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Manche Gefühle überdauern alles Juliana, genannt Jule, wird der Boden unter den Füßen weggezogen, als sie erfährt, dass ihre geliebte Tante Emmi im Sterben liegt. Emmi, die wie eine Mutter für sie war und ihr vor allem nach dem Tod ihres Bruders zur Seite stand. An Emmis Sterbebett trifft Jule auf Marc, ihre große Jugendliebe. Seit Jahren haben sie sich nicht gesehen und alte Wunden reißen wieder auf. Damals verließt Marc sie von einem auf den anderen Tag. Jule merkt schnell, dass die Gefühle immer noch da sind. Aber auch die Wut und Enttäuschung flammen wieder auf. Ist die Erinnerung an das Glück von damals stark genug, um ihre Herzen wieder füreinander zu öffnen?
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Seitenzahl: 542
Was mir dein Herz erzählt
Melanie Horngacher wurde 1982 geboren und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in St. Jakob in Haus in Tirol. Sie ist gelernte Köchin und Konditorin und arbeitet als solche in der Kreativabteilung einer Schokoladenmanufaktur. So geduldig wie das Papier ist auch die Schokolade und daher liebt sie das Handwerk mit der süßen Köstlichkeit gleichermaßen wie das Jonglieren mit Worten. Auch die Musik hat in ihrem Leben einen hohen Stellenwert. Lesen, Schreiben, Musizieren und Genießen gehören zu ihren liebsten Hobbies.
Juliana, genannt Jule, wird der Boden unter den Füßen weggezogen, als sie erfährt, dass ihr geliebte Tante Emmi im Sterben liegt. Emmi, die Jule und ihren Bruder Stefan nach dem frühen Tod der Mutter großgezogen hat. Emmi, die Jule nach dem tödlichen Bergunglück von Stefan wieder aufgefangen hat. Jule eilt an Emmis Totenbett, und trifft dort auf Marc. Stefans ehemaliger bester Freund und Jules große Jugendliebe. Seit Stefans Tod haben die beiden sich nicht mehr gesehen, als Marc sie von einem auf den anderen Tag verließ. Jule will nur weg, doch Emmi zuliebe bleibt sie, und Marc und sie nähern sich wieder an. Doch dann reißen alte Wunden auf und die Erinnerung an das Glück von damals scheint nicht stark genug zu sein, um den beiden eine Zukunft zu ermöglichen…
Melanie Horngacher
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinNovember 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95818-521-0
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Epilog
Danke
Leseprobe: Wo mein Herz schlägt
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Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Für unsere Brotfee, weil ein Danke manchmal nicht genug ist.Und für die wahren Freunde, die auch harte Zeiten mit uns aushalten.
Trauer und Wehmut durchdringen mein Herz,
von dichtem Nebel scheint es umhüllt.
Kann nicht entfliehen diesem Schmerz,
der mich mit aller Macht erfüllt.
Erst du, liebste Julisonne, kannst die Schatten durchdringen,
die Schwermut und Sehnsucht in mir bezwingen.
Verzauberst die Tränen in endlose Liebe,
ich wünschte nur, dass es immer so bliebe.
Wenn man jung ist, macht man viele Dinge, die man später bereut. Doch vielleicht hat das eher weniger mit dem Alter zu tun. Niemand ist unfehlbar, auch mit wachsender Anzahl der Lebensjahre nicht. Aber aus Fehlern lernt man, manches lässt sich wiedergutmachen, oder man geht zumindest als anderer Mensch aus diesen Erfahrungen hervor. Es gibt eine Eigenschaft aus meiner Jugend, die ich zutiefst bereue, sogar im Nachhinein für alles verantwortlich mache: meine Überheblichkeit. Sie war der Auslöser für so viel Leid in meinem Leben und – was noch viel schlimmer ist – im Leben anderer Menschen. Ich kann es nicht wiedergutmachen. Nie mehr. Aber ja, ich bin ein anderer Mensch geworden. Vielleicht demütiger. Auf jeden Fall voller Schmerz und Selbsthass.
Ich war ein Wichtigtuer, ein junger Großkotz, der der Meinung war, nichts und niemand könnte mir etwas anhaben. Bis ich diese vermaledeiten Gefühle entwickelte, die mich ins Chaos stürzten. Denn, wie heißt es so schön: Hochmut kommt vor dem Fall.
Wieder erklingt das helle Glöckchen über unserer Ladentür, als sie aufgeht und einen neuen Kunden ankündigt, aber ich habe nicht einmal Zeit, von meiner Arbeit aufzusehen. In dem kleinen Blumengeschäft, das ich seit ungefähr drei Jahren mit meiner besten Freundin Tina in einem Vorort von Innsbruck führe, tummeln sich Kunden. Kein Wunder, denn morgen ist Muttertag, und jeder möchte noch auf den letzten Drücker – es ist zehn Minuten vor Ladenschluss – eine kleine Aufmerksamkeit für die liebe Mama oder Oma ergattern. Meine Hände machen sich an einem Strauß mit hellblauen Hortensien und weißen Lisianthus zu schaffen, während ich mich angeregt mit einer etwa zwölfjährigen Kundin unterhalte.
»Jule, hast du einen Moment?«, unterbricht mich eine Stimme, und ich blicke perplex auf. Mein Vater Rainer war – glaube ich – bei der Eröffnung das letzte Mal in unserem Blumenladen.
»Paps«, begrüße ich ihn überrascht, ohne in meiner Tätigkeit innezuhalten. »Hast du eine neue Flamme, die du mit Blumen vom Hocker reißen möchtest?« Vergnügt zwinkere ich ihm zu, doch da fällt mir sein düsterer Gesichtsausdruck auf.
»Ich muss kurz mit dir reden.«
»Ist das so in Ordnung?«, will ich von dem jungen Mädchen wissen und zupfe den Strauß noch etwas zurecht. Sie nickt, obwohl mir auch ihr breites Lächeln Bestätigung genug wäre. »Vielleicht noch eine Manschette drum herum?« Wieder bejaht sie, und ich lege das Arrangement beiseite, um ein farblich harmonierendes Krepppapier zuzuschneiden.
»Falls es um die Balkonblumen geht«, wende ich mich an meinen Vater und werde vom Bimmeln der Ladenglocke unterbrochen, »… ich werde mich am Montag darum kümmern. Versprochen. Du siehst ja, was hier los ist.«
»Darum geht es nicht!« Irgendwie scheint es, als wisse Paps nicht, wohin mit seinen Händen. Erst fährt er sich über seine Glatze und verwuschelt sein noch verbliebenes graues Haar, bevor er die Hände in die Gesäßtaschen steckt, um sie Sekunden später in die Hüften zu stemmen. Dieses Schauspiel wiederholt sich mehrmals innerhalb weniger Augenblicke. »Jule, es ist verdammt wichtig! Wirklich … kannst du nicht … nur kurz?«
»Wir schließen gleich, Paps«, erkläre ich ruhig und tippe auf die Tasten der Registrierkasse, »ein bisschen wirst du dich also noch gedulden müssen.«
Seine Miene gefällt mir nicht und löst ein seltsames Unwohlsein in meiner Magengrube aus. Doch Geschäft ist Geschäft, und was immer meinem Vater so an die Nieren geht, muss warten.
Obwohl Tina und ich auf Hochtouren arbeiten, dauert es noch etwa eine halbe Stunde, bis wir alle anwesenden Kunden zufriedengestellt haben. Die Blumenvasen, in denen noch bis vor ein, zwei Stunden die Schnittblumen Kopf an Kopf standen, sind jetzt wie leer gefegt. Tina hat also mit der Blumenbestellung wieder einmal ihren absolut richtigen Riecher bewiesen. Lediglich eine Handvoll gebundener Sträuße und wenige Blumentöpfe mit Zimmerpflanzen und Kräutertöpfchen sind im vorderen Bereich des Verkaufsraumes übrig geblieben.
»Also, Paps, schieß los!«, ermuntere ich ihn, als der letzte Kunde den Laden verlassen hat und Tina und ich mit dem Aufräumen beginnen.
»Deine Tante Emmi liegt im Sterben.«
Die Blatt- und Stielabfälle fallen mir aus den mit unzähligen winzigen Schnitten übersäten Händen. Schweigen erfüllt den Raum. Tina tritt an meine Seite und sieht mich an, wartet auf eine Reaktion. Die Uhr an der Wand tickt plötzlich unendlich laut. Meine Glieder fühlen sich mit einem Mal starr und unbeweglich an.
»Das kann nicht sein«, flüstere ich irgendwann, als ich die Stille nicht mehr ertrage und die Worte sich in meinem Gehirn sammeln. »Sie war doch grade erst da …« Wann war das denn bloß? Welchen Monat haben wir denn? Es kann doch noch nicht so lange her sein? Wieso will mir das nicht einfallen?
