANZ
IX.SCHLUSSWORT
VORWORT
1.Liebe Leserin, lieber Leser, die Epoche, in der wir leben, istin der gesamten Entwicklung der Menschheitsgeschichte dieeinzige –, hauptsächlich in dem großen Bereich der sogenannten westlichen Kultur –, in der die freien Räume geschaffen wurden, in denen jede Person ihr Leben so gestaltenund führen kann, wie sie es für richtig hält: „Der Mensch istsein eigener Glücksschmied!“
Trotz aller Vorgegebenheiten, die persönlichen und die weltmäßigen, hat jede Person Rechtsanspruch auf die freien Räume, in denen sie individuell und gemeinschaftlich die Möglichkeit hat, sich nach eigenem Verständnis zu verwirklichen. Verblüffend groß ist dementsprechend die Vielfalt in den Gesellschaften der westlichen Kultur.
Es handelt sich um eine Entwicklung, die Jahrtausende andauerte. Zwei Einflussquellen haben dabei eine zentrale Rolle gespielt: Die Philosophie, sowie die jüdisch-christlich religiösen Traditionen. Getragen wurde diese Entwicklung von zwei Grundbestimmungen: Die Eigentümlichkeit des Wesens des Einzelmenschen und die Einheit der Menschheit.
Insgesamt führte diese Entwicklung zu immer klarerer Erkenntnis der Besonderheit des Individuums wie auch zur Bestimmung des seinem Wesen angemessenen gesellschaftlichen Rahmens. Ob der religiös oder weltlich verstandene Mensch: Ein Grundsatz bring die beiden oben genannten Grundbestimmungen zum klaren Ausdruck: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“1
Diese Entwicklung, die noch im Gange ist, lief und läuft jedoch nicht ohne heftigen Widerstand: Einerseits die Relativierung des Standes des Individuums, andererseits die Sprengung der Einheit der Menschheit wie auch der der Einzelgesellschaften in betont homo- und transphobischen und darüber hinaus in betont nationalen und/oder rassischen Gruppen mit den entsprechenden Überlegenheitsgedanken.
Das Problem der unterschiedlichen Varianten des Absehens von der grundsätzlichen Würde des Menschen trägt leider auch ganz alltägliche Züge, die in jedem Bereich des Alltagslebens spürbar sind. Einer der schlimmsten Formen dieses Problems befindet sich ausgerechnet in dem Rahmen, in dem sich jeder am sichersten und am gebogensten fühlen sollte: zu Hause!
Im Zuge der Corona-Pandemie hat sich die häusliche Situation so weit verschlimmert, dass der UNO-Generalsekretär António Guterres dazu Stellung nehmen musste:
„UN-Generalsekretär António Guterres hat die zunehmende häusliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen in der Corona-Pandemie scharf verurteilt. In einigen Ländern habe sich die Zahl der Notrufe von Frauen an Hilfseinrichtungen verdoppelt, sagte er am Sonntag in New York.
In den vergangenen Wochen sei weltweit ein schrecklicher Anstieg von Schlägen und Angriffen auf weibliche Haushaltsmitglieder zu verzeichnen gewesen.
In der harten Zeit der Ausgangssperren und Quarantänen müsse „Frieden zu Hause“ herrschen, verlangte Guterres. Die Staaten müssten den Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt durch ihre Partner, Väter oder andere Mitbewohner in ihre Reaktionspläne gegen die Corona-Pandemie aufnehmen. Internet-Angebote für Frauen und Mädchen müssten erhöht werden. In Apotheken und Lebensmittelläden sollten Notfallrufsysteme installiert werden und Schutzheime für Betroffene müssten zu den systemrelevanten Einrichtungen zählen.“2
Die Rolle der Philosophie in der Klärung und Bestimmung der eigentümlichen Würde des Menschen ist zentral. Insofern erachte ich es als besonders wichtig, erstens die Wesensbestimmung der Philosophie näher zu betrachten und zweitens dabei zu zeigen, wie Formen und Ausdrücke der Vielfalt zum wahren Menschenverständnis wesentlich sind.
