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Die Geheimnisse des Übersinnlichen – aufgedeckt vom Experten für Parawissenschaften Unheimliche Begegnungen, mysteriöse Vorahnungen, schicksalhafte Zufälle – oft erleben wir im Alltag die absonderlichsten Dinge, die sich nicht schlüssig erklären lassen. Warum bleibt die Uhr plötzlich stehen, wenn ein geliebter Mensch stirbt? Wie kann es sein, dass ein lang vergessener Freund gerade in dem Moment anruft, in dem man an ihn denkt? Bernd Harder geht diesen Phänomenen auf den Grund und kommt zu überraschenden Ergebnissen. Warum die Uhr stehenblieb, als Opa starb von Bernd Harder: im eBook erhältlich!
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Seitenzahl: 306
Bernd Harder
Warum die Uhr stehenblieb, als Opa starb
Merkwürdige Zufälle und unerklärliche Phänomene
Knaur e-books
Ich bin über glühende Kohlen gegangen, habe in einem jahrhundertealten Schloss in Niederbayern Geister gejagt und war bei Marienerscheinungen dabei – im bosnischen Medjugorje ebenso wie in Marpingen im Saarland. Bei wissenschaftlichen »Psi-Tests« mit Personen, die Wasser oder Störfelder erspüren oder ein Blatt Papier durch pure Gedankenkraft bewegen wollen[1], habe ich ebenso assistiert wie bei Ufo-Investigationen. In Freiburg, am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP), lag ich in einem »Ganzfeld«. Mit anderen Worten: Ich wurde auf einen Liegestuhl positioniert, halbierte Tischtennisbälle auf den Augen, und wurde von rotem Licht bestrahlt, während aus einem Kopfhörer monotones weißes Rauschen drang. Parapsychologen glauben, dass Gedankenlesen auf diese Weise am besten funktioniert, weil der Empfänger die vermutlich sehr schwachen Signale außersinnlicher Wahrnehmung leichter aufnehmen kann.
Und trotzdem bin ich eine Ziege. So nennen Parapsychologen die Skeptiker. Psi-Gläubige hingegen werden gerne als »Schafe« bezeichnet. Auch nicht sonderlich schmeichelhaft.
Zweifler bekommen manchmal den Vorwurf zu hören, sie würden nie ein echtes unerklärliches Phänomen finden, weil sie mit einer vorgefassten, negativen Einstellung auf die Suche gingen. Muss man also an Gespenster glauben, um welche zu sehen? Nein – sagt zum Beispiel die Psychologin Caroline Watt (S. 183) und bezieht sich auf eigene Erlebnisse. Jeder kann ganz unerwartet mit einem außergewöhnlichen, erschreckenden, mysteriösen Geschehen konfrontiert werden, völlig unabhängig von Alter, persönlicher Überzeugung, Religion, Bildung oder Urteilskraft. Das erfahren wir auch im »Ufo«-Kapitel (S. 237 ff.).
Und: Skeptiker können es sehr gut ertragen, wenn es für Phänomene keine Erklärung gibt. Was sie aber umtreibt, sind ungeprüfte Behauptungen. Natürlich sind Zweifler bei wirklich nachgewiesenen Phänomenen auch daran interessiert weiterzuforschen, um vielleicht eines Tages doch eine Erklärung zu finden. Und damit sind wir bei diesem Buch.
Als Chefreporter des Magazins »Skeptiker. Zeitschrift für Wissenschaft und kritisches Denken«[2] der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) befasse ich mich intensiv mit seltsamen Dingen. In meiner jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Thema habe ich kontinuierlich Berichte über merkwürdige Erlebnisse und scheinbar paranormale Ereignisse gesammelt. So schöpft dieses Buch aus einer Vielzahl an Erzählungen, die ich – zur besseren und kürzeren Darstellung – dramatisiert und teilweise umgeschrieben habe und die häufig fast schon Legendencharakter haben. In diesen Geschichten berichtet immer jemand in der Ich-Perspektive von paranormalen Erlebnissen, auch, um die Identifikation zu erhöhen. Aber richtige Ermittler sammeln Fälle nicht bloß, um Beweise für das Übersinnliche anzuhäufen, sondern sie bearbeiten sie auch, sie untersuchen geheimnisvolle Phänomene und klären sie häufig dadurch auf.
Umgekehrt geben Skeptiker, die sich als sogenannte »Debunker« (von »to debunk = enthüllen«) verstehen, die also nur auf das Entlarven fixiert sind, keine guten Falluntersucher ab. Die Arbeit wird bald langweilig und macht keinen Spaß mehr. Außerdem erfahren Debunker viel weniger Interessantes, Eigenartiges und Mysteriöses.
Denn die Welt des Übersinnlichen ist voll von Zeugenberichten über außergewöhnliche Phänomene. Derartige Schilderungen, eindrucksvoll und offensichtlich völlig aufrichtig, kennt jeder, der schon einmal in eine Diskussion über paranormale Vorgänge verwickelt wurde. Jemand sagt oder schreibt, er sei eigentlich durchaus skeptisch und glaube nicht alles, aber da habe es folgendes Erlebnis gegeben … und wie man denn das erklären könne?
Bei manchen Fällen ist die einzige ehrliche Antwort: »Ich kann das nicht erklären, falls es sich so zugetragen hat, wie Sie es jetzt schildern.« Diese leichte Andeutung von Zweifeln trübt mitunter das Gesprächsklima, was wiederum schade ist. Denn ein Hauch von Skepsis ist kein persönlicher Affront gegen den Erzählenden oder die Erzählende. Aber können subjektive Erfahrungen zu sicherem Wissen führen? Das ist die spannende Frage.
