Weltenreisender - Ilija Trojanow - E-Book

Weltenreisender E-Book

Ilija Trojanow

0,0

Beschreibung

Ilija Trojanow ist ein Weltreisender von Geburt: 1965 in Sofia geboren, flüchtete er mit seiner bulgarischen Familie 1971 über Jugoslawien und Italien in die Bundesrepublik Deutschland. 1972 zog die Familie weiter nach Kenia. Unterbrochen durch einen Deutschlandaufenthalt, lebte Ilija Trojanow bis 1984 in Nairobi, wo er die Deutsche Schule besuchte, verbrachte einige Jahre in München, übersiedelte zunächst nach Indien, dann Kapstadt und lebt seit 2007 in Wien. So ist das Reisen seine eigentliche Lebensform geworden und hat auch sein Schreiben bestimmt. Seine wichtigsten Texte zu seiner Erfahrung mit anderen Ländern und Völkern sind hier zusammengestellt: die kritischen Aufsätze in "Der entfesselte Globus" und besonders die beiden großen Romane "Der Weltensammler" und "EisTau". Ein Text des Autors zu der Frage, wie man einen Roman über eine Umweltkatastrophe schreibt, ergänzt die Sammlung. Ilija Trojanow ist mit seinen Büchern selbst zum Inbegriff des Weltensammlers geworden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 1152

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hanser eBook

Ilija Trojanow

Weltenreisender

Der Weltensammler/

Der entfesselte Globus/

EisTau/

Wie schreibt man einen Klimaroman?

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-23905-0

© Sonderausgabe 2011

Alle Rechte vorbehalten

Der Weltensammler © Carl Hanser Verlag 2006

Der entfesselte Globus © Carl Hanser Verlag 2008

EisTau © Carl Hanser Verlag 2011

Wie schreibt man einen Klimaroman? © Ilija Trojanow

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Ilija Trojanow

DER WELTENSAMMLER

Roman

Carl Hanser Verlag

Fremdsprachige Begriffe werden in einem Glossar am Ende des Buches erklärt

ISBN 978-3-446-23356-0

© 2006/2011 Carl Hanser Verlag München

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Filmsatz Schröter, München

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Inhalt

11Letzte Verwandlung

17Britisch-Indien

19Die Geschichten des Schreibers des Herrn

209Arabien

211Der Pilger, die Satrapen und das Siegel des Verhörs

319Ostafrika

321In der Erinnerung verschwimmt die Schrift

457Offenbarung

469Glossar

475Danksagung

for

Nuruddin

&

Ranjit

who truly cared

Dieser Roman ist inspiriert vom Leben und Werk des Richard Francis Burton (1821-1890). Die Handlung folgt der Biographie seiner jungen Jahre manchmal bis ins Detail, manchmal entfernt sie sich weit von dem Überlieferten. Obwohl einige Äußerungen und Formulierungen von Burton in den Text eingeflochten wurden, sind die Romanfiguren sowie die Handlung überwiegend ein Produkt der Phantasie des Autors und erheben keinen Anspruch, an den biographischen Realitäten gemessen zu werden. Jeder Mensch ist ein Geheimnis; dies gilt um so mehr für einen Menschen, dem man nie begegnet ist. Dieser Roman ist eine persönliche Annäherung an ein Geheimnis, ohne es lüften zu wollen.

Do what thy manhood bids thee to,

From none but self expect applause:

He noblest lives and noblest dies

Who makes and keeps his self-made laws.

(Richard Francis Burton, Kasidah VIII, 9)

LETZTE VERWANDLUNG

Er starb früh am Morgen, noch bevor man einen schwarzen von einem weißen Faden hätte unterscheiden können. Die Gebete des Priesters verebbten; er benetzte sich die Lippen und schluckte seine Spucke hinunter. Der Arzt an seiner Seite hatte sich nicht bewegt, seitdem der Pulsschlag unter seinen Fingerspitzen vergangen war. Sturheit allein hatte seinen Patienten zuletzt am Leben erhalten; am Ende war sein Wille einem Gerinnsel erlegen. Auf dem gekreuzten Arm des Toten lag eine fleckige Hand. Sie wich zurück, um ein Kruzifix auf die nackte Brust zu legen. Viel zu groß, dachte der Arzt, ausgesprochen katholisch, so barock wie der vernarbte Oberkörper des Verstorbenen. Die Witwe stand dem Arzt gegenüber, auf der anderen Seite des Bettes. Er traute sich nicht, ihr in die Augen zu blicken. Sie wandte sich ab, ruhig bewegte sie sich zum Schreibtisch, setzte sich hin und begann etwas zu schreiben. Der Arzt sah, wie der Priester das Ölfläschchen einsteckte, und er verstand dies als Fanal, die Spritzen und die elektrische Batterie wegzupacken. Es war eine lange Nacht gewesen; er würde sich eine neue Anstellung suchen müssen. Das war sehr bedauerlich, denn er hatte diesen Patienten gemocht, und er hatte es genossen, in seiner Villa leben zu dürfen, hoch über der Stadt, mit Blick auf die Bucht und weit hinaus aufs Mittelmeer. Er fühlte, wie er errötete und wurde darüber noch röter. Er wandte sich von dem Toten ab. Der Priester, um einige Jahre jünger als der Arzt, blickte verstohlen im Zimmer umher. Eine Karte des afrikanischen Kontinents auf der einen Wand, zu beiden Seiten von Bücherregalen eingeengt. Das offene Fenster, es beunruhigte ihn, so wie ihn in diesem Moment alles beunruhigte. Die huschenden Geräusche erinnerten ihn an andere schlaflose Nächte. Die Zeichnung zu seiner Linken, eine Armeslänge entfernt, schön und unverständlich, hatte ihn vom ersten Anblick an verunsichert. Sie erinnerte ihn daran, daß dieser Engländer sich in gottlosen Gegenden herumgetrieben hatte, die nur von Ahnungslosen und Übermütigen aufgesucht wurden. Sein Starrsinn war berüchtigt. Viel mehr wußte der Priester nicht über ihn. Der Bischof hatte sich wieder einmal aus einer unangenehmen Aufgabe herausgewunden. Es war nicht das erste Mal gewesen, daß der Priester die Salbung eines Unbekannten hatte vornehmen müssen. Vertraue deinem gesunden Menschenverstand, das war alles, was der Bischof ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Seltsamer Rat. Er hatte keine Zeit gehabt, sich zurechtzufinden. Er war von der Ehefrau überrumpelt worden. Sie hatte ihn gedrängt, sie hatte das Sakrament für den Sterbenden eingefordert, als sei der Priester es ihr schuldig. Er hatte sich ihrem Willen gebeugt und bereute es bereits. Sie stand an der offenen Tür, übergab dem Arzt einen Umschlag und redete auf ihn ein. Sollte er etwas sagen? Der Priester nahm ihren leisen, aber festen Dank entgegen – was sollte er sagen? – und mit dem Dank die unausgesprochene Aufforderung zu gehen. Er roch ihren Schweiß und schwieg. Im Vestibül reichte sie ihm den Mantel, die Hand. Er wandte sich ab, blieb stehen, er konnte nicht so belastet in die Nacht hinausgehen. Er drehte sich mit einem Ruck zu ihr um.

– Signora …

– Sie verzeihen, wenn ich Sie nicht zur Tür begleite?

– Es war falsch. Es war ein Fehler.

– Nein!

– Ich muß es melden, dem Bischof.

– Es war sein letzter Wille. Sie mußten ihn achten. Entschuldigen Sie mich, Vater. Ich habe viel zu tun. Ihre Sorgen sind unbegründet. Der Bischof weiß Bescheid.

– Sie mögen sich sicher sein, Signora, aber mir fehlt Ihre Sicherheit.

– Bitte beten Sie für das Heil seiner Seele, das wird für uns alle das beste sein. Auf Wiedersehen, Vater.

Zwei Tage verbrachte sie an seinem Totenbett, in Gebeten und Zwiegesprächen, gelegentlich gestört von jenen, die ihm die letzte Ehre zu erweisen wünschten. Am dritten Tag weckte sie die Hausgehilfin früher als gewöhnlich. Die Hausgehilfin warf sich einen Schal über das Schlafgewand. Sie tappte durch die wollene Nacht zum Schuppen, in dem der Gärtner schlief. Er erwiderte ihr Rufen erst, als sie mit einer Schaufel gegen seine Tür hieb. Anna, rief er, ist wieder etwas Schlimmes passiert? Die Herrin braucht dich, antwortete sie, und fügte hinzu: Sofort.

– Hast du schon Brennholz gesammelt, Massimo?

– Ja, Signora, letzte Woche, als es kalt wurde, wir haben genug …

– Ich möchte, daß du ein Feuer machst.

– Ja, Signora.

– Im Garten, nicht zu nahe am Haus, aber auch nicht zu weit unten.

Er errichtete einen kleinen Scheiterhaufen, wie im Dorf zur Sonnenwende. Die Anstrengung erwärmte ihn ein wenig. Seiner Füße wegen, die Zehen naß vom Tau, freute er sich auf das Feuer. Anna kam hinaus, mit einem Becher in der Hand, ihre Haare verquer wie die Zweige des Reisigs. Er roch den Kaffee, als er ihr den Becher abnahm.

– Wird es brennen?

– Solange es nicht regnet.

Er beugte sich über den Becher, als versuche er in der Flüssigkeit etwas zu erkennen. Er schlürfte.

– Soll ich es anzünden?

– Nein. Wer weiß, was sie will. Warte lieber.

Die Bucht lichtete sich, ein Dreimaster holte die Segel ein. Triest erwachte zu Einspännern und Lastträgern. Die Herrin schritt über den Rasen, in einem ihrer schweren, weiten Kleider.

– Zünde es an.

