Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Es gab keine Zeit, wie die unsere, wo Menschen mit einem so reichen Angebot an Bildungsmöglichkeiten und an kultureller Vielfalt verwöhnt waren. Kultur und Bildung sind doch nicht bloß als Instrumente der äußerlichen Gestaltung des Lebens zu verstehen. Gerade in Krisenzeiten müssten sie ihre eigentümliche Bedeutung und ihre eigentümliche Wirkung auf die Einzelpersonen und auf ihre Gesellschaft offenbaren. Warum ist die innere Stärke, die in Kultur und Bildung innewohnt, nicht zur klaren Geltung gekommen? Sollten Bildung und Kultur den Menschen nicht sich selbst näher bringen, dazu, den Schwerpunkt des persönlichen Daseins in die eigene Mitte verlegen- und ihn so wirklich als souveräne und mündige Person zu gestalten, statt ihn irgendwo im fremden Draußen zu verankern? In der vorliegenden Arbeit möchte ich die lebenswichtige Bedeutung der Kultur und deren ebenfalls lebenswichtige Wirkung in zweierlei Weise hervorheben: Einerseits, am Beispiel der Kunst, zeigen, was mit der Lebenswichtigkeit der Kultur als das Sich-selbst-Bedenken des Menschen, als An-sich-Erinnern des Menschen philosophisch gemeint ist; andererseits aber auf die gefährliche Menschen-Vergessenheit und die Folgen bezüglich allem, was gut und wahr ist, bis hin zur menschen-negierenden Anschauung aufmerksam machen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 165
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Wozu Kultur?
Zwischen Kultur und Menschen-Vergessenheit
„Hingabe an den Instinkt und das
fessellose ‚Leben‘, das eigentlich der
Tod und als Leben nur Teufelswerk,
gifterzeugt ist“
Thomas Mann
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
I. EINLEITUNG: ZUR WESENSBESTIMMUNG DER KULTUR
II. PHILOSOPHIE, KUNST UND WIRKLICHKEIT
II.1. Zur Bestimmung der philosophischsystematischen Betrachtung von Kunst
II.2. Zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben
II.3. Zur Einteilung der Künste
III. ZUR KLÄRUNG DES PHÄNOMENS DER MENSCHENVERGESSENHEIT
III.1. Einleitendes
III.2. Vom Wesen des Vergessens im Allgemeinen und des Menschen- Vergessens im Besonderen
IV. WOZU KULTUR? DIE DIAGNOSE, DIE HOFFNUNG, DER WEG
IV.1. Die Diagnose
A. VON DER FREIHEIT DES MENSCHEN
B. VOM FALSCH VERSTANDENEN INDIVIDUALISMUS
C. VON DER VERANTWORTUNG
IV. 2. Die Hoffnung
IV. 3. Der Weg
a. Einleitendes
b. Zwischen Entwicklung und Wachstum
c. Von der menschlichen Eigentlichkeit
d. Die Frage nach dem Sinn des Lebens
V. SCHLUSSWORT: „WAS ALSO IST DER MENSCH?“
VORWORT
Liebe Leserin, lieber Leser, unsere Zeit – die Zeit der Corona-Pandemie – erweist sich immer mehr als eine tiefgreifende existentielle Krise. Es gibt kaum einen Bereich, der davon nicht betroffen war: die Gesellschaft und die zwischenmenschliche Beziehungen, die Politik, die Wirtschaft und die Bereiche der Bildung und der Kultur.
Besonders dramatisch kommt diese Krise im privaten Bereich und im Leben des Einzelnen zum Ausdruck: Häusliche Gewalt einerseits und die Reduzierung der zwischen-persönlichen Kontakte wie auch die Vereinsamung von Einzelpersonen andererseits.
Die dramatische weltweite Zunahme der häuslichen Gewalt in ihren unterschiedlichsten Formen hat den Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres dazu veranlasst, eine Sitzung der Vollversammlung der UNO einzuberufen und dabei einen dramatischen Appel an die Vertreter der Nationen und an die Menschen der Welt zu richten.1
Unumstritten ist die Tatsache, dass zwischen-persönliche Kontakte von existentieller Bedeutung sind. Gerade die sogenannten Grenzsituationen als persönlich extreme Situationen betonen diese Wichtigkeit im ganz normalen alltäglichen Leben.