Mein Vater räuspert sich. »Das Krankenhaus hat mich benachrichtigt.«
»Aber was hat sie denn? Hatte sie einen Unfall? Sie strotzt doch immer so vor Gesundheit!«
»Einen Hirntumor.« Er streicht sich mit der rechten Hand über den Nacken und weicht meinem Blick aus. »Wir sollen kommen, wenn wir uns noch verabschieden wollen.« Seine Stimme ist so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. Doch als seine Worte bei mir ankommen, erwacht mein kraftloser Körper plötzlich zum Leben.
»Dann sollten wir sofort losfahren. Tina, würdest du …«
»Na klar!«, beantwortet sie meine unausgesprochene Bitte. »Ich hab hier alles im Griff.«
Kurz umarme ich meine Geschäftspartnerin und Freundin. »Es tut mir so leid«, flüstert sie mitfühlend. »Bleibt, so lange es nötig ist, ich komme hier schon zurecht. Und wenn ich irgendwas tun kann, dann melde dich, ja?«
»Danke, Tina! Das ist lieb.«
»Wir treffen uns zu Hause, Paps«, rufe ich im Hinauslaufen und schenke dem Umstand, dass er sich noch immer nicht vom Fleck bewegt hat, keine Beachtung.
In der gemütlichen Mansardenwohnung, die ich gemeinsam mit meinem Vater bewohne, werfe ich wahllos ein paar Klamotten und Waschsachen in meinen kleinen Trolley. Ich versuche, jegliche Gedanken an den Tod auszublenden, doch es will mir nicht gelingen. Ein Tumor? Unmöglich. Das hätte Tante Emmi uns doch gesagt! Ende März haben wir uns das letzte Mal gesehen. Oder war es Februar? Als ich meine neue marineblaue Strickfleecejacke einpacke, fällt es mir wieder ein. Tante Emmi hat sie mir bei ihrem letzten Besuch geschenkt. Sofort beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. In den letzten Jahren haben wir uns viel zu wenig gesehen. Weil ich zu beschäftigt war, zu sehr im Hamsterrad des Alltags gefangen, zu egoistisch. Ich hätte sie öfter anrufen müssen. Einfach mehr für sie da sein.
Aber vielleicht ist alles gar nicht so schlimm, wie es scheint. Wahrscheinlich gibt es irgendeine Operation, die Tante Emmis Leben retten wird. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Verdammt, wieder dieses teuflische Wort. Ich will nicht ans Sterben denken. Ich kann sie nicht verlieren. Nicht sie auch noch.
Als ich – den Rollkoffer hinter mir herziehend – ins Wohnzimmer komme, sitzt mein Vater vornübergebeugt auf der Couch, das Gesicht in den Handflächen vergraben.
»Bist du so weit?«, frage ich leise. »Sollen wir dein Auto nehmen oder meins?«
»Ich kann nicht«, murmelt er in seine Hände, und ich glaube mich verhört zu haben.
»Was?«
»Ich werde nicht mitfahren!« Er hebt den Kopf, sieht mich aber nicht an. Kurz wischt er sich noch mal über das Gesicht und lehnt sich zurück.
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Ich kann das nicht, Juliana!«
»Ach, und du denkst, ich kann es?« Meine Stimme ist lauter geworden, mein Blick verständnislos.
»Versteh doch …«
»Nein«, unterbreche ich ihn, »das verstehe ich nicht! Findest du nicht, dass du ihr das schuldig bist? Ihr wenigstens noch einmal Danke zu sagen?«
Mein Vater schließt die Augen und atmet tief aus. Mir ist klar, dass die Situation ihn überfordert, aber mir geht es nicht anders!
»Tante Emmi hat sich nach Mamas Tod um Stefan und mich gekümmert, als wären wir ihre eigenen Kinder. Sie war Tag und Nacht für uns da.« Sie hat Dinge getan, die eigentlich du für uns hättest tun sollen, denke ich, doch ich finde es unangebracht, das auszusprechen.
»Das weiß ich, Jule. Und ich bin ihr jeden Tag dankbar dafür.«
»Dann komm.«
Er erhebt sich langsam von der Couch, zieht die Hosenbeine lang und geht ein paar Schritte auf mich zu. Sein Blick ist gequält, und auf seiner Stirn haben sich tiefe Furchen gebildet. Er legt mir seine schwielige rechte Hand auf die Schulter und drückt sie sanft. »Ich werde nicht an diesen Ort zurückkehren, der mir meine Frau und mein Kind genommen hat.«
»Du musst dich von ihr verabschieden, Paps. Sonst wirst du es bereuen!« Meine Worte sind eindringlich, flehend.
»Es tut mir leid«, sagt er leise, »aber nein.« Dann lässt er mich im Wohnzimmer stehen und geht ins Bad.
Mein Atem geht flach, und ich spüre, wie mir die Tränen über die Wangen laufen. Wie kann er das tun? Ich verstehe nicht, wie er mich im Stich lassen kann. Und Tante Emmi. Ich bin so wütend, und mein Herz pocht so stark und schmerzhaft in meiner Brust, dass ich ihm am liebsten nachlaufen und ihn durchschütteln würde. Aber dazu bleibt keine Zeit.
Mein Bruder Stefan und ich waren nur dreizehn Monate auseinander. Als unsere Mama an Brustkrebs starb, war ich zwölf und Stefan dreizehn. Wir haben sie auf ihrem Weg begleitet, ihr beigestanden und uns auf ihren Tod vorbereitet. Und dennoch … wäre da nicht Mamas Schwester Emilia gewesen, wer weiß, wie wir ihren Verlust verkraftet hätten. Unser Vater, der selbstständiger Fliesenleger war, hat sich bis zum Hals in Arbeit vergraben. Tante Emmi hat sich um uns gekümmert in allen Belangen unseres Lebens. Sie hat uns durch die Zeit der Trauer begleitet und war uns Mutter, Freundin und Vertraute. Ungefähr sechs Jahre später ist mein Bruder bei einem schrecklichen Bergunglück ums Leben gekommen. Wieder war es Emmi, die mich aufgefangen hat. Doch dann hat mein Vater beschlossen, dass er es in St. Philomena nicht mehr aushält, und hat die Firma verkauft, um nach Innsbruck zu gehen. Vermutlich dachte er damals, ich wäre nach diesem zweiten schweren Verlust nicht fähig, eine Entscheidung für mein weiteres Leben zu treffen. Also hat er für mich entschieden, und ich bin mitgegangen, um in Innsbruck die Ausbildung zur Gärtnerin und Floristin fertig zu machen, die ich in der Gärtnerei begonnen hatte, in der auch Tante Emmi arbeitete. Das ist mittlerweile zehn Jahre her.
Auf der etwa einstündigen Fahrt in meine alte Heimat werde ich überwältigt von Erinnerungen und Gefühlen, die unaufgefordert auf mich einstürzen. Was gäbe ich um die Gesellschaft meines Vaters, doch er zieht es vor, den einfachen Weg zu wählen. Ich verstehe, wie schwierig das für ihn sein muss. Aber einfach zu sagen: »Ich kann nicht!« Nein.
Wann im Leben werden wir denn schon gefragt, ob wir können oder wollen? Tante Emmi ist erst Mitte sechzig. Sie hat auch niemand gefragt, ob sie kann!
Beinahe verpasse ich die Autobahnausfahrt, doch in letzter Sekunde reiße ich das Lenkrad zur Seite. Auf der Landstraße fühle ich mich plötzlich zu erschöpft, um weiterzufahren. Im Handschuhfach finde ich eine halb volle Plastikflasche mit Wasser. Es schmeckt fad und ziemlich abgestanden, doch ich habe im Moment keinen Nerv, um an einer Tankstelle etwas zu trinken zu kaufen. In einer Anwandlung von Ärger ergreife ich mein Smartphone und rufe meinen Vater an. Zum Glück meldet sich die Mailbox, denn ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, ihm persönlich zu sagen, was mich im Moment bewegt. Obwohl meine Stimme zittert, versuche ich, so ruhig wie möglich zu sprechen: »Ich bin’s, Paps. Ich kann dich sehr gut verstehen, aber … das spielt alles keine Rolle. Tante Emmi braucht uns, ob wir wollen oder nicht. Da müssen wir jetzt durch.« Ich schlucke und überlege, was ich sonst noch sagen soll. »Ähm … es wird da sicher eine Menge zu regeln geben … und … da brauch ich dich. Und du wirst mich jetzt nicht im Stich lassen!« Der letzte Satz ist etwas energischer als beabsichtigt, aber ich mache ihn mit einem abschließenden »Hab dich lieb!« wieder gut. Als ich auflege, fühle ich mich etwas erleichtert und stark genug, den Rest des Weges zurückzulegen.
Ich stelle mir vor, wie ich wie gelähmt vor dem Krankenhaus stehe und nicht über die Schwelle gehen kann. Mit diesem Ort verbinde ich keine guten Erinnerungen. Doch als ich dann endlich vor dem Portal ankomme, erscheinen mir diese Gedanken absurd, weil die Panik, zu spät zu kommen, mich antreibt.
