Was der Fluss erzählt - Diane Setterfield - E-Book
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Was der Fluss erzählt E-Book

Diane Setterfield

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Beschreibung

Eine stürmische Winternacht im ländlichen England des späten 19. Jahrhunderts: In der uralten Gaststube des "Swan" sitzen die Bewohner von Radcot zusammen und wärmen sich an ihren Geschichten und Getränken, als ein schwer verletzter Mann mit einem leblosen Mädchen im Arm hereinstolpert. Eine Krankenschwester wird gerufen, die nur noch den Tod des Kindes feststellen kann. Als sie jedoch ein paar Stunden später die Todesursache festzustellen versucht, bemerkt sie, dass das Kind atmet und sich bewegt. Ein Wunder? Oder etwa Zauberei? Oder gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung? Und woher kommt das Mädchen?

Ein stimmungsvoller Roman, der einen davonträgt wie ein Fluss, in eine Welt, in der Imagination und Wirklichkeit sich überlagern.

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DAS BUCH

Die einen erzählen, der Fluss habe ihr das Leben genommen. Die anderen, er habe es ihr geschenkt …

Eine stürmische Winternacht im ländlichen England des späten 19. Jahrhunderts. In der Stube des uralten Gasthauses Swan sitzen die Bewohnerinnen und Bewohner von Radcot zusammen und wärmen sich an ihren Geschichten und Getränken, als plötzlich ein schwer verletzter Mann mit einem leblosen Mädchen im Arm hereinstolpert. Die Wirtsleute schicken nach Rita Sunday, einer Krankenschwester, die allerdings nur noch den Tod des Kindes feststellen kann.

Doch als Rita Stunden später herauszufinden versucht, woran das Mädchen gestorben ist, bemerkt sie, dass es atmet und sich bewegt. Ein Wunder? Zauberei? Oder gibt es dafür eine wissenschaftliche Erklärung? Das Mädchen selbst bleibt stumm, aber schon bald meinen gleich drei Familien in ihm ihre verschwundene Tochter beziehungsweise Schwester zu erkennen. Eine Spurensuche beginnt, die für die Bewohnerinnen und Bewohner von Radcot tief verborgene Geheimnisse ans Licht bringt und Ritas Leben von Grund auf verändert.

Ein spannend und atmosphärisch erzählter Roman voll unvergesslicher Charaktere – Bestsellerautorin Diane Setterfield entführt ihre Leserinnen und Leser in eine Welt, in der sich Fantasie und Wirklichkeit überlagern.

DIE AUTORIN

Diane Setterfield ist promovierte Romanistin und lebte viele Jahre in Frankreich. Bevor sie sich Vollzeit der Schriftstellerei widmete, arbeitete sie als Lehrerin. Ihr Debüt, »Die dreizehnte Geschichte« (Blessing, 2007), war ein internationaler Bestseller und wurde mit Vanessa Redgrave in der Hauptrolle von der BBC verfilmt. Diane Setterfield lebt in Oxford.

Diane

Setterfield

WAS

DER FLUSS

ERZÄHLT

Aus dem Englischen von

Anke und Eberhard Kreutzer

BLESSING

Das Buch erscheint unter dem Titel

ONCE UPON A RIVER

bei Transworld, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © Third Draft Limited 2018

Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

nach einem Entwurf von Sarah Whittaker/TW

Umschlagillustration: Sarah Whittaker/TW

Gestaltung der Karte: Liane Land [[>>]]

Satz: Leingärtner, Nabburg

Herstellung: Ursula Maenner

e-ISBN: 978-3-641-21379-4V002

www.blessing-verlag.de

Meinen Schwestern Mandy und Paula.

Ohne euch wäre ich nicht die, die ich bin.

An den Grenzen dieser Welt liegen andere Welten.

Es gibt Orte, an denen man dorthin übersetzen kann.

Das hier ist einer davon.

ERSTER TEIL

Die Geschichte beginnt …

ESWAREINMALEINWIRTSHAUS, das stand friedlich in Radcot, am Ufer der Themse, etwa vierzig Meilen stromabwärts von der Quelle. Zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, gab es nicht wenige Schenken am Oberlauf des Flusses, und in jeder davon konnte man sich betrinken, doch über Bier und Apfelwein hinaus wartete eine jede mit ihrem ureigenen Angebot auf. Im Red Lion in Kelmscott beispielsweise gab es Musik: Kahnführer spielten abends auf ihren Fiedeln, Käser sangen schmachtend von Liebesleid. In Inglesham gab es den Green Dragon, eine von Tabakduft erfüllte Oase der Behaglichkeit. Freunden des Glücksspiels empfahl sich der Stag in Eaton Hastings; wer Radau und einen guten Schlagabtausch zu schätzen wusste, kam im Plough am Rande von Buscot auf seine Kosten. Der Swan, ebenfalls in Radcot, lockte mit einer Besonderheit, die es so nirgends sonst gab: Dort kehrte man ein, um sich Geschichten zu erzählen.

Der Swan war ein uraltes Wirtshaus, vielleicht das älteste überhaupt. Das Gebäude war dreigeteilt, ein Teil alt, einer sehr alt und einer noch ein gutes Stück älter. Diese Teile nun fügten das Stroh, das sie alle bedachte, die Flechte am Gemäuer und der Efeu, der die Wände berankte, zu einem Ganzen zusammen. Im Sommer reisten die Tagesausflügler mit der neuen Eisenbahn aus den Städten an, um im Swan einen Stechkahn oder ein Ruderboot zu mieten und den Nachmittag mit Bier und einem Picknick auf dem Fluss zu verbringen; im Winter hingegen fanden sich nur Zecher aus der Gegend ein, und die versammelten sich in der Winterstube, einem schlichten Raum im ältesten Teil des Hauses, mit einem einzigen Fenster im dicken Mauerwerk. Bei Tageslicht bot dieses Fenster einen Blick auf die Radcot Bridge und den Fluss, der durch ihre drei stattlichen Bögen floss. Bei Nacht versank die Brücke in der Dunkelheit, und nur wenn einem das tiefe, grenzenlose Rauschen großer, bewegter Wassermassen ans Ohr schlug, konnte man orten, wo dort draußen vor dem Fenster strudelnde Tintenschwärze vorüberströmte, mit ihrem ureigenen dunklen Glanz.

Niemand weiß so recht zu sagen, was einst im Swan die Tradition des Geschichtenerzählens ins Leben gerufen hatte – gut möglich, dass es die Schlacht an der Radcot Bridge war. 1387, fünfhundert Jahre vor der Nacht, in der unsere Geschichte ihren Anfang nimmt, trafen an der Radcot Bridge zwei große Armeen aufeinander. Wer, weshalb, warum sprengt unseren Rahmen und tut nichts zur Sache, nur, dass am Ende drei Mann – ein Ritter, ein Knappe und ein Bursche – im Kampfgetümmel fielen und achthundert Seelen beim Fluchtversuch im Moor ertranken. Ganz richtig. Achthundert Seelen. Reichlich Stoff für Geschichten. Ihre Gebeine ruhen dort, wo jetzt Brunnenkresse wächst. In der Gegend von Radcot ziehen die Leute Brunnenkresse, karren ihre Ernte auf Kähne und verschiffen sie in die Städte; dabei wäre keiner von ihnen auf die Idee verfallen, sie selbst zu essen. Sie schmecke bitter, bemängelten sie, so bitter, dass es einem die Zunge zusammenziehe, und überhaupt, wer wolle schon Blätter essen, die sich von Geistern nährten? Wenn sich eine solche Schlacht vor deiner eigenen Haustür zuträgt und die Toten einem das Trinkwasser vergiften, berichtet man natürlich davon, immer wieder aufs Neue. Kraft der Wiederholung wird man im Erzählen versiert. Und dann, nachdem die Krise vorüber ist und man sich wieder anderen Dingen zuwenden kann, was läge da näher, als seine neue Fertigkeit an anderen Stoffen zu erproben?

Margot Ockwell war die Wirtin im Swan. So weit man zurückdenken konnte, wahrscheinlich seit Bestehen der Schenke, hatten Ockwells den Swan geführt. Vor dem Gesetz hieß die derzeitige Wirtin seit ihrer Vermählung Margot Bliss, doch das Gesetz war etwas für die Stadt; hier im Swan blieb sie eine Ockwell. Margot war eine stattliche Frau Ende fünfzig. Sie konnte ohne Hilfe Fässer heben und besaß so stämmige Beine, dass sie nie das Bedürfnis verspürte, sich zu setzen. Es ging das Gerücht, sie schlafe sogar im Stehen; andererseits hatte sie zwölf Kindern das Leben geschenkt, hier und da musste sie sich also hingelegt haben. Sie war die Tochter der letzten Wirtin sowie Enkelin und Urenkelin der Schankfrauen davor, folglich dachte sich in Radcot niemand etwas dabei, dass im Swan Frauen das Zepter schwangen. So war es eben, so war es schon immer gewesen.