Er gehorchte. Brenne brenne Sonnenbraut, leuchte leuchte Mondgemahl, flüsterte er den ersten Flammen zu. Das Lied seines Vaters zur Sonnenwende. Die Herrin trat an ihn heran; es fiel ihm schwer, nicht zurückzuweichen. Sie hielt ihm ein Buch entgegen.

– Wirf es hinein!

Fast hätte sie ihn berührt. Etwas Hilfloses verbarg sich in ihrem Befehl. Sie selbst würde das Buch nicht in das Feuer werfen. Er befingerte den Deckel, die Flecken, die Naht, wich ein wenig von den Flammen zurück, strich über das Leder, auf der Suche nach einer Erinnerung, bis ihm einfiel, wonach es sich anfühlte – nach der Narbe auf dem Rücken seines Erstgeborenen.

– Nein.

Das Feuer hetzte in alle Richtungen.

– Nehmen Sie jemand anderen. Ich kann es nicht.

– Du wirst es tun. Sofort.

Das Feuer hatte sich aufgerichtet. Er wußte nicht, was er ihr entgegnen sollte. Annas Stimme züngelte in sein Ohr.

– Das geht uns nichts an. Wenn sie jetzt weggeht … das Empfehlungsschreiben, die Abschiedsgeschenke. Was liegt dir an diesem Buch? Gib’s mir, was ist schon daran.

Er sah es nicht fliegen, er hörte nur ein Krachen, Glut, Flammen, die zusammenzuckten, und als er das Buch im Feuer sah, krümmte sich der Einband wie ein verwachsener Zehennagel. Die Hausgehilfin hockte sich hin, auf ihrem nackten Knie ein rußiges Muttermal. Das Kamelleder brennt, eine Grimasse knackt, Seitenzahlen brennen, Pavianlaute glühen, Marathi, Gujarati, Sindhi verdampfen, hinterlassen krakelige Buchstaben, die als Funken aufflattern, bevor sie als Kohlenstaub hinabsinken. Er, Massimo Gotti, ein Gärtner aus dem Karst nahe Triest, erkennt im Feuer den verstorbenen Signore Burton, in jungen Jahren, in altmodischer Kluft. Massimo streckt seinen Arm aus, versengt sich die Haare auf seinem Handrücken, die Seiten brennen, die Zettel, die Fäden, die Lesezeichen und das Haar, ihr seidenes schwarzes Haar, langes schwarzes Haar, das vom vorderen Ende eines Schragens herabhängt, im Klagewind treibt. Nur eine Flammenwand entfernt liegt eine Tote, ihre Haut löst sich ab, ihr Schädel platzt, sie beginnt zu schrumpfen, bis von ihr übrig ist, was weniger wiegt als ihre schönen langen schwarzen Haare. Der junge Offizier weiß nicht, wie sie heißt, wer sie ist. Er kann den Geruch nicht mehr ertragen.

Richard Francis Burton schreitet eilig davon. Stell Dir vor, formuliert er in Gedanken seinen ersten Brief über das Neuland, nach vier Monaten auf hoher See kommst Du endlich an, und am Strand, die Scheite auf dem Sand gehäuft, verbrennen sie ihre Leichen. Mitten in diesem stinkigen dreckigen Loch namens Bombay.

BRITISCH-INDIEN

Die Geschichten des Schreibers des Dieners des Herren

0.

ERSTE SCHRITTE

Nach Monaten auf See, zufälligen Bekanntschaften ausgesetzt, Gerede ohne Maß, bei Wellengang die Lektüre rationiert, Tauschgeschäfte mit den Dienern aus Hindustan: Portwein gegen Wortschatz, aste aste im Kalmengürtel, was für ein Kater!, khatarnak und khabardar im Sturm vor dem Kap, die Wellen schlugen an in steiler Formation, kein Passagier hielt sein Abendessen in dieser Schieflage, manches war schwer auszusprechen, die Tage wurden zunehmend fremder, jeder redete mit sich selbst, so trieben sie dahin über den indischen Teich.

Dann die Bucht. Gewölbte Segel schöpften Luft wie Hände Wasser. Sie sahen, was sie schon gerochen hatten, bei dem ersten Blick durch ein mit Nelkenöl eingeriebenes Fernglas. Es war nicht auszumachen, wann das Festland an Bord kam. Das Deck war die Aussichtsplattform, Bühne aller Kommentare.

– Sie ist eine Tabla!

In ihrem Gespräch an der Reling gestört, drehten sich die Briten um. Ein älterer Einheimischer, einfach gekleidet in Baumwollweiß, stand unmittelbar hinter ihnen. Er war um einiges kleiner als seine Stimmgewalt. Ein weißer Bart reichte ihm bis zum Bauch, doch seine Stirn war glatt. Er lächelte sie freundlich an, aber er hatte sich ihnen zu sehr genähert.

– Eine Doppeltrommel. Ein Bol aus Bom und Bay.

Der Mann holte zwei Arme und zwei Hände hervor und setzte sie in Bewegung, zur Begleitung seiner tiefen Stimme.

– Linker Hand die gesegnete Bucht, Bom Bahia und rechter Hand Mumba Aai, die Göttin der Fischer. Ein Tintaal aus vier Silben. Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen.

Schon hatte er sich zwischen sie gedrängt und begann mit seinen zwei Zeigefingern zu klopfen, der Kopf schüttelte die Mähne.

Bom-Bom-Bay-Bay

Bom-Bom-Bai-Bai

Mum-Mum-Bai-Bai

Bom-Bom-Bay-Bay.

– Grob und grell, wie es sich für einen Rhythmus gehört, der seit Jahrhunderten schlägt: Europa andererseits, Indien einerseits. Es ist eigentlich einfach, für jeden, der hören kann.

Die Augen des Mannes lachten zufrieden. Die besseren Passagiere wurden zur Landnahme gerufen; die Schaluppe wartete, Indien war nur noch wenige Ruderschläge entfernt. Burton half einer der verzückten Damen über die Sprossen. Als sie sicher saß, die Hände im Schoß, drehte er sich um. Er sah den weißhaarigen, weißbärtigen Trommler auf dem Deck stehen, steif, die Beine weit auseinander, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Seine Augen kullerten hinter dicken Brillengläsern. Gehen Sie, gehen Sie! Aber achten Sie auf Ihr Gepäck. Dies hier ist nicht Britannien. Sie betreten Feindesland! Und sein Lachen flog davon, als die Schaluppe an Seilen hinab zum Meer ächzte.

Mit der Landung wurde die Täuschung des Fernglases ruchbar. Der Kai war auf fauligem Fisch erbaut, überzogen von getrocknetem Urin und galligem Wasser. Ärmel wurden rasch über Nasen gezogen. Jahrhunderte von Fäulnis, barfüßig zu festem Boden gestampft, auf dem ein Uniformierter schreiend schwitzte. Die Ankömmlinge sahen sich zaghaft um. Neugier wurde bis auf weiteres vertagt. Überlassen Sie alles uns, wir nehmen Ihnen alle Arbeit ab! Richard Burton parierte das klebrige Englisch eines Agenten auf Hindustani, mit stolzem Bedacht. Er rief einen Kuli, der abseits stand und das Getümmel ignorierte, er fragte, hörte zu, verhandelte, er beaufsichtigte, wie seine Truhen auf Rücken geladen und zu einer der bereitstehenden Droschken getragen wurden. Der Weg sei nicht weit, sagte der Kutscher, und sein Preis gering. Die Droschke glitt durch die Menschenmasse wie ein geschleppter Kahn. Im Kielwasser trieben Käppis und Glatzen, Turbane und Topis. Um ihn herum, in diesen Wirbeln, er konnte kein Gesicht erkennen, und es dauerte eine Weile, bis er ein Bild sah, das Sinn ergab: Vor einem Laden ruhten die Pranken eines Krämers auf Reissäcken. Burton lehnte sich zurück, während die Droschke dem Hafen entkam und in eine breite Straße bog. Ein Junge wich den Hufen so spät aus, wie es die Mutprobe erforderte, und belohnte sich selbst mit einem Grinsen. Ein Mann wurde neben wirbelnden Rädern rasiert. Ein Kind ohne Haut wurde ihm entgegengehalten. Er erschrak kurz und vergaß es wieder. Der Kutscher schien die Bauten zu beiden Seiten zu benennen: Apollo Gate, dahinter Fort, Secretariat, Forbes House. Sepoy! der Kutscher deutete auf eine Mütze, darunter schmierige Haare, weiter unten dürre, behaarte Beine in einer zu kurzen Arbeitshose. Entsetzlich, dachte Burton, das sind die einheimischen Soldaten, die ich befehligen werde, Herrgott noch einmal, diese Kleidung, nichts als Staffage, selbst der Gesichtsausdruck wirkt wie von den Briten abgekupfert. Die Droschke trabte an einer Traube Frauen vorbei, die an Händen und Füßen tätowiert waren. Hochzeit, freute sich der Kutscher. Die Geschmückten verschwanden schnell um die Ecke. Die Häuser, dreistöckig zumeist, schienen von Gangrän befallen. Auf einem der hölzernen Balkone hustete sich ein Mann frei und spuckte sein Gebrechen auf die Straße. Die wenigen Gebäude von Haltung wirkten wie Aufseher in einer Aussätzigenkolonie. Immer wieder erblickte Burton, zwischen den Kronen der Palmen, grauköpfige Krähen. Einmal kreisten sie über einem marmornen Engel, dem eine verschleierte Frau die Füße küßte. Kurz vor Ankunft in dem Hotel sah er Krähen auf einen Kadaver niedergehen. Manchmal, der Kutscher drehte sich in voller Fahrt um, warten sie den Tod nicht ab.