Ich kenne Emilia Bruckner, seit ich ein kleiner Junge war. Erst war sie nur die Tante meiner beiden besten Freunde, Stefan und Juliana. Doch nach Stefans Tod war sie weit mehr als das. Sie hat mich gelehrt, dass es immer einen Grund gibt, weiterzumachen, wie schwer ein Schicksalsschlag auch sein mag. Als ich fiel, war sie mein rettendes Sprungtuch, bevor ich auf dem Boden aufzuprallen drohte. Sie hat mich mit beiden Händen im Leben festgehalten, als ich kein Argument mehr gefunden hatte, hierzubleiben. Ich wünschte von Herzen, ich könnte dasselbe jetzt auch für sie tun. Mich von ihr zu verabschieden, ist das Schwierigste, das ich seit sehr langer Zeit tun muss.
Seit etwa zweieinhalb Monaten weiß ich von Emmis Hirntumor. Ich fand sie eines Tages völlig verwirrt und orientierungslos in ihrem Wohnzimmer, wo sie wenige Sekunden vorher zusammengeklappt war. Sie tat diesen Vorfall als Kreislaufschwäche ab und ging erst auf mein mehrmaliges, penetrantes Drängen hin zum Arzt. Dieser überwies sie ins Krankenhaus, und nach einer Magnetresonanztomografie stellte man die furchtbare Diagnose. Als ich sie damals vom Spital abholte und wissen wollte, was los war, machte Emmi nur eine wegwerfende Handbewegung.
»Alles halb so wild«, wiegelte sie ab, doch ihr eigenartig verstörter Blick strafte ihre Worte Lügen. Ich musste eine ganze Weile auf sie einreden, bis sie endlich mit der Wahrheit herausrückte, und dann auch nur mit der halben.
»Da ist so ein Ding in meinem Kopf«, antwortete sie vage und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Was für ein Ding meinst du?«, hakte ich irritiert nach.
»Ein Tumor … aber … kein Grund zur Aufregung«, beruhigte sie mich, »die Ärzte überlegen sich gerade, mit welcher Foltermethode sie mir am besten zu Leibe rücken.«
Mehr brachte ich nicht aus ihr heraus. Emmi konnte verdammt stur sein, und wenn sie es mir nicht sagen wollte, dann würde ich mir daran die Zähne ausbeißen.
Etwa zwei Wochen später kam ich bei ihr vorbei, um ihr – wie verabredet – im Garten zu helfen. Erneut saß sie desorientiert und halb weggetreten auf der Schwelle ihrer Terrassentür und wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war.
»Nur der Kreislauf«, hatte sie beteuert und wollte in den Garten gehen, als wäre nichts passiert. Dennoch brachte ich Emmi sofort ins Krankenhaus, was das einzig Richtige war, denn dort erlitt sie auf dem Weg zur Anmeldung einen epileptischen Anfall. Ich war selten so erleichtert, in einem Spital zu sein.
Erst später, auf der Station, als sie sich ein wenig von ihrem Zusammenbruch erholt hatte, setzte sie mich schließlich vom tatsächlichen Ausmaß ihrer Erkrankung in Kenntnis. Sie leidet an einem Glioblastom, einem sehr schnell wachsenden, bösartigen Tumor.
Ihre Enthüllung riss mir den Boden unter den Füßen weg.
»Wann beginnen sie mit der Behandlung?«, fragte ich geschockt.
Die Frau, die mir in den letzten Jahren so ans Herz gewachsen war und andere Menschen mit ihrer Lebensfreude ansteckte, saß blass in ihrem Krankenhausbett und starrte die hellgelbe Decke zu ihren Füßen an.
»Emmi, hörst du mir zu?«, drängte ich.
»Es gibt keine Behandlung …«
»Was meinst du damit? Es gibt doch Chemo- oder Strahlentherapie! Oder eine Operation! Ja … die können dich bestimmt operieren!«
»Die Heilungschancen sind gleich null. Auch mit allen Therapien, die sie zur Verfügung haben, Marcus.«
»Das kann ich nicht glauben«, sagte ich fassungslos.
»Es ist aber so.«
»Irgendwas muss es doch geben. Ich rede mit dem Arzt!«, schlug ich händeringend und hilflos vor.
»Das kannst du dir sparen. Der Tumor ist inoperabel, und alle anderen Therapieformen sind für mich indiskutabel.«
Mir fehlten die Worte. Und gleichzeitig schnürte sich ein Band um meine Lungen, das mir das Atmen schwer machte.
»Du sagst das so nüchtern«, warf ich ihr vor.
»Wie soll ich es sonst sagen?«, wandte Emmi ein.
»Du kannst das doch gar nicht so schnell entscheiden … von jetzt auf gleich. Rede doch erst mit Jule … oder Rainer … oder sonst irgendjemandem!« Ich war verzweifelt und verstand nicht, wie sie so resignieren konnte.
»Doch, ich kann es entscheiden. Und das muss ich auch. Denn es ist mein Leben. Und ich rede mit ›irgendjemandem‹, und dieser ›irgendjemand‹ bist du. Das genügt.«
»Emmi …«, versuchte ich einen erneuten Anlauf.
»Marc, ich weiß, was diese Behandlungen mit einem machen. Ich habe es bei meiner Schwester gesehen. Der Unterschied ist nur, dass sie eine Chance hatte. Aber sie ist trotzdem gestorben. Ich sterbe auch … so oder so. Und bis dahin will ich leben und mir nicht hier im Krankenhaus die Seele aus dem Leib kotzen.«
Ich starrte sie einen Moment entgeistert an und ließ ihre Worte sacken.
»Ich würde es sehr begrüßen, wenn du diese Entscheidung akzeptieren könntest. Denn ich werde sie nicht mehr revidieren.«
In den letzten Wochen war ich so oft für sie da, wie ich konnte. Doch Emmi war fest entschlossen, ihre letzte Zeit – und auch die Ärzte konnten nicht abschätzen, wie lange ihr noch gewährt wurde – zu Hause zu verbringen und selbst zu erledigen, was in ihrer Macht stand. Mehrere Male habe ich sie beschworen, endlich mit Juliana und Rainer zu sprechen. Doch Emmi hat es aufgeschoben. Wahrscheinlich hat sie selbst nicht damit gerechnet, wie schnell alles vorbei sein würde.
Sehr lange habe ich mit ihrer Entscheidung gehadert, doch langsam beginne ich tatsächlich, sie zu verstehen. Die helle Bettwäsche des Krankenhausbettes verschluckt fast ihren zierlichen Körper. Vor wenigen Stunden konnten wir uns noch unterhalten, im Moment dämmert sie nur vor sich hin. Die Stationsärztin hat Emmi ein starkes Schmerzmittel verabreicht, um es ihr einigermaßen erträglich zu machen. Zum wiederholten Male frage ich mich, warum mir nicht schon früher Symptome an Emmi aufgefallen sind. Sie hatte öfter Kopfschmerzen in letzter Zeit, doch dieses Leiden kennen viele Menschen. Meine Mutter leidet ständig an Migräne, ich fand nichts Außergewöhnliches daran. Jetzt mache ich mir Vorwürfe, nicht besser darauf geachtet zu haben. Doch meine Schuldgefühle begleiten mich ohnehin schon so lange, dass sie mir schon fast zur zweiten Haut geworden sind.
Als Emmi das nächste Mal erwacht, bittet sie mich, Pfarrer Benedikt, unseren jungen Dorfpfarrer, zu holen. Sie würde gerne noch einmal die heilige Kommunion empfangen. Ich weiß, was das bedeutet, und ich habe Angst, Emmi alleine zu lassen. Sie scheint es zu spüren und streckt ihre feingliedrige Hand nach mir aus. »Keine Sorge, Marc«, sagt sie leise, »ich habe noch nicht vor zu gehen!«
Es gibt so vieles, das ich Tante Emmi noch sagen will, doch als ich endlich an ihrem Bett sitze, ist alles belanglos. Ob die letzten Worte »Ich hab dich lieb« lauten, wie beim Tod meiner Mutter, oder »Vergiss nicht, das Auto vollzutanken«, wie vor dem tragischen Unfalltod meines Bruders – sie ändern nichts. Ich bin sicher, Stefan wusste auch so, dass ich ihn geliebt habe und immer noch tue. Und Emmi weiß es auch. Die surreale Hoffnung, dass sich alles als Missverständnis oder als weniger schlimm als erwartet herausstellt, hat sich leider nicht erfüllt.
Ich sitze an ihrem Bett und halte Tante Emmis schwache Hand, die einst so vor Lebensenergie und Tatendrang strotzte, während mir stille Tränen über die Wangen laufen. Ich will sie fragen, was ich nur ohne sie tun soll. Und wie lange sie schon von diesem todbringenden Tumor weiß. Und was in aller Welt sie sich dabei gedacht hat, nicht mit uns darüber zu reden. Aber jede Antwort würde sie nur noch mehr schwächen, und ich will sie noch nicht gehen lassen. Wenigstens ein kleines bisschen soll sie noch bei mir bleiben.
