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Marianne Hartwigs als ‚Gebrauchslyrik‘ bezeichnete Gedichte präsentieren sich in der Reihenfolge ihrer Entstehung im Zeitraum etwa eines Jahres und bilden so eine Chronik. Gebrauchslyrik entsprang als Begriff der ‚Neuen Sachlichkeit‘ der 1920er Jahre mit ihrem distanzierten Beobachten von Begebenheiten. In einer schlichten und geradlinigen Sprache formuliert, machen sie häufig auf Missstände aufmerksam. Damals bedienten sich der Ausdrucksform so bekannte Vertreter wie Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Ringelnatz und Erich Kästner. Aber auch in neuer Zeit entstehen wieder vermehrt erzählende Gedichtsammlungen mit dieser Bezeichnung. Im Fall von Marianne Hartwig ist die Beobachtung ganz auf ihre Wahlheimat Ibiza konzentriert. Jeden Tag mit offenen Augen durch Ibiza gehen, Ereignisse und Situationen aufnehmen und später in Worte umsetzen – so entstehen mit hohem sprachlichen Feingefühl ihre erzählenden Gedichte. Ihre Beobachtung konzentriert sich dabei mit Vorliebe auf die inseltypische Natur, besonders das Meer und die Katzen, mit denen sie sich umgibt. ‚Weniger, aber Meer‘ war das ironische Motto ihrer nun schon Jahrzehnte zurückliegenden Übersiedlung auf die Mittelmeerinsel. Mehr als eine Bestandsaufnahme, sind sie kritische Liebeserklärungen an Ibiza, ein Bekenntnis zu ihrem Leben im Süden, auch wenn es mit gewisser Einschränkung und Unsicherheit verbunden sein sollte.
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Seitenzahl: 94
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…zum Glück gibt es ein oder zwei Dutzend Lyriker – ich hoffe fest, mit dabei zu sein – die bemüht sind, das Gedicht am Leben zu erhalten. Ihre Verse kann das Publikum lesen und hören ohne einzuschlafen, denn sie sind seelisch verwendbar. Sie wurden im Umgang mit Freuden und Schmerzen der Gegenwart notiert… Man hat für diese Art von Gedichten die Bezeichnung „Gebrauchslyrik“ erfunden… Es gibt wieder Verse, bei denen auch der literarisch unverdorbene Mensch Herzklopfen kriegt oder froh in die leere Stube lächelt…
Erich Kästner
Vorwort
Weniger, aber Meer
Von der unerreichbaren Gelassenheit auf Ibiza
Glossar
Alphabetisches Verzeichnis der Titel
Zur Autorin
Chris von Gagern
Marianne Hartwigs als ‚Gebrauchslyrik‘ bezeichnete Gedichte unter dem Titel ‚Weniger, aber Meer‘ präsentieren sich erneut in der Reihenfolge ihrer Entstehung im Zeitraum etwa eines Jahres. Ohne thematische Unterteilung, nimmt die Sammlung die Form einer Chronik an.
Der Begriff Gebrauchslyrik wurde 1927 von Bertolt Brecht geprägt. In den zwanziger Jahren entsprach die „Neue Sachlichkeit“ moderner Abgrenzung vom Pathos des Expressionismus. Mit dieser Ausdrucksform änderte sich die Haltung des Lyrischen Ichs vom Ausdruck romantischer Ergriffenheit zum distanzierten Beobachten von Begebenheiten, der Erzählkunst nah verwandt.
Meist wurden Gedichte als Gebrauchslyrik bezeichnet, die zu bestimmtem Zweck geschrieben wurden. Oft handeln sie von Problemen und machen den Leser auf Missstände aufmerksam. Wie in der Neuen Sachlichkeit üblich, wurde alles in einer schlichten und geradlinigen Sprache formuliert. In den 1920er Jahren bedienten sich der Ausdrucksform so bekannte Vertreter wie Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Ringelnatz und Erich Kästner. Aber auch in neuer Zeit entstehen vermehrt erzählende Gedichtsammlungen mit dieser Genrebezeichnung.