2. Das Menschliche, abgesehen vom Phänomen des Lebens und von der Wirklichkeit als Ganzem, ist die einzige Größe in unserer Wirklichkeit, die als absolute Größe bestimmt ist. Alles andere ist in dieser oder jener Hinsicht im Verhältnis zu diesen Größen bestimmt bzw. bestimmbar.
Das Menschliche ist wie die Lichtgeschwindigkeit absolut in dem Sinne, dass es sich unter keinen Umständen verändert: Die Größe „das Menschliche“ oder „die Menschlichkeit des Menschen“ und insofern „der Mensch“ ist von der Art, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Größe zu denken, ohne sie dabei in ihrem vollem Umfang vorauszusetzen.
Mit anderen Worten: Es gibt keine Möglichkeit, über den Menschen sinnvoll zu sprechen, ohne ihn dabei so wie er ist, ganz vorauszusetzen.
Diese Tatsache verleiht dem Menschen seine privilegierte Stellung im Kosmos bzw. in der Welt: Diese Tatsache verleiht dem Menschen seinen absoluten Wert, was nichts anderes als die Würde des Menschen bedeutet, eine Bestimmung, die ihrem Wesen nach absolut ist.
Diese Bestimmung hat sehr konkrete und sehr bedeutende Folgen: Man kann die Menschlichkeit eines Menschen nicht in Frage stellen, ohne dabei gleichzeitig (zeitlich und grundsätzlich) die Menschlichkeit überhaupt und somit die eigene Menschlichkeit in Frage zu stellen.
Denn die Menschlichkeit an sich wird zwar individuell verwirklicht und getragen, sie ist aber, genauso wie die Naturhaftigkeit oder die Wirklichkeit einer Sache, keine „private“ Eigenschaft einer Sache bzw. eines Menschen, sondern sie ist ursprünglich unpersönlich, allgemein und absolut in ihrer Gültigkeit. Mit anderen Worten heißt das: Einem Menschen die Menschlichkeit abzusprechen, bedeutet die gleichzeitige absolute, totale Aufhebung der Menschlichkeit bzw. des Menschlichen überhaupt!
Wenn klar ist, dass man die Naturhaftigkeit und die Wirklichkeit einer Sache nicht in Frage stellen kann, ohne dabei die gesamte Natur bzw. die gesamte Wirklichkeit wie die Gesetzlichkeit, die sie zu dem bestimmt, was sie tatsächlich ist, ganz aufzuheben, so scheint dies beim Menschen leider nicht selbstverständlich zu sein, wie uns die geschichtlichen Beispiele der Sklaverei und der Schoa (des Holocausts) zeigen.
Besonders die nationalsozialistische Ideologie hat diese abartige, absurde Idee zur theoretischen und weitgehend auch zur konkreten Vollendung des Vorhabens in der Endlösung der Judenfrage voll zum Ausdruck gebracht.
Die Vorstellung, dass die Juden „ihrer Natur nach“ keine Menschen, sondern Untermenschen sind, und von einer Art, die das Bestehen des deutschen Volkes sowie der gesamten Menschheit gefährdet, war keine unverbindliche Vorstellung, sondern eine Lehre, die nazi-wissenschaftlich nicht nur formuliert, sondern sehr intensiv erforscht und „begründet“ wurde. Dies war eben deshalb so wichtig, weil sich, wenn Juden tatsächlich, also wissenschaftlich begründet, ihrem Wesen nach, ihre Stellung außerhalb des Bereichs der Menschlichkeit haben und darüber hinaus eine konkrete Gefahr darstellen, damit ihre Vernichtung ethisch endgültig begründen lässt. So kann man auch das menschliche Gebot schlechthin formulieren und von den „Übermenschen“ die psychischen und die physischen Anstrengungen verlangen, diesen Feind der Menschheit endgültig zu eliminieren, was dann ja geschehen ist. Insofern handelt es sich in diesem Fall nicht bloß um einen Zivilisationsbruch, sondern um eine tiefe Wunde in der Menschheitssubstanz.
3. Wir haben oben die Würde des Menschen erwähnt und die Tatsache ihrer besonderen Gültigkeit betont. Die Besonderheit des Menschen zeigt sich in zwei Momenten des menschlichen Wesens: Ein universeller und ein individuell-persönlicher Moment. Alle Menschen, der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, sind einerseits absolut identisch und andererseits absolut unterschiedlich.