»Wie schön, dass du hier bist«, sagt sie unvermittelt, als hätte sie jetzt erst registriert, dass ich es bin, die an ihrem Bett sitzt.
Ich muss all meine Selbstbeherrschung aufbringen, um ein kleines Lächeln zustande zu bringen.
»Es tut mir so unendlich leid, mein Julchen«, flüstert sie sanft. Ihre Augen sind müde und fahl, haben jeglichen Glanz verloren.
»Es gibt nichts, was dir leidtun müsste, Tante Emmi. Ich bin dir so dankbar für alles, was du für mich, Stefan und Papa getan hast!«
»Ihr habt mein Leben bunt gemacht, Liebes!«
Als leise die Tür aufgeht, hebe ich den Kopf. Überrascht starre ich den Besucher an, während mein Herz einen Schlag aussetzt.
»Was macht er hier?«, platzt es aus mir heraus.
»Ich habe ihn hergebeten!«
Marc scheint es nicht viel anders zu gehen als mir. Mit weit aufgerissenen Augen schaut er mich an, unfähig, ein Wort zu sagen. Dabei musste er doch damit rechnen, mich hier anzutreffen, im Gegensatz zu mir, die vollkommen überrascht ist von seiner Anwesenheit. Auf Tante Emmis stumme Aufforderung nimmt er die Hand, die sie ihm erwartungsvoll entgegenstreckt, und tritt an ihr Bett, ohne jedoch den Blick von mir zu nehmen. Das ist zu viel. Ich erhebe mich und stürme aus dem Zimmer.
In der nächstbesten Besuchertoilette finde ich Zuflucht. Hinter der Tür des Waschraumes drücke ich mein Gesicht an die kühlen Fliesen und lasse meinen lautlosen Tränen ihren Lauf, ungeachtet dessen, dass das vielleicht nicht grade der hygienischste Ort des Krankenhauses ist. Dafür ist er im Augenblick wahrscheinlich der ruhigste. Plötzlich spüre ich, wie die Tür in meinem Rücken aufgeht, und das Bedürfnis, mich in Luft aufzulösen wird übermächtig.
»Jule«, vernehme ich ein Flüstern hinter mir.
»Das ist eine Damentoilette«, antworte ich heiser.
»Egal.« Marc berührt mich vorsichtig an der Schulter, und so in etwa stelle ich mir die Begegnung mit einem Elektroschocker vor. Vehement schüttle ich seine Hand ab. Es scheint, als würde er überlegen, ob er es noch mal versuchen soll. Erleichtert registriere ich jedoch, dass er seine Hand wieder sinken lässt.
»Deine Tante braucht dich jetzt«, sagt er leise. »Lass uns unsere Differenzen beiseiteschieben. Für den Moment. Ihr zuliebe.«
Ich höre, was er sagt. Doch seine Worte prallen an der Mauer ab, die ich seinetwegen um mein Herz gezogen habe. Undamenhaft ziehe ich die Nase hoch.
»Es gibt keine Differenzen«, antworte ich schließlich kalt und gehe an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. »Für mich existierst du gar nicht!«
Obwohl ich wusste, dass es heute passieren würde, habe ich den Gedanken an ein Wiedersehen mit Juliana weit in den hintersten Winkel meines Bewusstseins geschoben. Ich wollte mich nur auf Emmi konzentrieren und mich nicht mit Dingen befassen, die ich sowieso nicht kontrollieren kann. Doch als ich das Krankenzimmer wieder betrete und Jule dort an Emmis Bett sitzen sehe, hält sich mein Körper ganz und gar nicht an unsere Abmachung. Mein Herz klopft so heftig in meiner Brust, dass Emmi es fast in meinen Fingerspitzen spüren muss, als ich erneut ihre Hand in meine nehme. Eine Hitzewelle ergreift mich, und meine Knie sind weich. Jules schockiertem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hat sie nicht gewusst, dass auch ich hier sein werde. Als sie aus dem Zimmer flüchtet, weiß ich einen Moment nicht, wie ich reagieren soll.
»Kümmere dich um sie«, bittet mich Emmi, als würde sie meine Gedanken lesen.
»Das wird sie nicht zulassen«, gebe ich zu bedenken.
»Versuch es. Auch, wenn ich … weg bin«, fleht Emmi, »versprich mir, dass du versuchst, für sie da zu sein!«
Ganz sanft drücke ich ihre Hand und nicke, allen Gegenargumenten zum Trotz. »Ich verspreche es.«
Julianas Reaktion danach auf der Toilette zerreißt mir das Herz. Aber ich kann sie nachvollziehen. Sie eilt zu ihrer Tante, und ich versuche erneut, Pfarrer Benedikt zu erreichen, der offenbar grade einen Gottesdienst abhält, ein Kind tauft oder in irgendeinem anderen dringenden Termin feststeckt, weil er nicht an sein Handy geht. Ich kann mir eben noch verkneifen, ihm auf die Mailbox zu fluchen, weil ich verdammt noch einmal finde, dass er seinen Hintern herbewegen soll, damit Emmi ihre letzte Kommunion erhält. Ich schreibe ihm eine Kurznachricht und hoffe inständig, dass er sich beeilt – womit auch immer er grade beschäftigt ist.
Als ich das nächste Mal in Emmis Zimmer komme, liegt Jule, mit geschlossenen Augen an ihre Tante geschmiegt, halb auf dem Bett. Sie muss vor Erschöpfung kurz eingenickt sein. Emmi ist wach und streichelt Jules Hand. Sie sieht glücklich aus, dass ihre Nichte doch noch den Weg zu ihr gefunden hat. Ich setze mich auf die andere Seite des Bettes auf einen Besucherstuhl. Ich kann den Blick nicht von Jule abwenden. Alle Bemühungen, sie zu vergessen, waren umsonst. Ich weiß, dass ich nie jemanden so sehr lieben werde wie meine Juli. Und ich weiß auch, dass ich grade das niemals darf.
»Du hattest recht«, reißt Emmi mich aus meinen Gedanken. »Ich hätte gleich mit Jule und Rainer reden sollen.« Sie seufzt tief, und ich habe keine Ahnung, was ich ihr antworten soll. »Ich dachte, ich hätte mehr Zeit!«
»Ja …« Ich muss mich räuspern, um überhaupt einen Ton herauszubekommen, »du glaubst gar nicht, wie sehr ich mir wünsche, dass es so wäre.«
»Ich hoffe, sie kann mir das irgendwann verzeihen.«
»Das hat sie bestimmt längst, Emmi. Sie ist hier, und das ist alles, was zählt.«
Das Zimmer ist nur noch schemenhaft erkennbar, als die Dämmerung einsetzt. Es gibt noch etwas, das ich unbedingt loswerden muss, bevor die Stille uns endgültig einhüllt.
»Emmi, ich muss dir etwas sagen …«, beginne ich, doch ganz langsam steigen Tränen in mir auf und bilden einen dicken Kloß in meiner Kehle, der mich am Weitersprechen hindert. Ich schlucke und wage einen neuen Anlauf. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken kann, für alles, was du für mich getan hast …«
»Nein … nein … ich muss dir danken! Ohne dich wäre mein Leben in den letzten Jahren sehr einsam gewesen.« Ihre Augen wandern über mein Gesicht, als suchten sie darin etwas, das uns den Abschied leichter machen könnte. »Du bist ein guter Junge, Marc … fang endlich an, das auch selbst zu glauben. Und alles, was geschieht, liegt in Gottes Hand.«
Ganz leise, kaum hörbar klopft es an die Tür, und Pfarrer Benedikt tritt ein. Mir ist klar, dass es für mich Zeit ist, zu gehen, und doch stehe ich stocksteif da, unfähig, mich zu bewegen. Jules Erwachen ist der Impuls, den ich brauche. Ich will ihr die letzten Minuten mit ihrer Tante geben. Für mich gibt es nichts mehr zu sagen, obwohl ich mir von Herzen wünsche, es wäre anders. Pfarrer Benedikt legt mir tröstlich seine warme Hand auf die Schulter. Jule richtet sich auf und setzt sich wieder neben Emmis Bett auf den Besucherstuhl. Langsam beuge ich mich nach vorne und hauche Emmi einen sanften Kuss auf die Stirn. Er beschreibt alles, was ich nicht mehr sagen kann. Weil Worte so nichtssagend und hohl sind und in diesem Moment nur noch Gefühle zählen. Zuneigung, Dankbarkeit, unendliche Traurigkeit, weil wir sie loslassen müssen. Dann verlasse ich das Zimmer.
Als meine Tante Emilia für immer die Augen schloss, dachte ich, ich müsste in viele Hunderttausend Scherben zerbrechen. Doch heute, einen Tag später, stelle ich fest, ich bin immer noch ganz. Zumindest der Großteil von mir. Ihren letzten Atemzug hat sie friedlich in den frühen Morgenstunden des Muttertags getan, und obwohl sie nie mit eigenen Kindern gesegnet war, ist sie Stefan und mir so lieb gewesen, wie eine Mutter.