Margots Mann hieß Joe Bliss. Er stammte aus Kemble, einem Ort fünfundzwanzig Meilen stromaufwärts, einen Katzensprung von der Stelle entfernt, an welcher der Fluss in einem so dünnen Rinnsal aus dem Boden sickert, dass er kaum mehr als ein feuchter Fleck in der Erde ist. Die Blisses waren von Natur aus schwach auf der Brust. Sie kamen klein und kränklich zur Welt, und die meisten schafften es nicht einmal bis zur Volljährigkeit. Mit dem Wachstum zogen sich Bliss-Kinder in die Länge und wurden dabei immer blasser, bis sie vollends den Geist aufgaben, gewöhnlich vor dem zehnten Lebensjahr, oft schon vor dem zweiten. Wer überlebte, so auch Joe, blieb, obgleich ausgewachsen, kleiner und schmächtiger als der Durchschnitt. Im Winter rasselte es ihnen in der Brust, lief ihnen die Nase und tränten ihnen die Augen. Sie waren freundlich, mit sanftem Blick und einem freigiebigen, lausbübischen Lächeln.

Mit achtzehn hatte Joe – als Waise, zudem untauglich für körperliche Arbeit – Kemble verlassen, um sein Glück zu machen, wenn auch ohne zu wissen womit. Von Kemble aus kann ein Mann ebenso viele Richtungen einschlagen wie überall sonst auf der Welt, doch der Fluss hat seinen Sog; man musste schon ziemlich verdreht sein, um ihm nicht zu folgen. So kam Joe – wenig verwunderlich – nach Radcot und kehrte, weil er durstig war, dort ein. Der schmächtige junge Mann mit dem schlaffen schwarzen Haar, das sich von der Blässe seiner Haut abhob, saß unbeachtet da, teilte sich sein Bier in kleine Schlucke ein, bewunderte die Wirtsfrau und lauschte der einen oder anderen Erzählung. Es fesselte ihn zu hören, wie andere die Art Geschichten laut zum Besten gaben, die ihm seit seiner Kindheit im Kopf herumspukten. Als einmal Stille eintrat, machte er den Mund auf, und heraus kam Es war einmal …

An jenem Tag erkannte Joe Bliss seine Bestimmung. Die Themse hatte ihn nach Radcot geführt, und in Radcot blieb er. Mit ein wenig Übung, stellte er fest, ging ihm jede Geschichte mühelos von der Zunge, ob Kostproben aus der Gerüchteküche, aus dem Fundus der Geschichte, aus der Welt der Sage, der Folklore oder dem Märchen. So, wie er mit seiner lebhaften Mimik Überraschung, Beklommenheit, Erleichterung, Zweifel und jede andere Regung zum Ausdruck brachte, konnte er es mit dem besten Schauspieler aufnehmen. Und erst seine Augenbrauen! Dicht und schwarz, zogen sie einen nicht minder in ihren Bann als seine Worte. Kam etwas Bedeutsames, zogen sie sich zusammen, verdiente ein Umstand besondere Beachtung, zuckten sie, und wenn eine Figur vielleicht nicht der Mensch war, der sie zu sein schien, schnellten sie empor. Achtete man nur auf seine Brauen und wusste ihren virtuosen Tanz zu deuten, wurden einem viele Dinge klar, die einem sonst entgangen wären. Binnen weniger Wochen, die er im Swan einkehrte, hatte er seine Zuhörer gebannt. Auch Margot schlug er in seinen Bann, und sie ihn in ihren.

Nach Ablauf eines Monats lief Joe sechzig Meilen zu einem Ort weitab vom Fluss, wo er bei einem Wettbewerb eine Geschichte vortrug. Natürlich gewann er den ersten Preis, und vom Gewinn kaufte er einen Ring. Aschfahl vor Erschöpfung, kam er zurück und sank für den Rest der Woche ins Bett, bevor er niederkniete und um Margots Hand anhielt.

»Ich weiß nicht …«, sagte ihre Mutter. »Kann er zupacken? Kann er einen Lebensunterhalt verdienen? Wie will er für eine Familie sorgen?«

»Sieh dir doch die Einnahmen an«, führte Margot ins Feld. »Und wie sich das Geschäft belebt hat, seit Joe seine Geschichten erzählt. Wenn ich ihn nicht heirate, Mama, könnte er woandershin gehen. Und was dann?«

Sie hatte recht. Die Leute kehrten seitdem öfter in der Schenke ein, noch dazu von weiter her, und sie blieben auch länger, um Joes Geschichten zu Ende zu hören. Und alle zechten. Die Geschäfte gingen gut.

»Aber bei all den starken, gut aussehenden jungen Männern, die kommen und die dich so verehren – wäre da kein besserer zu finden?«

»Ich will Joe«, sagte Margot mit Nachdruck. »Ich mag die Geschichten.«

Sie setzte sich durch.

Das alles geschah fast vierzig Jahre vor den Ereignissen dieser Geschichte, und inzwischen hatten Margot und Joe eine vielköpfige Familie großgezogen. In zwanzig Jahren hatten sie elf stramme Töchter in die Welt gesetzt. Alle hatten sie Margots dickes braunes Haar und ihre stämmigen Beine. Sie wuchsen zu drallen jungen Frauen heran, allesamt Frohnaturen, stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Inzwischen waren sie samt und sonders unter der Haube. Eine war ein wenig dicker, die andere ein wenig dünner, eine etwas größer, die nächste etwas kleiner, eine hatte etwas dunkleres, die andere etwas blonderes Haar, doch ansonsten glichen sie sich so sehr, dass die Zecher sie nicht auseinanderhalten konnten und, wenn sie zurückkamen, um bei Hochbetrieb in der Schankstube auszuhelfen, sie alle der Einfachheit halber Little Margot nannten. Nachdem all diese Mädchen zur Welt gekommen waren, trat im Familienleben von Margot und Joe eine Flaute ein, und beide gingen schon davon aus, dass die Jahre des Gebärens zu Ende seien, doch dann kam die letzte Schwangerschaft und Jonathan, ihr einziger Sohn.

Mit seinem gedrungenen Hals und seinem Mondgesicht, seinen schräg stehenden Mandelaugen, seinen zierlichen Ohren, dem niedlichen Näschen und der Zunge, die für seinen unablässig lächelnden Mund zu groß geraten schien, sah Jonathan nicht wie andere Kinder aus. Als er heranwuchs, wurde klar, dass er sich auch in anderer Hinsicht von ihnen unterschied. Er war nunmehr fünfzehn, doch wo es die übrigen Jungen in seinem Alter nicht abwarten konnten, groß und erwachsen zu sein, glaubte Jonathan, er werde für den Rest seines Lebens bei seiner Mutter und seinem Vater im Wirtshaus leben, und er wollte es auch nicht anders.

Margot war immer noch eine kräftige, ansehnliche Frau; Joe hatte weiße Haare, nur seine Augenbrauen waren so dunkel wie eh und je. Er war jetzt sechzig, für einen Bliss ein Greis. Die Leute schrieben sein Überleben Margots unermüdlicher Fürsorge zu. In den letzten Jahren war er manchmal so schwach gewesen, dass er zwei, drei Tage lang mit geschlossenen Augen im Bett lag. Dabei schlief er nicht; nein, in solchen Zeiten weilte er an einem Ort jenseits des Schlafs. Margot nahm seine Schwächeanfälle gleichmütig hin. Sie ließ das Feuer brennen, um die Luft zu trocknen, flößte ihm lauwarme Brühe ein, bürstete ihm das Haar und strich ihm die Brauen glatt. Andere gerieten in Angst und Schrecken, wenn sie sahen, wie er röchelnd um Atem rang. Doch Margot wurde damit fertig. »Keine Sorge, der wird schon wieder«, sagte sie nur. Und so kam es. Er war ein Bliss, weiter nichts. Der Fluss war ihm in die Lungen eingesickert und hatte sie versumpft.

Es war die Nacht der Wintersonnenwende, die längste Nacht im Jahr. Seit Wochen waren die Tage geschrumpft, zuerst kaum merklich, dann rasend schnell, bis es inzwischen schon mitten am Nachmittag dunkel war. Wie allgemein bekannt, geraten Menschen, wenn die Mondstunden länger werden, aus dem Takt ihrer inneren Uhr. Sie nicken mittags ein, träumen im Wachen, tun bei pechschwarzer Nacht kein Auge zu. Es ist eine Zeit der Magie, und wie die Grenzen zwischen Tag und Nacht verschwimmen auch die Grenzen zwischen den Welten. Träume und Geschichten vermischen sich mit Erlebtem, die Toten und die Lebenden laufen einander bei ihrem Kommen und Gehen über den Weg, Vergangenheit und Gegenwart berühren und überschneiden sich. Unerwartete Dinge können geschehen. Hatte vielleicht die Wintersonnenwende etwas mit den seltsamen Ereignissen im Swan zu tun? Das wirst du selbst entscheiden müssen.

Wo du nun also alles weißt, was du wissen musst, kann die Geschichte beginnen.

An diesem Abend hatten sich im Swan die Stammgäste eingefunden, größtenteils Kiesschürfer, Kahnführer und Kressegärtner, doch auch der Bootsflicker war da, ebenso Owen Albright, der vor einem halben Jahrhundert dem Fluss bis zum Meer gefolgt und zwanzig Jahre später als wohlhabender Mann zurückgekehrt war. Albright plagte inzwischen die Arthritis, und nur Starkbier und Geschichtenerzählen konnten ihm die Schmerzen in den Knochen lindern. Kaum war das letzte Tageslicht geschwunden, waren sie alle da, leerten ihre Gläser und füllten sie nach, klopften ihre Pfeifen aus und stopften sie erneut mit würzigem Tabak. Und erzählten Geschichten.

