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Wenn das Lernen nicht recht klappt, sind wir schnell geneigt von Lernstörungen zu sprechen und diese als Krankheiten zu bewerten. Wer nicht richtig schreiben und lesen kann, hat Legasthenie, wer Probleme beim Rechnen hat, hat Dyskalkulie, wer sich nicht konzentrieren kann, hat AD(H)S. In diesem Buch geht es darum Lernstörungen ernst zu nehmen, ohne sie sogleich mit einem Krankheitswert zu belegen. Wir betrachten ein Lernproblem nicht in erster Linie als eine Fehlleistung oder Krankheit, sondern als eine besondere biographische Aufgabe. Hinter jeder Lernstörung steckt ein Impuls, für den es sich lohnt einzusetzen. Bei ADS geht es um Achtsamkeit, bei Autismus um Selbstbesinnung, bei Aggression um soziales Engagement, usw. Sieben Lernfelder werden beschrieben, die für die Erwachsenen genauso wichtig sind wie für Kinder.
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2018
© 2018 Hans-Albrecht Zahn
Umschlaggestaltung: Hans-Albrecht Zahn
Lektorat: Anne Zahn
Korrektorat: Günther Blank
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7469-0333-0
Hardcover:
978-3-7469-0334-7
e-Book:
978-3-7469-0335-4
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Beim Lernen gelingt nicht immer alles sofort. Bis das Kleinkind aufrecht stehen kann, fällt es hundert Mal hin. Auch beim Schreiben, Lesen oder Rechnen benötigen wir viele Versuche bis die Dinge einigermaßen gelingen.
In meiner Arbeit als Lehrer und Psychologe habe ich oft erlebt, dass es beim Lernen Schwierigkeiten geben kann. Da ist ein Kind schon in der zweiten oder dritten Klasse, verwechselt immer noch die Buchstaben und bringt kaum einen lesbaren Satz zu Papier. Alle Beteiligten sind dann geneigt von Lernstörungen zu sprechen und diese als Krankheiten zu bewerten.
Wer nicht richtig schreiben und lesen kann, hat Legasthenie, wer seine Rechenaufgaben nicht bewältigt, hat Dyskalkulie, und wer sich nicht konzentrieren kann, bekommt die Diagnose AD(H)S. Das gilt auch für alle anderen Lern- und Verhaltensstörungen.
In dieser Arbeit geht es mir darum, Lernstörungen ernst zu nehmen, ohne sie sogleich mit einem Krankheitswert zu belegen. In einer Atmosphäre, in der Problematisches, Störendes oder Krankhaftes im Vordergrund steht, verliert das Kind schnell seine Lernfreude und Motivation.
Ich schaue Lernprobleme nicht in erster Linie als Fehlleistungen an, sondern als eine besondere Lebensaufgabe.
Sieben Lernfelder werden als besondere Herausforderungen menschlicher Entwicklung beschrieben. Es handelt sich dabei um grundlegende Lebensthemen, mit denen jeder Mensch zu tun hat. Wer hat nicht schon einmal Angst gehabt und musste Mut entwickeln? Wer hat nicht schon Unrecht und Gewalt erlebt und musste Stellung beziehen? Wer war nicht schon einmal verzweifelt und musste einen Ausweg finden?
Das Verständnis und der Umgang mit den sieben großen Lebensthemen ist nicht nur eine Lernaufgabe für Kinder, sondern auch für Erwachsene.
Auf diesem Weg wünsche ich Lernenden und Lehrenden viel Erfolg.
Hans-Albrecht Zahn
Der Mensch kann nur selbst lernen. Er kommt unfertig auf die Welt und muss sich nahezu alle Fähigkeiten aneignen. Er möchte seinen Leib ergreifen, selbstständig essen, trinken, laufen, sprechen usw. Später lernt er schreiben, lesen und rechnen. Auch innere Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Verständnis und Mut wollen erworben werden. Er lernt sich für bestimmte Dinge zu engagieren, seine Gefühle zu kontrollieren und auch auf Manches zu verzichten, wenn es nötig ist.
Aber nicht immer „klappt“ es, sich alle diese wunderbaren Eigenschaften anzueignen. Der scheinbare Misserfolg gehört dazu, nicht nur beim Erlernen des Stehens und Laufens, sondern auch beim Erwerb von Achtsamkeit, Mitgefühl oder Engagement.