Warum blieb die Uhr stehen, als Opa starb? Der berühmte Physiker Richard Feynman, der 1988 starb, erlebte dieses Phänomen beim Tod seiner ersten Frau. Er sah, dass ihr Wecker auf dem Tisch neben ihrem Krankenhausbett genau zu der Minute stehengeblieben war, in der seine Frau laut Sterbeurkunde gestorben war. Diese seltsame Übereinstimmung ließ dem genialen Naturwissenschaftler keine Ruhe. Er begann nachzuforschen. Und im Nachhinein stellte Feynman fest, dass der Arzt die Todeszeit, die in der Sterbeurkunde angegeben war, von genau jenem Wecker am Krankenbett abgelesen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war die Uhr aber schon lange stehengeblieben, mindestens eine halbe Stunde zuvor.
Ist das die einzige Erklärung für dieses Phänomen? Natürlich nicht. Genauso wenig, wie es eine gemeinsame Ursache für sämtliche Autounfälle gibt, lassen sich sämtliche Geistererscheinungen oder sämtliche Ufo-Sichtungen übereinstimmend mit einem Argument erklären. Dieses Buch will versuchen, ehrliche Antworten auf solche und andere Fragen zu geben, die sich viele Menschen stellen. Sie werden in die Form von Geschichten gebracht, die staunenswert, wundersam, unterhaltend und manchmal auch gruselig sind.
Aber wir haben auch einige spannende Fakten.
Die Nachtseite – das ist das Rätselhafte der jeweiligen Phänomene, das Unerklärliche.
Im Dämmerlicht betreten wir dann die »Twilight-Zone«, das Reich des Halbdunkels. Wir werden Zeugen von Erlebnissen, die sich jedem Erklärungsversuch entziehen. Oder vielleicht doch nicht?
Die Tagseite schließlich zeigt Erkenntnisse und Theorien auf, die möglicherweise etwas Licht in die Schatten bringen. Damit Sie sich Ihre eigene Meinung über die Geheimnisse des Übersinnlichen bilden können. Sie entscheiden selbst, ob Sie die zahlreichen Erlebnisberichte glauben möchten.
Frank ist ein guter Junge und überrascht seine Mutter ab und zu mit einem Geschenk. Über eine hübsche Kristallschale freut sie sich besonders. Deshalb bekommt die Schale einen Ehrenplatz auf der Anrichte. Einige Zeit später erkrankt Franks Schwester an Windpocken und der Bruder wird vorsichtshalber zu den Großeltern geschickt, die rund siebzig Kilometer entfernt leben. Eines Morgens sitzt Franks Mutter mit einer Nachbarin beim Frühstück. Plötzlich zerspringt die Kristallschale, die Frank ihr geschenkt hat, in zwei Teile. »Mein Gott, Frank ist tot!«, schreit die Mutter auf. Sie lässt sich nicht beruhigen und bleibt weiter bei ihrer hellseherischen Behauptung.
Zu Recht, wie sich bald herausstellt: Ein Nachbarsjunge der Großeltern hat Frank die Waffe seines Vaters gezeigt – ohne zu wissen, dass sie geladen war. Genau in dem Augenblick, in dem die Kristallschale zersprang, wurde Frank tödlich getroffen.
Mit dieser mysteriösen Geschichte verblüffte vor einigen Jahren die Zeitschrift Stern ihre Leser.[3] Ein rätselhafter Einzelfall? Nein. In der Anonymität des Internets fällt es vielen Menschen leichter, über derartige Erlebnisse zu sprechen, als sie Journalisten oder Wissenschaftlern anzuvertrauen. Auf der Seite http://bestatterweblog.de beispielsweise geht es um die Themen Beerdigung, Trauer, Tod. Und dazu gehören offenbar auch Erfahrungen wie diese:
Ich hatte ein seltsames Erlebnis beim Tod meines Opas. Ich war allein bei ihm, als er starb, und nach der Totenwäsche habe ich seine Uhr als Andenken behalten. Sie ist genau um zwanzig Minuten vor vier in der Nacht stehengeblieben, in der Todesstunde meines Großvaters. Könnte Zufall sein, aber wer weiß das schon?[4]
Meine Oma hat immer wieder erzählt, dass sie während des Kriegs im Wohnzimmer saß und zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Karten spielte. Ihr älterer Bruder, an dem sie sehr hing, war zu dem Zeitpunkt im Russlandfeldzug. Plötzlich ging das Licht aus und ein Bild fiel von der Wand – es war ein Foto ihres Bruders. Er kam nicht mehr aus dem Krieg zurück, wir haben trotz intensiver Nachforschungen nie herausgefunden, was geschehen ist. Oma war für den Rest ihres Lebens davon überzeugt, dass das Bild zu dem Zeitpunkt herunterfiel, als ihr Bruder starb.[5]
Wenn der Analytiker in uns einmal Pause hat, weil das Immunsystem der Seele gerade heruntergefahren ist, spüren wir die emotionale Kraft solcher Geschichten. Sie vermitteln Trost und Hoffnung – wie auch in dieser Schilderung in der Zeitschrift freundin:
»Ein letztes Zeichen« hatte sich meine Großmutter von ihrem verstorbenen Ehemann gewünscht. Nach der Beerdigung kam die Verwandtschaft zu einer Trauerfeier im Haus des Verstorbenen zusammen. Plötzlich wurde meine Großmutter blass: Sie starrte die alte Wanduhr an. Die Uhr war stehengeblieben, und zwar exakt zum Todeszeitpunkt meines Großvaters. Für meine Großmutter war das das Zeichen, auf das sie so sehnlich gewartet hatte.[6]
Etwas ganz Ähnliches lesen wir bei paraportal.de:
Diese Geschichte habe ich von meiner Großtante gehört. Ihre Schwiegermutter lag schon seit längerer Zeit im Krankenhaus und war dem Tod nah. Meine Großtante bat die Frau, ihr ein Zeichen zu geben, wenn es »so weit ist«. Am nächsten Morgen wurde meine Großtante von einem lauten Knall geweckt. Es hörte sich an, als wäre ein großer Vogel mit Vollgas gegen die Fensterscheibe geflogen. Allerdings waren keine Spuren eines solchen Vorfalls, geschweige denn ein benommener oder toter Vogel zu entdecken. Das war so gegen fünf Uhr morgens. Am selben Vormittag bekam meine Tante einen Anruf, dass ihre Schwiegermutter in den frühen Morgenstunden, zwischen halb fünf und fünf, gestorben sei.[7]
Auf http://de.answers.yahoo.com schreibt eine Userin, dass ihr Opa zum zehnten Hochzeitstag seiner Frau (also der Oma der Erzählerin) eine Wanduhr schenkte. Jahrzehntelang hing das kostbare Stück im Wohnzimmer ihrer Großeltern.