Albright wartete gerade mit der Schlacht von Radcot Bridge auf. Nach fünfhundert Jahren wird wohl oder übel jede Geschichte ein wenig schal, und so hatten ihre Chronisten Wege gefunden, sie mit neuem Leben zu erfüllen. Es gab einen Kern des Geschehens, der als unveränderlich galt – die Armeen, ihr Aufeinandertreffen, der Tod des Ritters und seines Knappen, die achthundert ertrunkenen Männer –, der Tod des Burschen dagegen nicht. Rein gar nichts wusste man von ihm, außer, dass er Bursche war und an der Brücke von Radcot starb. Diese Lücke nun wurde mit Einfallsreichtum gefüllt. Jedes Mal, wenn die Zecher im Swan sein Geschick einmal wieder aus der Versenkung holten, wurde der unbekannte Bursche von den Toten auferweckt, bevor er neuerlich aus dem Leben schied. So war er über die Jahre zahllose Tode gestorben, auf immer abwegigere und unterhaltsamere Weise. Wem eine Geschichte gehört, der darf sich damit auch Freiheiten nehmen – wehe allerdings einem Gelegenheitsgast im Swan, der die Stirn besaß, sich dasselbe Recht herauszunehmen. Was der Bursche selbst von seinen regelmäßigen Auferstehungen hielt, ist schwer zu sagen, nur gilt es zu bedenken, dass er im Swan mit diesem Schicksal beileibe nicht alleine war.

An diesem Abend beschwor Albright einen jungen Gaukler herauf, der gekommen war, um die Truppen bei Laune zu halten, während sie auf ihre Befehle warteten. Beim Jonglieren mit Messern rutschte er im Schlamm aus, sodass die scharfen Klingen rings um ihn her niederprasselten und in der nassen Erde stecken blieben, alle, bis auf die letzte, die fiel dem armen Tropf lotrecht ins Auge und raffte ihn dahin, noch ehe die Schlacht begann. Dieser neue Dreh erntete Beifallsgemurmel, das jedoch rasch zum Verstummen gebracht wurde, damit die Geschichte weitergehen konnte, und so nahm sie von da an mehr oder weniger ihren gewohnten Verlauf.

Danach trat eine Pause ein. Es gehörte sich nicht, allzu schnell mit einer neuen Geschichte herauszuplatzen, statt die alte erst einmal sacken zu lassen.

Jonathan hatte aufmerksam zugehört.

»Ich wünschte, ich könnte eine Geschichte erzählen«, sagte er.

Dabei lächelte er – Jonathan lächelte immer –, auch wenn er wehmütig klang. Er war nicht dumm, doch die Schule verwirrte ihn, die anderen Kinder hatten über sein eigentümliches Gesicht und sein seltsames Verhalten gelacht, weshalb er nach einigen Monaten die Segel gestrichen hatte. Lesen und schreiben hatte er nicht gelernt. Die winterlichen Stammgäste waren an den Ockwell-Jungen gewöhnt, mit all seinen Besonderheiten.

»Dann versuch’s mal«, ermunterte ihn Albright. »Nur zu, erzähl uns eine.«

Jonathan überlegte. Er machte den Mund auf und horchte gespannt auf das, was ihm über die Lippen kommen würde. Doch es kam nichts, was er so komisch fand, dass er sich über sein Missgeschick vor Lachen bog und Grimassen schnitt.

»Ich kann nicht!«, rief er, als er sich wieder gefangen hatte. »Ich kann das nicht!«

»Dann eben ein andermal. Üb erst mal ein bisschen, und wenn du so weit bist, hören wir dir zu.«

»Erzähl du eine, Dad«, bat Jonathan. »Komm schon!«

Es war Joes erster Abend in der Winterstube seit seinem letzten Schwächeanfall. Er war blass und hatte bis jetzt geschwiegen. In seinem Zustand erwartete niemand eine Geschichte von ihm, doch die Ermunterung seines Sohnes erwiderte er mit einem freundlichen Lächeln und blickte zu einer Ecke an der Zimmerdecke empor, vom jahrelangen Holzruß und Tabakrauch geschwärzt, genau die Stelle, vermutete sein Sohn, von der sein Vater seine Geschichten bezog. Als er den Blick wieder senkte, war er bereit und hub zu reden an.

»Es war einmal …«

Die Tür ging auf.

Für Neuankömmlinge war es spät. Wer auch immer da in die Stube wollte, hatte es nicht eilig einzutreten. Der kalte Luftzug brachte die Kerzen zum Flackern und trug den charakteristischen Geruch des winterlichen Flusses in die verrauchte Stube. Die Gäste blickten auf.

Aller Augen sahen, doch eine ganze Weile lang zeigte keiner eine Reaktion. Sie versuchten, sich auf das, was sie im Türrahmen erblickten, einen Reim zu machen.

Der Mann – falls es ein Mann war – fiel durch seine große, kräftige Erscheinung auf, doch was am meisten ins Auge sprang, war sein monströser Kopf, bei dessen Anblick sie heftig erschraken. Hatten sie ein Ungeheuer aus einem Märchen vor sich? Schliefen sie und träumten nur schlecht? Im Gesicht des Mannes war die Nase verrutscht und platt, darunter klaffte ein Loch, dunkel und voller Blut. Dieses Gesicht allein schon hätte in der Wirtsstube für Entsetzen gesorgt, doch als wäre dies nicht genug, hielt die fürchterliche Kreatur eine große Marionette in den Armen, mit wächsernem Gesicht, schlaffen Gliedern und glatt am Kopf klebenden Haaren.

Was die Zecher schließlich aus ihrer Erstarrung riss, war der Mann selbst. Zuerst stieß er ein mächtiges Brüllen aus – so missgestaltet wie der Mund, aus dem es kam –, dann geriet er ins Wanken. Zwei Knechte sprangen gerade noch rechtzeitig auf, um ihn unter den Armen zu packen und seinen Fall zu bremsen, bevor er mit dem Kopf auf den Steinboden aufschlug. Im selben Moment stürzte Jonathan mit ausgestreckten Armen vom Kamin herbei, und hinein fiel die Puppe, von einem Gewicht, mit dem seine Muskeln und Gelenke nicht gerechnet hatten.

Als sie alle wieder bei Sinnen waren, hievten sie den bewusstlosen Mann auf einen Tisch. Ein zweiter Tisch wurde herangezogen, um seine Beine daraufzulegen. Nachdem er so aufgebahrt war, umstanden sie alle den verlängerten Tisch und hoben ihre Kerzen und Lampen über ihn. Die Lider des Mannes flatterten nicht.

»Ist er tot?«, fragte Albright. Es folgte eine Runde unverständliches Gemurmel und stirnrunzelnde Ratlosigkeit.

»Klatscht ihm ins Gesicht«, sagte jemand. »Dann sehen wir, ob er zu sich kommt.«

»Vielleicht besser ein Schlückchen Schnaps«, schlug ein anderer vor.

Jetzt schob sich Margot energisch zwischen den Zechern hindurch ans Kopfende des Tischs und musterte den Mann. »Untersteht euch, ihm ins Gesicht zu schlagen. In diesem Zustand. Oder ihm etwas die Kehle runterzugießen. Wartet einfach einen Moment.«

Sie wandte sich zu der Bank an der Feuerstelle um. Darauf lag ein Kissen, das nahm sie und brachte es zum Tisch. Im Licht einer Kerze entdeckte sie einen nadelkopfgroßen weißen Punkt im Baumwollbezug. Sie erwischte ihn mit dem Fingernagel und zog eine Feder heraus. Die Männer sahen ihr verwundert zu.

»Glaube kaum, dass du einen Toten auferwecken kannst, indem du ihn damit kitzelst«, meinte einer der Kiesschürfer. »Genauso wenig wie einen Lebenden, jedenfalls nicht in diesem Zustand.«

»Ich habe nicht die Absicht, ihn zu kitzeln«, entgegnete sie.

Margot legte dem Mann die Feder auf die Lippen. Alle beugten sich über den Tisch. Einen Moment lang geschah nichts, dann zitterte der weiche Flaum.

»Er atmet!«

Auf die erste Erleichterung folgte erneute Ratlosigkeit.

»Aber wer ist das?«, fragte ein Kahnführer. »Kennt den hier einer?«

Eine Weile redeten sie alle durcheinander und erörterten die Frage. Einer von ihnen glaubte auf einer Strecke von gut zehn Meilen stromauf und stromab, von Castle Eaton bis Duxford, jeden zu kennen, und war sich sicher, den hier noch nie gesehen zu haben. Ein anderer hatte eine Schwester in Lechlade und beteuerte, der Mann sei ihm dort noch nie untergekommen. Ein Dritter hatte das vage Gefühl, ihm vielleicht schon einmal irgendwo begegnet zu sein, doch je genauer er sich ihn anschaute, desto weniger wollte er darauf wetten. Ein Vierter dachte laut darüber nach, ob es sich hier vielleicht um einen Flusszigeuner handelte, denn um diese Jahreszeit pflegten deren überladene Boote, stets mehrere zusammen, hier in dieser Gegend entlangzukommen, sodass alle nachts ihre Türen verschlossen und alles, was nicht niet- und nagelfest war, drinnen in Sicherheit brachten. Aber mit dieser guten Wolljacke und den teuren Lederstiefeln – nein. Das hier war kein zerlumpter Zigeuner. Ein Fünfter starrte lange hin, bevor er triumphierend erklärte, der Mann erinnere in Körperbau und Größe doch stark an Liddiard von Whiteys Gehöft. Und hatte nicht auch sein Haar dieselbe Farbe? Ein Sechster wies darauf hin, Liddiard stehe doch am Fußende des Tischs, was der Fünfte, als er hinübersah, nicht bestreiten konnte. Im Verlauf dieser und weiterer Mutmaßungen kamen ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs und dann auch alle anderen Anwesenden schließlich darin überein, diesen Fremden nicht zu kennen – jedenfalls nicht, dass sie wüssten. Aber wer wollte sich, so, wie er zugerichtet war, da schon sicher sein?