„Wir sind“, sagt Karl Jaspers, „immer in Situationen. Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder. Ich kann selber an der Veränderung der Situation arbeiten. Aber es gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: Ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituation unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. Das heißt, es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können“.2
Dass die Corona-Krise viele Menschen schnell in eine persönliche schwere Krise führte, das war vorhersehbar. Dass dabei sich aber besonders junge Menschen als psychisch sehr labil erweisen, das war so nicht klar genug.
Inzwischen ist sehr klar geworden: „shutdown“ , „homeschooling“, „zoom“, „teams“ und ähnliche Formen der Reduzierung der „Life“-Kontakte stehen in direktem Zusammenhang mit der psychischen Labilität von jungen Menschen und Erwachsenen unterschiedlicher Altersgruppen: Es ist die Rede von schweren psychischen Erkrankungen bis hin zur Suizidgefahr.
Was ist eigentlich geschehen? Warum fühlten sich Menschen, die an ihren elektronischen Geräten wie „am Tropf“ hängen, schlagartig auf sich geworfen? Soziale Netzwerke, „Freunde“ und „community“, diese wiesen sich als Phantom, als menschliche Leere auf. Es gibt doch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen „life“, also die Unmittelbarkeit der sozialen Aktion und „digital“!
Interessant ist dabei die Tatsache, dass es so scheint, als ob inmitten von Europa, ja inmitten des Bereichs der sogenannten westlichen Kultur, die Menschen, besonders die jungen Erwachsene, von Souveränität und Mündigkeit geprägt sind. Warum haben denn so viele so schnell das seelische Gleichgewicht verloren?
Es gab keine Zeit, wie die unsere, wo Menschen mit einem so reichen Angebot an Bildungsmöglichkeiten und an kultureller Vielfalt verwöhnt waren. Kultur und Bildung sind doch nicht bloß als Instrumente der äußerlichen Gestaltung des Lebens zu verstehen. Gerade in Krisenzeiten müssten sie ihre eigentümliche Bedeutung und ihre eigentümliche Wirkung auf die Einzelpersonen und auf ihre Gesellschaft offenbaren. Warum ist die innere Stärke, die in Kultur und Bildung innewohnt, nicht zur klaren Geltung gekommen?
Sollten Bildung und Kultur den Menschen nicht sich selbst näher bringen, dazu, den Schwerpunkt des persönlichen Daseins in die eigene Mitte verlegen– und ihn so wirklich als souveräne und mündige Person zu gestalten, statt ihn irgendwo im fremden Draußen zu verankern?
Schauen wir uns selbst an, geplagt von Einsamkeit und psychischem Druck, ist zu fragen, wo die Schätze von Kultur und Bildung geblieben sind? Sollten sie nicht in unserem Inneren niederschlagen und ihre persönlichkeits-aufbauende Wirkung in uns entfalten? Sind diese Schätze nur in Büchern und als „Kulturangeboten“ vorhanden? Kann es sein, dass Literatur, Theater, Malerei, Musik und Tanz bloß „draußen“ bleiben und nicht gestaltend auf uns einwirken?
Ja, das kann offenbar Tatsache sein! Das ist auch verständlich, wenn man bedenkt, dass ein gewaltiger Unterschied zwischen Konsum von Bildung und Kultur und der Wirkung derselben besteht! Mit Wirkung ist nicht der Einfluss auf den äußerlichen Umgang miteinander gemeint, sondern die Motivation zur Selbst-Betrachtung des Menschen und das dadurch wachsende Verständnis, dass Kulturschöpfungen ihn persönlich angehen! Kultur-Erfahrung ist eine existentielle Aufgabe, kein Zeitvertrieb – auch wenn er aus sogenannten erhabenen Erfahrungen besteht!