Als Opa dann starb, geschah etwas Seltsames: Oma kam aus der Klinik zurück nach Hause und sah, dass die Uhr genau zum Todeszeitpunkt ihres Mannes stehengeblieben war. Das ging ihr sehr nahe, zum einen wegen der auffälligen Übereinstimmung und zum anderen, weil die Uhr ihr viel bedeutete.
Zwei Versuche bei zwei verschiedenen Uhrmachern, das Chronometer zu reparieren, schlugen fehl. Immer wieder bleibt das Pendel nach einigen Sekunden stehen. Die Uhr hängt trotzdem weiterhin im Wohnzimmer, als Andenken an den Verstorbenen.
Jahre vergingen. Am fünften Todestag des Opas besuchte die Erzählerin ihre Großmutter. Sie bat mich, mit ihr zu beten. Ich hielt das eigentlich für ziemlichen Quatsch, weil ich schon so oft gebetet und noch nie eine Antwort bekommen hatte, aber natürlich tat ich ihr den Gefallen. Nach einigen Minuten des Gebets und Gedenkens ging Omi zu der Wanduhr hin – ich weiß nicht, warum – und stieß das Pendel an. Ich traute meinen Augen kaum, als es anfing zu schwingen und die Uhrzeiger sich in Bewegung setzten.
Das ist jetzt über 20 Jahre her. Heute hängt die Uhr in meinem Wohnzimmer. Und sie funktioniert noch immer tadellos.[8]
Und manchmal sind es auch bloß seltsame Gefühle, die uns unvermittelt heimsuchen:
In der Nacht, als meine Oma starb, bin ich aufgewacht. Am Tag zuvor waren wir noch bei ihr im Krankenhaus. Fit war sie nicht mehr und wir rechneten mit ihrem baldigen Tod. In der Nacht ist sie dann gegen fünf Uhr morgens von uns gegangen. Zu der Zeit wurde ich wach und hatte starke Kreislaufprobleme. Ich konnte nichts mehr sehen, schmecken oder riechen. Ich war wach und doch wie betäubt. Ich wollte aufstehen, weil ich dachte, ich müsste vielleicht zur Toilette. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Da wusste ich, dass meine Oma gerade stirbt. Wir waren über 300 Kilometer voneinander getrennt.[9]
Die moderne Parapsychologie ist von der Existenz unerklärbarer Fähigkeiten des Menschen überzeugt. Allerdings rückt die Mehrzahl der ernstzunehmenden Forscher von der Vorstellung ab, dass unter Telepathie eine »Übertragung« von Informationen und unter Telekinese eine »energetische Beeinflussung« von Gegenständen zu verstehen sei. Was aber dann?
Bei dem Versuch, die materielle Welt mit der Psyche in Verbindung zu bringen, ziehen die meisten Psi-Experten[10] heute Parallelen mit der Quantentheorie. Mit diesem Modell erklären Physiker das seltsame Verhalten von kleinsten Materienteilchen, den Quanten. Denkbar sei etwa eine Art quantenmechanischer Telepathie. Sie wurde vom österreichischen Physiker Anton Zeilinger und seinen Mitarbeitern entdeckt. Ihnen gelang es, zwei Photonen – also Bausteine elektromagnetischer Strahlung, eine Art »Lichtteilchen« – so miteinander zu verbinden, dass ihr Zustand immer identisch ist. Wissenschaftler nennen das »Verschränkung«.
Man hat diese beiden Teilchen mehr als 100 Kilometer voneinander entfernt deponiert: ein Photon auf La Palma, das andere auf Teneriffa, zwei Inseln mit astronomischen Beobachtungsstationen. Wurde an dem einen Teilchen eine Veränderung vorgenommen, vollzog das andere im gleichen Augenblick dieselbe Veränderung. Offenbar findet eine Art Informationsaustausch zwischen den Quanten statt.[11] Man könnte dies vergleichen mit zwei Würfeln, von denen der eine im selben Moment die Zahl anzeigt, die mit dem anderen gleichzeitig gewürfelt wird. Das widerspricht der klassischen Physik, der zufolge Informationen maximal mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden können.
Ist das eine Erklärung für Psi-Phänomene? Oder ist es vielmehr so, dass die höchste Kunst in der Wissenschaft darin besteht, zu wissen, wo man mit Wissenschaft nicht mehr weiterkommt, weil der Glaube beginnt?
Völlig unzweifelhaft ist jedenfalls, dass Menschen scheinbar Unmögliches erleben. So wie in den nachfolgenden Berichten.
Ich hatte eigentlich vorgehabt, nach oben in mein Schlafzimmer zu gehen. Stattdessen nahm ich auf einem Sessel im Wohnzimmer Platz und starrte ins Leere. Im Haus war es um diese Stunde ruhig. Ich war müde und sollte eigentlich schon schlafen – aber dazu war ich irgendwie zu müde. Also chillte ich noch eine Weile. Plötzlich hörte ich ein lautes Poltern aus dem Flur. Ich erschrak, drückte mich aus dem Sessel heraus und bewegte mich in Richtung des Geräuschs. Im selben Moment zerriss das Telefon die Stille. Auf halbem Weg hielt ich inne und ging ran. Es war mein Vater. Er teilte mir mit, dass meine Urgroßmutter wenige Minuten zuvor gestorben war.