Als Menschen, d.h. in Bezug auf das Menschliche an sich, sind alle Menschen ohne Ausnahme absolut identisch; als Individuen aber sind sie absolut unterschiedlich.
Die Betonung der Würde des Menschen will dieses doppelte Wesen des Menschen betonen und zum konkreten Ausdruck bringen
Im ersten Artikel, Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist diese besondere Bedeutung der Menschenwürde folgendermaßen formuliert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Worin besteht das Wesen dieser Würde des Menschen, die nach dieser besonderen Art von Schutz verlangt?
Grundsätzlich zeigt sich die Würde oder die Ehre eines Menschen in dem Maße, in dem andere Menschen ihm gegenüber ihre Wert-Schätzung erweisen. Die Quelle und das Maß dieser Wertschätzung sind sehr unterschiedlich je nach Kultur, gesellschaftlichen Normen und persönlicher Einstellung: Geschlecht, Alter, Macht, gesellschaftlicher Rang, Geld, Amt, Weisheit und so weiter und sofort. Auch die Art, wie diese Wertschätzung konkret zum Ausdruck kommt, variiert je nach Zeit, Ort, Kultur, Gesellschaft und Person.
Grundsätzlich besitzt jede Sache und jede Entität einen bestimmten Wert. Dieser Wert gründet sich aber nicht bloß im Wesen einer Sache oder einer Entität, sondern im Bestehen einer wertenden Person wie auch in der persönlichen Einstellung dieser wertenden Person zu diesen Sachen oder Entitäten. Die Fülle und die Vielfältigkeit der menschlichen Gefühlsweisen, Bedürfnisse und Einstellungen ist der Grund der Vielfältigkeit und der Verschiedenartigkeit der Wert-Schätzungen, von ganz negativen bis zu ganz positiven, wie auch der Grund für die Abwägung des Wertes verschiedener Sachen und Entitäten untereinander. Insofern ist es der Mensch, der den Dingen und Entitäten ihren Wert verleiht. Dementsprechend sind sie, je nach urteilender Person, mehr oder weniger wert-voll.
Bei dem Versuch, den Maßstab für die Bestimmung der Wert-Schätzung („Wichtigkeit“) des Menschen als solchen festzulegen, ändert sich dieses Bild vollständig.
Zunächst muss betont werden, dass Wert-Schätzung immer eine persönliche Bestimmung eines Einzelmenschen ist, auch wenn eine solche Bestimmung institutionalisiert und so zu einer gesellschaftlichen, nationalen, rechtlichen, religiösen, moralischen oder sonstigen Norm werden kann. Des Weiteren betrifft die Wert-Schätzung alles, was in seiner Bedeutung isoliert werden kann und so mit dem Maßstab der Wertschätzung gemessen werden kann.
Mit dem Menschen verhält es sich jedoch grundsätzlich anders. Die Person ist zwar Trägerin des Menschlichen überhaupt oder der Menschlichkeit schlechthin, sie kann sich aber vom Menschlichen an ihr nicht distanzieren und es messen. Das käme dem Absprechen des Menschlichen gleich. Das Menschliche am Menschen steht außerhalb der Reichweite einer jeden möglichen Be-Wertung!
Der Ausdruck „Würde des Menschen“ bezieht sich auf die absolute Eigentümlichkeit des Menschen als solchen und er will die Tatsache der absoluten Besonderheit und der absoluten Einzigartigkeit des Menschen als solcher im Rahmen der Wirklichkeit betonen.
Wenn die herkömmliche zugeschriebene Würde den Unterschied zwischen Menschen betont, betont die Würde des Menschen das, was allen Menschen ohne Ausnahme gemeinsam ist: ihre Menschlichkeit und ihre individuell geprägte Persönlichkeit. Alle Angehörigen der Menschheitsfamilie besitzen als solche einen absoluten Status, der universal in seiner Gültigkeit ist, also ein Status, der immer, an jedem Ort und ohne Ausnahme gilt.