Das British Hotel in Bombay glich keineswegs dem Hotel Britain in Brighton. In Bombay wurde für weniger Komfort mehr Geld verlangt, Bett, Tisch und Stuhl mußte man sich zusammensuchen. In Brighton stieg kein besoffener Kadett mit Heidehaar und sumpfigem Mundgeruch nachts auf einen Stuhl, um über die Musselinwand seine Zimmernachbarn zu begaffen. Burton, dem Schlaf seit Stunden nicht näher gekommen, schob das Moskitonetz zur Seite und bewarf den Kadetten mit dem nächstbesten Gegenstand, den er unter seinem Bett zu fassen bekam. Das Wurfgeschoß flog dem Kadetten mitten ins Gesicht. Er stürzte von seinem Stuhl, er fluchte leise, bis eine Kerze aufleuchtete und ein Schrei zu hören war: der Kadett hatte das Geschoß erkannt, eine Ratte, die Burton kurz zuvor mit einem Stiefel erschlagen hatte. Nur die Stoffwand schützte den schmächtigen Kadetten vor seinen eigenen Drohungen. Burton griff ein weiteres Mal unter das Bett und holte eine Flasche Brandy hervor. Eidechsen waren Glücksboten, Ratten waren verhaßt. Die Eidechsen hingen an der Wand wie farbige Miniaturen. Die Ratten versteckten sich. Manchmal vergeblich.

Sein Nachbar zur anderen Seite war ein Sanitäter auf erstem Posten. Er saß auf dem Fensterbrett und blickte auf das Meer hinaus. So lange, bis der Wind ihm ins Gesicht blies. Achtung, rief er durch den Schlafsaal, Hindubraten weht an! und sein Schrei fiel durch das enge Treppenhaus, dem schlummernden Parsen, der die Gäste mit übertriebener Servilität abfertigte, auf die Stirn. Schließt Augen und Luken. Der Parse öffnete die Augen und schüttelte mißmutig den Kopf. Diese verdammten Ghoras ertrugen den Anblick nur mit Rückenwind.

Der Sanitäter weigerte sich, Burton zur Verbrennungsstätte zu begleiten. Man sollte sich vor falscher Wißbegier hüten, erklärte er, in Sprößling der väterlichen Predigt, der Fürsorge seiner Mutter gerade erst entwachsen. Burton versuchte, ein Loblied auf die Neugierde zu singen, doch er merkte bald, auf wie wenig Verständnis seine eigenen Erfahrungen – die Kindheit in Italien und Frankreich als Sohn eines Ruhelosen, die Internatszeit in der vermeintlichen Heimat – stießen. Immerhin ließ der Sanitäter sich überreden, die Carnac Road zu überschreiten, die Grenze zwischen dem Gehirn des Imperiums und seinen Gedärmen, wie Burton bei seinem ersten Dinner erfuhr, in der Gesellschaft von Herrschaften, die vollmundig ganze Distrikte verwalteten, Krämersöhne aus der englischen Provinz, Nachfahren von Gerichtsvollziehern, die auf heidnischen Händen von Schatten zu Kühle getragen wurden, reicher und mächtiger als sie es sich in ihren wagemutigsten Träumen ausgemalt hatten. Ihre Ehefrauen kartographierten penibel die Landkarte der herrschenden Vorurteile. Jeder ihrer Sätze war ein Warnschild, eingefaßt in: Hören Sie, junger Mann! Sie hatten ausgiebig vermessen und waren sich nun sicher, welche Worte Indien gerecht wurden. Das Klima: ›fatal‹, die Bediensteten: ›beschränkt‹, die Straßen: ›septisch‹, und die indischen Frauen: alles zugleich, weswegen diese, hören Sie gut zu, junger Mann! unbedingt zu meiden sind, auch wenn sich einige Unsitten inzwischen etabliert haben, als könnte man unseren Männern nicht ein wenig Moral und Selbstbeherrschung abverlangen. Am besten – einen ehrlicheren Ratschlag werden Sie nicht zu hören bekommen –, am besten Sie halten sich von allem Fremden fern!

Gassengicht. Jeder Schritt eine Berührung. Burton mußte immer wieder zur Seite springen, sein Augenmerk galt den Trägern, Schleppern, Schiebern. Sichtbar waren im Menschenmeer nur die Lasten, übergroße Brocken, die auf dem Wellengang der wippenden Köpfe schwebten und schwankten. Lumpenläden. Werkstätten unter lauter gleichen Werkstätten. Händler auf Matten wedelten sich Luft zu, hinter ihnen enge Eingänge, die zu Höhlen führten, bauchig wie die Gewohnheit, fliegenverseucht. Burton mußte diese Krämer fast anflehen, ihm etwas zum Verkauf anzubieten, und wenn sie sich dazu bequemt hatten, offerierten sie ihm die schlechteste Qualität, die sie vorrätig hielten, beschworen die Vortrefflichkeit der Ware, präsentierten sie auf ihrem Ehrenwort, bis er den kleinen Dolch oder die steinerne Gottheit akzeptierte. Dann begann ein Tauziehen um den Preis, von neuerlichen Seufzern und Grimassen begleitet.

Du sprichst den Dialekt dieser Kerle schon gut, bemerkte der Sanitäter, etwas vorwurfsvoll. Burton lachte: Die Damen von gestern wären entsetzt. Bestimmt denken sie, eine Sprache zu teilen ist wie ein Bett zu teilen. Schwarzstadt. Auf einmal vor ihnen ein Tempel, eine Moschee, vielfarbig gescheckt, einfarbig verziert. Der Sanitäter war angewidert von der mißgestalteten Göttin, deren Fratzenkopf um ein Vielfaches größer war als ihr Leib. Erfreue dich an der Überraschung, immerhin, dies ist die Schutzpatronin der Stadt, in der so viele Zungen heimisch sind, doch die Göttin selbst ist stumm. Sie kamen an einem Grabmal vorbei. Neben dem Leichnam, bedeckt mit einem bestickten grünen Stoff, hingen Keulen an der Wand. Das magische Werkzeug des heiligen Baba, erklärte ihnen ein Wächter, Kalebassen aus Afrika. Aussätzige Menschen und unberührbare Hunde. Die verwelkten Glieder der Bettler waren mit heiliger Farbe bedeckt, eine mißgestaltete Kuh beschweifte sich nebenan, ihr kurzes fünftes Bein orange bemalt; etwas weiter lag ein Gliederloser auf einer Decke mitten in der Gasse, die zum Hintereingang der Großen Moschee führte, um ihn herum verstreute Münzen wie abgefallene Pocken. Ein nackter dunkelhäutiger Mann hielt den Verkehr auf. Er war von Kopf bis Fuß mit Fett eingeschmiert und trug ein rotes Taschentuch um die Stirn gebunden. In seiner Hand ein Schwert. Eine gewaltige Menge versammelte sich um seine haltlosen Schreie. Zeigt mir den rechten Weg, schrie der Mann und hieb mit dem Schwert durch die Luft. Ein älterer Herr neben Burton murmelte etwas in der tonlosen Monotonie eines Gebets, während der Nackte das Schwert wie eine Peitsche schwang und die Menge ihm allmählich zum Feind wurde. Was passiert hier, ich verstehe nicht, was hier passiert? Der Sanitäter kauerte hinter Burtons Rücken. Der Nackte drehte sich mit ausgestrecktem Schwert in einem zischenden Kreis, bis er stolperte, das Schwert entglitt ihm, einige Männer aus der Menge stürzten sich auf ihn und begannen, ihn zu schlagen und zu treten. Mische dich ja nicht ein, flehte der Sanitäter ihn an, du bist groß gewachsen, vielleicht bist du stark, aber mit diesen Wilden kannst du es nicht aufnehmen. Und wenn sie ihn umbringen? Das geht uns nichts an!

Zwei Monsune, Dick, sagte der Sanitäter auf dem Heimweg, das ist die durchschnittliche Lebenserwartung eines Neuankömmlings. Keine Sorge, tröstete ihn Burton, gewiß gilt das nur für jene, die zu vorsichtig leben und an Obstipation sterben. Obstipation? raunte der Sanitäter. Darauf bin ich gar nicht vorbereitet.

1.

DER DIENER

Niemand würde den Lahiya zu dieser Stunde aufsuchen. Nicht in diesem Dürremonat. Im Tempel würden sie die Götter mal wieder um Regen anflehen, aber er, was sollte er Ganesh noch versprechen? Eigentlich könnte er seine Zelte abbrechen, sein Büro schließen, dem Staub entfliehen, aber es ist weit zu seiner Schlafstätte. Papier und Feder liegen bereit. Obwohl ihn niemand aufsuchen wird. Nicht zu dieser Tageszeit, nicht in diesem Dürremonat. Zum Mittagsschlaf fehlt ihm die Ruhe. Er hat es sich angewöhnt, die anderen Schreiber, diese Schakale, nicht aus dem Auge zu lassen. Wie sie sich um jeden Kunden reißen, kaum biegt er ein in die Straße, wie sie seine Unsicherheit abtasten, bis der Kunde sich niederhockt und seinen Auftrag als Bitte vorträgt. Er wird nie merken, wie er von diesen ehrlosen Schuften betrogen wurde. Noch achten sie ihn, noch fürchten sie ihn ein wenig. Er wüßte nicht, was sie zu fürchten hätten, aber seine Stimme, fester als sein Körper, hält sie auf Distanz. Auf seine Stärken kann er sich verlassen, auf sein würdevolles Aussehen, seinen geachteten Namen, sein respektgebietendes Alter. Diese Tageszeit, diese Jahreszeit sind zum Verzweifeln. Die Erde heizt sich auf, und nichts bewegt sich. Er streckt seine Beine aus. Die Hitze zerschmilzt auf der Straße. Sie klebt an den Hufen eines Ochsen, der sich weigert weiterzugehen. Müde prügelt der Treiber auf ihn ein, Schritt um Schlag dem Ende des Weges entgegen.