Wirklich problematisch wird es erst, wenn die Hoffnung und der Wille zum Lernen erlahmt. Dann ist der Lernprozess selbst blockiert.
Nun gibt es eine Menge von Schwierigkeiten, die man beim Lernen haben kann. Ich gehe dabei von den hauptsächlichen Lernproblemen in der Schule aus und unterscheide sieben Themenfelder: Legasthenie, Dyskalkulie, ADS (ADHS), Autismus, Ängste (Schulangst, Arithmaphobie), aggressive Verhaltensstörungen und depressive Verhaltensstörungen.
Im Umgang mit Lernstörungen gibt es zwei grundlegende Fehler: Der eine ist, die Störung zu verdrängen und so zu tun, als wäre sie nicht vorhanden.
Die zweite Möglichkeit ist es, das Problem zu fixieren. Das geschieht oft durch das Pathologisieren. Den Schwierigkeiten wird ein Krankheitswert zugeschrieben. Dabei treten in erster Linie körperliche Fehlfunktionen, also die Sinneswahrnehmung, Gehirnprozesse oder Stoffwechselstörungen in den Vordergrund. Das Bewusstsein richtet sich primär auf Störung, Krankheit und Defekt.
Hilfreicher ist es das Bewusstsein primär auf das zu richten, was man will und nicht auf das, was man nicht will. Dann kann das Ich des Menschen gestalterisch aktiv werden. Der Blick richtet sich auf das, was zwar im Augenblick noch nicht da ist, aber möglich ist. Wer das Ziel vor Augen hat, lässt sich nicht von den Hindernissen ablenken.
Deshalb habe ich den einzelnen Lernstörungen Qualitäten zugeordnet, die auf die zu erreichenden Eigenschaften hinweisen. Beim ADS-ler geht es darum, im Rahmen seiner Möglichkeiten Achtsamkeit zu lernen, beim Autisten Interesse, Mitgefühl und Verständnis für seine Mitmenschen zu entwickeln.
Außerdem ist es sinnvoll, eine Lernstörung nicht nur als einen isolierten Defekt zu betrachten, sondern die gesamte Lebenssituation des Betreffenden ins Auge zu fassen. Es gilt den Betrachtungsrahmen zu erweitern. Legasthenie ist mehr als eine spezielle Krankheit im Sinne einer isolierten Schreib-Lesestörung. Zur „legasthenischen Lebenssituation“ gehört auch die Angst zu versagen, die Dauerüberforderung in verschiedenen Unterrichten, die auf dem Schreiben und Lesen basieren, der Erwartungsdruck der Eltern und Lehrer, die Ausgrenzung und Abwertung der Mitmenschen, der Spott der Mitschüler, das verloren gegangene Selbstvertrauen und die berechtigte Sorge in der Schule und dann im Beruf zu versagen.
Diese Psychodynamik betrifft alle Lernschwierigkeiten.
Lernstörungen zeigen uns nicht nur, was alles gestört sein kann, sie zeigen uns auch, was es im Leben für Möglichkeiten gibt. So ist AD(H)S nicht nur eine „tragische bedauernswerte Krankheit“, sondern auch eine Aufforderung Achtsamkeit zu entwickeln. Dabei sind die lerngestörten Kinder prinzipiell in keiner anderen Lage als die sogenannten Normalen. Niemand kann von sich sagen, dass er immer achtsam wäre. Buddhistische Mönche üben auf ihrem spirituellen Schulungsweg ihr Leben lang Achtsamkeit.
Das gilt für alle sieben hier geschilderten Lernhemmungen. Bei der Legasthenie geht es um Sprache und Kommunikation, bei der Dyskalkulie um analytische Erkenntnis, bei ADS um Achtsamkeit, bei Autismus um Weltoffenheit und Mitgefühl, bei Angst um Mut und Selbstschutz, bei aggressiven Störungen um Engagement und Selbstkontrolle und bei der Depression um Vertrauen und Loslassen.
Auf diesem Weg möchte ich mit dieser Arbeit allen Beteiligten Mut machen, diese menschlichen Eigenschaften in sich selbst zu entwickeln.