In die Stille hinein, die darauf folgte, fragte ein Siebter: »Was mag ihm wohl zugestoßen sein?«

Der Mann hatte triefend nasse Kleider an und roch nach Fluss. Irgendein Unfall auf dem Wasser, so viel stand fest. Sie zählten einander die Gefahren auf, die der Fluss mit sich brachte, die Tücken der Strömung und der Strudel, die selbst dem erfahrensten Bootsführer böse Streiche spielen konnten.

»Ist da draußen ein Boot? Soll ich vielleicht mal nachsehen, ob ich eins entdecke?«, fragte Beszant, der Bootsflicker, in die Runde.

Unterdessen wusch Margot dem Mann mit flinken, doch behutsamen Händen das Blut aus dem Gesicht. Als sie die klaffende Wunde in seiner Oberlippe freilegte, die in zwei Lappen zertrennt war, sodass seine ausgebrochenen Zähne und das blutige Zahnfleisch zum Vorschein kamen, zuckte sie zusammen.

»Vergesst das Boot«, wies sie die Männer an. »Kümmern wir uns um den Mann. Das hier ist zu ernst, als dass ich damit fertigwürde. Wer von euch läuft los und holt Rita?« Sie schaute in die Runde, und ihr Blick fiel auf einen der Knechte, der zu arm war, um viel zu trinken. »Neath, du bist flink auf den Beinen. Kannst du zum Rush Cottage rennen und uns die Krankenschwester bringen, ohne unterwegs zu stürzen? Ein Unfall ist genug für eine Nacht.«

Der junge Mann zog los.

Unterdessen hatte sich Jonathan im Hintergrund gehalten. Das Gewicht der durchnässten Marionette zerrte ihm an den Armen, und so setzte er sich und hielt die Puppe auf dem Schoß. Er dachte an den Drachen aus Pappmaschee, den die Truppe kostümierter Männer letztes Weihnachten zu einem Krippenspiel mitgebracht hatte. Der hatte sich hart angefühlt und, wenn man mit den Fingernägeln dagegentippte, ein leises Klopfgeräusch von sich gegeben. Daraus war diese Marionette hier nicht gemacht. Er ging im Kopf die Puppen durch, die er schon gesehen hatte, alle mit Reis gestopft. Die waren schwer und weich. Aber noch nie hatte er eine von dieser Größe gesehen. Er schnupperte an ihrem Kopf. Es roch nicht nach Reis – nur nach Fluss. Das Haar bestand aus echten Haaren, und er fragte sich, wie sie es am Kopf befestigt hatten. Das Ohr sah so echt aus, dass sie es nach einem echten Ohr geformt haben mussten. Er staunte über die perfekt sitzenden Wimpern. Wenn er mit der Fingerspitze sacht die biegsamen, kitzelnden Enden entlangstrich, bewegten sich davon die Lider ein wenig. Äußerst behutsam berührte er das eine Augenlid und spürte, dass etwas darunter war. Rund und glitschig, weich und fest zugleich.

Etwas Unergründliches erfasste ihn. Im Rücken seiner Eltern und der Gäste rüttelte er sachte an der Gestalt. Einer ihrer Arme glitt ihm vom Schoß und schlenkerte auf eine Weise am Schultergelenk, wie es nicht zu einer Marionette passte. Und er spürte, wie in seinem Innern, mächtig und unaufhaltsam, ein Pegel stieg.

»Es ist ein kleines Mädchen.«

Bei all dem Palaver rings um den verletzten Mann hörte ihn niemand.

Nochmals, lauter: »Es ist ein kleines Mädchen!« Sie drehten sich um.

»Sie will nicht aufwachen.« Er hielt ihnen den durchtränkten kleinen Körper hin, damit sie es selbst sahen.

Sie kamen alle auf Jonathan zu, und ein Dutzend Augenpaare richtete sich auf die kleine reglose Gestalt.

Ihre Haut schimmerte wie Wasser. Die Falten ihres Baumwollkleids klebten ihr an den Gliedern, und ihr Kopf hing so schief am Hals, wie es kein Marionettenspieler zuwege brachte. Es war ein kleines Mädchen, und sie hatten es nicht gesehen, nicht einer von ihnen, obwohl es in die Augen stach. Welcher Künstler würde sich erst solche Mühe machen und eine Puppe von dieser Vollendung schaffen, um sie hernach in einen Baumwollkittel zu stecken, wie ihn die Tochter eines Bettlers tragen könnte? Wer würde ein Gesicht auf diese makabre, leblose Weise malen? Wer außer dem Herrgott hätte die Wölbung dieser Wangenknochen hervorgebracht, diesen ebenmäßigen Unterschenkel, diesen sorgfältig modellierten Fuß mit fünf Zehen, jede davon verschieden in Form und Größe? Natürlich war es ein kleines Mädchen! Wie hatten sie je etwas anderes denken können?

In der sonst so lärmigen Stube herrschte jetzt Stille. Die Väter unter den Männern dachten an ihre eigenen Kinder und schworen sich, ihnen bis ans Ende ihrer Tage nichts als Liebe zu erweisen. Den Alten unter ihnen, denen nie ein eigenes Kind vergönnt gewesen war, versetzte es einen gewaltigen Stich, während die Jüngeren, noch Kinderlosen ein plötzliches Verlangen erfasste, ihren eigenen Spross in den Armen zu halten.

Nach einer ganzen Weile wurde das Schweigen gebrochen.

»Gütiger Himmel!«

»Tot, die arme Kleine.«

»Ertrunken!«

»Halt ihr die Feder an die Lippen, Ma!«

»Ach, Jonathan. Bei ihr kommen wir zu spät.«

»Aber bei dem Mann hat es doch auch geholfen!«

»Nein, mein Junge, der war schon vorher noch am Leben. Die Feder hat es uns nur gezeigt.«

»Sie vielleicht auch!«

»Sie ist nicht mehr, mein armer Junge. Sie atmet nicht, und sieh dir nur ihre Hautfarbe an. Wer trägt das arme Kind in den Vorratsraum? Higgs, sei so gut, bring du sie rüber.«

»Aber da ist es kalt«, protestierte Jonathan.

Seine Mutter klopfte ihm auf die Schulter. »Das macht ihr nichts mehr aus. Sie ist in Wahrheit nicht mehr hier, und dort, wo sie jetzt ist, da wird es ihr niemals kalt.«

»Lass mich das Mädchen tragen.«

»Trag du die Laterne und schließe Mr Higgs die Tür auf. Sie ist zu schwer für dich, Liebling.«

Der Kiesschürfer nahm Jonathan den Leichnam aus den zitternden Armen und hob ihn hoch, als wöge er nicht mehr als eine Gans. Jonathan leuchtete ihm auf dem Weg nach draußen seitlich um den ältesten Teil des Wirtshauses herum, wo eine dicke Holztür in einen schmalen, fensterlosen Vorratsraum führte. Der Boden bestand aus nackter Erde, die Wände waren nie verputzt oder verkleidet oder gestrichen worden. Im Sommer konnte man hier gut eine gerupfte Ente oder auch einen Truthahn aufbewahren, bis man Hunger darauf hatte; an einem Winterabend wie diesem war es hier bitterkalt. Aus einer Wand kragte eine Steinplatte hervor, auf die Higgs jetzt das ertrunkene Mädchen legte. Jonathan hielt, in Erinnerung an die Zerbrechlichkeit von Pappmaschee, ihren Hinterkopf – »um ihr nicht wehzutun« – und ließ ihn behutsam auf den Stein sinken.

Higgs’ Laterne warf einen Lichtkegel auf das Gesicht des Mädchens.

»Mum sagt, sie ist tot«, murmelte Jonathan.

»Das stimmt, mein Junge.«

»Mum sagt, sie ist an einem anderen Ort.«

»Stimmt auch.«

»Für mich sieht sie aber so aus, als wär sie noch hier.«

»Ihre Gedanken haben sie verlassen. Ihre Seele hat sie verlassen.«

»Aber vielleicht schläft sie nur?«

»Nein, mein Junge. Dann wäre sie inzwischen aufgewacht.«

Die Laterne warf flackernde Schatten über das reglose Gesicht. Das warme Licht versuchte, über das tote Weiß der Haut hinwegzutäuschen, doch das Lebenslicht im Innern konnte es nicht ersetzen.

»Es gab mal ein Mädchen, das hat hundert Jahre lang geschlafen. Dann wurde es mit einem Kuss geweckt.«

Higgs blinzelte heftig. »Ich glaube, das war nur eine Geschichte.«

Auf dem Weg zurück nach draußen wanderte der Lichtkegel vom Gesicht des Mädchens zu Higgs’ Füßen, doch an der Tür bemerkte er, dass Jonathan nicht neben ihm war. Als er sich noch einmal umdrehte, hob er die Laterne genau in dem Moment, als sich der Junge im Dunkeln über das Kind beugte und mit den Lippen die blasse Stirn berührte.

Gespannt betrachtete Jonathan das Mädchen. Dann ließ er die Schultern hängen und wandte sich um.

Sie schlossen hinter sich ab und gingen zurück.