Ich weiß nicht, ob meine Nachricht auf der Mailbox meines Vaters ausschlaggebend war, doch das ist auch völlig bedeutungslos. Wichtig ist nur, dass er es gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft hat, um sich von Tante Emmi zu verabschieden. Er weigert sich immer noch, einen Fuß in unser Heimatdorf St. Philomena zu setzen. Da das Krankenhaus in einem Nachbarort liegt, verbrachten wir die vergangene Nacht in einer Frühstückspension. Die Beerdigung wird eine absolute Ausnahme für meinen Vater sein, und selbst dafür wird er sich sehr überwinden müssen. Jetzt ist es an mir, in Emmis oder besser gesagt unser Haus zurückzukehren.
Meine Eltern bauten es, als Stefan und ich Kinder waren. Weil Tante Emmi in einer kleinen Mietwohnung im Dorf wohnte, überließ Paps ihr das Haus, als wir nach Stefans Tod nach Innsbruck gingen. Ich bin seit ungefähr zehn Jahren nicht mehr hier gewesen. Tante Emmi hat uns oft in Innsbruck besucht, aber nicht umgekehrt. Umso härter trifft mich die Welle der Emotionen, als ich mit meinem – zehn Jahre unbenutzten – Schlüssel aufschließe und über die Türschwelle trete. Es riecht nach Kräutern und frischen Blumen, und ich komme nicht weiter als in die Küche, bevor meine Beine unter mir nachgeben und ich in einer Flut aus Tränen zusammensinke.
Auf der Anrichte steht ein gebrauchter Kaffeebecher, über dem Küchenstuhl hängt Emmis gefleckte Kochschürze. Der Kühlschrank ist halb voll mit Lebensmitteln. Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagener Liebesroman. Ich kauere auf dem Boden, die Knie angezogen und den Kopf daraufgelegt, und werde von Weinkrämpfen geschüttelt. Keine Ahnung, wie lange ich hier sitze, bis mich eine warme Hand an der Schulter berührt. Als ich meinen Kopf hebe, blicke ich in die mitfühlenden Augen von Pfarrer Benedikt. Er reicht mir ein Taschentuch und setzt sich mit ausgestreckten Beinen zu mir auf den nicht ganz sauberen Küchenboden. Ich schniefe und streiche mir konfus über die vom Heulen nassen Jeans. Plötzlich wird mir klar, dass mir dieses freundliche Gesicht nicht unbekannt ist, und ich riskiere einen zweiten Blick.
»Jimmy?« Ich blinzle und starre ihn irritiert an.
»Ich dachte, du könntest vielleicht ein wenig Unterstützung gebrauchen«, antwortet er verlegen und zieht einen Mundwinkel nach oben.
»Du bist Pfarrer Benedikt?« Noch immer steht meine Kinnlade offen, und ich verstehe nicht, was hier abgeht. Als ich ihm im Krankenhaus begegnet bin, war ich zu durcheinander, um auf das Aussehen des Geistlichen zu achten.
»Ich habe mich schon gefragt, wann du mich erkennen würdest!« Ein fast schüchternes Lächeln umspielt seine Lippen, während sich in meinem Kopf unschöne Szenen aus unserer Schulzeit abspielen.
»Wie kannst du ein Priester sein?«, platzt es aus mir heraus.
»Nun ja … ich hab das Priesterseminar besucht«, lautet seine pragmatische Antwort. Jimmy Benedikt war mein Klassenkamerad in der Grundschule. Er war das, was man einen richtigen Satansbraten nennen würde. Aber ich muss zugeben, dass ihm der Priesterkragen steht, wenn ich ihn auch nicht mit den Eigenschaften, die ich mit dem kleinen Jimmy verbinde, in Einklang bringe. Sein dunkles Haar ist hinten kurz geschoren und oben etwas länger, vereinzelte Strähnen fallen ihm vorwitzig in die Stirn. Seine Wangen sind glatt rasiert, und ich erkenne seine feinen, ebenmäßigen Gesichtszüge, die die Leute früher dazu verleiteten, ihn als kleinen Engel anzusehen und deshalb komplett zu unterschätzen.
Eine ganze Weile sagt niemand ein Wort. Erst fühlt es sich merkwürdig an, ihn in diesem doch sehr persönlichen Moment wiederzusehen. Doch bald steigt ein warmes Gefühl in mir auf, seltsam tröstlich.
»Ausgerechnet du … Jimmy Benedikt …« Irgendwie bin ich nicht fähig, in ganzen Sätzen zu sprechen, doch er scheint mich auch so zu verstehen.
»Ja, das … ist seltsam, ich weiß. Ausgerechnet ich, der dir früher dein Pausenbrot geklaut hat. Und übrigens heiße ich eigentlich Konrad Benedikt.«
»Konrad?«
»Welcher kleine Junge will schon gerne Konrad heißen?«, klärt er mich schulterzuckend auf. »Jimmy ist doch viel cooler. Ich hatte nur Glück, dass unsere Lehrerin das so problemlos übernommen hat.«
»Du hast sie bestimmt mit deinem Welpenblick überzeugt«, mutmaße ich und lasse mich nur allzu gerne von meinen Tränen ablenken. »Oder … du hast ihr doch keine Gewalt angetan?«
Es sollte eigentlich ein kleiner Scherz sein in dieser so unglaublich absurden Situation. Und doch huscht ein leichter Schatten über Jimmys Augen.
»Mir ist klar, dass ich sehr viel Mist gebaut habe. Und es tut mir leid, dass ich dich bestohlen habe und … überhaupt so ein Scheusal war.«
»Warum war ausgerechnet mein Schulbrot so besonders für dich?«, will ich wissen, als meine Neugierde die Oberhand gewinnt.
Er zuckt ein wenig mit den Schultern, und ich kann sehen, wie er sich die Worte zurechtlegt. »Es war nicht so sehr, was du dabeihattest. Vielmehr wusste ich, dass dein Bruder jederzeit mit dir teilen würde. Deshalb war es natürlich nicht weniger falsch, dein Essen zu klauen.«
Ich komme nicht umhin, über seine Erklärung nachzudenken. Noch nie war mir in den Sinn gekommen, dass Jimmy vielleicht einfach nur hungrig war und nicht unbedingt jemandem schaden wollte. Als Schulmädchen habe ich ihn gefürchtet und bin ihm geflissentlich aus dem Weg gegangen. Seine Beweggründe für seine Schandtaten waren mir egal.
»Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«
Irgendwann hatte der Pausenklau damals ganz plötzlich ein Ende gefunden. Ich war unglaublich dankbar dafür, doch als Jimmy die Schule wechseln musste und ich vor ihm sicher war, habe ich auch keine Gedanken mehr an ihn verschwendet. »Das habe schon getan, als du damit aufgehört hast«, antworte ich wahrheitsgetreu.
»Ich wünschte nur, ich wäre selbst draufgekommen, dass ich auf dem falschen Weg bin.«
»Bist du nicht?«
Jimmy blinzelt und schaut mich überrascht an.
»Das weißt du nicht? Ich bin so verdroschen worden, dass ich kaum mehr sitzen konnte!« Er verzieht das Gesicht und atmet hörbar aus. »Das war echt demütigend, aber irgendwie hat es mich wachgerüttelt.«
»Stefan«, kommentiere ich wissend. Mein großer Bruder hat mich stets beschützt. Ich hätte ahnen müssen, dass er es war, der Jimmys Eskapaden einen Riegel vorgeschoben hatte.
»Du weißt es wirklich nicht?«, sinniert er. »Es war nicht Stefan, es war Marc.«
»Marc«, flüstere ich bestürzt.
»Hat er denn gar nicht damit geprahlt, dich vor mir gerettet zu haben?«
Langsam schüttle ich den Kopf. »Er hat nie ein Wort darüber verloren.«
»Marc hat dich behütet wie seinen Augapfel.«
»Ach, Blödsinn«, streite ich das energisch ab.
»Es ist gut, dass es so war. Wie gesagt, es tut mir sehr leid, wie ich mich dir gegenüber verhalten habe.«
Plötzlich entsteht ein angespanntes Schweigen zwischen uns. Jeder geht seinen Gedanken nach, bis Jimmy die Stille durchbricht.
»Jule«, seine Gesichtszüge werden wieder ernst, »wenn es dir unangenehm ist, dass ich hier bin, dann kann ich auch einen Kollegen bitten …«
»Nein«, rutscht es mir heraus, ohne richtig darüber nachzudenken. Eine Weile ruhen seine sanften Augen auf mir. Er gibt mir Zeit, meine Gedanken zu ordnen.
»Bist du sicher?«, will er schließlich wissen, und ich nicke entschlossen.