Der Mann dort, mitten auf der Straße. Ein Kunde? Sogleich ist er umlauert, ein hochgewachsener Mann, der etwas gebeugt dasteht, der seinen Kopf senkt und wieder hebt, dessen Körper keinen Widerstand leistet gegen die vielen Hände, die an ihm zerren. Der Mann steht wie angewurzelt. Jetzt hebt er seinen Kopf. Einer der Schakale löst sich aus der Meute, andere folgen ihm. Sie lassen ab von diesem Mann, der sie überragt. Der Lahiya sieht, wie die anderen Schreiber mit ihren besserwisserischen Fingern auf ihn zeigen. Der hochgewachsene Mann kommt auf ihn zu, das Gesicht markiert von widerspenstigem Stolz und einem faden, grauen Schnurrbart. Der Lahiya weiß, daß die anderen Schreiberlinge dieses Mal das Nachsehen haben, obwohl sie lässig ihren Dhoti nachbinden und sich gebärden, als hüte die Welt vor ihnen keine Geheimnisse. Dieser Mann hat gewiß einen Wunsch, den allein der alte Lahiya erfüllen kann.

– Briefe an Behörden des Britischen Reiches sind meine Spezialität.

– Es soll kein üblicher Brief …

– Ebenso Briefe an die Ostindische Gesellschaft.

– Auch an Offiziere?

– Selbstverständlich.

– Es soll kein förmlicher Brief werden.

– Wir schreiben, was Sie wünschen. Aber gewisse Formen sollten gewahrt werden. Die Herrschaften bestehen auf Form. Der kleinste Fehler im Aufbau, das kleinste Versäumnis bei der Anrede, und der Brief ist keinen Anna wert.

– Es muß viel erklärt werden. Ich habe Aufgaben übernommen, wie sie kein anderer …

– Wir werden so ausführlich sein, wie die Angelegenheit gebietet.

– Ich stand ihm viele Jahre zur Seite. Nicht nur hier in Baroda, ich bin mit ihm gezogen, als er versetzt wurde …

– Verstehe, verstehe.

– Ich habe ihm treu gedient.

– Zweifellos.

– Ohne mich wäre er verloren gewesen.

– Natürlich.

– Und wie hat er mich dafür entlohnt?

– Undankbarkeit ist des Edlen Lohn.

– Ich habe ihm das Leben gerettet!

– Dürfte ich erfahren, an wen sich das Schreiben richtet?

– An niemanden.

– An niemanden? Das wäre unüblich.

– An keine bestimmte Person.

– Verstehe. Sie wollen den Brief mehrfach verwenden?

– Nein. Oder doch, ja. Ich weiß nicht, wem ich den Brief geben soll. Alle Angrezi der Stadt haben ihn gekannt, das ist lange her, vielleicht zu lange, ich weiß nicht, einige sind bestimmt noch in Baroda. Heute morgen erst habe ich Leutnant Whistler gesehen. Er fuhr in einer Kutsche vorbei, eine dieser neuen Kutschen mit einem halben Dach aus Leder, ein schöner Wagen. Fast hätte er mich überfahren. Ich habe Leutnant Whistler gleich erkannt. Er war einige Male bei uns. Ich bin dem Wagen hinterhergerannt, er mußte bald halten. Ich habe den Kutscher gefragt.

– Und?

– Nein, sagte er, dies ist der Wagen von Oberst Whistler. Ich habe mich nicht getäuscht. Mein Herr hat sich über seinen Namen lustig gemacht.

– Wir werden also an Oberst Whistler schreiben!

Um seine Bereitschaft zu demonstrieren, öffnet der Lahiya das Tintenfäßchen, nimmt die Feder in die Hand, tupft, kratzt zur Probe, beugt sich um einige Zeilen nach vorne und verharrt. Der von dem Ankömmling aufgewirbelte Staub hat sich gesetzt. Aus dem peinigenden Licht heraus, in das der Lahiya nicht mehr blinzeln will, beginnt die zaghafte Stimme zu erzählen. Aus Vermutungen werden Andeutungen, aus Andeutungen werden Schemen, aus Schemen werden Personen, aus Unbekannten werden Menschen mit Namen, Eigenschaften und Gesichtern. Der Lahiya hält die Feder fest zwischen den Fingern, doch er versteht weder Ausgang noch Grund der Lebensgeschichte, die dieser Mann vor ihm ausbreitet. Es ergibt keinen Sinn, diese konfusen Umrisse aufzuschreiben.

– Hören Sie. Das bringt so nichts. Einige Gedanken, einige Notizen, einige Skizzen zuerst, dann werde ich Vorschläge unterbreiten, wie wir den Brief gestalten können.

– Aber … ich muß wissen, was wird es kosten?

– Zahlen Sie zwei Rupien an, Naukaram-bhai. Wir werden später sehen, wieviel Aufwand es bedarf.

2.

AUS EINER SILBE

Manchmal rülpste die pralle Stadt. Alles roch wie von Magensäften zersetzt. Am Straßenrand lag halbverdauter Schlaf, der bald zerfließen würde. Ein Löffel schnitt durch das Fleisch einer überreifen Papaya, Fußsohlen schwitzten auf dem Heimweg vom Markt Koriander aus. Er wußte nicht, was ihn eher anwiderte, die Meeresbrise, zur Ebbe faulig von Algen und gestrandeten Quallen, oder die Düfte des moslemischen Frühstücks, aus Innereien von Ziege, auf kleinen Öfen gebrutzelt. Der Pfad der Menschheit war gepflastert mit tückischen Verlockungen.

– Sir, Sie zu stören ist nicht meine Art, ein hoher Herr wie Sie, das sehe ich, ich erkenne das sofort, denken Sie nicht … keineswegs, ich bin ein einfacher Mann, Sie zu täuschen ist nicht möglich, nein, ich will Ihre Zeit nicht rauben, nein, Sir, wenn Sie mir nur Ihr Gehör zu geben wünschen, ich werde Ihnen eine Hilfe sein können.

Burton ging die Straße entlang, ein Flaneur, der die Häuser mit seinen aufmerksamen Blicken abtastete. Er fiel auf, dieser junge britische Offizier, der seinen Kopf hoch und seinen Bart voll trug.

– Sie sind gewiß gerade angekommen. Schwierig. Überall ist es so, nach der Ankunft, niemand an Ihrer Seite, es ist schwierig …

– Aapka shubh naam kyaa hee? fragte der Offizier.

– Are Bhagwaan, aap Hindi bolte hee? Naukaram ist mein Name, zu Diensten, Saheb, zu Diensten.

Nach einer Woche wußte Burton, daß es in der Stadt nur so vor schmierigen Indern wimmelte, die in jedem Offizier, in jedem Weißen, eine unheilige Kuh sahen, die sie nach Belieben melken wollten. Während sie sich verbeugten, griffen sie einem schon in die Tasche.

– Zu was für Diensten?

– Sie haben unsere Sprache schnell gelernt, bahut atschi tarah. Sie sind vor kurzem angekommen, jüngst auf dem letzten Schiff aus England.

– Du bist gut informiert.

– Nur ein Zufall, Saheb, mein Bruder, mein Cousin, arbeitet am Hafen, verstehen Sie.

Was will dieser junge Mann mit dem altklugen Gesicht? Gekleidet in Peinlichkeiten. Hochgewachsen, leicht gebeugt. Erstaunlich blaß, das Gesicht zugänglich, aber wenig anziehend.

– Je schneller Sie einen Diener finden, desto besser.

– Was kümmert es dich?

– Ich, Ramji Naukaram, werde Ihr Diener sein.

– Wieso denkst du, daß ich einen Diener suche?

– Sie haben schon einen Diener?

– Nein. Ich habe noch keinen Diener. Auch noch kein Pferd.

– Jeder Saheb braucht einen Diener.

– Und wieso gerade du? Wieso sollte ich dich nehmen?

Sie blieben stehen, an einer Kreuzung, wo weitere Angebote auf Burton lauerten. Bis zum Nachmittag, so hat er sich vorgenommen, als er das Hotel in der Früh verließ, würde er lernen, nein zu sagen, hart zu bleiben. Er wollte sich allen Verlockungen aussetzen, zum Beweis, daß er ihnen widerstehen konnte. Um ihnen später nachgeben zu können.

– Ich gebe mich nur mit dem Besten zufrieden.

– Ach, Saheb, was heißt schon Bestes? Es gibt Männer und es gibt Frauen, und die Männer, die eine Frau nicht nehmen, weil um die Ecke vielleicht bessere Frau, schönere Frau, reichere Frau wartet, die Männer bleiben am Ende ohne Frau. Heute nehmen ist besser als Versprechen von morgen. Heute ist sicher – niemand weiß, was morgen ist.

Am übernächsten Tag kam ihm eine Idee.

– Ich will die Stadt bei Nacht erleben.

– Zum Klub fahren, Saheb?

– Die wahre Stadt.

– Wahr, wie meinen Sie?

– Zeige mir die Orte, wo sich die Einheimischen vergnügen.

– Was wünschen Sie dort, Saheb?

– Genau das, was die Stammgäste dort suchen. Was ihnen die Zeit vertreibt, soll mir die Zeit vertreiben.