Die Leiche ohne Geschichte

ZWEIMEILENVONRADCOTentfernt gab es einen Arzt, doch keiner verfiel auf den Gedanken, nach ihm zu schicken. Er war alt und teuer, und meistens starben seine Patienten, was ihn nicht unbedingt empfahl. Stattdessen taten sie das einzig Vernünftige: Sie schickten nach Rita.

Und so kam es, dass sich eine halbe Stunde nachdem sie den Mann auf die Tische gelegt hatten, draußen Schritte näherten und kurz darauf eine Frau in der Tür stand. Außer Margot und ihren Töchtern, die zum Swan gehörten wie die Steinfliesen und die gekalkten Wände, waren Frauen in der Schenke ein seltener Anblick, und so richteten sich, als sie den Raum betrat, alle Blicke auf die Krankenschwester. Rita Sunday war mittelgroß, ihr Haar weder hell noch dunkel. Davon abgesehen, gab es nichts Durchschnittliches an ihrer Erscheinung. Die Männer maßen sie mit einem abschätzigen Blick und fanden in fast jeder Hinsicht etwas an ihr auszusetzen. Ihre Wangenknochen waren zu hoch und zu kantig, ihre Nase war etwas zu platt, ihr Kinn zu breit, und es stand auch noch ein wenig vor. Das Beste an ihr waren die Augen, einigermaßen gut geformt, wenn auch grau und ihr Blick auf die Dinge zu gleichmütig unter der ebenmäßigen Stirn. Sie war zu alt, um jung zu sein, andere Frauen in ihren Jahren wurden schon lange keiner Begutachtung mehr unterzogen, doch Ritas Fall lag anders: Bei aller Unscheinbarkeit und drei Jahrzehnten im jungfräulichen Stand besaß sie ein gewisses Etwas. Lag es an ihrer Geschichte? Die Hebamme und Krankenschwester der Gegend war in einem Nonnenkloster zur Welt gekommen und dort aufgewachsen, und auch ihr gesamtes medizinisches Wissen hatte sie im Klosterspital erworben.

Rita trat in die Winterstube des Swan. Als bemerkte sie die geballte Aufmerksamkeit gar nicht, knöpfte sie ihren schlichten Wollmantel auf und schlüpfte aus den Ärmeln. Das Kleid darunter war dunkel und schnörkellos. Sie begab sich unverzüglich zu dem Mann, der immer noch bewusstlos und blutverschmiert auf den Tischen lag.

»Ich habe Wasser für dich heiß gemacht, Rita«, sagte Margot zu ihr. »Und hier sind Tücher, alle sauber. Was brauchst du noch?«

»Besseres Licht, wenn es sich einrichten lässt.«

»Jonathan holt schon ein paar zusätzliche Laternen und Kerzen von oben.«

»Und höchstwahrscheinlich« – nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, war Rita schon dabei, die Länge und Tiefe der Lippenwunde des Mannes zu untersuchen – »ein Rasiermesser und einen Mann mit einer ruhigen, geschickten Hand.«

»Das kann Joe übernehmen, nicht wahr, Joe?«

Joe nickte.

»Und etwas Alkoholisches. Das Stärkste, was ihr habt.« Margot schloss den Spezialschrank auf und holte eine grüne Flasche heraus, die sie neben Ritas Tasche stellte, wo sie alle Gäste beäugten. Ohne Etikett sah sie ganz nach Schwarzgebranntem aus, somit hochprozentig genug, um den stärksten Mann umzuhauen.

Die zwei Kahnführer, die ihre Laternen über den Kopf des Bewusstlosen hielten, sahen zu, wie die Schwester das klaffende Loch untersuchte, das sein Mund war. Mit zwei blutverschmierten Fingern zog sie einen ausgebrochenen Zahn heraus; im nächsten Moment einen zweiten. Anschließend tasteten sich ihre Finger durch sein immer noch feuchtes Haar. Systematisch suchten sie jeden Zentimeter der Kopfhaut ab.

»Seine Kopfverletzungen beschränken sich auf das Gesicht. Es hätte ihn schlimmer treffen können. Gut, holen wir ihn erst mal aus diesen nassen Sachen.«

Alle in der Stube hielten den Atem an. Eine unverheiratete Frau konnte unmöglich einen Mann entkleiden, ohne gegen die natürliche Ordnung der Dinge zu verstoßen.

»Margot«, schlug Rita ungerührt vor, »leitest du die Männer bitte an?«

Damit kehrte sie dem Tisch den Rücken und machte sich daran, Gerätschaften aus ihrer Tasche zu holen, während die Männer dem Verletzten unter Margots wiederholter Mahnung, behutsam vorzugehen – »Schließlich wissen wir noch nicht, wo er sonst noch verletzt ist, machen wir es also nicht noch schlimmer!« –, den Verunglückten auszogen und Knöpfe oder Knoten, die sich ihren betrunkenen oder einfach nur unbeholfenen Fingern widersetzten, Margots mütterlichen Händen überließen. Bald lagen seine Kleider in einem Haufen auf dem Boden: eine marineblaue Jacke, wie bei den Kahnführern mit vielen Taschen, doch aus besserem Stoff; frisch besohlte Stiefel aus robustem Leder; ein richtiger Gürtel, wo sich die Bootsleute mit einem Strick begnügten; eine dicke lange Unterhose, ein Hemd aus Filz und zuletzt ein gestricktes Unterhemd.

»Wer ist der Mann? Weiß das jemand?«, fragte Rita, den Blick immer noch abgewandt.

»Wir wissen nicht, ob wir ihn schon mal irgendwo gesehen haben. Aber schwer zu sagen, so entstellt, wie er ist.«

»Habt ihr ihm die Jacke ausgezogen?«

»Ja.«

»Vielleicht kann Jonathan in den Taschen nachsehen.«

Als sie sich wieder zum Tisch umdrehte, war ihr Patient nackt und lediglich, um Ritas Ruf zu schützen, an der Scham mit einem weißen Taschentuch bedeckt.

Sie spürte, wie die Blicke für Sekunden zu ihrem Gesicht wanderten und wieder zurück.

»Joe, wenn du jetzt bitte so behutsam wie möglich seine Oberlippe rasieren würdest. Allzu gut wirst du es nicht hinbekommen, tu einfach dein Bestes. Und Vorsicht rings um seine Nase – die ist gebrochen.«

Sie begann mit der Untersuchung. Hierzu legte sie ihm zuerst die Hände auf die Füße, strich dann über Knöchel, Schienbeine und Waden hoch … Ihre weißen Finger hoben sich von seiner dunkleren Haut ab.

»Der Mann arbeitet im Freien«, merkte ein Kiesschürfer an.

Den Blick von seiner Nacktheit abgewandt, ertastete sie Knochen, Bänder, Muskeln, als sähen ihre Fingerspitzen besser als ihre Augen. So arbeitete sie sich zügig voran und wusste rasch, dass zumindest in diesem Bereich alles in Ordnung war.

An der rechten Hüfte des Patienten griffen Ritas Hände um das weiße Taschentuch herum und hielten inne.

»Licht hierhin, bitte.«

Der Mann wies an einer Hüfte schwere Abschürfungen auf. Rita schüttete aus der grünen Flasche Branntwein auf einen Lappen und drückte ihn auf die Wunde. Die Männer um den Tisch verzogen mitleidig den Mund, doch der Patient selbst rührte sich nicht.

Sein Arm ruhte an seiner Seite. Die Hand war auf die doppelte Größe angeschwollen, blutverschmiert und verfärbt. Auch hier machte sich Rita mit dem Alkohol ans Werk, doch bestimmte Flecken ließen sich nicht entfernen, obwohl sie mehr als einmal daran rieb – tintenschwarze Kleckse, aber weder von Quetschungen noch von getrocknetem Blut. Interessiert hob sie die Hand hoch und sah sie sich genauer an.

»Er ist Fotograf«, sagte sie.

»Hol mich der Teufel! Woher willst du das wissen?«

»Seine Finger. Siehst du diese Flecken? Silbernitrat. Das verwenden sie beim Entwickeln der Bilder.«

Sie nutzte die allgemeine Verblüffung ob dieser Neuigkeit und setzte ihre Untersuchung rund um das Taschentuch fort. Sie drückte ihm sanft in den Bauch, stellte keine Anzeichen für innere Verletzungen fest, ging dann, mitsamt dem Licht, weiter hinauf, bis das weiße Tuch ins Dunkel zurücktrat und die Männer beruhigt sein konnten, dass Rita sich wieder in den sicheren Regionen von Sitte und Anstand bewegte.

Auch nachdem sein dichter Bart halb verschwunden war, sah der Mann noch recht grausig aus. Die verunstaltete Nase stach nur umso mehr hervor, die tiefe Fleischwunde, die seine Lippe spaltete und ihm bis zur Wange hinaufreichte, wirkte bei nackter Haut nur noch schlimmer. Die Augen, denen ein Gesicht sonst seinen menschlichen Ausdruck verdankt, waren vollkommen zugeschwollen. Quer über die Stirn wölbte sich eine mächtige, blutige Beule. Rita zog Splitter heraus, offenbar von dunklem Holz, reinigte die Wunde und wandte sich zum Schluss der Verletzung an der Lippe zu.

Margot reichte ihr Nadel und Faden, beide mit Branntwein sterilisiert. Rita setzte die Spitze am Spalt an, und als sie die Nadel durch die Haut trieb, flackerte das Kerzenlicht.

»Wer sich setzen will, tut das bitte jetzt«, wies sie die Männer an. »Ein Patient ist genug.«

Doch niemand gab zu, dass er es nötig hatte.