Man kann natürlich die Besonderheit des Menschen als Menschen dadurch zeigen und betonen, indem man den Menschen mit den Tieren vergleicht. Damit kann man aber nicht mehr als die Tatsache zeigen und betonen, dass der Mensch als solcher sich von den Tieren absolut unterscheidet. Worin dieser Unterschied besteht, das kann man damit nicht zeigen.
Die Besonderheit und die Einzigartigkeit des Menschen als solchen sind eben absolut. Das heißt, diese Besonderheit und diese Einzigartigkeit werden nicht durch einen Vergleich mit Gleichen bzw. Ähnlichen bestimmt, wie es üblicherweise bei inner-weltlichen Bestimmungen von Besonderheit und Einzigartigkeit der Fall ist. Mein Kugelschreiber, mit dem ich schreibe, kann nur im Vergleich mit anderen Kugelschreibern oder mit ähnlichen anderen Schreibmitteln als besonders oder einzigartig bestimmt werden. Ansonsten hat der Vergleich keinen Sinn.
Mit der Menschlichkeit des Menschen bzw. mit dem Menschlichen verhält es sich ganz anders. Besonderheit und Einzigartigkeit des Menschen bestehen doch gerade darin, dass der Mensch die einzige Entität in dieser Welt ist, die die Grenzen der Natur sprengt und sich, als das, was sie ist, und als das, was sie sein soll, in einem Akt der Selbstbestimmung in den Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit setzt.
Das heißt, die Besonderheit und die Einzigartigkeit des Menschen bestehen eben darin, dass er als das was er ist und als das, was er sein soll, ohne einen möglichen Vergleich mit etwas anderem das ist, was er ist. Der Mensch entwickelt sich nicht bloß, sondern er soll durch Selbst-Bestimmung wachsen und reifen: Darin besteht seine Würde!
Zum besonderen Dank bin ich meinem Sohn Jonathan verpflichtet, der mir bei der sprachlichen Gestaltung des Manuskripts eng zur Seite stand. Für die Betreuung der Publikation meines Buches möchte ich mich bei Frau Theresa Reichelt und beim Publikationsteam des „tredition“-Verlags herzlich bedanken.
1 Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland
2 6. April 2020, https://unric.org/de/06042020-guterres/
Einleitung: ZUR BEDEUTUNG DER BESCHÄFTIGUNG MIT PHILOSOPHIE3
1.Ich möchte mit einer Kurzgeschichte von Tolstoi beginnen, die für die Philosophie, wie ich sie verstehe, und für die Bedeutung der Beschäftigung mit ihr allegorisch ist. Diese Geschichte erzählt von zwei Klosterbrüdern, die davon gehörthaben, dass in einem fernen Land ein Turm steht, an dessenSpitze sich eine Tür befindet, die zum Himmelreich führt. Dasie sich selbst, wie auch das Leben ernst nahmen, machtensie sich auf den Weg und scheuten dabei keine Mühe und keinLeid, um ihr Ziel aller Ziele zu erreichen. Endlich standen sievor dem Turm und fanden in ihm auch die legendäre Tür.Voller Aufregung öffneten sie die Tür – und fanden sich inihrer Klosterzelle wieder.
Ich weiß nicht, was Tolstoi mit dieser Erzählung sagen wollte. Für mich jedenfalls ist die Lehre daraus klar: Irdisch-Sein: Irdisch-Sein, das zeigt natürlich die Grenze des Menschen. In seinem Irdisch-Sein liegt aber auch seine Größe. Die Grenze besteht darin, dass es in der Welt Kräfte und Ereignisse gibt, die den Menschen daran hindern, vollkommen zu sein und vollkommen zu leben.
Und doch hat sich der Mensch in dieser Welt voller Leid und Enttäuschungen zu bewähren. Und darin besteht seine Größe. Am deutlichsten – und das nur nebenbei bemerkt –, am deutlichsten kann der Mensch seine Grenze wie seine Größe in dem erfahren, was man die reine und selbstlose Liebe nennt. Wer unter der Macht einer solchen Liebe steht, kann am deutlichsten, aber dann auch am schmerzlichsten erfahren, was es heißt, unvollkommen zu sein. Andererseits aber erfährt der Mensch, trotz des Leides, in ihr Glück und Weltfreude, für die er kein Himmelreich geben würde. Das heißt Irdisch-Sein im tiefsten Sinne des Wortes. Und es ist kein Zufall, dass gerade darin die Ewigkeitsdimension in dieser Liebe besteht.