»Aber … hast du nicht tausend wichtigere Dinge zu erledigen? Beichten abnehmen, Leute trauen, beten und so?«
»Das hier ist auch wichtig, Jule. Das nennt man Seelsorge!«
Ohne es zu wollen, laufen mir schon wieder Tränen über die Wangen, und ich lasse mein Gesicht hilflos auf meine angezogenen Knie fallen. Jimmy streicht mir beruhigend mit der Hand über den Rücken, und ich frage mich unweigerlich, ob die Seelsorge bei all seinen Schäfchen so aussieht. Am Boden sitzen und die Tränensturzbäche Hinterbliebener aushalten.
»Deine Tante war ein wunderbarer Mensch«, flüstert er.
»Wieso hat sie uns verschwiegen, wie krank sie war?«
»Sie wollte es euch sagen. Sie hat es wohl in der kurzen Zeit nicht mehr geschafft.« Ich bin überrascht, ausgerechnet von Jimmy Antworten zu erhalten.
»Sie hätte als Erstes mit meinem Vater und mir reden müssen, als sie die Diagnose erhalten hat!«
»Erst musste sie selbst damit klarkommen, Juliana. Dass es so schnell zu Ende gehen würde, damit konnte niemand rechnen.«
»Wie lange wusste sie denn schon davon?«
»Zwei, drei Monate.« Unwillkürlich sacke ich zusammen. Nicht länger? Also wusste sie bei unserem letzten Zusammentreffen selbst noch nichts von ihrer tödlichen Erkrankung. Wie kann es denn sein, dass ich bei unseren Telefonaten nichts gemerkt habe, frage ich mich zum wiederholten Male. Ich war zu eingespannt, zu unaufmerksam. Im Frühling herrscht in unserer Branche Hochbetrieb. Und dennoch …
»Woher weißt du das so genau?«
»Ich habe sie in der letzten Zeit begleitet.«
Ich schaue ihn von der Seite an und wische mit meinen Pulloverärmeln über meine verquollenen Augen.
»Wieso du?« Er ist der Letzte, dem ich Vorwürfe machen sollte, doch meine verworrenen Gefühle schwappen über.
»Es war Emilias Wunsch.« Seine Worte sind leise und behutsam gewählt.
»Und es war nicht ihr Wunsch, dass ich sie begleite?«
»Sie hatte Angst, es dir zu sagen. Sie … hat sich vor deiner Reaktion gefürchtet und … was diese Diagnose mit dir machen würde. Aber … bevor du voreilige Schlüsse ziehst, solltest du dir ihre Unterlagen ansehen. Emmi hat vieles aufgeschrieben. Sie hat sogar ihre Beerdigung großteils selbst organisiert, damit du und dein Vater euch nicht mehr so viel kümmern müsst. Vielleicht findest du irgendwelche Anhaltspunkte.«
Fassungslos schüttle ich den Kopf und sehne mich nach Antworten, die Tante Emmi mir nicht mehr geben kann.
»Mein Vater!«, entfährt es mir bitter. »Er macht es sich leicht. Aber ich brauche ihn jetzt hier. Ich wünsche mir einfach jemanden, der … mir hilft. Jemand, der grade jetzt an meiner Seite ist.« Ich sehe ihn eindringlich an, und erst dann wird mir klar, wie das für ihn klingen muss. »Entschuldige, Jimmy, versteh mich nicht falsch … ich bin froh, dass du hier bist, …«
»Nein, Jule, ich versteh dich schon. Ich kann dir als Priester beistehen, aber eben nur bedingt. Und nicht wie jemand, der dir nahesteht.«
Ich bin erleichtert, dass es so einfach ist, mit ihm zu reden. Obwohl ich noch immer nicht ganz begreife, was Pfarrer Konrad Benedikt mit dem Wildfang Jimmy gemacht hat.
»Dein Vater braucht vielleicht ein bisschen mehr Zeit, aber ich bin sicher, er wird dich unterstützen.«
Noch ehe ich etwas darauf erwidern kann, klingelt es an der Tür. Erneut wische ich mir über die Augen, schniefe und kämpfe mich vom Boden hoch. Ich putze meine Nase, gehe zur Haustür und lasse Jimmy in der Küche zurück.
Keine Ahnung, mit wem ich vor Emmis Tür gerechnet habe, doch sicher nicht mit Marcus. Er hat die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und ist im Begriff, wieder zu gehen, so, als würde er es sich noch einmal anders überlegen. Wäre vielleicht auch besser so.
»Hey«, grüßt er mich und tritt etwas hilflos von einem Bein aufs andere.
»Was willst du hier?«, frage ich müde.
»Also erstens wollte ich dir sagen … mein herzliches Beileid. Deine Tante … also … sie wird uns allen hier sehr fehlen.«
Ich mustere ihn unverhohlen von oben bis unten, bevor ich mir ein »Danke« entringe.
»Und zweitens?« Meine Stimme klingt kühl, aber das dürfte ihn nicht weiter wundern.
»Zweitens wollte ich dir meine Hilfe anbieten.«
»Deine Hilfe?« Meine Augenbrauen schnellen verwundert in die Höhe. Wobei sollte ausgerechnet er mir helfen können?
»Ja. Wenn ich irgendwas für dich tun kann – egal was –, dann bin ich für dich da.«
Ich nehme die Traurigkeit in seiner Stimme wahr und spüre, wie schwer es ihm fällt, jetzt hier zu sein. Ich stehe an der Türschwelle und er nur unterhalb der drei Steinstufen vor dem Haus. Doch die Distanz zwischen uns könnte nicht größer sein.
»Das wird nicht nötig sein, Marcus«, entgegne ich frostig, drehe mich um und schließe die Haustüre, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
Jimmy lehnt in der Küche an der Anrichte, als ich zurückkehre.
»Ich sollte mich mal nach Emmis Unterlagen umsehen«, schlage ich vor und hoffe, dass er noch ein bisschen Zeit für mich erübrigen kann.
»Ich dachte, du wünschst dir jemanden, der dir hilft. Wieso schickst du ihn weg?«, will Jimmy unvermittelt wissen.
»Marc ist der Allerletzte, dessen Hilfe ich annehmen würde.«
»Wieso?«
»Lange Geschichte.«
»Manchmal erfüllt ER unsere Wünsche sofort«, wendet er ein, während sein Blick sich nach oben richtet.
Tante Emilias Beisetzung verlangt mir viel ab. Jimmy hatte recht, sie hat den Großteil selbst organisiert. Liebevoll und strukturiert hat sie ihr Leben gelebt, und genau so hat sie auch ihren letzten Weg geplant. Umso mehr schmerzt es, dass ein Gespräch mit mir und meinem Vater in diesem Plan offenbar keinen Platz fand.
Ich frage mich, wie oft es noch passieren muss. Wie oft muss ich noch bei einer Beerdigung so nahe am Sarg stehen und Kondolenzwünsche entgegennehmen? Muss es nicht irgendwann leichter werden? Wird man nicht irgendwann abgehärtet? Nein. Ich spüre nichts davon. Tante Emmi hatte unglaublich viele Bekannte in unserem Dorf und über die Grenzen hinaus. Sie war ein herzlicher, gütiger und sehr gradliniger Mensch. In der Größe der Trauergemeinde spürt man, wie beliebt sie war und wie sehr sie fehlen wird. Jede Beileidsbezeugung, jeder Händedruck und jeder mitfühlende Blick sind tröstlich und schmerzhaft zugleich. Mein Vater steht zu meiner Rechten, und dafür bin ich unglaublich dankbar. Auch, wenn er sich in die Vorbereitungen nur wenig eingebracht hat, ist er wenigstens jetzt an meiner Seite. Ich spüre, wie sehr er sich überwinden muss, den vielen Leuten gegenüberzutreten, die er einst so gut gekannt hat. Sie wecken Erinnerungen in ihm, die er tief in sein Inneres verbannt hat. Doch so sind Trauerfeiern nun mal. Mir geht es ähnlich. Viele Begegnungen tun mir gut, darunter die mit Raffaela, meiner besten Jugendfreundin, und ihrem Mann Mathias, den alle nur Matze nennen. Als ich Marc unter den Sargträgern ausmache, bin ich irritiert.
Was ist es nur, das ihn mit meiner Tante verbunden hat? Als mein Vater in letzter Sekunde im Krankenhaus erschien, um sich von Tante Emmi zu verabschieden, saß Marcus noch immer im Korridor auf den Besucherstühlen. Der Mann gibt mir Rätsel auf, doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken.
Das dämliche Feuerwehrfest in unserem Ort, das jedes Jahr am selben Wochenende stattfindet und das ich normalerweise liebe, weil es das Highlight in unserem Veranstaltungskalender darstellt, bedeutet für mich heute eine immense Herausforderung. Meine Freundin Raffaela, die ein Praktikum in einem Hotel, etwa eine Stunde von hier entfernt, absolviert, kommt extra deswegen ein paar Tage nach Hause. Ich habe sie schon seit exakt fünf Wochen nicht mehr gesehen, weil sie am Wochenende immer arbeiten muss, und vermisse sie schrecklich. Und das ist leider auch der Grund, warum ich mich dieses Mal nicht aus der Affäre ziehen kann, obwohl ich es ausnahmsweise möchte.