Diesmal nahm Burton den Sanitäter nicht mit, den schon die Fahrt entnervt hätte. Keine Lichter, jedes Wesen, das ihnen begegnete, war in seine eigene Staubhülle gehüllt. Die Straßen wurden enger, die Abzweigungen so zahlreich, daß Burton alleine verloren gewesen wäre. Sie mußten zu Fuß weitergehen. Er spürte eine unerwartete Anspannung, er fragte sich, ob er die Fußtritte hören würde, bevor ein Messer durch seine Haut drang. Der Gedanke erregte ihn, der Abend hatte nach seinem Geschmack begonnen. Vor ihnen schimmerte eine Häuserzeile, sie kamen näher und konnten einzelne Gebäude erkennen, allesamt dreistöckig, und jedes Stockwerk mit einem Balkon versehen. Auf den Balkons standen Frauen, die sich über die Brüstung lehnten und ihm zuriefen, Hamara ghar ana, atscha din hee. Viel zu laut und viel zu gierig, als daß sie ihn verführen könnten, in das Erdgeschoß einzutreten, offen wie ein Laden, wo gewiß eine ältere Frau den weiteren Ablauf dirigierte. Die Gesichter waren heftig geschminkt, sie stachen die eigenen Stimmen aus, alles weitere im ersten Stock war wallender Sari. Nicht schön, Saheb, oder? Kommen denn viele hierher? Die wenig haben, die kommen hierher, aber hier ist nicht gut. Wir werden jetzt Besseres sehen, Saheb. Sie kamen an einem Gebäude vorbei, in dem, so wußte Naukaram, Opium geraucht wurde. Das Gold meiner Arbeitgeber, dachte Burton, die Quelle allen Silbers, genaugenommen. Den Dunst, den er zu schützen hatte. Er war versucht, in die Opiumhöhle hineinzugehen, aber ihn verwirrten die Männer, die vor dem Eingang standen, erstarrt wie Wachsfiguren. Können sich nicht bewegen, sagte Naukaram, zuviel Opium.

Es war nicht weit zur eigentlichen Empfehlung, auch dort waren die Häuser mehrere Stockwerke hoch, ein jedes mit Balkon, doch anstelle von Kurtisanen rankten sich am Geländer frische Blumen. Na los, treten wir ein. Nein, Saheb, Sie gehen, ich warte draußen. Unfug, du kommst mit, vergiß nicht, du bist nur auf Probe! Ein schmaler Mann empfing sie, derart devot, daß Burton geschworen hätte, er habe sich verbeugt, obwohl er ihnen die ganze Zeit aufrecht gegenübergestanden hatte. Er versicherte ihnen wortreich, wie willkommen sie seien, während er einen argwöhnischen Blick auf Naukarams abgenutzten Kurta warf. Ich will, daß Sie sich mei anständig benehmen, befahl Burton, und er spürte, wie Naukaram mit sich rang, über diese Schwelle zu treten. Sie folgten dem Empfangsherrn in einen opulenten Raum, in dem es spürbar kühler war, der Boden mit tiefen Teppichen ausgelegt, auf einer Seite eine Gruppe Musiker, die sich gerade ausruhte. Über allem schwebte ein süßlicher Geruch. Sie nahmen Platz in einer Kissenecke; kaum hatte sich der schmale Mann zurückgezogen, servierte ihnen eine Frau kalte Getränke und Süßigkeiten. An ihr fiel ihm auf: der schöne Bauchnabel und der schwarze Zopf, der ihr bis zur Taille reichte. Diese Frauen können dichten, flüsterte Naukaram ihm zu. Sie tragen schöne Kleider, andere Frauen tragen die nicht. Eine grazile Frau schwebte herbei, und Burton war bereit, sich dem Zauber ihres Aussehens zu ergeben, als sie Naukaram einige Fragen zuwarf, so zügig und schmucklos, als werfe sie Darts, und dabei Burton musterte, als wäre er ein Fisch auf Marktplanken. Sie nahm neben ihm Platz und lächelte ihn an, mit grünen Augen und einem unbestimmten Versprechen. Wie eine Perlmuschel, die sich langsam öffnet. Er vergab ihr das plumpe Ausfragen und die schamlose Begutachtung.

– Der da behauptet, Sie können unsere Sprache?

– Nur wenn Sie ganz bedächtig reden und nach jedem Wort lächeln.

– Möchten Sie, daß ich für Sie singe?

– Wenn Sie mir das Lied erklären.

Sie nickte den Musikern zu, stand auf, trat einige Schritte zurück, wobei sie Burton unvermittelt in die Augen schaute, und wiegte sich in die einfädelnde Melodie, langsam, wie eine Schaukel, die an Schwung gewinnt, bis sie in die Hände klatschte und zu singen begann.

Wer ein Leben lang Gutes bewirkt,

wird als Tropfen wiedergeborn,

als Tau auf meinen Lippen.

Wer ein Leben lang tugendhaft war,

wird ruhen in einem Austernmund,

sanft in meinem Mund gebettet.

Doch ist’s der höchste Segen,

wer als weiße Perle liegen darf,

als Perle zwischen meinen Brüsten.

Das ganze Lied über blieb sie in seiner Nähe, mit dem Zucken ihrer Lippen, die grünen Augen halb verschlossen, als seien sie gefährlich und zu hüten. Ihre Pirouette endete dicht vor ihm, er hätte ihren Bauchnabel küssen können, sie lehnte sich zurück, ließ ihren Kopf in den Nacken fallen und erstarrte. Ihr Rock zitterte nach in jeder Krümpel, ebenso ihre Brust unter dem goldgefädelten Stoff. In den Händen der Frau tauchten zwei kleine Becken auf, die sie zusammenschlug, während sie weitertanzte. Als das Lied erstarb, schien es ihm, als wäre er erschöpfter als die Frau. Sie erstarrte, ihr Gesicht voller Erwarten.

– Sie müssen ihr Geld geben.

– Ich will sie nicht beleidigen.

– Oh nein, Saheb, es ist eine Beleidigung, wenn Sie nichts geben.

Burton streckte, den Geldschein zwischen den Fingern, seine Hand aus. Die Belustigung in den Augen der Frau war nicht zu übersehen. Sie entzog ihm den Schein, als wollte sie seine Finger nicht aufwecken. Dann drehte sie sich unvermittelt um und verschwand hinter einem Vorhang.

– Ich hatte das Gefühl, sie lacht mich aus.

– Nein, Saheb. Sie geben nur Geld falsch.

– Zuwenig?

– Nein. Geld genug, aber Sie müssen mit dem Geld spielen, sehen Sie, so …

– Das sieht ja lächerlich aus. Ich mach mich doch nicht zum Hampelmann.

Der süßliche Geruch, der über ihnen schwebte, verdankte sich den Wasserpfeifen, in denen, wie ihm eine der Frauen erklärte, persischer Tabak, vermischt mit Kräutern, unraffiniertem Zucker und verschiedenen Gewürzen, durch reines Wasser gefiltert wurde. Probieren Sie, es wird Ihnen schmecken. Sie holte aus einer unsichtbaren Tasche in ihrem Gewand ein hölzernes Mundstück und begann ebenfalls an der Pfeife zu ziehen.

Er hätte nicht sagen können, wie lange die Frauen für ihn tanzten und sangen, aufsteigende, sich selbst übertrumpfende Gesänge, und die Rhythmen, die sich überschlugen, die pochenden, pulsierenden, angespannten Rhythmen, und die Texte, die nichts verheimlichten, und die Wirkung der Milch, die keine Milch war, sondern Soma, das hatte er von Naukaram gelernt, Trank des Geistes, Wundertrank, gut für Gebete und Geburten, und der glitzernde glimmende glühende Schmuck, und die Ketten an den Füßen und an den Armen, und die offengelegte Taille, die leichte Wölbung des Bauches, die paradiesische Einbuchtung des Nabels, und das überwältigende Lächeln, das aus dem Nirgendwo kam, und das lockere Haar, durch das immer wieder eine Hand glitt, um es zu schütteln. Er hätte nachher nicht sagen können, ob er sich aus freien Stücken für eine von ihnen entschieden hatte. Sie nahm ihn an der Hand, ein Zimmer im ersten Stock, ein hohes Bett, und sie zog ihn aus, dann wusch sie seinen Körper, mit Bedacht und warmem Wasser. Sie führte eine Blüte an sein Gesicht. Merke dir den Geruch. Du wirst bei diesem Geruch glückliche Erinnerungen haben. Überhaupt, die Blumen. Alles duftete nach Blumen, Tür und Tor, Porträts der Vorfahren, Dachbalken, Kissen, und das Haar dieser Frau, die ihre Gewänder ablegte, Wolke um Wolke, und er wurde hart wie ein Gewehrlauf, und sie biß leicht in sein Ohrläppchen und flüsterte etwas, das er erst verstand, als sie, über seinen Hals züngelnd, ans andere Ohrläppchen gelangt war. Rath ki rani, sagte sie, es war leicht zu verstehen, Königin der Nacht, aber was bedeutete es? Ihr Name vielleicht, ihr Kurtisanentitel? Sie untersuchte seinen Körper, es war angenehm und wenig überraschend, bis sie etwas tat, das ihn schaudern ließ, seine Härte mundete ihr, sie dosierte sie, es sollte nicht enden, nicht einmal, als sie ihre Brüste über sein Gesicht gleiten ließ, nicht einmal, als sie sich fallen ließ und ihn mitzog in die Tiefe, und er sich einige unterdrückte Schreie erlaubte. Sie hievte ihr Becken hoch, er erkannte die Blüte in ihrer Hand wieder, die Hand verschwand unter ihrem Becken, er konnte nicht mehr an sich halten, er ging in ihr auf mit letzten lauten Stößen, und die Blüte wurde wohl zerdrückt, denn als er sich ausgelaugt neben sie legte, umgarnte ihn ein weicher Duft. Der Duft der Königin der Nacht.

Er wäre gerne noch Stunden in dem hohen Bett geblieben, aber er spürte, als der Duft verwelkte, eine Ungeduld in dem nackten Körper, der neben ihm lag. Meine Zeit ist vorbei, dachte er. Nein, er korrigierte sich, meine Zeit hat gerade angefangen, und was das für ein Anfang war, dachte er, als Naukaram und er das Haus des ersten Zaubers verließen und einige Schritte laufen mußten zu dem Ort, wo sie die Droschke hatten warten lassen.