Mit drei sauberen Stichen zog sie den Faden durch, und die Männer wandten sich entweder ab oder sahen fasziniert zu, wie ein menschliches Gesicht geflickt wurde, als wäre es ein zerrissener Kragen.

Als dies erledigt war, trat in der Stube hörbar Erleichterung ein.

Rita begutachtete ihr Werk.

»Sieht schon ein bisschen besser aus«, räumte einer der Kahnführer ein. »Oder wir haben uns einfach nur an seinen Anblick gewöhnt.«

»Hmm«, sagte Rita, als stimmte sie ihm halbwegs zu.

Sie streckte die Hand nach dem Gesicht des Verletzten aus, fasste seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte einmal kräftig daran. Es gab ein knirschendes, schmatzendes Reibungsgeräusch von Knochen und Knorpel, und der Lichtkegel geriet ins Wanken.

»Schnell, haltet ihn!«, rief Rita, und zum zweiten Mal an diesem Abend fingen die Knechte einen Mann auf, diesmal den Kiesschürfer, dem die Knie weich wurden und der ihnen in die Arme sank. Dabei fielen allerdings auch die Kerzen aller drei Männer zu Boden, und mit ihnen verlosch die ganze Szene.

»Gut«, sagte Margot, als die Kerzen wieder angezündet waren. »Was für eine Nacht. Am besten schaffen wir diesen armen Mann in die Pilgerstube.« In den Tagen, in denen die Radcot Bridge meilenweit den einzigen Flussübergang bot, hatten viele auf ihrer Reise im Wirtshaus Rast gemacht, und obgleich nur noch selten in Gebrauch, befand sich am Ende des Flurs ein Raum, den sie immer noch Pilgerzimmer nannten. Rita überwachte den Krankentransport, sie legten den Verletzten auf das Bett und deckten ihn zu.

»Ich würde mir gerne das Kind ansehen, bevor ich gehe«, sagte sie.

»Und natürlich sprichst du über der armen Kleinen ein Gebet«, sagte Margot. In den Augen der Dorfleute konnte es Rita dank ihrer Zeit in Kloster und Krankenhaus nicht nur mit einem Arzt aufnehmen, sondern, wenn Not am Mann war, auch mit einem Pastor.

»Hier ist der Schlüssel. Nimm eine Laterne mit.«

Wieder in Hut und Mantel und mit einem Schal ums Gesicht, trat Rita nach draußen.

Rita Sunday fürchtete sich nicht vor Leichen. Von Kindesbeinen an war sie an sie gewöhnt, ja sogar von einer geboren. Und das kam damals so: Vor fünfunddreißig Jahren hatte sich eine hochschwangere Frau in ihrer Verzweiflung in den Fluss gestürzt. Als ein Kahnführer sie entdeckte und aus dem Wasser zog, war sie schon zu drei Viertel ertrunken. Er brachte sie zu den Nonnen in Godstow, die sich im Klosterhospital um die Armen und Kranken kümmerten. Sie überlebte, bis die Wehen einsetzten. Vom Schock des beinahe Ertrinkens geschwächt, besaß sie nicht mehr die Kraft zu gebären und starb, als starke Wehen ihren Bauch durchliefen. Da krempelte Schwester Grace die Ärmel auf, griff nach einem Skalpell, zog im Bauch der Toten einen nicht sehr tiefen, halbkreisförmigen Schnitt und holte ein lebendiges Baby heraus. Niemand kannte den Namen der Mutter, und selbst wenn, hätten sie ihn nicht dem Kind gegeben, denn die Verblichene hatte sich in dreifacher Weise versündigt – durch Unzucht, Selbstmord und den Versuch, ihr Baby mit in den Tod zu nehmen, weshalb es unchristlich gewesen wäre, das Kind zu ihrem Andenken zu ermuntern. Sie nannten das Mädchen nach der heiligen Margareta, woraus bald der Kurzname Rita wurde. Und was den Nachnamen betraf, so entschied man sich in Ermangelung eines Erzeugers wie bei den übrigen Waisen in der Obhut des Klosters einfach für »Sunday«, den Tag des Herrn.

Die kleine Rita war gut in der Schule, zeigte Interesse am Krankenhaus und wurde ermuntert, mit anzupacken. Manche Aufgaben konnte auch ein Kind verrichten: Mit acht machte sie Betten und wusch die blutbefleckte Wäsche; mit zwölf trug sie Eimer mit heißem Wasser und half bei der Aufbahrung der Toten. Mit fünfzehn reinigte sie bereits Wunden und schiente Brüche oder nähte Haut, und mit siebzehn gab es kaum noch etwas in der Krankenpflege, das sie nicht gemeistert hätte, unter anderem auch, ohne Hilfe ein Baby zu holen. So hätte sie ohne Weiteres im Kloster bleiben und ihr Leben als Nonne Gott und den Kranken weihen können, wäre ihr nicht eines Tages beim Kräutersammeln am Fluss der Gedanke gekommen, dass es vielleicht kein Leben nach diesem hier gebe. Nach allem, was man ihr beigebracht hatte, war dies ein sündhafter Gedanke, doch statt von Schuldgefühlen wurde sie von einer Woge der Erleichterung ergriffen. Wenn es keinen Himmel gab, dann auch keine Hölle, und wenn es keine Hölle gab, litt die ihr unbekannte Mutter dort keine ewigen Qualen, sondern war einfach nur weg, nicht mehr da, jeglichem Leid entrückt. Sie unterrichtete die Nonnen von ihrem Gesinnungswandel, und noch bevor die sich wieder fassen konnten, hatte sie ihr Nachthemd und eine Unterhose zusammengerollt und war, selbst ohne Haarbürste, gegangen.

»Aber deine Pflicht!«, hatte ihr Schwester Grace hinterhergerufen. »Gegenüber Gott und den Kranken!«

»Kranke sind überall«, hatte sie über die Schulter entgegnet und Schwester Grace erwidert: »Gott auch«, doch so leise, dass Rita es nicht mehr hörte.

Die junge Krankenschwester hatte zunächst in einem Hospital in Oxford gearbeitet und dann, als ihre Begabung nicht unbemerkt blieb, als Arzthelferin bei einem modernen, aufgeschlossenen Mediziner in London. »Wenn Sie heiraten, sind Sie ein großer Verlust für mich und den Berufsstand«, sagte er jedes Mal zu ihr, wenn einmal wieder ein Patient offensichtlich Gefallen an ihr gefunden hatte.

»Heiraten? Nichts für mich«, lautete jedes Mal und ausnahmslos ihre Antwort.

»Wieso in aller Welt denn nicht?«, war er in sie gedrungen, nachdem er diese Auskunft wohl ein halbes Dutzend Mal erhalten hatte.

»Als Krankenschwester bin ich der Welt von größerem Nutzen denn als Ehefrau und Mutter.«

Das war nur die halbe Antwort.

Die andere Hälfte bekam er wenige Tage später. Sie kümmerten sich um eine junge Mutter, im selben Alter wie Rita. Es war ihre dritte Schwangerschaft. Bei den ersten beiden Geburten war alles problemlos verlaufen, und es gab keinen besonderen Grund, diesmal das Schlimmste zu befürchten. Das Baby hatte keine schwierige Lage, die Wehen zogen sich nicht ungebührlich in die Länge, es musste nicht zur Zange gegriffen werden, die Plazenta folgte ohne Rückstände. Nur, dass sie die Blutung nicht stillen konnten. Die Frau blutete und blutete und blutete, bis sie starb.

Während der Doktor vor der Tür mit dem Ehemann sprach, sammelte Rita mit geübten Handgriffen die blutgetränkten Laken ein. Sie hatte schon lange aufgehört, die toten Mütter zu zählen.

Als der Arzt wieder hereinkam, hatte sie alles für ihren Weggang vorbereitet. Schweigend verließen sie das Haus und traten auf die Straße. Nach wenigen Schritten sagte sie: »Ich will nicht so sterben.«

»Das kann ich Ihnen nicht verdenken«, erwiderte er.

Der Arzt hatte einen Freund, einen gewissen Gentleman, der häufig zum Abendessen zu Besuch kam und erst am nächsten Morgen das Haus verließ. Obwohl Rita kein Wort darüber verlor, war dem Doktor wohl bewusst, dass ihr nicht entging, welche Liebe er zu diesem Mann empfand. Sie schien davon vollkommen unbeeindruckt zu sein und war absolut diskret. Nachdem er sich die Sache einige Monate lang gründlich überlegt hatte, rückte er mit einem überraschenden Vorschlag heraus.

»Was halten Sie davon, mich zu heiraten?«, fragte er sie eines Tages zwischen zwei Patienten. »Es würde auch zu keinem … Sie wissen schon. Aber es käme mir gelegen und könnte auch für Sie von Vorteil sein. Den Patienten würde es gefallen.«

Sie dachte darüber nach und willigte ein. Sie verlobten sich, doch bevor sie heiraten konnten, erkrankte er an Lungenentzündung und starb viel zu jung. In den letzten Tagen seines Lebens rief er seinen Anwalt zu sich, um sein Testament zu ändern. Darin vermachte er sein Haus und das Mobiliar dem Gentleman und Rita eine beträchtliche Summe, genug für ein bescheidenes, unabhängiges Leben. Außerdem hinterließ er ihr seine Bibliothek. Die Bücher, die nichts mit Medizin oder Naturwissenschaften zu tun hatten, verkaufte sie. Den Rest ließ sie verpacken und nahm sie mit flussaufwärts. Als das Boot Godstow erreichte und Rita im Vorüberfahren das Kloster erblickte, rief es ihr zu ihrem eigenen Staunen den Verlust ihres Gottes schmerzlich in Erinnerung.