In der vorliegenden Arbeit möchte ich die lebenswichtige Bedeutung der Kultur und deren ebenfalls lebenswichtige Wirkung in zweierlei Weise hervorheben: Einerseits, am Beispiel der Kunst, zeigen, was mit der Lebenswichtigkeit der Kultur als das Sich-selbst-Bedenken des Menschen, als Ansich-Erinnern des Menschen philosophisch gemeint ist; andererseits aber auf die gefährliche Menschen-Vergessenheit und die Folgen bezüglich allem, was gut und wahr ist, bis hin zur menschen-negierenden Anschauung aufmerksam machen.
Um das Wesen und die Bedeutung der Kultur und des kulturellen Schaffens zu verdeutlichen, möchte ich im folgenden Kapitel einer der wichtigsten Erscheinungen des menschlichen Schaffens besondere Aufmerksamkeit schenken: Der Kunst.
Zum Verständnis der Einzelheiten des Systems ist es notwendig, den Systementwurf in seiner Ganzheit zu betrachten. Die drei Teile sind die folgenden:
-Das System der Philosophie, Die systematische Grundlage zur Erkenntnis der Wirklichkeit und zur Bestimmung der Stellung des Menschen in ihr, Frankfurt am Main 2012 (zitiert: System I)
-Der Mensch und seine Welt: Zur Erkenntnistheoretischen Klärung der Stellung des Menschen in der Welt und der Bedingungen der Verwirklichung seiner Freiheit – das System der Philosophie II, Frankfurt am Main 2013 (zitiert: System II)
-Die Grenzen der Erkenntnis und dahinter: Zur Klärung der erkenntnistheoretischen Grundlage des religiösen Glaubens – das System III, Frankfurt am Main 2014 (zitiert: System III)
Hinzu kommen folgende systematische Ergänzungen:
-Religion, Wissenschaft und Erkenntnis der Wirklichkeit, Hamburg 2020 (zitiert: Religion)
Zum besonderen Dank bin ich meinem Sohn Jonathan verpflichtet, der mir bei der sprachlichen Gestaltung des Manuskripts eng zur Seite stand. Für die Betreuung der Publikation meines Buches möchte ich mich bei Frau Theresa Reichelt und beim Publikationsteam des „tredition“-Verlags herzlich bedanken.
1 6. April 2020, https://unric.org/de/06042020-guterres/
2 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 1953, 1. Radiovortrag, S.11
I. EINLEITUNG: ZUR WESENSBESTIMMUNG DER KULTUR
1. In der Philosophie wird Kultur oft in einen grundsätzlichen Unterschied zur Natur gestellt: Kultur steht für die menschlichen Anstrengungen, die Natur – die des Menschen inbegriffen – zur Welt des Menschen zu gestalten.
So verstanden, „bezeichnet Kultur im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbstgestaltend hervorbringt – im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht verändernden Natur. Nach der weiter gefassten Definition sind Kulturleistungen alle formenden Umgestaltungen eines gegebenen Materials, beispielsweise in Technik, Landwirtschaft, Essenzzubereitung oder bildender Kunst, aber auch geistige Gebilde [….] oder „Subkulturen“ wie Musik, Sprachen, Moral, Religion, Recht, Wirtschaft und Wissenschaften“.3 Ergänzend zu dieser Bestimmung kommt die „Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen, charakteristischen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen“4 hinzu.
Diese Charakterisierung geht von der Tatsache aus, dass der Mensch kein gänzliches, also reines Naturprodukt und Naturobjekt ist, sondern dass er sich als Mensch bestimmen und verstehen muss, und dabei sein Leben durch eigene Tätigkeit innerhalb des ihm vorgegebenen geschichtlichen Rahmens erst gestalten und führen muss. Die Kulturentwicklung stellt so das eigentümlichen Wesen des Menschen dar und sie verleiht diesem Wesen seinen konkreten, persönlichen Ausdruck. Das ist der Grund, warum es einen kultur-losen Menschen nicht geben kann, ja er gar nicht denkbar wäre!