Ich wollte nicht viel darüber reden. Ich bedankte mich nur und legte auf, in Gedanken und Erinnerungen versunken. Dann fiel mir ein, dass ich hatte nachsehen wollen, was draußen im Flur los gewesen war. Ich machte Licht und sah, dass von dem kleinen Schränkchen neben der Garderobe etwas hinuntergefallen war.
Der Flur war zum Wohn- und zum Esszimmer hin geöffnet, das Möbelstück stand genau dazwischen und hatte dekorativen Charakter, denn ich betrachtete den Korridor als Schleuse von außen nach innen und als Schnittstelle zwischen meinem öffentlichen und meinem privaten Leben. Außerdem war dies der erste Raum, den ein Besucher betrat. Aus diesem Grund hatte ich einige Familienfotos auf dem kleinen Schrank aufgestellt.
Jetzt lag eins davon auf dem Boden. Der Rahmen aus Glas war gesplittert. Ich bückte mich, hob ihn auf und drehte das Bild zu mir, so dass ich es sehen konnte.
Es war das Foto meiner Urgroßmutter.
Solange ich mich erinnern kann, klang das gemütliche »Tick, Tick, Tick« der alten Wanduhr durch unser Wohnzimmer. Mein Großvater hatte das kostbare Sammlerstück einst meiner Mutter geschenkt. Die Uhr steckte in einem edlen Mahagonigehäuse, als Taktgeber fungierte ein mechanisches Pendel, das gleichmäßig und stetig hin- und herschwang. Nachts leuchteten die Zifferblätter wie geheimnisvolle mattgrüne Augen. Eines Sonntagmorgens kam ich früh ins Wohnzimmer und wollte fernsehen. Da bemerkte ich, dass das Perpendikel bewegungslos herabhing. Die Uhr war stehengeblieben. Mein Vater und meine Mutter kamen hinzu, hantierten eine Weile daran herum, brachten das Uhrwerk aber nicht mehr zum Laufen.
Gegen Mittag erfuhren wir, dass Opa in der Nacht gestorben war. Als Andenken beließen wir die alte Wanduhr an Ort und Stelle, auch wenn sie nicht mehr funktionstüchtig war. Genau ein Jahr später aber, am ersten Todestag meines Großvaters, war plötzlich wie ein Herzschlag das Pendel der Wanduhr wieder zu hören. Meine Mutter sagte, das sei ein Zeichen, dass Opa nun seinen Frieden im Jenseits gefunden habe.
Meine Oma lebte in München. Als ich sie in den Sommerferien besuchte, gingen wir jeden Abend auf den Marienplatz zum Glockenspiel am Neuen Rathaus. Die bemalten Figuren aus Kupferblech stellten Szenen aus der Stadtgeschichte dar. Um 21 Uhr ertönte der Nachtwächterruf aus Richard Wagners »Meistersinger von Nürnberg«. Dann kam das »Wiegenlied« von Brahms, das Licht erlosch und die Isar-Metropole tauchte in die Nacht.
Zum Abschied schenkte mir Omi mit einem ironischen Lächeln ein echtes Touristensouvenir: eine Spieluhr mit der Melodie von »In München steht ein Hofbräuhaus«. Total kitschig, aber ich liebte sie. Ich spielte die Melodie ziemlich oft, bis eines Abends etwas sehr Merkwürdiges geschah. Ich zog die Spieluhr auf, aber anstatt des Hofbräuhaus-Liedes erklang das »Wiegenlied«. Das war eigentlich unmöglich, denn die Melodie einer Spieluhr ist nicht austauschbar. Und ein zweites Stück war ganz bestimmt nicht einprogrammiert, das hätte ich längst bemerken müssen. Mir wurde ganz mulmig zumute. Ich rief meine Großmutter in München an und wollte mich erkundigen, ob alles in Ordnung war, aber es hob niemand ab.
Am nächsten Tag musste ich zur Schule. Bevor ich das Haus verließ, bat ich meine Mutter zu versuchen, Oma zu erreichen. Als ich mittags heimkam, erwartete Mama mich schon mit verweinten Augen. Meine Omi war am Vorabend nach einem schweren Sturz ins Krankenhaus eingeliefert worden und dort gestorben.
Ich mochte meine Tante Annegret wirklich gern und ging oft mit, wenn meine Mutter sie besuchte. Annegret lebte allein und freute sich immer über Besuch. Das Einzige, was mir auf die Nerven ging, war ihr Musikgeschmack. Den ganzen Tag über lief Klassikradio: Opern, Operetten, alte Musik, Filmsoundtracks aus den Fünfzigern und Sechzigern. Bei uns zu Hause hörten wir so etwas nie. Eines Tages machte meine Mutter das Mittagessen. Sie ging hinunter in den Keller, Kartoffeln holen. Als sie wieder in die Küche kam, klang ihr laut eine Don-Giovanni-Arie entgegen. Das war seltsam, denn sie hörte beim Kochen immer unseren lokalen Dudelfunk. Meine Mutter schaute nach und bemerkte, dass sich die Sendereinstellung anscheinend selbständig gemacht hatte und beim Klassikradio stehengeblieben war.
Beim Mittagessen erzählte sie mir davon, aber wir dachten uns nichts dabei. Am späten Nachmittag bekamen wir einen Anruf von einer Nachbarin meiner Tante. Annegret war um die Mittagszeit an einem Herzanfall gestorben.