Was wollten die beiden Klosterbrüder eigentlich erreichen? Sie wollten sich nicht nur von aller Weltabhängigkeit befreien, sondern sie wollten sich auch von dem Zwang aller Weltverpflichtungen lösen. Das aber nicht als Endziel, sondern um sich so, von aller Welt gelöst, die Möglichkeit zu verschaffen, auf einem Weg zu reifen, der sie dazu führt, sich im göttlichen Einen zu verankern. Zu ihrer Überraschung mussten sie feststellen, dass dieses Von-aller-Welt-gelöst-Sein und der Weg zur Verankerung im göttlichen Einen sie dazu führt, die Erde, die Welt, neu zu entdecken.
Sie haben mit anderen Worten entdeckt, dass der Wille zur Verankerung im göttlichen Einen nicht nur keinen Widerspruch zu den Forderungen der Welt darstellt, sondern darüber hinaus, gerade die Voraussetzung dafür ist, diese Forderungen in der richtigen, d.h. in der dem Wesen des Menschen und dem Wesen der Wirklichkeit gemäßen Weise zu erfüllen.
Beide sind auf dem inneren Weg gereift: Nur das Reifen auf dem inneren Weg kann uns, auch wenn es widersprüchlich klingt, zur Erkenntnis des Wesens der Wirklichkeit führen, dessen integraler Teil wir sind, und so letztlich zur Erkenntnis des eigenen Wesens führen.
In uns selbst heimisch werden und in der Welt zuhause zu sein, sind zwei einander bedingende und sich ergänzendeAngelegenheiten. Der Weg zur gegenseitigen Verwirklichung dieser beiden Angelegenheiten, die in der Regel als zwei getrennte menschliche Ideale gelten, dieser Weg ist der Weg der Philosophie und genau darin besteht auch die Bedeutung der Beschäftigung mit Philosophie.
Die Philosophie ist also von Anfang an keine bloß kontemplative Tätigkeit (im engeren Sinne verstanden), die ihren Höhepunkt in dem Entwurf einer „Theorie“ findet. Die uns geschichtlich schriftlich gegebene Philosophie ist nichts anderes als Widerspiegelung und Dokumentation der Suche und des Strebens nach der Wahrheit. Philosophie ist in dieser Hinsicht nicht bloß als der Weg zur Wahrheit, sondern als der Weg der Wahrheit zu verstehen. Konkret bedeutet das, dass auf diesem Weg Wahrheit und Leben zu einer identischen Einheit verschmelzen, die man als wahres Leben bezeichnen kann, ein Leben, das im Unterschied und allzu oft im Gegensatz zu unserem im herkömmlichen Sinne verstandenen "guten Leben" zu sehen ist.
Die Tatsache, dass die Philosophie sich in jede Richtung der Wirklichkeit ausdehnt und alles in den weitesten Zusammenhang des Wirklichkeitsganzen setzt, diese Tatsache ändert nichts daran, dass ihre zentrale Frage die folgende ist: Was ist der Mensch, was ist sein Wesen, und welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit er seinem Wesen gemäß leben und sich entwickeln kann? Oder anders formuliert: Welche Stellung hat der Mensch im Kosmos und was bedeutet die Bestimmung dieser Stellung konkret für sein individuelles Mensch-Sein in der Welt?
2. Wenn wir die Philosophie als den Weg der Wahrheit charakterisieren, bedeutet das auf gar keinen Fall, dass der Weg an sich, dass das Streben und Fragen nach der Wahrheit, an sich den höchsten Wert für uns Menschen ausmachen. In der Regel pflegt man in dieser Angelegenheit folgende Worte Lessings zu zitieren, und das als Ausdruck menschlichen Maßes: "Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"
Das klingt in der Tat sehr bescheiden und demütig und scheint genau dem menschlichen Maß zu entsprechen. Diese Worte sind trotzdem Ausdruck eines gewaltigen Irrtums, Ausdruck für einen sehr unreflektierten Begriff der Wahrheit. Lessing übersieht die Tatsache, dass es gar nicht auf das Streben nach der Wahrheit an sich, sondern auf das wahre und richtige Streben nach ihr ankommt.