Das richtige Wissen zur richtigen Zeit
Ich unterscheide leibliche, psychische und geistige Voraussetzungen des Lernens.
(Materielle Voraussetzungen)
Die materielle Grundversorgung ist die erste Voraussetzung. Wer nichts zu essen und keine Wohnung hat, der kann nicht lernen. Er ist dauernd damit beschäftigt, sich um seine physischen Überlebensnotwendigkeiten zu kümmern.
Lernen braucht einen Freiraum von leiblichphysischen Zwängen.
Das Problem der körperlichen Grundversorgung ist aber nicht nur auf die Entwicklungsländer und Favelas beschränkt. Auch in den westlichen Industrienationen kommen Kinder manchmal ohne Frühstück, unausgeschlafen und physisch „unterversorgt“ oder auch „überversorgt“ in die Schule. Ein leerer Bauch kann nicht lernen, aber auch ein „voller Bauch studiert nicht gern“.
(Soziale Geborgenheit und Akzeptanz)
Die psychische Voraussetzung für das Lernen ist soziale Geborgenheit und Akzeptanz. Wer menschliche Verletzungs- oder Vernachlässigungssituationen erlebt, kann auch nicht lernen. Ein Kind, das von seinen Eltern vernachlässigt wird, von seinem Lehrer abwertend behandelt oder von seinen Mitschülern gemobbt wird, hat es schwer, in einen Lernprozess zu kommen.
Bei der physischen Vernachlässigung geht es um das körperliche Überleben, bei der psychischen Vernachlässigung um das seelische Bestehen. Fehlende Geborgenheit führt dazu, dass der Betreffende entweder das Interesse an der Umwelt und den Mitmenschen verliert oder seine nicht erfahrene Wertschätzung mit Gewalt durchsetzen will. Wenn Geltungsbedürfnis und Gefallsucht im Vordergrund stehen, ist das Lernen weder für den Betroffenen noch für die Mitmenschen fruchtbar.
Die soziale Sicherheit und menschliche Wertschätzung ist in den modernen Industrieländern oft ebenso gefährdet wie in den Entwicklungsländern. Das moderne Arbeitsleben lässt oft wenig Raum für die Eltern und Verwandten sich mit ihrem Kind zu beschäftigen.
(Sinnbezug und existentielle Einbettung)
Geistige Grundversorgung heißt einen Sinn in seinem Lernen sehen zu können.
In den religiösen Kulturen früherer Zeiten war diese geistige Anbindung noch vorhanden. Mit dem einseitigen Hervortreten des naturwissenschaftlich materialistischen Weltbildes ist der überpersönliche Sinn verloren gegangen. Es hat sich die Vorstellung breit gemacht, dass man für sich lernt und arbeitet und nicht für die Welt.
Wenn Kinder die Eltern fragen „Warum sollen wir das lernen?“, - also nach dem Sinn des Lernens fragen- erhalten sie oft Antworten, welche in eine persönlich-egoistische Richtung gehen. Ganze Generationen von Kindern haben gehört, dass sie dann keine Arbeit fänden, nichts verdienen würden, verhungern müssten oder bestenfalls „Müllmann“ werden könnten.
In den früheren spirituellen Kulturen war das anders. Da wurde Erkenntnis aus überpersönlichen Gründen gepflegt. Die Liebe zur Schöpfung, zur Natur und zu den Mitmenschen stand im Mittelpunkt.
Aus dem Sinnbezug ergibt sich aber die Motivation.
Lernbegierde, Neugier und Interesse sind die Quellen des Lernens. Manche Menschen haben ein starkes Bedürfnis nach Wissen und Erkenntnis, anderen liegt weniger daran.
Ich unterscheide zwei unterschiedliche Lernmotive. Im ersten Fall richtet sich das Interesse auf Funktionszusammenhänge. Man möchte irgendetwas mit dem Lernen erreichen. Die Frage lautet: Wie funktioniert das?
Im zweiten Fall steht das Wesen der Sache im Vordergrund. Es wird gelernt, weil einen die Sache interessiert. Die Frage lautet: Was ist das? Bei der wesenhaften Betrachtung ist die Sache an sich im Bewusstsein, bei der funktionalen Betrachtung hat man Nützlichkeitserwägungen im Hinterkopf.