– Wohin fahren wir jetzt?

– In Ihr Hotel, Saheb.

– Zuerst bringen wir dich heim.

– Nein, Saheb, nicht nötig. Kein Problem.

– Du willst doch nicht noch durch die halbe Stadt laufen.

– Ich laufe nicht weit, Saheb, von hier aus laufe ich eine halbe Stunde.

– Wenn du darauf bestehst. Gute Nacht dann.

Naukaram stieg ab. Er war schon in die Dunkelheit geglitten; als er noch einmal seinen Namen hörte.

– Du hast den Test bestanden, Naukaram. Ich werde dich einstellen. Aber du mußt bereit sein, mit mir in den Norden zu ziehen, etwa vierhundert Meilen von hier, an einen Ort namens Baroda. Ich habe gestern erfahren, daß ich dorthin versetzt werde. Dort werde ich einen Diener benötigen.

Die Antwort kam aus dem Dunkeln.

– Alles ist festgeschrieben, Saheb, alles folgt einem Plan. Ich weiß, wo Baroda ist, ich weiß es genau, ich stamme aus Baroda. Alles ist richtig, Saheb, mit Ihnen kehre ich heim.

3.

NAUKARAM

II Aum Ekaaksharaaya namaha I Sarvavighnopashantaye namaha I Aum Ganeshaya namaha II

– Ich bin bereit.

– Ich habe meinen Herrn, Hauptmann Richard Francis Burton, in Bombay kennengelernt. Ich wurde ihm empfohlen. Er war gerade aus Anglestan angekommen, er suchte einen vertrauenswürdigen Diener. Er nahm mich sofort in seinen Dienst.

– Nein! So doch nicht. Bist du Sayajirao der Zweite, daß du gleich losschwatzt, als kenne dich jeder? Wir müssen dich zuerst vorstellen. Deine Herkunft, deine Familie, damit die Empfänger wissen, von wem das Schreiben stammt.

– Was soll ich über mich sagen?

– Kenne ich dein Leben? Weiß ich über dich Bescheid? Sprich ungezwungen, was überflüssig ist, werde ich später weglassen.

– Ich soll etwas über mich sagen?

– Fang an!

– Gut. Ich wurde in Baroda geboren, im Palast. In der falschen Hälfte des Palastes. Ich war ein kränkliches Kind, das viel Sorge bereitete. Vielleicht sollte ich zuerst erwähnen, ich bin nicht bei meinem Vater und meiner Mutter und meinen Brüdern aufgewachsen. Ich habe sie erst später kennengelernt, genauer gesagt, meine Eltern habe ich nie kennengelernt. Sie kamen zu Besuch, als ich ein Junge war, ein einziges Mal, das ist vielleicht nicht so wichtig. Meine Familie hat seit Generationen den Gaekwad gedient, schon zu der Zeit, als einer der Gaekwad die rechte Hand war von Shivaji. Einer meiner Vorfahren kämpfte an seiner Seite, in der großen Schlacht, nein, das tut nichts zur Sache, bestimmt ist es nur ein Märchen unserer Familie, eine schöne Geschichte, auf die wir stolz sein konnten. Ich glaube, ich war der jüngste Sohn. Bevor meine Mutter mit mir schwanger ging, hatte sie meinem Vater schon sechs Söhne geboren. Alle waren gesund und kräftig. Mein Vater war überglücklich bei der Geburt des ersten Sohnes, er war sehr stolz auf den zweiten Sohn, er war zufrieden mit dem dritten Sohn, danach nahm er jeden weiteren Sohn wie selbstverständlich hin. Aber es gibt keine selbstverständlichen Segnungen, das glaube ich zumindest. Man sollte sich seiner Segnungen bewußt sein. Als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten, suchte mein Vater den Jyotish im Palast auf. Er war wohl ein ungeduldiger Mann, er konnte es nicht abwarten zu erfahren, ob dieser Tag unter einem glücklichen Stern stand. Das war ein Fehler, er wurde böse überrascht. Der Stand der Sterne, die Zahl Sieben, die Zahl Neun, das Datum, und das Alter meines Vaters, und das Alter meiner Mutter, und …

– Genug. Verschone mich mit diesem Geschwätz.

– Geschwätz? Du glaubst nicht daran? Es war der Jyotish des Maharaja.

– Ich gehöre der Satya Shodak Samaj an, wenn du weißt, was das bedeutet. Wir haben solch primitivem Aberglauben abgeschworen.

– Die Konstellation aber, sie war wirklich sehr bedrohlich. Wie Dürre und Flut zugleich. Zuviel Glück, erklärte der Jyotish, kann sich ins Gegenteil wandeln. Die Gesundheit des Neugeborenen war in Gefahr, die Zukunft der Familie stand unter schlechten Vorzeichen. Mein Vater war sehr besorgt. Er wollte wissen, was er dagegen unternehmen konnte. Es gibt nur eine einzige Rettung, sagte der Jyotish. Ihre Frau, meine Mutter also, muß eine Tochter zur Welt bringen. Das wird die Ordnung wiederherstellen. Der Jyotish entließ meinen Vater mit einem Fläschchen Niim-Öl und einigen Sprüchen, die er aufsagen sollte, wahrend die Hebamme den Bauch meiner Mutter einrieb, kreisend, im Uhrzeigersinn, jede Stunde einmal …

– Das langt. Wir verfassen hier kein Lehrbuch der Zauberei.

– Meine Geburt rückte näher, vor der Kammer meiner Eltern versammelten sich alle Diener des Maharajas, die gerade nicht zu arbeiten hatten, und alle beteten eifrig um ein Mädchen. Die Wehen dauerten an, die Gebete wurden heftiger. Einer holte einen Pujari, ein anderer sammelte Geld, besorgte Kokosnüsse und Girlanden. Ich weiß gar nicht, ob der Priester wirklich Gebete für die Geburt eines Mädchens kannte, oder ob er sie nicht schnell erfand.

– Ein Improvisationskünstler.

– Wie bitte?

– Nichts. Laß dich nicht stören.

– Mitten in der Nacht öffnete sich die Tür, der Pujari war längst gegangen, nur einige Freunde blieben bei meinem Vater, die Hebamme trat heraus, in ihren Armen das Neugeborene. Es ist ein schönes Kind, sagte sie beglückt, wohlauf, gesund. Gesund, was heißt hier gesund? schrie mein Vater. Ist es ein Mädchen? Und die Hebamme vergaß wohl in ihrer Erschöpfung den Grund für die ganze Aufregung und antwortete ihm: Nein, Krishna sei Dank, nein, es ist ein Junge. Mein Vater schlug sich gegen die Stirn und brüllte so laut, daß die Wachen herbeigestürzt kamen. Die Freunde scharten sich um meinen Vater, sie versuchten ihn zu trösten. Niemand beachtete die Hebamme, sie zog sich mit mir in die Kammer zurück und legte mich neben meine Mutter. So groß war die Aufregung, sie vergaßen, mir ein nasses Stück Baumwolle auf die Zunge zu legen.

– Nun, da du geboren worden bist, kannst du mir verraten, wieso du mir all das erzählt hast? Glaubst du, Oberst Whistler will wissen, daß du besser ein Mädchen geworden wärst?

– Die Erinnerung hat mich gepackt.

– Wir müssen aufschreiben, was für dich spricht. Wir müssen deine reichhaltige Erfahrung als Diener aufzeigen, deine Stärken beschreiben, deine Erfolge benennen, deine Fähigkeiten verkünden. Von dem Unglück, das dir nachhängt, will keiner etwas wissen. Das kannst du mit deiner Frau teilen.

– Ich habe keine Frau.

– Keine Frau? Bist du Witwer?

– Nein, ich habe nie geheiratet. Ich war verliebt, einmal, es nahm kein gutes Ende.

– Siehst du, das ist wichtig. Stets warst du Diener, so treu, du hast nicht einmal Zeit zum Heiraten gefunden.

– Das war nicht der Grund.

– Kommt es darauf an? Bist du dir sicher, aus welchen Gründen du etwas getan oder nicht getan hast? Wer weiß das schon so genau! Fahre fort.

– Mein Vater wollte nicht abwarten, bis Vidhaataa mein Schicksal festschreibt. Er wollte an Stoff und Süßigkeiten sparen. Er brachte mich sofort zu Verwandten nach Surat. Er gab ihnen die Goldstücke, die der Diwan ihm am Morgen nach der Geburt aus Mitleid zugesteckt hatte. Weil mein Vater so betreten dreinblickte, dachte er, ihm sei eine Tochter geboren worden. Gegen diese Mitgift, wenn ich das so nennen darf, erklärten sich die Verwandten bereit, für mich zu sorgen. Und der Jyotish bestätigte meinem Vater, das Unglück sei gebannt, wenn ich nur weit genug entfernt lebte.

– Bist du mit dieser unsäglichen Geschichte endlich fertig? Du strapazierst meine Geduld noch mehr als diese Hitze. Laß uns eine Pause einlegen. Die Aufgabe wird schwieriger als gedacht. Und um einiges aufwendiger! Einige Tage werden wir benötigen.

– Einige Tage? So lange?

– Wir sollten diesen Brief nicht überhastet aufsetzen. Es schadet nicht, wenn Sie mir mehr erzählen als nötig. Überlassen Sie mir die Auswahl. Doch zwei Rupien, fürchte ich, werden nicht ausreichen. Es wird Sie mehr kosten.

4.