Das wahre und das richtige Streben nach der Wahrheit heißt ein Streben, das hinsichtlich der Regel, die es leitet, hinsichtlich der Richtung seines Fortschreitens und hinsichtlich des Schwungs, in dem dieses Fortschreiten vollzogen wird, der Wahrheit entsprechen müssen.
Mit anderen Worten: Das gültige Streben nach Wahrheit setzt als Bedingung seiner Möglichkeit die (intuitive) Erkenntnis des Ganzen der Wahrheit in ihrer grundsätzlichsten und konzentriertesten Gestalt voraus. Und der Weg der Wahrheit ist nichts anderes als die Entfaltung dieser logisch bestimmten, ursprünglichen Gestalt der Wahrheit.
Darum heißt auch dieser Weg Weg der Wahrheit und nicht der Weg zur Wahrheit. Und man kann mit Gewissheit sagen, dass dieses durch das menschliche Denken bestimmte Streben nach der Wahrheit, d.h., dass die Philosophie der einzigedem Menschen offene Weg ist, auf dem er jeden seiner Schritte in seinem Wert und in seiner Gültigkeit begründen kann. Insofern stellt die Philosophie den einzigen Weg der Wahrheit dar, in dem man die Wahrheit in ihrem Umfang und in ihrer erkenntnis-mäßigen Gültigkeit begründen kann.
Damit haben wir auch indirekt auf die Fragen geantwortet, ob Philosophie überhaupt der einzige Weg der Wahrheit ist, und was den philosophischen Weg vor den anderen Wegen auszeichnet?
Philosophie ist sicherlich nicht der einzig mögliche Weg der Wahrheit. Ganz allgemein, und ohne jegliche begriffliche Differenzierungen zu leisten, kann man sagen, dass der Weg, der durch die Religion bestimmt ist, ohne Zweifel der Weg der Wahrheit ist. Die Religion zielt jedoch auf die göttliche Einheit hin, die nicht und auf gar keinen Fall als Teil der von uns erkennbaren Wirklichkeit gelten kann, die also die Wirklichkeit in jeder nur denkbaren Hinsicht transzendiert. Darin bestehen die Erhabenheit und die Größe dieses Weges.
Eins muss uns in diesem Zusammenhang klar sein: Philosophie und Religion als zwei eigenständige Wege der Wahrheit stehen nicht in Widerspruch zueinander. Die erkenntnis-mäßig bestimmte Wahrheit der Philosophie muss grundsätzlich im weiteren Zusammenhang der Wahrheit der (wahren) Religion enthalten sein.
3. Der Weg der Wahrheit, den die Philosophie darstellt, ist von Anfang an ganz anders gestaltet. Das erste, was die frühen griechischen Philosophen geleistet haben, war, den vermeintlichen Draht zur inhaltsmäßigen Erfassung der Transzendenz abzuschneiden: Sie haben nicht nur den volkstümlichen Mythos kritisiert und zerstört; das ist an sich noch keine große philosophische Tat.
Die Philosophie beginnt erst mit dem Versuch, die Wirklichkeit durch ein weltimmanentes Prinzip zu erklären und zu verstehen. Das Interesse der Philosophie gilt von Anfang an der gedanklich-begrifflichen Durchdringung der Wirklichkeit und der Begründung der Ordnung der Wirklichkeit durch ein ihr immanentes Prinzip.
Es geht also der Philosophie darum, zu erkennen, "was die Welt im Innersten zusammenhält" (Faust), d.h., es geht ihr darum, das Weltganze grundsätzlich zu begründen und das durch die Erkenntnis der Wesensstruktur des Ganzen der Welt, also durch die Erkenntnis der Grundgesetzlichkeit der Welt, die jede besondere Gesetzlichkeit bestimmt.
Diese Charakterisierung des Ziels des Erkenntnisstrebens der Philosophie zeigt, dass die Philosophie die Welt nicht als Gegenstand des Wissens betrachtet: Die Philosophie interessiert sich nicht für das für uns zufällige Dasein und sein zufälliges Sosein, sondern nur und auschließlich für das, was in den Erscheinungen weltwesentlich ist.