»Hier?«, fragte der Bootsführer, der die heftige Regung in ihrem Gesicht missverstand.

»Fahren Sie weiter«, antwortete sie.

Und so ging es weiter, gegen die Strömung, noch einen Tag, noch eine Nacht, bis sie nach Radcot kamen. Ihr gefiel der Anblick der Ortschaft am Fluss.

»Hier«, erklärte sie dem Kahnführer. »Das genügt.«

Sie kaufte sich ein Cottage, stellte ihre Bücher in ein Regal und ließ die besser situierten Haushalte in der Gegend wissen, sie habe ein Empfehlungsschreiben von einem der besten Ärzte in London vorzuweisen. Nach der Behandlung einiger Patienten und der Entbindung des ersten halben Dutzend Babys hatte sie sich bewährt. Die wohlhabenderen Familien der Gegend wollten von da an für die Ankunft auf der Welt ebenso wie fürs Hinscheiden sowie sämtliche gesundheitlichen Krisen dazwischen nur noch Rita haben. Dies war gut bezahlte Arbeit und stockte ihr Erbe mit einem zufriedenstellenden Einkommen auf. Unter diesen Patienten befand sich auch eine gewisse Anzahl, die es sich leisten konnte, Hypochonder zu sein. Sie duldete die Wehleidigkeit dieser Leute, versetzten sie Rita doch in die Lage, auch für jene da zu sein, die sich nur ein bescheidenes oder gar kein Entgelt leisten konnten. Wenn sie nicht arbeitete, lebte sie genügsam, las sich systematisch durch die Bibliothek des Doktors (an den sie nie als ihren Verlobten dachte) und fertigte Medikamente an.

Inzwischen war Rita schon seit fast zehn Jahren in Radcot. Der Tod schreckte sie nicht. In all den Jahren hatte sie die Sterbenden versorgt, hatte bei ihren letzten Atemzügen an ihrer Seite ausgeharrt und die Verstorbenen aufgebahrt. Tod durch Krankheit, Tod im Kindbett, Tod durch Unfall. Ein-, zweimal Tod durch vorsätzliche Tötung. Tod als willkommener Erlöser in greisem Alter. Das Krankenhaus von Godstow lag am Fluss, und so war sie natürlich auch mit den Leichnamen der Ertrunkenen vertraut.

Tod durch Ertrinken ging Rita durch den Kopf, als sie sich mit zügigen Schritten zur Hintertür des Swan begab. Es war leicht zu ertrinken. Jedes Jahr holt sich der Fluss ein paar Leben. Einmal zu tief ins Glas geschaut, ein unbedachter Schritt, mehr braucht es nicht. Ritas erster Ertrunkener war ein zwölf Jahre alter Junge, damals nur ein Jahr jünger als sie selbst, der auf der Schleuse gesungen und herumgealbert hatte. Später dann kam der sommerliche Nachtschwärmer, der beim Aussteigen aus dem Boot danebentrat, stürzte und mit der Schläfe aufschlug, während seine Freunde zu betrunken waren, um ihm tatkräftig beizustehen. Und dann ein Student, der an einem goldenen Herbsttag aus schierer Angeberei vom höchsten Punkt der Wolvercote Bridge sprang und den die Tiefe und die Strömung des Wassers überraschten. Ein Fluss ist ein Fluss, zu jeder Jahreszeit. Es gab junge Frauen wie ihre eigene Mutter, arme Geschöpfe, welche, von ihrem Liebhaber wie von ihrer Familie verstoßen, die Aussicht auf eine Zukunft in Armut und Schande nicht ertrugen und ihrem Elend im Fluss ein Ende setzten. Und dann waren da die Babys, jedes ein ungewolltes Häufchen Fleisch, ertränkt, bevor sie die Chance auf ein Leben bekamen. Das alles hatte sie gesehen.

An der Tür zum Vorratsraum drehte Rita den Schlüssel im Schloss. Drinnen schien die Luft noch kälter zu sein als draußen; sie stieg ihr durch ein Labyrinth aus Gängen, Höhlen und Nebenhöhlen hinter ihren Nasenlöchern bis in die Stirn und mit der Kälte der Geruch von Erde, Stein und vor allem dem Fluss. Was augenblicklich alle ihre Sinne schärfte.

Das schwache Licht der Laterne reichte bei Weitem nicht bis in die hinteren Winkel des gemauerten Raums, verlieh jedoch dem kleinen Leichnam einen bläulich grünen Schimmer. Der seltsame Effekt kam durch die äußerste Blässe der Gestalt zustande, auch wenn jemand Fantasievolleres hätte meinen können, die zarten Gliedmaßen leuchteten von innen.

Rita war sich ihrer außerordentlich erhöhten Wachsamkeit, als sie sich dem Kinde näherte, wohl bewusst. Sie schätzte es auf etwa vier Jahre. Die Haut des Mädchens war weiß. Es war in ein schlichtes Hemdkleid gehüllt, Arme und Knöchel waren entblößt, und der Stoff, immer noch feucht, kringelte sich um den schmächtigen Leib.

Unverzüglich fing Rita mit der routinemäßigen Untersuchung an, die sie sich im Klosterhospital zu eigen gemacht hatte. Sie überprüfte, ob es noch Atmungsaktivität gab. Sie legte zwei Finger an den Hals des Kindes, um nach einem Puls zu fühlen. Sie zog das Blütenblatt eines Augenlids hoch, um sich die Pupille anzusehen. Während dieser Prozedur hörte sie im Geist das Echo des Gebets, das einst eine solche Untersuchung in einem Chor ruhiger weiblicher Stimmen begleitet hatte: Vater unser, der du bist im Himmel … Sie hörte es, bewegte aber nicht die Lippen dazu.

Keine Atmung. Kein Puls. Starke Erweiterung der Pupillen.

Die hellhörige Wachsamkeit hielt an. Sie beugte sich über den kleinen Körper und rätselte darüber, was sie so stutzig machte. Vielleicht war es nichts weiter als die eisige Luft.

Man konnte einen Leichnam lesen, wenn man so wie Rita schon genug Tote gesehen hatte. Man musste nur wissen, worauf zu achten war, um das Wann, das Wie und das Warum zu erkennen. Mit solcher Sorgfalt ging sie vor, dass sie darüber vollkommen vergaß, wie kalt es war. Im flackernden Licht der Laterne sah sie sich mit zusammengekniffenen Augen jeden Zentimeter der Haut des Kindes an. Sie hob Arme und Beine, fühlte die geschmeidige Bewegung der Gelenke. Sie spähte in Ohren und Nase. Sie erkundete den Mundraum, musterte jeden Finger- und Zehennagel. Am Ende trat sie zurück und runzelte die Stirn.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Rita legte den Kopf schief, verzog ratlos den Mund und ging im Kopf alles durch, was sie wusste. Sie wusste, wie sich die Haut der Ertrunkenen runzelt, wie sich ihre Leichen aufblähen. Sie wusste, wie sich bei ihnen Haut, Haar und Nägel lösen. Nichts davon war hier der Fall, woraus allerdings lediglich zu schließen war, dass sich dieses Kind nicht sehr lange im Wasser befunden hatte. Und dann war da die Merkwürdigkeit mit dem Schleim. Ertrunkene haben Schaum an Mundwinkeln und Nasenlöchern, was im Gesicht dieser Leiche fehlte. Auch dafür gab es natürlich eine mögliche Erklärung: Das Kind war bereits tot, als es ins Wasser gelangte. So weit, so gut. Von hier ab wurde es verstörend. Falls die Kleine nicht ertrunken war, was war dann mit ihr passiert? Der Schädel, ebenso Arme und Beine, waren unversehrt. Der Hals wies keine Blutergüsse auf. Es gab keine Knochenbrüche. Nichts deutete auf Verletzungen der inneren Organe hin. Rita wusste sehr wohl, wozu menschliche Bosheit fähig war: Sie hatte die Genitalien des Mädchens untersucht und sich davon überzeugt, dass es nicht Opfer eines widernatürlichen Übergriffs geworden war.

War das Kind womöglich eines natürlichen Todes gestorben? Dagegen sprach, dass sich keinerlei sichtbare Anzeichen einer Krankheit fanden. Im Gegenteil: Ihrem Gewicht, der Beschaffenheit ihrer Haut und ihrer Haare nach hatte sich die Unbekannte einer außerordentlich guten Gesundheit erfreut.

War dies alles schon verwirrend genug, war da noch mehr. Angenommen, das Kind war eines natürlichen Todes gestorben und danach – aus unerfindlichen Gründen – in den Fluss geworfen worden, dann hätte es Verletzungen geben müssen, die nach dem Tod entstanden waren. Sand und Kies hinterlassen Abschürfungen, Steine Schrammen, das Geröll am Grund des Flusses schneidet mit seinen scharfen Kanten ins Fleisch. Wasser kann einem Mann die Knochen brechen, eine Brücke ihm den Schädel zertrümmern. Aus welchem Winkel man dieses Kind auch betrachtete, es war unversehrt, ohne Prellungen, Abschürfungen oder Schnittwunden. Der kleine Leichnam war makellos. »Wie eine Puppe«, hatte Jonathan gesagt, als er beschrieb, wie ihm das Mädchen in die Arme gefallen war, und Rita verstand, wie er darauf kam. Sie war mit den Fingerspitzen über die Sohlen der Füße, um die großen Zehen herumgestrichen und hatte sie so vollkommen gefunden, dass man meinen könnte, die Kleine hätte nie einen Fuß auf die Erde gesetzt. Ihre Nägel waren so fein und perlmuttartig wie die eines Neugeborenen. Dass der Tod nicht die geringste Spur an ihr hinterlassen hatte, war seltsam genug; dass jedoch dasselbe für das Leben galt, war nach Ritas Erfahrung einzigartig.