Das Hauptproblem mit einer derartigen Charakterisierung der Kultur besteht darin, dass sie übersieht, dass die „Natur“, die dem Menschen fremdartig ist, die von ihm gebändigt, überwunden und gestaltet werden sollte, selbst Kultur-Erzeugnis bzw. Erzeugnis der kulturellen Einstellung des Menschen ist.
Das gilt nicht bloß für die Bilder und für die Visionen der Natur, die bewusst vom Menschen erzeugt werden und auf ihn zurückwirken (wie etwa in der Malerei oder in der Musik). Das gilt in gleichem Maß und vielleicht noch mehr dort, wo die Natur als das unabhängig vom Menschen bestehende, gewissermaßen als „Natur an sich“ beschworen wird: In der Naturwissenschaft und zum Teil in der Dichtung, wie sie etwa von Hölderlin gedichtet wird.
Ausgerechnet da, wo der Mensch nur als der Schauende und Staunende auftritt, ausgerechnet da offenbart er die formende und gestaltende, ja schöpferische Kraft seines Geistes!
Eine Natur und eine Naturlandschaft, die vom Menschen tatsächlich unabhängig ist, kann nur „die von weither und weithin existierende Schöpfung“ sein: Es ist die große göttliche Schöpfung.
Wenn also der Kultur, die im Zeichen menschlichen Schaffens und Tuns steht, etwas gegenüber gestellt werden soll oder gar muss, dann kann es nur die monotheistische Religion sein, in deren Zentrum Gott und seine Schöpfung stehen: Die so verstandene Kultur ist durch und durch Anthropo-zentrisch, die monotheistische Religion durch und durch Theozentrisch!5
2. Im Zentrum der Kultur steht der Mensch. Und Kultur bedeutet die Verschmelzung des menschlichen Tuns und Schaffens mit dem Ergebnis seines Tuns und seines Schaffens. Diese Einheit von Mensch, seinem Schaffen und seinem Tun bedeutet, dass der Mensch Subjekt und zugleich Objekt seines Tuns und seines Schaffens ist. Und das bedeutet wiederum nichts anderes als die menschliche Entfaltung des Individuums – als Mensch im Allgemeinen und als Individuum im Besonderen.
„Entfaltung“, das heißt, das Scheinbare und das Zufällige am Individuum identifizieren und bestimmen und so das Leben ins Wahre und Notwendige zu überführen.
Das ist der universelle Prozess, in dem dem Individuum das ursprüngliche Ganze seines menschlichen Wesens und damit seine Wahrheit immer bewusster werden: Das ist der Prozess der Verwirklichung des Individuums. Dem Menschen ist aufgegeben, diese Verwandlung zu vollziehen, bis alles in seinem Leben restlos wahr, d.h. authentisch geworden ist.
Jede Einschränkung von Kultur und begründeter Erkenntnis – sei diese Einschränkung persönlich, national, ethnisch, geografisch oder sonstiger-weise geprägt – ist dem Wesen der Kultur und der begründeten Erkenntnis absolut fremd! Kultur ist ihrem Wesen nach universell!
Konkret heißt das, dass die Gültigkeit, die Bedeutung, der Bezug und Anwendung von Kultur und begründeter Erkenntnis für jeden Menschen genau im gleichen Maß gelten, was in Grundsätzen wie „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ und „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“6 zum Ausdruck kommt.
Das alles hat mit der Erstarrung von „Kultur“ zum bloßen Konsumgut wenig zu tun!
In der Kultur geht es von vorneherein um eine Tätigkeit des Menschen, die an den Menschen gerichtet ist. Das Wichtige dabei ist die Tatsache, dass der Geltungswert dieser Tätigkeit universell ist: Dieser Geltungswert wird durch das Denken und aus dem Denken bestimmt und in ihm begründet.7DerSinn und die Aufgabe der kulturellen Tätigkeit erfüllen sich in der Erfassung des Individuums in der Ganzheit seines Lebens wie in der daraus folgenden Gestaltung dieses individuellen Lebens zu einer sinnvollen Einheit. Ihre Geltung ist in der Ganzheit des menschlichen Wesens verankert, wie es der Mensch in seiner denkerischen Tätigkeit bestimmt.