VERLIEHENE GUNST

Niemand hatte Burton gewarnt, daß in dem hölzernen Haus, das ihm zugewiesen worden ist, seit Monaten keiner mehr gelebt hat – ein unbewohntes Haus wird in Indien von den Jahreszeiten zersetzt. Von außen war die Zerstörung, von den kaputten Fenstern abgesehen, nicht sichtbar. Naukaram und er zogen an der knarzenden Tür und bereuten es sogleich. Es stank nach Affenkot, bestialisch. Burton beschloss, erst hineinzugehen, nachdem Naukaram einige Helfer organisiert und das Haus gereinigt hatte. Derweil stand er vor der Tür und betrachtete den Dschungel; ihm war der Bungalow am äußersten Rand des Cantonment – die Unterkünfte des Regiments, keine drei Meilen ostsüdöstlich der Stadt – zugeteilt worden. Das Ungebändigte reichte bis an sein Grundstück heran. Um so besser, die Lage würde Distanz zu den Kameraden ermöglichen. Naukaram wischte einen Korbstuhl ab und schleppte ihn auf die Veranda, damit Burton sich hinsetzen konnte. Mit Blick auf den kargen Garten, ein nicht gerade großer und nicht gerade üppiger Garten, eingeengt von einer Steinmauer, mit einem Banyan-Baum, immerhin, und vereinzelten Palmen. Zwischen zwei der Palmen könnte er eine Hängematte spannen. Von dem Viertel der Eingeborenen in der Senke konnte er nur sehen, was herausragte: Türme und Minarette. Der Rest war Eintopf, ganz und gar unbekömmlich – so hatten es ihm die Alteingesessenen (wie gut dies Wort paßte) in der Regimentsmesse am Vormittag zugesteckt. Unsere Hauptstraße, klärten sie ihn auf, führt direkt in diesen Mischklump hinab. Zum Glück geht es vorher rechts zum Paradeplatz ab, es besteht keine Notwendigkeit, den Hügel hinabzureiten. Diese Anhöhe müssen wir verteidigen, bildlich gesprochen, du verstehst schon. Burton beteiligte sich nicht an dem verschwörerischen Gelächter. Reite möglichst früh aus, komme der Hitze zuvor, das solltest du beherzigen, und schlage die entgegengesetzte Richtung ein, der Dschungel ist weitaus weniger gefährlich als die Stadt. Weitaus weniger gefährlich. Unser Leben spielt sich hier im Cantonment ab. Früh stehen wir auf, früh sind wir mit der Arbeit fertig. Der Palastherr benimmt sich anständig. Hegt keinerlei Ambition, Widerstand zu leisten. Ganz im Gegenteil. Ganz im Gegenteil. Morgens der Appell, dann ein Kontrollritt, schon haben wir uns das Frühstück verdient. Du spielst doch Billard, oder? Bridge wenigstens? Wir werden einen vortrefflichen Spieler aus dir machen! Worauf alle – sie hatten ihn umringt, wohl um den Korpsgeist zu stärken – gelacht hatten, und ihren pikierten Gesichtern sah er an, daß sie von ihm erwartet hatten, sich in ihr Lachen einzureihen. Er hatte sie enttäuscht. Tröstet euch, Kameraden, hätte er ihnen gerne gesagt, es wird nicht das letzte Mal sein.

Burton hörte, wie die Fenster aufgerissen wurden. Er stand auf und blickte durch das Gitter in sein neues Heim. Es war geräumig genug. Der Boden war nicht mit Brettern verschalt, die Decke nicht getäfelt, die Wände kahl wie der Schädel eines Pilgers. Der offene Dachstuhl war ein ungewohnter Anblick, nicht unsympathisch. Von den Balken wölbten sich dicke Schnüre, von denen bestimmt bald schwere Fächer hinabhängen würden.

– Naukaram, dort, in der Ecke, das Häuschen, es scheint unbewohnt zu sein, noch weniger einladend als dieser Kuhstall, ist das ein Geräteschuppen?

– Bubukhaana, Saheb.

– Vielleicht erklärst du mir noch, was das bedeutet.

– Haus, in dem Frau wohnt.

– Deine Frau?

– Nein. Nicht meine Frau.

– Na, meine Frau bestimmt nicht.

– Vielleicht, Saheb, vielleicht Ihre Frau.

Als wäre er nicht um die halbe Welt gesegelt, so gründlich heimelte es um ihn herum, in den Räumen der Regimentsmesse, zwischen Wänden mit schweren Holzleisten, auf heimischen Teppichen, in Saphirblau, mit Medaillons besetzt, die aus Wilton importiert waren, Teppiche, die sich an einigen Stellen schon wölbten. Sein erster Abend im ›Klub‹. Als Debütant. Er mußte sich nicht anpassen. Nicht im geringsten. Nur seinen Widerwillen überwinden. Es war Oxford und London, auf ein weiteres, und wieder von vorne. Alles war ihm vertraut, die Bilder, die Rahmen, einzelne Pferde, gemalt in Aspik, Gartengesellschaften, ausstaffiert mit Kinderscharen, schwer verdaulich wie ein Weihnachtskuchen, alles war ihm so vertraut, die niedrigen Tische, die tiefen Sessel, die Bar, die Flaschen, sogar die Schnurrbärte. All das, wovor er geflohen war, stürzte auf ihn ein.

– Ohne Fächer werden Sie während der großen Hitze eingehen. Sie benötigen unbedingt einen Khelassy.

– Oder mehrere.

– Für die Fächer?

– Selbstverständlich. Und sorgen Sie ja dafür, daß der Khelassy regelmäßig die Strippen überprüft, an denen das verflixte Teil hängt. Die Zeit schneidet durch die Strippen.

– Wir verwirren den jungen Mann mit Einzelheiten. Hören Sie: Sie haben es in diesen Breitengraden mit durchtriebenen Faulenzern zu tun, die emsig Entschuldigungen erfinden, um sich vor der Arbeit zu drücken.

– Besonders raffiniert ist das Argument der Reinheit.

– Damit ist nicht zu spaßen.

– Wer es nicht durchschaut, wird um den kleinen Finger gewickelt.

– Sagen wir, nur als Beispiel, Sie wollen die Zeitung lesen und sich derweil die Füße waschen lassen. In einem schönen, großen Chillumchi.

– Chi-Chi, wie wir sagen.

– Unsereiner denkt sich ja nichts dabei, aber der Kerl, der Ihre Füße wäscht, der gilt bei den anderen als unrein. Weil Füße unrein sind und weil Sie ein Christ sind und somit per se unrein.

– Fällt einem schwer zu glauben, nicht wahr?

– Also kann er keine Arbeit in Ihrem Haushalt übernehmen, bei der er mit den anderen Dienern in Berührung käme. Höhergeborene würden das Chi-Chi nicht einmal anfassen. Also benötigen Sie selbst für so eine einfache Aufgabe einen, der Wasser nachschüttet, und einen, der Ihre Füße abtrocknet. Damit ist es keineswegs getan. Was meinen Sie, für wie unrein der Boy gilt, der die Toilette säubert. Der ist für keine andere Arbeit zu gebrauchen.

– Solchen Ausreden begegnet man auf Schritt und Tritt, und glauben Sie mir, selbst nach fünf oder zehn Jahren haben Sie noch lange nicht alle gehört.

Aufmerksam beäugten sie ihn. Zwischen den Einweisungen, denen sich diese Männer, die fast ausnahmslos unverheiratet waren, mit Leidenschaft hingaben. Sie prüften ihn. Auf seine Eignung zum vierten Mann, zum Queueisten, zum Advokaten schlechter Witze. Zum Eingeschworenen.

– Wer die Bagage beaufsichtigt, darauf kommt es in höchstem Maße an.

– Bei Junggesellen eine heikle Geschichte, aber wem sage ich das.

– Man muß sich schlicht und einfach damit abfinden, daß die Burschen nichts taugen. Wenn Sie das akzeptiert haben, können Sie nicht mehr enttäuscht werden. Von wegen Erziehung. Habt ihr schon mal erlebt, daß sich einer von denen gebessert hätte? Die Peitsche hält sie bestenfalls vom Klauen ab.

– Wenn Sie mich fragen, außergewöhnlichen Wert würde ich auf den Sircar legen.

– Sircar? Wofür ist der unerläßlich?

– Sie müssen ihm vertrauen können. Sie dürfen keinen Zweifel hegen. Nicht den leisesten Zweifel. Er trägt Ihre Börse.

– Einen Sircar? Heutzutage? Meine Güte, wir verfügen über eine einheitliche Währung, der Silberrupie sei Dank. Unser lieber Doktor Huntington weilt noch in einer Ära, da mußte man mit so vielen verschiedenen Münzen jonglieren, daß es einer gesonderten Kraft bedurfte.

– Ich kann das Geld doch nicht bei mir tragen. Soll ich es etwa offen abzählen? Und wo wasche ich mir hernach die Hände?

– Laßt uns noch eine Flasche bestellen, zu Ehren unseres Griffin.

– Ich sag Ihnen was, Burton. In Ihrem Haus wird nur dann Ordnung herrschen, wenn jemand den Boys gelegentlich zeigt, wo es langgeht. Sie wollen doch nicht selber Schläge austeilen, oder? Das ist viel zu mühsam und in der Hitze der eigenen Gesundheit abträglich. Schaffen Sie sich einen Diener an, der die anderen diszipliniert.

– Hat der keinen Namen?

Für einen kurzen Augenblick herrschte Schweigen. Burton fand es unerträglich, in die Fratzen dieser halsstarrigen Propheten zu blicken. Er war ein Pilger, der von ihnen in die Irre geleitet werden sollte. Das Unerträgliche war umgetopft worden, es war nur hier, in dieser Messe, in diesem Glashaus, überlebensfähig. Es würde ihm um so leichter fallen, es zu verachten.