Meine Oma war schwer herzkrank und lag im Krankenhaus, nachdem sie drei Bypässe bekommen hatte. An diesem Nachmittag saß ich zu Hause und schaute mit einem Kumpel Videos. Wir bekamen Hunger und ich ging in die Küche, um ein paar Brote zu schmieren. Über der Spüle hing eine Uhr. Ich machte den Kühlschrank auf, da knallte plötzlich die Küchentür zu. Wahrscheinlich wegen des Durchzugs, denn die Balkontür im Wohnzimmer und ein Küchenfenster standen offen. Durch die Erschütterung fiel die Uhr hinunter und krachte auf die Spüle. Ich erschrak. Es war eine billige Plastikuhr mit Batterien, und der Aufprall dellte sie mehr als nur ein bisschen ein. Das Teil war total hinüber. Die Zeiger hatten sich verdreht und zeigten jetzt ungefähr auf zwanzig nach sechs, obwohl es erst halb vier nachmittags war. Sie bewegten sich nicht mehr, kein Ticken war zu hören. Ich legte die kaputte Küchenuhr auf den Tisch und ging zurück ins Wohnzimmer. Wir hatten gerade den zweiten Film durch (nein, es war kein Mystery- oder Geister-Streifen), als das Telefon klingelte. Meine Mutter war dran. Und sie weinte. »Ich bin gerade im Krankenhaus«, sagte sie leise in den Hörer. »Oma hat es nicht geschafft.« Ich fing auch zu heulen an und wollte wissen, was passiert war. Mama erzählte, Großmutters gesundheitlicher Allgemeinzustand sei zu schlecht gewesen und sie habe um zwanzig nach sechs für immer die Augen zugemacht.
Dass in einem Pflegeheim manchmal seltsame Dinge geschehen, glauben die meisten Menschen wohl unbenommen. Den Häusern scheint stets eine Atmosphäre von Alter und Bedrückung anzuhaften, ein an Agonie erinnernder Hauch, der ihren Mauern innewohnt. Als hätten Kummer und Leid hier ein eigenes Reich errichtet, in dem die lebende Welt nichts verloren hat. Natürlich stimmt das gar nicht. Normalerweise sind die Einrichtungen vielleicht nicht unbedingt behaglich, aber doch familiär und freundlich. Das seltsame Unbehagen, das manche Besucher empfinden, spiegelt nur die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit wider.
Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren in einem Altersheim. Und natürlich sind dort auch viele Menschen, deren Leben zu Ende geht. Oft war ich die letzte Person, zu der sie gesprochen hatten. Die letzte, die sie berührt hatte. Einmal starb eine Frau eine halbe Stunde, nachdem ich ihr das Abendessen gebracht hatte. Ihr letzter Wunsch war, dass ich die leere Wasserflasche mit in die Küche nehmen sollte. Auch um dieser Banalität des Todes etwas entgegenzusetzen, pflegten meine Kolleginnen und ich ein Ritual: nämlich das Fenster des Zimmers weit zu öffnen, wenn ein Bewohner oder eine Bewohnerin darin starb, damit die Seele davonfliegen konnte. Nur einmal vergaß ich es. Und davon möchte ich erzählen.
Die Nacht war still und fast endlos gewesen. Als die Dämmerung kam, wirkte die Morgensonne grell und hart. Ich machte meine Runde und kam in einen Flur im hinteren Teil des Gebäudes. Ich sperrte Zimmer 19 auf und lugte durch den Türspalt. Die alte Dame im Bett rührte sich nicht. Ich steckte den Kopf hinein. Keine Atemzüge waren mehr zu hören. Als ich ans Bett trat, sah ich, dass die Frau tot war. Ich ging zurück ins Schwesternzimmer und rief den diensthabenden Arzt im Ort an. Das ist Vorschrift, denn nur ein Mediziner darf den Tod feststellen und die erforderlichen Leichenschaupapiere ausstellen. Dann schnappte ich mir eine Kollegin, die mich zu der verstorbenen Bewohnerin begleitete. Ich hatte die Tür abgeschlossen. Das war sie immer noch, aber als wir ins Zimmer kamen, lief der Fernseher. Ohne Ton. Meine Kollegin sah mich stirnrunzelnd an. Es war vollkommen unnötig, ihr zu erklären, dass ich das Gerät nicht eingeschaltet hatte und dass es bei meinem Kontrollgang auch nicht an gewesen war. Sie wusste auch so, dass das der Fall war. Als Nächstes fiel uns auf, dass die Uhr auf dem Nachttisch der Verstorbenen stehengeblieben war. Das Zifferblatt zeigte 4.30 Uhr morgens. Jetzt war es kurz nach halb sieben. In derselben Sekunde hatten wir beide den gleichen Gedanken. Wir sahen zu den Fenstern. Durch die schweren, samtenen Vorhänge rieselte nur ein schmaler Streifen Licht ins Zimmer, der auf sonderbare Weise blass und farblos wirkte, als würde er von einem unsichtbaren Schleier aufgesogen. Ich zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster. Die Helligkeit und Wärme des Tages drängten herein. Das Sonnenlicht umspielte den Körper der verstorbenen alten Dame wie eine streichelnde Hand. Ich spürte eine Präsenz, wie eine Berührung der anderen, den menschlichen Sinnen normalerweise verschlossenen Welt, aber als ich mich darauf konzentrieren wollte, entglitt sie meinen Gedanken und war verschwunden. Mit einem plötzlichen Knistern ging der Fernseher aus. Und dann setzte sich der Sekundenzeiger der Uhr wieder in Bewegung.
Häufig, wenn ich diese Geschichte Menschen erzähle, die ebenfalls in Altersheimen oder Krankenhäusern arbeiten, bekomme ich Berichte von ähnlich eigenartigen Erlebnissen zu hören. Eine Kollegin etwa hatte zu einer Heimbewohnerin ein besonders inniges Verhältnis. Als es der alten Dame sichtlich schlechter ging, sagte die Kollegin halb im Spaß, halb ernsthaft zu ihr, sie dürfe erst von dieser Welt gehen, wenn sie, ihre Pflegerin, aus dem Urlaub zurück sei, damit sie bei ihr sein könne. Leider starb die Bewohnerin aber genau während dieser drei Wochen. Einige Tage später – das Zimmer war leer, also noch nicht wieder bewohnt – klingelte fast jeden Abend, wenn diese Kollegin Dienst hatte, das Empfangsgerät der Rufanlage im Personalzimmer. Immer um die Zeit, zu der sie die verstorbene alte Dame ins Bett gebracht hatte. Und das Sendegerät, von dem das Signal kam, befand sich unzweifelhaft in ihrem ehemaligen Zimmer. Niemand konnte sich das erklären. Techniker überprüften die Anlage, aber sie war völlig in Ordnung. Dann fiel der Pflegerin ein, was sie vor ihrem Urlaub zu der Bewohnerin gesagt hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit ging sie in das Zimmer und rief die Verstorbene laut bei ihrem Namen. Sie sagte ihr, sie möchte sich nun von ihr verabschieden. Es tue ihr leid, dass sie nicht habe da sein können. Sie solle aber nicht mehr klingeln, da die Mitarbeiterinnen es mit der Angst bekämen. Die Kollegin redete noch eine Weile mit der Toten. Dann ging sie und verschloss die Tür.