Kultur im eigentlichen Sinne kann erst in der Verbindung einer bestimmten charakteristischen Gesamtstruktur mit dem authentischen Lebensausdruck des Einzelnen möglich sein. So gesehen ist die Kultur die vollzogene Einheit von Individualismus und Vergesellschaftung, eine Einheit, die eine bestimmte Geistesart hervorbringen und aufrecht erhalten soll, einen Geist nämlich, der einerseits frei von jeder Art von Fanatismus und jeder Art von geistiger Tyrannei, andererseits aber frei und reif zur Individualität und zu der mit ihr verbundenen Verantwortung sein soll.
Der Sinn des Lebens eines Menschen besteht in der Erfassung und in der Gestaltung der Einheit des Lebens, in der Erhebung des Lebens über die unendliche und chaotische Mannigfaltigkeit des Daseins durch die selbst geschaffene lebendige Einheit des individuellen Lebens. Und genau das muss die Kultur ihrem Wesen gemäß beanspruchen, und genau darin besteht ihr Sinn: Ein individuelles Leben zu gestalten, das als Ganzheit aufgefasst wird.
3. Das Hauptproblem mit der Bestimmung der Kultur ist die Schaffung eines einheitlichen Kulturbewusstseins: Das ist das Problem der Verallgemeinerung der Kultur. Diese Verallgemeinerung hat zwei Seiten: Zum einen die Aneignung der von den geistig Schaffenden erzeugten sogenannten Kulturgüter durch die anderen Teilnehmer der Gesellschaft, und zum anderen die Rückwirkung durch diese anderen Teilnehmer auf die geistig Schaffenden.
Eines müssen wir bedenken: Die konkrete und wahrhaft reale Wirklichkeit ist uns nicht als an und für sich bestehende gegeben: Der Zugang zu ihr entsteht in der erkenntnisschöpferischen Tätigkeit des individuellen Geistes. Das gilt gleichzeitig für das Leben des Menschen: Der Mensch muss den Zugang zu sich selbst ermitteln. Der Ausdruck dieser Erkenntnisarbeit ist die reine Ursprünglichkeit, die im Authentischen, das heißt im Leben in Wahrheit, also im Erfassen der individuellen Lebensganzheit gekennzeichnet ist: In unserem Mensch-Sein sind wir identisch, in unserem Individuellen Dasein ist jeder ein absolut nicht nachahmbares Original.
Die obengenannte Erkenntnisarbeit hat ihren Sinn darin, dass sie unmittelbar im Leben des Einzelnen wirksam ist. Er erfährt dann seine eigentümliche Aufgabe: Er hat seinen Lebenssinn zu erfüllen! Und das tut er, indem er sich von der natürlichen Gegebenheit und von der ihm umgebenden Mannigfaltigkeit immer mehr abhebt und seine geistige Freiheit und so seine Einheit als Person verwirklicht. Und je weiter die geistige Freiheit sich durchsetzt, desto klarer wird der ursprüngliche Charakter seines individuellen Lebens.
Ist das Individuum in der Lage, seine innere Freiheit zu behaupten, indem es diese in einem authentischen individuellenLebensausdruck verwirklicht, dann beherrscht es tatsächlich sein eigenes Dasein: Dann ist das potentielle Leben in ein aktuelles Leben übergegangen, dann wird der Sinn dieses individuellen Lebens erfasst und konkretisiert.
Es muss uns klar sein, dass das Leben keine Summe von Tagen ist und der Mensch keine Summe von Erlebnissen und Bewusstseinszuständen, kein „bundle of perceptions“ (Hume): Sowohl das Individuum als auch sein Leben stellen eine Ganzheit dar, die nur im authentisch geführten Leben ihren wahren Ausdruck haben, und nur ein authentisches, wahres individuell geführtes Leben kann tatsächlich als Ganzes einen Sinn haben.