– Lachen Sie ruhig mit, Burton, probieren Sie aus, wonach Ihnen der Sinn steht, vergnügen Sie sich ohne Skrupel, nur eines sollten Sie auf keinen Fall versäumen: Trinken Sie täglich Portwein! Eine Flasche hält das Fieber fern.

5.

NAUKARAM

II Aum Siddhivinaayakaaya namaha I Sarvavighnopashantaye namaha I Aum Ganeshaya namaha II

– Fahre fort.

– Mein Herr, Hauptmann Richard Francis Burton, wurde bald nach seiner Ankunft mit dem Schiff von Bombay nach Baroda versetzt. Und weil ich mich in den Wochen, die er in Bombay verbrachte, schon nützlich gemacht hatte …

– Unentbehrlich klingt besser.

– Unentbehrlich. Weil ich mich unentbehrlich gemacht hatte, nahm er mich mit. Ich kehrte zum ersten Mal wieder in die Stadt meiner Geburt zurück.

– Wo du wie ein König empfangen wurdest.

– Keiner kannte mich. Ich tauchte auf, aus dem Nichts. Ich war gut gekleidet. Burton Saheb hatte mir in Bombay Geld für neue Kurtas gegeben. Ich war ein begehrter Mann. Ich war auf der Suche nach Dienern für einen Offizier der Jan Kampani Bahadur …

– Der Ehrenwerten Ostindischen Gesellschaft. Siehst du, wie sehr ich auf der Hut sein muß. Wenn sich solche Fehler in das Schreiben einschleichen, wirst du höchstens als Latrinenputzer angestellt.

– Die Verwandten ließen nicht mehr ab von mir, kaum hatten sie mich wiederentdeckt. Meine Eltern waren gestorben. Aber all die anderen, sie schmückten sich mit mir. Vom zweiten Tag an bemühten sie sich, eine Frau für mich zu finden. Ich habe versucht, nicht daran zu denken, wie sie mich damals weggegeben haben, in dieses abscheuliche Surat.

– Willst du mich zu Tränen rühren?

– Jeder wollte einen Posten ergattern. Meine Brüder an erster Stelle, natürlich, sie erholten sich schnell von der Überraschung, daß es mich gab. Ich muß Ihnen sagen, meine Eltern hatten ihnen erklärt, ich sei bei der Geburt gestorben. Sie versuchten sich einzuschmeicheln. Wie viele Jahre haben wir verpaßt, Bruder, sagten sie. Wir müssen diese Jahre nachholen. Wir dürfen uns nicht mehr verlieren, nie mehr wieder. Sie schauten mir in die Augen, für einen Augenblick hätte ich es ihnen fast abgenommen, so sehr glauben die Menschen an ihre eigene Farce. Wir wollen dich achten, wir müssen uns an dir erfreuen, wie an einem nachträglichen Geschenk. So schäumten sie in meiner Gegenwart, unentwegt, meine sechs Brüder. Ich ließ mir die vielen Aufmerksamkeiten gefallen. Es war eine Entschädigung, eine lächerlich kleine Entschädigung. Was für Mühe sie sich gaben, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Ich habe genau hingesehen, ich habe nüchtern beurteilt, wer etwas taugte und wer nicht. Ich besitze eine gute Menschenkenntnis, auf meine Menschenkenntnis ist Verlaß, schreiben Sie das auf. Als ich mich für zwölf Leute entschieden hatte, machte ich jedem von ihnen klar, daß sie mir zu gehorchen hatten. Dem Saheb natürlich auch, wenn er sie direkt ansprach. Ansonsten mir. Nur ich hatte Einfluß auf den Saheb, und wenn sie sich mir nicht fügten, konnte ich jederzeit dafür sorgen …

– Zwölf Diener, zwei Herren.

– Burton Saheb hat in all den Jahren nie Ärger mit den Dienern gehabt! Das ist mein Verdienst.

– Wieviel haben sie dir gezahlt?

– Wer?

– Deine untergebenen Verwandten.

– Was sagen Sie?

– Gemolken hast du sie. Du wärst sehr dumm gewesen, wenn du ihnen eine so einträgliche Anstellung geschenkt hättest.

– Burton Saheb hat mir einen festen Betrag für alle Unkosten gegeben. Damit habe ich sie bezahlt. Sie waren zufrieden. Alle waren zufrieden. Ich hatte den gesamten Haushalt unter Kontrolle. Es war ein schöner Bungalow, leider am hintersten Ende des Cantonment gelegen. Die Wege waren lang. Burton Saheb lebte sich schnell ein. Die anderen Offiziere nannten ihn einen Griffin, einen Neuankömmling, aber das hielt nicht lange an. So ein Mensch war mein Herr, überall wo er hinging, war er bald mit dem Ort besser vertraut als jene, die ein Leben lang dort verbracht hatten. Er paßte sich schnell an, Sie würden nicht glauben, wie rasch er lernen konnte. Wenn ich diese Fähigkeit besitzen würde, es hätte nicht halb so schlimm geendet.

– Du bist in Ungnade gefallen?

– Ich wurde nach Hause geschickt, ohne Empfehlung, ohne Referenzbrief. Nach so vielen Jahren! Eine kleine Abfindung nur und die Kleider, die ich trug. Es war nicht allein mein Fehler. Von mir wurde mehr erwartet als von den anderen. Das war schon immer so.

– Gewiß, gewiß.

– Man kann das Ende doch nicht über alles andere stellen? Das Ende kann nicht so eine große Bedeutung haben.

– Hör zu, ich werde deine Schwächen, die unangenehmeren Seiten deiner Geschichte nicht erwähnen, doch sie sollten mir bekannt sein. Je mehr ich weiß, desto besser, verstehst du. Fahre fort.

– Er war die vielen Diener nicht gewohnt. Ich habe mich gewundert, damals. Bis ich erfuhr, viele Jahre später, wie bescheiden er zu Hause gelebt hat, wie einfach. Mit einem Diener nur und einem Koch. Das erfuhr ich erst, als ich mit ihm nach England und nach Frankreich reiste …

– Du warst im Land der Firengi?

– Von dort wurde ich heimgeschickt.

– Das hast du nicht erwähnt.

– Er hat mich in sein Land mitgenommen. So wichtig war ich ihm.

– Wieso hast du mir das nicht früher gesagt? Du bist ein Mann mit Erfahrung im Land der Firengi. Das wertet dich auf.

– Jetzt wissen Sie es.

– Mir ist kein Diener bekannt, der in England war.

– Ich war mehr als nur ein Diener.

– Ein Freund?

– Nein, kein Freund, man kann nicht ihr Freund sein.

– Vertrauter vielleicht? Das klingt gut. Naukaram, Vertrauter von Hauptmann Burton! Fahre fort.

– Hauptmann Richard Francis Burton, vielleicht ist es besser, den ganzen Namen zu schreiben.

– Selbstverständlich. Noch besser wäre es, wenn du mir nichts verschweigst. Je mehr ich umschreiben muß, desto länger dauert es.

– Es soll gut werden, so gut, wie nur möglich. Ich muß wieder bei einem Angrezi in den Dienst treten. Dazu bin ich geboren. Ich habe keinen meiner Fehler vergessen. Das erste Mal, als er rasiert werden sollte, kam es beinahe zum Totschlag. Er schlief noch, ich meine, er döste, und ihm wurde der Bart eingeseift. Der Hajaum hatte die Klinge schon in der Hand und wollte gerade mit der Rasur beginnen, als Burton Saheb die Augen öffnete. Ich weiß nicht, was er zu sehen glaubte, er rollte über das Bett, voller Schaum im Gesicht. Die Utensilien des Hajaum fielen herunter, Burton Saheb stürzte zu Boden. Er griff nach seiner Pistole und er hätte bestimmt geschossen, wenn ich nicht geschrien hätte. Alles in Ordnung, Saheb, keine Gefahr, alles in Ordnung. Sie sollten nur rasiert werden! Er fuchtelte mit der Pistole in meine Richtung, er drohte, er würde mich bei der nächsten Überrumpelung dieser Art erschießen.

– Hast du dieser Drohung Glauben geschenkt?

– Er war dazu in der Lage, glaube ich, wenn die bösen Geister ihn überwältigten.

– Da hast du dir durch deinen Mut wahrlich großen Verdienst erworben. Du hast einem Barbier das Leben gerettet.

6.

BESEITIGEN VON HINDERNISSEN

Mit weniger als zwölf Dienern kann ich den Haushalt nicht organisieren, hatte Naukaram beteuert. Burton hatte ihm daraufhin erlaubt, zwölf Diener auszusuchen und vorzuführen. Wer weiß schon, wie und wo er sie aufgetrieben hat. Es interessierte ihn nicht. Er hatte beschlossen, Naukaram bis auf weiteres gewähren zu lassen. Er akzeptierte sie, die zwölf unbekannten, dunklen Gestalten, die ins Zimmer glitten, wortlos ihre Arbeit verrichteten und ansonsten in kaum sichtbarer Unterwürfigkeit verharrten, die Handflächen übereinandergelegt, der Blick auf Burton fixiert. Manchmal vergaß er sie und erschrak, wenn sie ein Geräusch verursachten. Er teilte die Tage im Bungalow mit ihnen; die hellen Tage, die heißer und zäher wurden, saß er am Schreibtisch, hinter Jalousien, die das Draußen abblendeten. So konnte er lesen und schreiben, einigermaßen bequem, einigermaßen erträglich. Was sollte er sonst tun? Er brachte einer beliebig rekrutierten und miserabel motivierten Truppe das Alphabet des Exerzierens bei, in den Stunden nach dem Morgengrauen, und es hätte einiges an Verblendung bedurft, in der Ausbildung dieser imperialen Hosenträger eine bedeutsame Aufgabe zu sehen. Die Sicherheitslage im Umkreis dieses Außenpostens gab zu keiner Sorge Anlaß, die Einheimischen verhielten sich ruhig,