Ein Leichnam erzählt immer eine Geschichte – die Leiche dieses Kindes hingegen war ein unbeschriebenes Blatt.

Rita griff nach der Laterne an ihrem Haken. Noch einmal richtete sie ihr Licht auf das Gesicht des Kindes, fand es jedoch so ausdruckslos wie seine übrige Gestalt. Schwer zu sagen, was die Natur diesen weichen, unfertigen Zügen an Schönheit, scheuer Wachsamkeit oder an Mutwillen eingeprägt hatte. Sollte es hier einmal Neugier und Ungeduld oder sanftmütige Fügsamkeit gegeben haben, so war dem Leben nicht genügend Zeit geblieben, es ihnen dauerhaft einzuprägen.

Vor sehr kurzer Zeit – vor kaum mehr als zwei Stunden – waren Körper und Seele dieses kleinen Mädchens noch fest vereint gewesen. Dieser Gedanke beschwor bei Rita plötzlich, all ihrer langjährigen Erfahrung zum Trotz, einen Ansturm der Gefühle herauf. Nicht zum ersten Mal, seit sie getrennte Wege gingen, wünschte sie sich Gott herbei. Gott, der in ihrer Kindheit alles gesehen, alles gewusst, alles verstanden hatte. Wie einfach waren die Dinge noch gewesen, als sie, unwissend und verwirrt, ihren Glauben in einen Vater setzen konnte, der alle Dinge vollkommen verstand. Solange sie alles Wissen bei Gott gut aufgehoben sah, konnte sie ihre eigene Unwissenheit ertragen. Aber jetzt …

Sie nahm die Kinderhand, diese perfekte Hand mit ihren fünf perfekten Fingern und Nägeln, legte sie in ihre eigene Linke und die Rechte darüber.

Hier stimmt etwas nicht! Hier stimmt rein gar nichts! Das dürfte nicht so sein!

Und da geschah es.

Das Wunder

BEVORMARGOTDIEKLEIDERdes verletzten Mannes in den Eimer mit frischem Wasser tauchte, ging Jonathan die Taschen durch. Zum Vorschein kamen:

Eine vom Fluss aufgequollene Geldbörse mit so viel Geld darin, dass es für sämtliche Auslagen reichte und, wenn er sich wieder besser fühlte, für eine Runde Bier.

Ein durchtränktes Taschentuch.

Eine Pfeife, noch an einem Stück, und eine Dose Tabak. Sie lösten den Deckel der Tabakdose und stellten fest, dass der Inhalt noch trocken war. »Wenigstens darüber wird er sich freuen«, sagten sie.

Ein Ring, mit einigen zierlichen Werkzeugen und Instrumenten bestückt, die ihnen Rätsel aufgaben – hatten sie es vielleicht mit einem Uhrmacher zu tun? Oder einem Schlosser? Einem Einbrecher vielleicht? Der nächste Gegenstand, der ans Licht kam, brachte die Klärung.

Eine Fotografie. Und da fielen ihnen wieder die dunklen Flecken an den Fingern des Mannes ein und Ritas Annahme, er sei Fotograf. Dieses Bild verlieh ihrer Vermutung Gewicht. Die Werkzeuge mussten mit dem Beruf des Mannes in Verbindung stehen. Joe nahm seinem Sohn das Foto aus der Hand und tupfte es behutsam mit dem wollenen Ärmelaufschlag ab, um es zu trocknen.

Auf dem Bild war eine Ecke einer Wiese zu sehen, eine Esche und wenig sonst.

»Hab schon schönere Bilder gesehen«, bemerkte jemand.

»Da gehört ein Kirchturm oder eine Strohhütte drauf«, warf ein anderer ein.

»Ist offenbar keine Fotografie von was Bestimmtem«, sagte ein Dritter und kratzte sich am Kopf.

Da sie sich keinen Reim darauf machen konnten, zuckten sie nur die Achseln und legten das Bild zum Trocknen auf den Kaminsims, bevor sie sich dem nächsten und letzten Gegenstand widmeten, den Jonathan aus den Sachen des Mannes barg:

Eine Blechdose mit einem Bündel kleiner Karten. Sie nahmen die oberste herunter und reichten sie Owen, der von ihnen allen am besten lesen konnte. Owen hielt die Kerze darüber und las vor:

Henry Daunt, Oxford

Porträts, Landschaften, Stadt- und Dorfansichten

außerdem: Postkarten, Wanderführer, Bilderrahmen

auf Themse-Szenen spezialisiert

»Sie hatte recht«, riefen sie aus. »Sie meinte, er wär Fotograf, und hier ist der Beweis.«

Dann las Owen eine Adresse in der High Street in Oxford vor.

»Wer muss morgen nach Oxford?«, fragte Margot. »Weiß das jemand von euch?«

»Mein Schwager führt den Käserkahn«, antwortete einer der Kiesschürfer. »Ich kann gern noch heute Abend bei ihm vorbeischauen und ihn fragen.«

»Der Kahn braucht zwei Tage, oder?«

»Wir können seine Familie nicht zwei Tage lang im Ungewissen lassen.«

»Der fährt doch bestimmt nicht morgen raus, der Mann von deiner Schwester. Dann wäre er nämlich nicht rechtzeitig zu Weihnachten zurück.«

»Also wohl besser mit der Eisenbahn.«

Sie kamen überein, dass Martins fahren würde. Er wurde am nächsten Tag nicht auf dem Hof gebraucht und hatte eine Schwester fünf Minuten vom Bahnhof Lechlade entfernt. Er sollte sich unverzüglich zu ihr auf den Weg machen, um von dort aus am nächsten Tag den Frühzug zu nehmen. Margot gab ihm das Fahrgeld, er sagte sich die Adresse so lange vor, bis er sie auswendig wusste, und mit einem Shilling in der Tasche sowie einer neuen Geschichte, die ihm auf der Zunge brannte, zog er los. Er hatte sechs Meilen Flussufer vor sich, reichlich Zeit, um seine Erzählung zu proben und ihr bis zu seiner Ankunft am Haus seiner Schwester den letzten Schliff zu geben.

Die anderen Schankgäste hatten es nicht eilig. Mit dem gewöhnlichen Geschichtenerzählen war es an diesem Abend vorbei – wer würde schon sein Garn spinnen, wo sie Zeugen eines echten Dramas waren? Und so füllten sie ihre Krüge und Gläser wieder auf, zündeten sich frische Pfeifen an und nahmen wieder auf ihren Hockern Platz. Joe legte sein Rasierzeug weg, kehrte auf seinen Stuhl zurück und hüstelte von Zeit zu Zeit diskret. Von seinem Stammplatz am Fenster aus behielt Jonathan den Kamin im Auge und achtete auf die Länge der Kerzen. Margot tunkte mit einem alten Paddel die Kleider des Mannes im Eimer unter und rührte sie einmal kräftig um, bevor sie den Kessel mit Würzbier wieder über das Feuer hängte. Der Duft von Muskat und Piment mischte sich mit dem von Tabak und brennendem Holz und verdrängte den Geruch der Themse.

Den Zechern löste sich die Zunge, sie fanden Worte, mit denen sie die Ereignisse der Nacht in eine Erzählung kleideten.

»Als ich ihn da so im Eingang hab stehen sehen, hab ich mich gewundert. Nein, das trifft es nicht, ich war verblüfft! Das ist es. Ich war verblüfft!«

»Also, mir hat es die Sprache verschlagen, kann ich dir sagen.«

»Genau. Ich war so verblüfft, dass es mir die Sprache verschlug. Und du?«

Sie sammelten Worte, so, wie viele der Kiesschürfer Fossilien sammelten. Die Männer spitzten immer die Ohren nach dem ausgefallenen, besonderen, einmaligen Wort.

»Ich schätze, ich war vom Donner gerührt.«

Sie schnupperten daran, verkosteten es und fanden Geschmack daran. Ihr Kollege erntete anerkennendes Nicken dafür.

Einer von ihnen war neu im Swan. Und im Geschichtenerzählen. Er hatte noch nicht ganz Fuß gefasst. »Was ist mit vom Schlag gerührt? Könnte man das sagen?«

»Warum nicht?«, ermunterten sie ihn. »Sag ruhig vom Schlag gerührt, das geht.«

Jetzt kam Beszant, der Bootsflicker, wieder herein. Auch ein Boot konnte eine Geschichte erzählen, und er war hinausgegangen, um zu sehen, was es ihm zu sagen hatte. Alle in der Stube blickten auf, um die Geschichte zu hören.

»Es ist da«, berichtete er. »Am Dollbord zertrümmert, von vorn bis hinten. Völlig zersplittert und ziemlich vollgelaufen. War schon halb untergegangen. Ich hab’s auf die Uferböschung hochgezogen und umgedreht, aber da ist nichts mehr zu machen. Das ist hin.«

»Und wie, meinst du, ist es dazu gekommen? Ist es am Kai passiert?«