Marianne Hartwig konzentriert sich bei ihren Beobachtungen ganz auf ihre Wahlheimat. Jeden Tag mit offenen Augen durch Ibiza gehen, Ereignisse und Situationen aufnehmen und später in Worte umsetzen – so entstehen mit hohem sprachlichen Feingefühl ihre erzählenden Gedichte. Mit Vorliebe befasst sie sich dabei mit der inseltypischen Natur, besonders dem Meer und den Katzen, mit denen sie sich umgibt.
‚Weniger, aber Meer‘ war das ironische Motto ihrer nun schon Jahrzehnte zurückliegenden Übersiedlung auf die Mittelmeerinsel. Mehr als eine Bestandsaufnahme, sind sie kritische Liebeserklärungen an Ibiza, ein Bekenntnis zu ihrem Leben im Süden, auch wenn es mit gewisser Einschränkung und Unsicherheit verbunden sein sollte.
Ibiza, Dezember 2014
Wenn jemand glaubt
Sich hier wiederzuerkennen - ganz augenfällig
Dann sei der vielzitierte Hinweis erlaubt:
Jede Übereinstimmung ist zwar zufällig
Jedoch ist in Betracht zu ziehen - sozusagen
Dass bestimmte Verhaltens-Muster
Verbreiteter sind als der Beruf Schuster
Und so lässt sich mit Unfug und Recht sagen:
Danke für die Anregungen, sie sind für den Reimer so wichtig
wie für den Maler Farben
Manchmal scheint neben den Farben
Auch Auf-den-Kopf-Stellen ein Hilfsmittel zu sein
Wenn es denn nun gefällt …
Aber das ist ein weites Feld.
Gedichte lesen sei eine unpassende Beschäftigung
Meinte schon Erich Kästner
Verbunden mit Freuden und Schmerzen der Gegenwart allerdings ein Reichtum
Kästner zu lieben fällt nicht schwer
Gebrauchs-Lyrik würde man das nennen
Und: „Es gibt Verse bei denen der literarisch Unverdorbene Herzklopfen kriegt”
Bei denen könne man erkennen
„Ob man wieder froh in die Stube lächelt, durch die
ein Sonnenstrahl fliegt“
Und weil ich von Beruf doch Kunsthandwerkerin bin
Macht Handwerk und Kunst und Poesie richtig Sinn…
Einen Menschen in seinem Wortversteck aufzuspüren
Ist nicht nur spannend
Es bereitet Lust
Wie Leselust
Setzt es Neugierde voraus
Geduld, Spürsinn, Witterung
Vertrauen in die Erkenntnis:
“Erst das Leben, dann das Schreiben”.*
Wenn Erinnerung das ist
Was wir meinten vergessen zu haben
Ist Vergessen eine wunderbare List
Uns selbst zu erfreuen mit den Erinnerungsgaben
Die wir uns genüsslich servieren
Die unerfreulichen haben wir verschönt oder aussortiert
Wer will sich schon vor sich selbst blamieren
Wie sind wir doch tüchtig und talentiert
Darin sie zu vergraben in unzugänglichen Schichten
Bis sie plötzlich ihr Verließ verlassen
Im Glücksfall entstehen aus ihnen Geschichten
Mit manchen muss man sich befassen, bis sie einen in Ruhe lassen.
Immer warst du insel-süchtig
Ein Inselurlaub - Anreise per Schiff
Machte dich sehnsüchtig - beglückte dich
Für einen Großstädter war es der Inbegriff
Von kleiner, heiler Welt
War überschaubar – das einfache Leben
Oft unter freiem Himmel – ein Zelt
Um sich Meer, Sonne und Nichtstun hinzugeben
Deinen Inseltraum hast du realisiert
Du wolltet weniger, aber Meer
Wie immer zog ich mit dir – umzugsroutiniert
Doch nach einer langen Weile wolltest du auch das Meer nicht mehr
Da blieb ich einfach hier
Auf deiner Insel – mit dir und den Tieren
Du bist jetzt in der jenseitigen Welt
Wenn sie dir nicht mehr gefällt
Kannst du ja immer noch reinkarnieren…
Was als Überlebenshilfe begann
Ist zu einem Tagesprogramm geworden
Der Tag fängt oft mit Träumereien an
Und schon am Morgen
Helfen Wortmelodien
Die Arbeit zu beginnen
Nicht vor dem Alltag zu entfliehen
Sich auf all das zu besinnen
Was mit Hilfe von Ideen und Konzentration
Den Alltags-Rhythmus mitbestimmt
Ganz früh schon
Ist es die Natur, die dem Morgen die Wehmut nimmt
Auf dem gewohnten Platz mit Blick ins Tal
Von Pinien umgeben – gleichbleibend, vertraut
Sitze ich, um immer wieder, wie in einem Ritual
Wortmelodien einzufangen, ihren Klang, ihren Laut
Und dankbar ohne zu lamentieren
Denke ich: So ist sie also, die Gegenwart
Ich habe außer dem Leben nichts zu verlieren
Und Frieden geschlossen mit der Vergangenheit, auf meine Art
Hält die Zukunft noch Überraschungen bereit?