Mit anderen Worten: Die Philosophie interessiert sich nicht für die Erscheinungen als solche, wie sie uns empirisch gegeben sind, sondern nur für die Gesetzlichkeit und für die Ordnung, die sie in ihrer Wirklichkeit bestimmen. Das ist auch der Grund, warum die Philosophie von der Transzendenz erkenntnis-mäßig absieht.
Einerseits ist die Transzendenz für das Erkenntnisstreben der Philosophie deshalb vollkommen irrelevant, weil das Verhältnis zwischen Welt und Transzendenz die Intelligibilität und Logizität der Wirklichkeit, also die Erkennbarkeit der Welt, wie sie in ihrer Aktualität ist, gar nicht berührt. Andererseits aber bedarf die Philosophie des Begriffs der Transzendenz als erkenntnis-mäßigen Mittels, um das Ganze der Wirklichkeit „von außen“ hervorzuheben.
Die Einsicht, dass die Welt ein einheitliches Ganzes ist, dessen Glieder durch den beständigen gesetzmäßigen Zusammenhang verbunden sind, wie auch die Möglichkeit der Erkenntnis der logischen Struktur dieser Wirklichkeit, diese beiden sind also ausschließlich Sache des menschlichen Denkens und werden von ihm mit allen dazugehörenden Konsequenzen bestimmt.
Dabei spielt weder die Empirie noch die mögliche Rückbindung der gesamten Wirklichkeit an einen transzendenten Gott als den ersten Ursprung und als das letzte Ziel eine Rolle. Das muss man verstehen, damit man am Ende des Weges nicht dasteht und sich eingestehen muss, was Doktor Faust sagen musste: "Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!"
Man muss jedoch sagen, dass die Vollendung einer jeden ernstzunehmenden Philosophie letztlich in ihrer Fähigkeit besteht, die Grundlagen des religiösen Glaubens zu klären. Denn das Bestehen des Menschen und das Bestehen der Wirklichkeit als Ganzes setzen das Bestehen der Transzendenz voraus.
Die philosophisch bestimmte Überbrückung zwischen Welt und Transzendenz kann jedoch keine direkte, inhaltlich bestimmte sein, denn die Transzendenz liegt per definitionem außerhalb der unmittelbaren Reichweite unseres Denkens und somit unserer Erkenntnismöglichkeit.
So oder so: Früher oder später werden wir, genauso wie die zwei Klosterbrüder auf ihrem religiösen Weg feststellen, dass der Weg der Philosophie eigentlich der Weg zu sich selbst ist. Spätestens dann versteht man, was das eigentlich bedeutet, sein wahres Selbst kontinuierlich und konsequent zu konstituieren. Dann versteht man auch, was wahres Selbstsein bedeutet, im Gegensatz zur bloßen Selbstsucht und zur bloßen Eigenliebe, in der man nur für sich selbst, d.h. in seinem Ich eingeschlossen lebt.
4. Die Vielfältigkeit und die unterschiedlichen Formen der menschlichen Andersartigkeit, die konkret in ihrer individuellen und gemeinschaftlichen Gestalt erfahrbar und erkennbar sind, bergen in sich das starke Potenzial der Unsicherheit und der Ungewissheit, die das Leben in allen seinen menschlich bestimmten Phasen und Formen prägen.
So findet sich der Mensch in einer Welt, die er verstehen will und in die er sich integrieren will. Und je größer und breiter die freien Räume, die zur Selbst-Bestimmung offen sind, desto radikaler werden die persönliche Unsicherheit und Ungewissheit in der Möglichkeit der Orientierung in der Welt. Hinzu kommt das Bewusstsein des Umbruchs, in dem sich die sogenannte westliche Kultur, aber nicht nur sie befindet. Verstärkt wird diese krisenhafte Situation auch durch die Unklarheit, in die kulturelle, nationale und lokale Identitäten („Multi-Kulti“) durch Globalisierung und Freizügigkeit geraten sind.