An jenem Abend hörte das Klingeln auf.
Ich war gerade im Grundschulalter, als der 90. Geburtstag meines Großvaters bevorstand. Erst viel später erzählte mir meine Mama, dass er immer wieder gesagt hatte, niemals 90 Jahre alt werden zu wollen, um nichts auf der Welt. An jenem Abend saß ich mit meinen Eltern im Wohnzimmer, der Fernseher lief. Auf einer Kommode stand ein Foto meines Opas. Auf einmal fiel das Bild um. Wir fuhren zusammen und fragten uns, wie das passieren konnte. Kein Fenster war offen und nicht einmal der Hauch eines Luftzugs wehte durchs Zimmer. Meine Mutter stand auf und stellte das Bild so hin, wie es immer gestanden hatte. Kaum hatten wir uns wieder ins Fernsehprogramm vertieft, rutschte das Bild über die Kante der Kommode, trudelte zu Boden und blieb mit der Aufnahme nach unten liegen.
Am nächsten Morgen klingelte in aller Frühe das Telefon, und man teilte uns mit, dass Großvater am Abend zuvor gestorben war – zwei Tage vor seinem neunzigsten Geburtstag.
Als Studentin wohnte ich in einem kleinen Ein-Zimmer-Appartement im Erdgeschoss. Am 14. Dezember spätnachmittags – aus verständlichen Gründen werde ich das Datum nie vergessen – saß ich am Schreibtisch und beschäftigte mich im Schein einer kleinen Lampe mit meiner Hausarbeit. Ab und zu hob ich den Kopf und schaute kurz aus dem Fenster. Draußen war es noch nicht ganz dunkel, aber wegen des Winternebels drang keine Helligkeit ins Zimmer.
Und plötzlich sah ich es: ein Gesicht. Vor der Scheibe. Es zeigte eine kalkige Blässe und wirkte seltsam verzerrt. Nase, Kinn und Ohren schienen eingefroren zu sein. Augen und Mund waren weit aufgerissen, als würde gerade etwas Furchtbares geschehen. Einen dazugehörigen Körper konnte ich nicht erkennen, auch einen Ausdruck zeigte das geisterhafte Antlitz nicht. Das Gesicht schien ganz auf den geöffneten Mund und die schreckgeweiteten Augen reduziert zu sein, eher einen Gemütszustand darstellend als eine Person. Und gerade dieses angedeutete, schweigende Schreien jagte mir Angst ein. Es war noch nicht spät, das Fenster ging zu einer belebten Straße raus und ich war nicht allein im Haus. Etwas Courage konnte ich mir also schon leisten. Zur Eingangstür waren es nur wenige Schritte, ich sprang aus meinem Zimmer, rannte durch den Hausflur, und schon stand ich in der dunstigen Kälte.
Mein Blick wanderte an der Häuserfront entlang. Das blassgelbe Licht meiner Schreibtischlampe sickerte durch die Fensterscheibe an der Fassade herab. Aber niemand stand da draußen und schaute in mein Zimmer.
Ich ging wieder hinein und setzte mich auf die Couch, etwas weiter vom Fenster weg. Hatte mein Kopf mir nach dem stundenlangen konzentrierten Lernen einen Streich gespielt? Dann ging das Telefon. Ich nahm den Hörer ab. Und brach weinend zusammen. Meine Mutter war gestorben – plötzlicher Herztod, auch Sekundentod genannt. Ursache war ein bis dahin unerkannter Herzklappenfehler gewesen. Ohne jedes Warnsignal hatte von einer Sekunde zur nächsten Kammerflimmern eingesetzt, die extremste Art der Herzrhythmusstörungen, die innerhalb weniger Minuten zum Tod führt. Hatte ich mehr als hundert Kilometer weit weg den entsetzlichen Schock und die Agonie meiner Mutter auf irgendeine geheimnisvolle Weise miterlebt?
Als ich 14 war, bin ich nachts aufgewacht und hatte so ein furchtbares Gefühl, lesen wir in einem weiteren Bericht im bestatterweblog. Ich war fest davon überzeugt, dass mein Opa stirbt. Ich hab die ganze Nacht geweint. Inzwischen bin ich 30 und mein Opa lebt immer noch.[12]
Dunkle Ahnungen und Omen bewahrheiten sich also bei weitem nicht immer. Eigentlich dürften geheimnisvolle Geschichten wie die geschilderten sogar eher selten sein. Klar, diese Situation kennen wir alle: Seit Wochen haben Sie von Ihrer alten Freundin nichts gehört. Just in dem Moment, da Sie nach dem Hörer greifen, um sie anzurufen, klingelt das Telefon. Und wer ist dran? Natürlich genau diese alte Freundin.
Psi-Power? Nicht unbedingt.
Denn folgende Gegebenheiten passieren ebenfalls ständig: Wir denken an eine alte Freundin – und sie ruft nicht an. Wir denken nicht an eine alte Freundin – und sie ruft an. Wir denken nicht an eine alte Freundin – und sie ruft auch nicht an.
Das allerdings hinterlässt keinen bleibenden Eindruck bei uns. Denn wir nehmen vor allem Dinge wahr, die uns ins Konzept passen.
Schauen wir uns noch einmal ganz nüchtern die Geschichte von Frank und der zerbrochenen Kristallschale an. Keine Kamera war dabei, die das Unerklärliche dokumentierte. Keine Uhr hat gemessen, wann genau die Schale zersprang und wann der Sohn starb. Alles, was bleibt, ist die Erinnerung daran.