Bestimmt. Doch die Gegenwart ist zur Zeit
Von Erwartungen befreit
Jedenfalls von denen zu zweit
Ein Glückszustand im Hexenkreis
Von kurzer Dauer
Denn wer das Glück kennt weiß:
Es flirtet immer mit der Trauer.
Am Morgen begrüße ich die Gedanken
Die täglich meinen Weg begleiten
Wir nennen sie Erinnerung und verdanken
Ihnen die Fähigkeit, neue Pfade zu beschreiten
Träume begleiten sie
Unterwegs durch den Tag
Wie ein Ritual oder eine Zeremonie
Was immer kommen mag
Ich würde die gemeinsame Reise wieder riskieren
Und – wie jemand richtig sagt – sie am Ende idealisieren.
Die Stille fühlt sich an wie ein Schwarm schwarzer Vögel
Eher geheimnisvoll als beängstigend
Der sich lautlos bewegt vor einem hellen Nebel-Segel
Eine tiefe Nacht, in der im Tal kein einziges Licht mehr brennt
Es sind nur die Pinienäste, die flüsternd wehen
Eine tiefhängende Wolke in Segelgestalt
Lässt das Wachbild entstehen
Vielleicht bin ich in einem Bild gefangen von den Sternen angestrahlt?
Oder in einem Traum?
Egal, hier will ich eine Weile bleiben
In diesem Zwischenraum
Mit den Nacht-Geistern, die mir die Zeit vertreiben.
Unter dem Dach der Erinnerung fühle ich mich zu Hause
Die ungebetenen Gäste verjage ich
Sie besuchen mich seltener, die Abwehr hat genützt
Auch Leid macht erfinderisch
Um immerwährend Klagende mache ich einen Bogen
Die Freudenspender fordere ich auf zu bleiben
Ich bin eine gute Gastgeberin – wohlerzogen
Nicht Erwünschte zu vertreiben
Gehört sich nicht
Und doch erlaube ich mir den Hinweis in jedem Augenblick:
Von Freude und Leid werden wir erwischt
Es ist vergänglich – wie das Glück
Glaube an Wunder! Sie kehren wie die Erinnerung zurück.
Nun entfaltet der Frühling wieder seine Pracht
Das vierte Mal seitdem es dich nicht mehr gibt
Seit dieser Zeit und mit aller Macht
Wehre ich mich gegen Lockrufe des Lebens für den, der noch liebt
Die casita bietet Schutz, ist ein Erinnerungs-Schatz
Manchmal schaue ich auf mich von weit her
Was für einen besonderen Platz
Hatten wir uns ausgesucht - so nahe am Meer
Dann sehe ich dich, wir machen eine Blumenbegehung
So nanntest du das und nahmst mich an der Hand
So als gäbe es noch ganz viel Hoffnung
Hand in Hand blieben wir dann stehen, am Terrassen-Rand
Wo alle unsere Tiere begraben sind, Buri sich gerne sonnte
Hier möchte auch ich später einmal sein
Dachtest du dann so laut, dass ich es hören konnte
Das Schicksal hat dir diesen Wunsch erfüllt, jetzt bin ich mit ihm allein…
Eine leuchtende Blütenexplosion
Die Insel nach vier Tagen Regen
Ist eine Farben-Fest-Attraktion
Mairegen bringt nicht nur Segen
Sondern auch rote Erde aus Afrika
Und viele Touristen wie in jedem Jahr
Die lieben das Insel-Nachtleben, vor allem das Pacha
Die Farben, ach ja, die sind auch noch da
Und natürlich das Meer
Kamen früher nicht vor allem Bilder- und Geschichten Erfinder her?