Mein Bruder Stefan, unser bester Freund Marcus und ich hängen ständig zusammen rum. Hin und wieder auch Ela – so nennen wir Raffaela von klein auf –, aber nicht so oft wie wir drei. Ich habe keine Ahnung, wann es mir zum ersten Mal aufgefallen ist. Fakt ist, dass ich Marc seit einer Weile anders wahrnehme als früher. Ich meine, klar, ich bin achtzehn, und Marcus ist ein gutes Jahr älter. Da ist es bestimmt normal, dass man Jungs plötzlich anders sieht. Aber, hey, er ist mein bester Freund. Ich kann mich doch verdammt noch mal nicht in meinen besten Freund verlieben! Und ausgerechnet Marc ist der Womanizer bei uns im Dorf, der alle Frauenherzen höherschlagen lässt. Weil es mir aber erstens an der nötigen Gelenkigkeit fehlt, um mir selbst in den Hintern zu treten, und ich es zweitens kaum mehr im selben Raum mit ihm aushalte, musste ich wohl oder übel anders für Distanz sorgen. Ich habe also vor den Jungs behauptet, Ela an den letzten Wochenenden an ihrem Praktikumsplatz besucht zu haben, um mit ihr nach Feierabend um die Häuser zu ziehen. Als Stefan mich daraufhin ausquetschen wollte, ob ich dort jemanden kennengelernt hätte, habe ich … es einfach nicht dementiert. Er hat mir die passende Notlüge sozusagen auf dem Silbertablett serviert.
In Wahrheit – und somit weit weniger spektakulär – war ich an den letzten Samstagabenden zu Hause und hab mich unter meiner Decke verkrochen. Ich habe mich so geschickt angestellt, dass es nicht einmal meinem Vater aufgefallen ist.
Doch heute finde ich wirklich keine einzige glaubwürdige Ausrede, um daheimzubleiben. Ela ist hier, und sie liebt dieses Fest genauso wie ich – zumindest vor meiner bescheuerten Schwärmerei für einen Weiberhelden, wie er im Buche steht.
Sommerfeste übten auf mich schon immer eine eigene Faszination aus. Die Vereine, die das jeweilige Fest ausrichten, helfen alle ehrenamtlich mit und tragen so zum Gelingen bei. Auf der Bühne des Hauptzeltes sorgt eine fünfköpfige Band mit ländlicher Musik für gute Laune. Auf der Tanzfläche drängeln sich die Tanzpaare, und die Biertische sind beinahe alle besetzt. Nebenan befindet sich ein kleineres Zelt, das als Bar fungiert. Dort legt ein DJ für das jüngere und jung gebliebene Publikum einen modernen Sound auf. Heute ist es zum Bersten voll, und der laute Bass, der aus den Boxen dröhnt und den Boden unter unseren Füßen vibrieren lässt, trägt erheblich zu meiner Stimmung bei. Wir holen uns Bacardi-Cola von der Bar und bewegen uns im Rhythmus. Zumindest wir Mädels. Ich nehme einen langen Zug von meinem Drink und schließe die Augen, lasse mich vom Beat davontragen. Es ist eng hier drin und heiß, und über das Zeltdach tanzen bunte Lichtblitze. Als ich die Augen wieder öffne, merke ich, wie Marc mich unverhohlen anstarrt. Doch ganz plötzlich wendet er sich ab, als wäre es ihm peinlich, ertappt zu werden. Mit einer fuchtelnden Handbewegung bedeutet Stefan uns, dass es ihm hier zu laut ist und wir mit rauskommen sollen. Grade will ich verneinen, aber Ela zieht mich schon am Arm hinter den anderen her. Stefans scheiß Alphamännchengehabe!
»Wieso bist du so genervt?«, will mein Bruder prompt von mir wissen, als wir an einem der Biertische Platz nehmen.
»Bin ich nicht!«
»Sie wird schon an ihren Lover denken«, feixt Marc, und für diesen Spruch würde ich ihm am liebsten eine reinhauen.
»Lover? Was? Wo? Wer?« Klar, dass Ela sofort darauf anspringt.
»Ja, Ela, ich schätze, du bist die einzig Glückliche, die das Privileg besitzt, den Typen zu kennen! Jule … jetzt sag doch mal … wie heißt er denn, der Gute? Wieso ist er nicht hier?«, stichelt Marc. »Dann müsstest du nicht vor Sehnsucht vergehen.«
»Halt die Klappe, Marc«, kontere ich wenig geistreich und fange alarmiert Elas wütenden Blick auf. Jetzt bin ich es, die sie am Arm vom Tisch wegzieht.
Ihre Miene verrät das Donnerwetter, das sich über mir zusammenbraut.
»Ich dachte, ich bin deine Freundin! Und du erzählst mir nicht einmal, dass du einen Lover hast?« Ihre Stimme überschlägt sich beinahe, doch zum Glück stehen wir etwas abseits vom Zeltplatz. »Und was meint Marc mit … Privileg, ihn zu kennen?«
»Das ist ein ganz, ganz großes Missverständnis«, versuche ich sie zu beschwichtigen.
»Ein Missverständnis, ja?«
»Und wenn du jetzt mal still bist, erkläre ich es dir. Das muss ja nicht das ganze Dorf mitkriegen.«
»Ich höre!« Ela stemmt die Arme in die Hüften, was sie mit ihrer untersetzten Statur ein wenig angsteinflößend aussehen lässt. Aber nur einen Hauch, denn dafür kenne ich sie einfach viel zu gut.
»Ich hatte in den letzten Wochen keinen Bock, mit den Jungs auszugehen, und da habe ich einfach behauptet, ich würde dich an deinem Praktikumsplatz besuchen. Kapiert?«
»Ja klar. Und die haben das nicht gepeilt. Mhmmm!« Ihre Stimme trieft vor Sarkasmus.
Ich verdrehe leicht die Augen, weil ich im Grunde keine große Lust auf Rechtfertigungen habe. Aber bevor Ela sich in ihrer Freundinnenehre gekränkt fühlt, muss ich da wohl durch.
»Du kennst ja die beiden … besonders Stefan. Die geben nicht so leicht auf, wenn sie was wollen. Erst habe ich versucht, ihm zu erklären, dass Mädchen da eben anders gestrickt sind und auch mal alleine sein wollen.«
»Hat er nicht geschnallt«, fängt Ela zu raten an.
»Genau«, zucke ich zustimmend mit den Schultern. »Also habe ich mich jeden Samstag rausgeputzt und bin mit meiner Sporttasche zum Bahnhof gelatscht. Als die Jungs weg waren, bin ich nach Hause und hatte endlich meine Ruhe.«
»Kapier ich nicht.«
»Wieso?«
»Und als Stefan heimkam, lagst du im Bett, oder was?«
»Ja … in einer Stunde bin ich theoretisch mit dem Zug in Kufstein. Da mit dir ausgehen und wieder zurück … was ist da nicht zu kapieren? Die kommen ja eh immer erst im Morgengrauen heim!«
Raffaela atmet mit einem lauten Pffff aus und beschießt mich mit missbilligenden Blicken. »Und dann hast du auch noch den Lover erfunden?«
»Nein … Stefan hat mal Mutmaßungen angestellt.«
»Und du hast …«
»Ich hab’s halt einfach nicht abgestritten«, verteidige ich mich, »er hat’s mir ja quasi in den Mund gelegt.«
»Seit wann lügst du deinen Bruder an?«, appelliert Ela dann doch an mein Gewissen.
Weil sie recht hat, verspreche ich ihr, mit Stefan zu reden, und bin erst einmal froh, mit ihr alles geklärt zu haben. Selbst Ela habe ich den wahren Grund verschwiegen, warum ich die Jungs auf Abstand halte. Aber ihr ist es zuzutrauen, dass sie alles an die große Glocke hängt, bloß weil sie denkt, mir damit einen Gefallen zu tun. Mein kleines Helferlein mit seinem großen Herzen.
Wir umarmen uns kurz, bevor Ela ins Zelt zurückgeht und ich aufs Klo.
Unweit der Sanitäranlagen mache ich Marcs Stimme aus. Von Weitem sehe ich ihn an einem Lattenzaun lehnen. Ein Mädchen mit schulterlangen wasserstoffblonden Locken ist bei ihm, was mir sofort einen heftigen Stich in der Brust versetzt. Ja, genau das ist der Grund, warum ich lieber nicht mehr mit ihm unterwegs sein will. Meine verdammte masochistische Ader bringt mich dazu, im Schutz der Bäume näher an die beiden heranzuschleichen. Ich sollte gehen, verflixt, doch meine Beine gehorchen mir nicht. Der laue Wind trägt Wortfetzen in meine Richtung.