Hier geht es nicht um „Ratschläge“ allgemeiner Art, die aus unpersönlich formulierten unverbindlichen Bestimmungen bestehen, sondern um die Antwort auf die sehr konkrete Frage nach persönlicher Orientierung in dieser Welt; es geht um die ganz konkrete Frage nach der Bestimmung von persönlicher Identität, des persönlichen Lebenssinns und des persönlichen Lebensglücks. Es geht um die konkrete persönliche Selbst-Verwirklichung, also um die Echtheit, um die Authentizität des konkret geführten Lebens eines Menschen.
5. Die Grundsituation des Menschen in der Welt ist die eines Fremden: Er ist zwar in ihr, muss aber feststellen, dass sie ihm nicht vertraut ist. Die Grundbefindlichkeit der Begrenztheit: In die Welt „hineingeworfen“, vielen unverständlichen Phänomenen und Ereignissen begegnen, die die Unsicherheit seines Daseins stark beeinträchtigen.
Aber das Problematischste sind Wahrnehmungsfehler und Sinnestäuschungen wie auch die persönlichen fehlerhaften Einschätzungen und Entscheidungen: Nicht einmal in und mit sich ist der Mensch sicher: Er ist nicht auf eine natürliche Weise in der Welt zu Hause! Dies muss er erarbeiten!
Das Bewusstsein für diese Situation hat unterschiedliche Prägungen, so auch die Bestrebungen, diese Grundsituation zu überwinden. Nicht zufällig führt der Versuch, diese Situation zu klären und zu überwinden, zur Philosophie.
Was das geschichtlich konkret bedeutet, können wir von der Beschreibung Karl Jaspers‘ in seiner „Einführung in die Philosophie“4 entnehmen:
„Die Geschichte der Philosophie als methodisches Denken hat ihre Anfänge vor zweieinhalb Jahrtausenden, als mythisches Denken aber viel früher.
Doch Anfang ist etwas anderes als Ursprung. Der Anfang ist historisch und bringt für die Nachfolgenden eine wachsende Menge von Voraussetzungen durch die nun schon geleistete Denkarbeit. Ursprung aber ist jederzeit die Quelle, aus der der Antrieb zum Philosophieren kommt. Durch ihn erst wird die je gegenwärtige Philosophie wesentlich, die frühere Philosophie verstanden.
Dieses Ursprüngliche ist vielfach. Aus dem Staunen folgt die Frage und die Erkenntnis, aus dem Zweifel am Erkannten die kritische Prüfung und die klare Gewissheit, aus der Erschütterung des Menschen und dem Bewusstsein seiner Verlorenheit die Frage nach sich selbst. Vergegenwärtigen wir uns zunächst diese drei Motive.
Erstens: Plato sagte, der Ursprung der Philosophie war das Erstaunen. Unser Auge hat uns „des Anblicks der Sterne, der Sonne und des Himmelsgewölbes teilhaftig werden lassen“. Dieser Anblick hat uns „den Trieb zur Untersuchung des Alls gegeben. Daraus ist uns die Philosophie erwachsen, das größte Gut, das dem sterblichen Geschlecht von den Göttern verliehen ward“. Und Aristoteles: „Denn die Verwunderung ist es, was die Menschen zum Philosophieren trieb: Sie wunderten sich zuerst über das ihnen aufstoßende befremdliche, gingen dann allmählich weiter und fragten nach den Wandlungen des Monds, der Sonne, der Gestirne und der Entstehung des Alls.“
Sich wundern drängt zur Erkenntnis. Im Wundern werde ich mir des Nichtwissens bewusst. Ich suche das Wissen, aber um des Wissens selber willen, nicht „zu irgendeinem gemeinen Bedarf“.
Das Philosophieren ist wie ein Erwachen aus der Gebundenheit an die Lebensnotdurft. Das Erwachen vollzieht sich im zweckfreien Blick auf die Dinge, den Himmel und die Welt, in den Fragen: was das alles und woher das alles sei – fragen, deren Antwort keinem Nutzen dienen soll, sondern an sich Befriedigung gewährt.
Zweitens: Habe ich Befriedigung meines Staunens und Bewunderns in der Erkenntnis des Seienden gefunden, so meldet sich bald der Zweifel