Und ist sie nicht das was sie immer war:
Eine Naturschönheit, die ihre Bewunderer erträgt – ein paar Monate im Jahr.
Einen Glücksaugenblick festzuhalten
Ist wie aus der Zeit zu fallen
So soll es sein, so soll es bleiben
Auf dem spiegelglatten Meer dahinzutreiben
Ohne Rückblick nur zu gleiten
Und von weitem
Gewahr zu werden, wie Wasser und Himmel ineinander übergehen
Einfach nur fast bewegungslos zuzusehen
Doch dann ist der Strand kaum noch zu sehen
Jetzt unterzugehen
Nur noch zu sinken
Da plötzlich sehe ich in Formentera den Leuchtturm
blinken
Den erreiche ich nicht
Aber wenn die Kräfte reichen Pou des Lleó im Dämmerlicht.
Wie kannst du ständig auf einer Insel leben
Fragte ein alter Freund mitleidig
Nur von Himmel und Wasser umgeben
Bist du nicht immer geflüchtet vor falscher Romantik?
Als Weltreisender ist er einmal hier auf der Insel gestrandet
Jetzt verstehe ich, meinte er, es geht um die Moral
Du bist wieder in einem Dorf gelandet
Nur die Dorfbewohner sind jetzt international
Und aus Toleranzgründen maximal liberal.
Auf den Wellen schaukele ich
Noch gibt es Vorrat
Die Katzen wärmen mich
Mit ihnen teile ich den letzten Zwieback
Möwen umkreisen uns im Morgenrot
Doch es ist kein Land in Sicht
Schreiben im Rettungsboot
Seltsam, ich fürchte mich nicht
Beim Aufwachen spüre ich den intensiven Geschmack
Von Salzwasser und Zwieback.
Manchmal geht mir ein Wort nicht aus dem Sinn
Es ist wie eine Tagesbegleiterin
Fällt aus dem Kontext, bleibt einfach haften
A1s wollte es eine Stimmung auskundschaften
Ich baue es in meinen Alltag-Rhythmus ein
Es passt, ist wie ein Tages-Meilenstein
Ich bin nicht auf der Hut
Es tut nur gut
das Wort – das Gefühl – Gleichmut.
Nach vier Mai-Regen-Tagen
Ein Fest von Farben
Ich fahre zum Meer
Von überall her
Leuchtet, schillert und gurrt es
Keine Tristesse
An der Cala Martina versinke ich im Sand
Que lujo! Prompt ein Sonnenbrand.
Das Schicksal hat mich mit Freunden verwöhnt
Womit habe ich sie verdient?
Frage ich dann und wann - fast beschämt
Die Antwort ist so leicht wie der Wind:
Ich habe Vertrauen zu ihnen wie einst als Kind
als ich mich fühlte wie ein Sonntagskind.
Die Schöne im Innenhof
Breitet weit ihre Fächer aus
Ich spreche mit ihr – oft
Frage: Fühlst du dich wohl im campo-Haus
Und ob sie ihn genießt
Den geschützten Platz
Mit Blick in den Himmel und wenn es gießt
All das köstliche Nass
Für sie ganz allein im Innen-Hof-Garten
Sie ist eine Schönheit
Ihre Wurzeln haben ihr verraten:
Da gibt es eine Zisterne - nicht sehr weit
Der kürzeste Weg ist quer durch die Küche
Da wölbt sich der Boden natürlich beträchtlich
Und manchmal hört sie leise Flüche
Vom Mitbewohner, denn der sieht das täglich
Wie sich die Schöne sonnt
und sich am Zisternenwasser labt - heimlich
An die Dreistigkeit der Katzen ist sie gewohnt
Auch diese Naturschönheit ist keineswegs altruistisch
Sie haben beschlossen, sich gegenseitig anzuerkennen