Und es genügt schon, die oft völlig entgegengesetzten Zeugenaussagen nach einem Autounfall anzusehen, um unserem Gedächtnis nicht mehr fraglos zu trauen. Psychologen wissen, wie sehr unser Gehirn nach einer Erklärung sucht, wenn die wahrgenommenen Fakten mysteriös erscheinen. Und je mehr wir emotional betroffen sind, desto drängender wird es für uns, die Puzzlestücke der subjektiven Erinnerungen zu einem harmonischen Bild zusammenzufügen, das unseren tiefsten Wünschen entspricht. Skeptiker bezweifeln nicht die Aufrichtigkeit des Erzählenden – sondern die Genauigkeit der Erinnerung.
Und dann gibt es noch eine weitere, oft übersehene psychologische Weisheit, die zudem gewaltig heruntergespielt wird: dass wir Menschen sehr empfindlich auf Zufälle reagieren. Die Psychologie des Zufalls ist ein so weites Feld, dass man ihr eigentlich ein eigenes Buch widmen müsste.[13]
Fragen wir uns zum Beispiel, warum im Jahr 2004 zahlreiche Zuschauer bei RTL anriefen und berichteten, dass während eines Auftritts des »Psi-Stars« Uri Geller bei »Stern TV« Glühbirnen im Haus funktionsunfähig wurden. Hat Geller tatsächlich übersinnliche Kräfte? Wohl kaum. Wenn wir annehmen, dass pro Zimmer eine Birne brennt und diese eine durchschnittliche Lebensdauer von 1000 Betriebsstunden hat, dann ist es ganz natürlich, dass in jeder Minute einer »Stern TV«-Sendung etwa 50 Glühbirnen kaputtgehen – bei rund vier Millionen Zuschauern und zirka zwei Stunden Sendedauer. Auch dass Geller Uhren anhalten oder wieder zum Laufen bringen kann, ist nichts Paranormales. Der Unterhaltungskünstler nutzt dabei lediglich die Tatsache, dass alte Uhren, die nach längerer Lagerung wieder hervorgeholt und dabei unweigerlich geschüttelt und erwärmt werden, oftmals wieder zu ticken anfangen, weil eingedicktes Schmieröl sich verflüssigt.
Schon in den 1970er Jahren ergaben Versuche, bei denen eine Kontrollgruppe – also ohne Gellers Einfluss – ähnliche, teilweise sogar bessere Ergebnisse als der selbsternannte »Mystifier« erzielte. Es ist immer damit zu rechnen, dass zwischen 30 und 80 Prozent der Uhren plötzlich wieder funktionieren.
Dass der Mensch Schwierigkeiten mit dem Zufall hat, ist die Folge unserer Fähigkeit, geradlinig zu denken. Das Gehirn ist spezialisiert auf das Erkennen von Zusammenhängen: Der Himmel wird grau, kurze Zeit später regnet es. Die Säule wankt, dann kippt sie um. Die Fähigkeit, Zeichen zu deuten, ist überlebenswichtig. Sie führt aber dazu, dass auch zufällige Ereignisse in Verbindung miteinander gebracht werden. Zum Beispiel die Beschwörung der Handauflegerin und die Heilung einer Krankheit. Oder die Warnung des Astrologen und der Autounfall. »Alle Menschen haben die Tendenz, den Zufall zu unterschätzen«, sagt der Schweizer Neuropsychologe Dr. Peter Brugger.[14] Bei einem seiner wissenschaftlichen Experimente stieß der Leiter der Abteilung Neuropsychologie an der Neurologischen Klinik der Universität Zürich auf ein erstaunliches Phänomen: Versuchspersonen mussten eine möglichst zufällige Folge von Zahlen aufschreiben. Das war alles. Dennoch scheiterten die Probanden an der banalen Aufgabe. Warum? Der Mensch ist nicht imstande, eine zufällige Zahlenfolge aufzusagen. Unbewusst folgt er immer irgendwelchen Mustern. Brugger ist davon überzeugt, dass sich ein großer Teil von vermeintlich unerklärlichen Phänomenen auf diese Eigenschaft unseres Gehirns zurückführen lässt.
Sind solche Erklärungen verkopft und unbefriedigend? Mag sein. Machen diese Erklärungen Betroffene und deren Erlebnisse lächerlich? Nein.
Der Großvater stirbt – und in diesem Moment bleibt die alte Wanduhr stehen. Fraglos ein seelisch aufwühlendes Zusammentreffen zweier Ereignisse. Diese Dinge, wird etwa im Leserforum bei freundin.de diskutiert, sollen sich auch im Krieg an der Front abgespielt haben. Die Soldaten haben in den letzten Sekunden wohl so stark an ihre Liebsten gedacht, dass genau dann der Uhrzeiger stehenblieb, es an der Tür geklopft hat oder Schränke und Türen klapperten.
Eine quantenmechanische Verschränkung? Physiker widersprechen hier den Parapsychologen vehement. Mit guten Gründen: Für eine funktionierende Gedankenübertragung oder energetische Beeinflussung müssten Milliarden Teilchen in den miteinander kommunizierenden Objekten (Gehirn und Uhr beispielsweise) »verschränkt« sein. Das sind sie aber nicht. Selbst in gezielten wissenschaftlichen Experimenten gelingt es ausschließlich unter Aufbietung aller Tricks der Experimentalphysik, die Verschränkung zweier Photonen auch nur für Sekundenbruchteile aufrechtzuerhalten. Danach sind die Teilchen schon wieder entschränkt.
Wir müssen zwei Aspekte der Quantenphysik unterscheiden: Geräte, wie zum Beispiel ein Computer oder ein Laser, funktionieren aufgrund von quantenphysikalischen Effekten. Ja, sogar unser Sehen und unser Atmen, das Wirken von Medikamenten und vieles mehr beruht auf atomaren Vorgängen, die nur mit Hilfe der Quantenphysik beschrieben werden können. Insofern ist unser ganzes Leben von der Quantenphysik beeinflusst. Das ist gewissermaßen die »normale« Quantenphysik, die beschreibt, wie die Atome miteinander umgehen.