»Es tut mir leid, Vera«, höre ich Marc sagen. Ach, herrje … Vera Wolf. Sie rennt ihm schon hinterher, seit sie überhaupt laufen kann. Okay, das ist vielleicht übertrieben, aber ich habe schon oft erlebt, dass sie sich regelrecht bei ihm angebiedert hat. Hinter mir erscheinen zwei Männer und pinkeln in die Büsche, während sie sich lautstark unterhalten und sich über irgendjemanden lustig machen. Sie haben mich offenbar nicht bemerkt, deshalb kann ich auch nicht gemeint sein. Leider übertönen sie das Gespräch, das mich weit mehr interessieren würde als dieses alberne Geplänkel zweier Saufbrüder.
Wenn ich es auf die Entfernung richtig deute, zieht Vera einen Schmollmund und stöckelt von dannen. Marc schlägt frustriert mit der flachen Hand auf den Zaunpfosten ein und lässt dann noch einen gezielten Fußtritt folgen, sodass die Zaunlatte mit einem Knacksen auseinanderbricht. Wie ist der denn heute drauf? Dass sie geht, erfüllt mich mit immenser Genugtuung, auch wenn ich nicht weiß, was zwischen den beiden vorgefallen ist.
Das Zelt, in dem wir uns befinden, fasst ungefähr tausend Mann. Was den Vorteil hat, dass man sich wirklich – wenn man es drauf anlegt – aus dem Weg gehen kann. Leider nicht mehr um halb vier Uhr morgens. Die Musik wurde längst abgedreht, und die Bierbänke werden nach und nach abgebaut. Nur noch wir jungen Leute und die ganz Harten tummeln sich in den Gängen bei Bier und Schnaps. Ich habe so viele bekannte Gesichter aus unserem Dorf und den Nachbargemeinden getroffen. Und es hat echt Spaß gemacht, mich mit dem ein oder anderen zu unterhalten. Aber Marcs blödes Verhalten vorhin konnte selbst mein – für meine Verhältnisse – übermäßiger Alkoholkonsum nicht überdecken. Ich versuche einen Freund meines Bruders abzuschütteln, der mich auf ein weiteres Bier einladen will. Doch ich lehne dankend ab und stehle mich mit der Ausrede, auf die Toilette zu müssen, davon. Ela habe ich schon seit Stunden nicht mehr gesehen, doch ehe ich mir darüber Gedanken machen kann, bemerke ich eine Nachricht von ihr auf meinem Handy.
Konnte mit meiner Nachbarin heimfahren. Hab dich leider nicht mehr finden können. Bis bald!
Ich schicke ihr ein Herzchen-Emoji und stecke mein Handy wieder ein.
Stefan lehnt mit Fußballkollegen an der immer noch geöffneten Pilsbar und hält sich den Bauch vor Lachen. Da er noch keine Anstalten macht, das Feld zu räumen, verabschiede ich mich von ihm und mache mich ebenfalls auf den Heimweg.
Vielleicht ist es leichtsinnig, alleine zu gehen, doch nach dieser turbulenten Nacht genieße ich die Stille. Vom Dorf bis zu uns nach Hause ist es etwa eine halbe Stunde Fußmarsch. Grade richtig, um mir den Alkoholdunst aus dem Hirn zu vertreiben. Ich folge dem Radweg vorbei an Kirche, Schule und Kindergarten, bis ich zu dem kleinen Teich gelange, der etwa die Hälfte der Strecke markiert. Die Morgendämmerung hat inzwischen eingesetzt, und die Vögel rufen schon vereinzelt den neuen Tag aus.
Im diffusen Licht des Tagesanbruchs sehe ich eine Gestalt am Ufer des Weihers sitzen. Sie ist tief in sich zusammengesunken und hält eine halb volle Flasche in der Hand. Ich nähere mich nur langsam, bevor ich den Mann leise anspreche: »Marc! Was machst du denn hier?«
Er hebt leicht seinen Kopf und sieht mich aus glasigen Augen an. »Wonach sieht’s denn aus?«, blafft er mich an. Seine Stimme ist ein wenig kratzig, aber seine Sprache ist deutlich, deshalb gehe ich davon aus, dass auch er nicht mehr ganz so dicht ist wie vor wenigen Stunden.
»Lass uns nach Hause gehen!«
»Ja, Jule. Geh nach Hause, und lass mich in Ruhe.«
Ich atme tief durch. Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe, denn so wie heute hat er noch nie mit mir geredet.
»Kannst du mir mal sagen, was los ist?«, starte ich einen neuen Anlauf.
»Nichts. Ich will dich nur nicht sehen.«
»Nicht nur besoffen, auch noch charmant …«, murmle ich ironisch und lasse mich auf dem Boden zu seiner Rechten nieder.
»Hast du mich nicht verstanden?«, motzt er, als ich keine Anstalten mache, ihn allein zu lassen.
»Ja, doch. Leider.«
»Dann verschwinde!« Er nimmt einen großen Schluck aus der Schnapsflasche, gibt einen seltsamen Kehllaut von sich und verschließt sie, ohne mir einen Schluck anzubieten. Ist wahrscheinlich auch besser so.
»Ich will nicht schuld sein, wenn sie morgen eine Alkoholleiche aus dem Tümpel ziehen«, entgegne ich scharf. »Und solange du deinen Arsch nicht von hier wegbewegst, werde ich das auch nicht tun.«
Ein bitteres Lachen entfährt ihm. Ist irgendwas mit Vera vorgefallen? Hat er einen Korb bekommen? Oder was geht sonst in seinem hübschen Oberstübchen ab? Ich verstehe die Welt nicht mehr.
»Jaaa … Julchen, die immer alles richtig macht.« Er klingt verächtlich, und ich grüble, was ich getan oder gesagt haben könnte, das ihn so verdammt wütend gemacht hat. »Du bist echt zu gut für diese Welt.« Diesmal hört es sich eher gequält an.
»Irgendwas scheine ich ja doch verbockt zu haben, weil du so sauer auf mich bist.«
Er scheint zu überlegen, ob er mit der Sprache rausrücken soll, öffnet den Mund, nur, um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Seine Nähe ruft zwiespältige Gefühle in mir hervor. Sein Verhalten ist zum Kotzen, und doch bin ich nah dran, mich zu entschuldigen, bloß damit wir wieder gut miteinander sind. Obwohl ich mir keiner Schuld bewusst bin und obwohl eigentlich er derjenige ist, der die ganze Zeit rumstänkert.
»Du bist mit dem falschen Typen zusammen«, sagt er schließlich leise, als ich schon gar nicht mehr mit einer Antwort rechne. Überrascht sehe ich ihn von der Seite an.
»Du kennst ihn gar nicht!«, gehe ich sofort in die Defensive, obwohl es doch eigentlich gar nichts zu verteidigen gibt.
»Das muss ich auch nicht.« Er hört sich furchtbar müde an und fährt sich mit der freien Hand über das Gesicht. »Für dich wäre jeder der Falsche.«
Was hat er da grade gesagt?
Seine Worte wühlen mich auf. Aber hey, er ist betrunken. Und ich bin selber nicht ganz nüchtern. Also, was soll das Ganze?
»Hör auf, Bullshit zu labern, und lass uns endlich heimgehen«, lenke ich ab, springe auf und halte ihm die Hand hin. Er ergreift sie und lässt sich von mir hochziehen, doch dann lässt er nicht mehr los.
»Das ist kein Bullshit, Juli.« Er fängt meinen Blick ein, und plötzlich werden seine Züge ganz weich. »Ich wäre so gerne für dich der Richtige.«
»Was soll das werden, Marc?« Hektisch entziehe ich ihm meine Hand, doch seine Berührung hat meine Haut bereits völlig in Brand gesetzt.
»Ich weiß, dass ich dir das eigentlich nicht sagen darf …«
Völlig panisch und durcheinander schüttle ich den Kopf. Jule, sage ich mir erneut, das ist nur der Alkohol.
»In deiner Nähe scheint für mich immer die Sonne. Julisonne! Du bist das ganze Jahr meine Julisonne!«
Ich warte darauf, dass er blöd zu grinsen anfängt, doch sein Blick ist so zärtlich, dass ich mich selber irgendwie aus dieser Situation retten muss.
»Du bist so ein Arsch!« Ich mache mich auf seinen Lachanfall gefasst, aber nichts dergleichen geschieht. Bevor ich gehen kann, hält er mich am Arm zurück, sanft und warm.
»Ich weiß«, gibt er zu. »Und ich weiß auch, dass ich nicht gut genug bin für dich.«
»Hast du dir von Vera eine Abfuhr geholt?«
»Ich hab ihr einen Korb gegeben, und wenn du schon lauschen musst, dann wenigstens bis zum Ende«, tadelt er mich gutmütig.
»Ich glaub dir kein Wort.«
»Ich weiß, ich laber oft Müll, aber zu dir, Juli, bin ich immer ehrlich gewesen. Außer … was meine Gefühle betrifft.«
»Und wieso bitte solltest du Vera abblitzen lassen?«
»Weil ich in dich verliebt bin!«