In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die Absicht authentisch zu sein und authentisch zu leben, keine besondere „Ausbildung“ voraussetzt und mit keiner bestimmten beruflichen intellektuellen Tätigkeit verbunden ist. Entscheidend ist die Offenheit, sich unvoreingenommen zu betrachten wie auch die Entschlossenheit und der Mut, sich auf den Weg zur Erlangung der Echtheit der eigenen Individualität zu begeben.
4. Am Ende des Textabschnitts 1 wurde der grundsätzliche Unterschied zwischen Religion und Kultur hingewiesen. Der Grund für diesen Unterschied besteht darin, dass im Zentrum der Kultur der Mensch und sein Schaffen als Ansatzpunkt und als Ziel stehen, wobei im Zentrum der Religion Gott und seine Lebens-Lehre stehen. Der religiöse Mensch versteht die lebendige Wirklichkeit Gottes als in jeder Hinsicht absolut:Gott existiert nicht bloß: Er wirkt in die Wirklichkeit hinein, die er geschaffen hat.
Im Unterschied dazu geht es in der Kultur um die geistigschöpferische Tätigkeit des Menschen, die in einer Grundlage verankert ist, die der Mensch selbst, der Gesetzlichkeit seines Denkens gemäß8, gesetzt hat.
Das bedeutet, dass die Grundbestimmungen der Religion wie etwa „Gott“, „Offenbarung“, „Schöpfung“, „Sünde“ usw. auf gar keinen Fall als Produkte des menschlichen Geistes gelten können, ohne dabei ihren ursprünglichen Gehalt und ihre ursprüngliche Bedeutung und damit die Religion und den Glaubens vom religiösen Sinn zu entleeren.
Die Religion und der religiöse Glaube beanspruchen für sich eine Geltung, die in jeder Hinsicht absolut ist. Die Religion und ihre Grundbestimmungen können so nicht als Erzeugnisse der selbstständigen, spontanen Tätigkeit des menschlichen Geistes gelten.
Aber: Durch das Bewusstsein der universellen Geltung der Kultur, die den Menschen in dem Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit stellt, weiß der Mensch um die Begrenztheit seines Erkenntnis-Horizonts aber auch um die Begrenztheit seiner Kräfte, im Rahmen der Wirklichkeit die persönliche Vollendung zu erlangen.
So führt die Erkenntnis-Begrenztheit des Menschen ihn zur Pforte der Transzendenz! Ob er das erkennt, und wenn, ob er bereit wäre, die Schwelle glaubensmäßig zu überschreiten, das lässt sich im Voraus nicht sagen. Jedenfalls spätestens dann, wenn der Mensch die Grenzen seiner Möglichkeit, sich bis hin zur Vollkommenheit zu entwickeln, schmerzhaft erfährt, muss er eindeutig verstanden haben, was seine Begrenztheit wirklich bedeutet: Dass er sich als Mensch nie und niemals verabsolutieren, ja vergöttern darf!9
3 https://de.wikipedia.org/wiki/Kultur; 1.3.2021, 10:00; von mir hervorgehoben
4 BwgAEEcQsAM6BggAEAcQHjoICAAQxwEQrwE6BQgAELEDUNA7WJtNYPGQAWgDcAJ4AIABpwKIAeoEk-gEFMS4yLjGYAQCgAQGqAQdnd3Mtd2l6yAECwAEB&sclient=gws-wiz&ved=0ahU-KEwiHosfZw4fvAhV2AWMBHY2NBB4Q4dUDCA0&uact=5; ebd.
5 Siehe dazu §4 dieses Kapitels
6 Das dritte Buch Moses, 18,19; Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland
7 Vgl. dazu System I und II
8 Vgl. dazu System I
9 Siehe dazu
II. PHILOSOPHIE, KUNST UND WIRKLICHKEIT
1. Der zweite Teil des Systems der Philosophie besteht in der Darlegung und in der Erörterung des Erkenntnisbereichs der Kunst. Hier geht es nicht darum, angebliche Methode(n) des Kunstschaffens und der Kunstbetrachtung zu beschreiben und zu legitimieren; solche erkenntnismäßige Methoden gibt es nicht. Hier geht es eher um die Aufdeckung des Wesens der Kunst, das die existentielle Bedeutung des Kunstschaffen und des Kunstbetrachten in sich vereinigt und zum Ausdruck bringt.