Parapsychologen und Grenzwissenschaftler meinen aber etwas ganz anderes. Sie beziehen sich in ihren Erklärungsversuchen für übersinnliche Phänomene auf eine »verrückte« Quantenphysik. Und tatsächlich ist es richtig, dass die Quantenphysik Effekte zeigt, die unserer menschlichen Erfahrung völlig widersprechen und uns deshalb »verrückt« oder »absurd« erscheinen.
Würde beispielsweise der sogenannte Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenphysik in unserer Alltagsumgebung zum Tragen kommen, könnten wir etwas sehr Seltsames beobachten: Ein Skiläufer fährt bergab auf einen Baum zu, teilt sich vor dem Baum in zwei Hälften, fährt links und rechts um das Hindernis herum, setzt sich anschließend wieder zusammen und verschwindet ins Tal. Das würden wir als unmöglich empfinden, weil wir so etwas nie gesehen haben. Aber Quanten verhalten sich mitunter so: Erst sind sie ein Körper (also ein Teilchen), dann verwandeln sie sich in eine Welle, die um ein Hindernis herumläuft, und werden danach wieder zu einem Körper. Nur: Es ist prinzipiell nicht möglich, quantenphysikalische Vorgänge, die ja nur in den allerkleinsten Elementarteilchen wirksam werden, auf Tische, Stühle, Tassen, Uhren oder Menschen zu übertragen. Hier sitzen die Parapsychologen zahlreichen Denkfehlern auf.
Alles in allem legt das den Schluss nahe, dass paranormale Erlebnisse in erster Linie wohl als psychologische Phänomene betrachtet werden sollten – von denen wir durchaus viele noch nicht erklären können. Wie auch im nächsten Kapitel.
Amy Winehouse und Paul McCartney, Veronica Ferres und Sandra Bullock, Jeanette Biedermann und Samuel L. Jackson, Claudia Schiffer und Kate Winslet – sie alle wollen schon einmal gruselige Erlebnisse mit Geistern gehabt haben. Der Schauspieler Samuel L. Jackson (»Pulp Fiction«, »Star Wars«) etwa sagte dem Onlinedienst femalefirst: »Es gab Leute aus unserer Nachbarschaft, die gestorben sind und die wir noch lange nach ihrem Tod gesehen haben. Wenn du nachts draußen warst und dich an den falschen Orten umgesehen und was Falsches gemacht hast, war da plötzlich diese Lady. Sie war tot, sie konnte nicht dort sein. Aber ich war nicht der Einzige, der sie gesehen hatte.«[15] Überspannter Hollywood-Klatsch? Marketinggag eines Stars, der auch Geisterfilme wie »Zimmer 1408« gedreht hat?
Oder nehmen wir den Skandalrocker Pete Doherty: »Mein Haus wird definitiv von Geistern heimgesucht«, erklärte der Exlover von Kate Moss in einem Interview. »Plötzlich hörst du eine wilde Party im Westflügel. Da war früher einmal der Angestelltenflügel, was gruselig ist. Wenn ich den Lärm höre, verstecke ich mich einfach.«[16]
Aber nicht nur sensible Künstler sehen manchmal Geister, sondern auch nüchterne Wissenschaftler. Der Brite Vic Tandy, Computeringenieur an der Universität von Coventry, arbeitete zu später Stunde noch allein in seinem Labor, als ihn plötzlich ein unheimliches Gefühl beschlich, welches in zahllosen Gruselgeschichten üblicherweise als »Schaudern« beschrieben wird. Obwohl niemand im Raum war, fühlte Tandy sich beobachtet. Dann huschte eine schemenhafte graue Gestalt an ihm vorbei und war in der nächsten Sekunde wieder verschwunden. Der Wissenschaftler wähnte sich übermüdet und maß dem Vorfall keine Bedeutung bei. Doch in der nächsten Nacht tauchte die Gestalt erneut auf: »Grau, verschwommen und an der äußersten Sichtgrenze«, beschrieb Tandy sie. Zugleich fingen die Bleistifte auf seinem Schreibtisch sowie eine Florettklinge von seiner Fechtausrüstung leicht zu vibrieren an.
Angesichts solcher handfester Erlebnisse rüsten sich auch im deutschsprachigen Raum immer mehr Para-Fans zur Geisterjagd. In Internetforen wie geisternet.com oder gespensterweb.de tauschen sie sich über ihre Vorgehensweise aus.[17] Die Organisation CEPI (Central European Paranormal Investigations) lädt sogar regelmäßig zu einer »Spuknacht im Geisterschloss« ein. Auf Schloss Fürsteneck bei Passau können Interessierte eine echte Geisterjagd mit einem Team von Geisterjägern miterleben – freilich ohne Gewähr. »Da es sich um eine authentische Untersuchung paranormaler Phänomene handelt, werden keine Tricks angewandt oder Dinge inszeniert. Falls sich Vorfälle ereignen sollten, so handelt es sich um reale Phänomene, die wir dokumentieren möchten«, erklärt die Organisatorin Lucia Moiné. »Allerdings ist zu sagen, dass es keinerlei Garantie dafür gibt, dass sich paranormale Phänomene ereignen werden.«
Was Geister eigentlich sind, darüber gibt es zahllose Vermutungen, von denen keine eine höhere Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann als eine x-beliebige andere: auf die Erde zurückkehrende Seelen? Tote, die sich noch nicht aus ihrem weltlichen Leben lösen wollen oder können? Gestalt gewordene Gedanken von Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten? Nichtmenschliche Lebewesen, Kreaturen aus einer anderen Dimension?
Die Zeitschrift Glamour stöberte einem Spuk auf Schloss Tratzberg im Tiroler Inntal hinterher.[18] Das 500