Hier geht es darum, den Zusammenhang aufzuzeigen, in dessen Rahmen die Rede von Kunst sinnvoll ist. Es geht also um die erkenntnismäßige Grundlage, die die Kunst als Bereich der Wirklichkeit bestimmt und somit die Erkenntnis, die Kunst eigentümlicher weise vermittelt, also die Wahrheit, die die Kunst zum Ausdruck bringt, überhaupt ermöglicht.
In unserem Zusammenhang heißt das zu zeigen, dass die Gesetzlichkeit des Denkens die einzige notwendige und ausreichende Bedingung ist, aus der die Kunst, als Bereich der Wirklichkeit, aber auch die gesamte Wirklichkeit für uns erkenntnismäßig begreifbar werden kann.
Diese gesetzliche Grundlage, diese notwendige Gesetzlichkeit des Denkens, bestimmt den gesamten Bereich der Kunst, so dass jede einzelne bestimmte künstlerisches Werk, also jedes einzelne Kunstwerk (gleich zu welchem Kunstzweig es gehört) diese gesetzliche Grundlage des Ganzen der Wirklichkeit notwendigerweise voraussetzen muss.
Für das Kunstwerk bedeutet das, dass die Gesetzlichkeit, die das Kunstschaffen bestimmt, mit der Gesetzlichkeit, die das Kunstbetrachten bestimmt, identisch sein muss.
Das heißt, dass die Bestimmung dessen, was Kunst ist, kann keinesfalls relativ, nach persönlichem Geschmack, also willkürlich sein. Kunst erhebt den Anspruch, Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Diese Bestimmung besagt, dass die Kunst und die Wahrheit, die sie zum Ausdruck bringt, Ausdruck von Wirklichkeit ist. Insofern kann die erkenntnismäßige Grundbestimmung dessen, was Kunst ist, keinesfalls dem persönlichen „Geschmack“ überlassen werden.
2. Ein ausgezeichnetes Merkmal der Erfahrung ist, wie gesagt, ihre Fragmentarität: Einmal ist es die Fragmentarität der Erfahrung des Subjekts und einmal ist es die Fragmentarität der Erscheinungen in der Erfahrung: Einmal ist es der begrenzte Horizont eines Subjekts und einmal sind es die Erscheinungen, die jede für sich, als voneinander getrennt und unabhängig stehend verstanden werden.
Diese vermeintliche Eigenständigkeit und Selbstständigkeit der Erscheinungen lässt diese Erfahrung als Inhalt des Bewusstseins eines Subjekts willkürlich, zufällig und vergänglich erscheinen. Und der Versuch, die Erfahrung durch alleinige Bezugnahme auf die Erfahrung zu verstehen bzw. zu erkennen, muss scheitern, denn die Gesetzlichkeit, die diese Erfahrung überhaupt zur Erfahrung eines Subjekts macht, ist selbst nicht Teil dieser Erfahrung und erscheint in ihr nicht, was zum Zweifel an dem Bestehen einer solchen Gesetzlichkeit führen kann.
Die Einsicht, dass die Erfahrung fragmentarisch ist, dass sie eben nur einen Ausschnitt eines Ganzen ausmacht, und dass dieses Ganze einen Kosmos darstellt, drängt zur Aufdeckung der gesetzlichen Grundlage dieser Ordnung. Die Erkenntnis der Welt besteht in der Rationalisierung der Erscheinungen und sie besteht in der Aufdeckung der Beziehungen der Erscheinungen zueinander in dem weitest möglichen Zusammenhang, was der Verankerung in die gesetzliche Grundlage alles Wirklichen gleichkommt.
Diese gesetzliche Grundlage ist, wie wir gesehen haben, das Denken selbst, dessen Gültigkeit uneingeschränkt ist. Damit ist aber nicht gemeint, dass das menschliche Denken einen „göttlichen“ Verstand darstellt, sondern dass die gedanklichbegriffliche Grundlegung als die